Das Ich dazwischen: Universität Hildesheim
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Universität Hildesheim Fachbereich 2: Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis Das Ich dazwischen: Autor und Autorfigur in der Liminalität des autobiographischen (Schreib)raums Abgabetermin: 07.08.2020 Zur Erlangung des Grades Bachelor of Arts Betreuerin: Prof. Dr. Annette Pehnt Zweitprüferin: Jenifer Johanna Becker vorgelegt von: Johanna von Renteln
Inhalt 1. Einleitung….............................................................................................................................1 2. Der Autor im Genre ohne Grenzen...........................................................................................4 2.1 Gebärden der Autorfigur.....................................................................................................5 2.2 Die Überschneidung von Autor und Autorfigur im autobiographischen (Schreib)raum...................................................................................10 2.3 Zwischen Autor und Autorfigur: Der Schreibende...........................................................13 3. Einführung in die Liminalität.................................................................................................17 4. Die Konstitution des Ich in Karl Ove Knausgårds Romanzyklus Min Kamp anhand van Genneps dreigliedrigen Verlaufsmodells..........................................20 4.1 Die Separation des gewesenen Ich...................................................................................25 4.2 Der Schreibende in der Schwellenphase..........................................................................28 4.3 Die Wiedereingliederung als Autorfigur...........................................................................30 5. Fazit........................................................................................................................................32 6. Literaturverzeichnis................................................................................................................33
Das Ich dazwischen Seite 1 von 33 1. Einleitung Anne Frank vertraut sich das erste Mal in ihrem Leben der erschriebenen Freundin Kitty an, Benjamin von Stuckrad-Barre sprengt die Medienrealität der Deutschen mit seiner Drogenbeichte, Hanns-Josef Ortheil schreibt sich durchs tägliche Notieren zum Sprechen: Immer wieder wird das Schreiben über die eigene Person als Selbst-Dekonstruktion begriffen, zuweilen auch als Form der erstmaligen Ich-Bildung, bei dem der Autor und somit auch die in eine Narration überführte Autorfigur erst durch den Schreibprozess selbst zu einer Identität findet. Schreiben ist Heilung, Schreiben ist die Lösung, Schreiben ist, so Serge Doubrovsky in den Anfängen der Autofiktion, Selbsttherapie 1. Es ist das Schreiben als Vorgang an sich, das Abbilden der Realität und nicht zuletzt auch der eigenen Person, das eine Handlung rahmt und Ereignisse in einen Sinn überführt. Die Autorfigur, der zum Protagonisten gewordene Autor 2, bildet im erschriebenen Leben eines Schriftstellers eine Art Spiegel des Ichs, der im eigens entworfenen autobiographischen Raum existiert. Die definitorische Unschärfe des Genres der Autofiktion ist immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Die vorliegende Arbeit soll keinen Versuch darstellen, die Strömungen der Einordnung im Sinne von Doubrovsky 3 oder Roland Barthes nachzuzeichnen oder Autofiktionen definitorisch von anderen Formen des Schreibens abzutrennen. Stattdessen setzt sie den jede Form des autobiographischen Schreibens bedingenden „Realitätshunger“4 voraus und überprüft, vom Stillen dieses Hungers als treibender Faktor ausgehend, die 1 vgl. Pottbeckers, Jörg: Der Autor als Held. Autofiktionale Inszenierungsstrategien in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Würzburg 2017, S. 15. 2 vgl. Neuhaus, Stefan: Eine Legende, was sonst. Metafiktion in Romanen seit der Jahrhundertwende (Schrott, Moers, Haas, Hoppe). In: Rohde, Carsten / Schmidt-Bergmann, Hansgeorg (Hg.): Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Bielefeld 2013, S 69 - 88. 3 „Doubrovskys Autofiktions-Definition in Kurzform lautet: Autofiktion = Namensgleichheit von Autor und Figur + fiktionalitätsbehauptende Gattungsbezeichnung („Roman“ oder „Erzählung“)“, Pottbeckers (2017), S. 15. 4 vgl. Shields, David: Realityhunger. Ein Manifest, München 2011. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 2 von 33 Konstitution des Autors und der gegenübergestellten Autorfigur. Ganz nach Erika Fischer-Lichtes Aussage („Der Mensch muss sich inszenieren um überhaupt erst in Erscheinung treten zu können“5), möchte ich der These nachgehen, dass es sich auch bei einer Authentifizierung um eine Art der Inszenierung handelt, die in Konsequenz folgendes auslöst: Das literarische Reproduzieren von Intimität, in diesem Fall ein Intimitätsgefühl seitens des Rezipienten oder der Rezipientin in Bezug auf die Autorfigur, das nur hergestellt werden kann, wenn die Grenzen des Gewohnten überschritten werden. Dies geschieht besonders eindringlich, wenn der Autor beim Überführen seiner eigenen Person in einen autobiographischen Roman selbst neue Zugänge schafft, die sich ihm einzig während des Schreibens zeigen. Ein möglichst exaktes Abbilden der Realität ist, gemessen an den neuerlich hervortretenden Ansprüchen an eine Art von Überrealität, nicht ausreichend für einen grenzüberschreitenden Zugang; Es muss mit Formen der Metafiktionalität gespielt werden und – im Sinne der Ichbildung und der Selbst-Dekonstruktion, die autobiographischem Schreiben zu Grunde liegt – ein Ich angelegt werden, das als höchste Form der Intimität individuell und eigens für die RezipientInnen erschaffen wurde. Dieses Ich lebt in den Zwischenräumen, in dem komplexen Raum zwischen „Auto“ und „Fiktion“ und bildet das Brückenstück von Autor zur Autorfigur. Karl Ove Knausgård sagte 2013 in Bezug auf sein einmaliges autobiographisches Romanprojekt Min Kamp, dass in dem Abstand, der von Autorfigur zum Autor entstehe, „etwas anderes sich zu bewegen [beginnt], die Komplexität nimmt zu, und genau diese Komplexität ist das Wesentliche“6. Um einen Versuch zu wagen, dieses „Wesentliche“ zu definieren und es im autobiographischen Raum festzuhalten, wird in dieser Arbeit die Prozesshaftigkeit des Schreibens7 eng an die Begriffe Autorfigur und Autor angelegt. So soll, nach der Einführung des Konzepts von Autorfigur, Autor und dem autobiographischen 5 Fischer-Lichte, Erika: Theatralität und Inszenierung, in: dies. (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität, Tübingen 2007, S. 9 -13, hier S. 20f. 6 Knausgård, Karl Ove: Das Amerika der Seele. Essays. München 2016, S. 461. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 3 von 33 Raum, ein Vorschlag für die Zusammensetzung des Autoren-Ichs zwischen dem Autor als Startpunkt und der Autorfigur als Ergebnis vorgestellt werden. Anschließend wird der Begriff der Liminalität anhand von Arnold van Genneps dreigliedrigem Verlaufsmodell eingeführt und mit Knausgårds autobiographischen Werken verschränkt. An Hand Knausgårds Romanzyklus Min Kamp als Beispiel eines poetischen Systems soll die Arbeit prüfen, ob sich van Genneps Modell zur Veranschaulichung von Liminalität auf den Weg vom Autor zur Autorfigur anwenden lässt und inwieweit sich die Veranschaulichung der „Schwellenphase“ eignet, um einen Bezug zwischen autobiographischen Raum als „Zwischen- Raum“8 und Autor, beziehungsweise Autorfigur herzustellen. Im Folgeschritt soll ermittelt werden, wie sich das Ich zusammensetzt, das im Zwischenraum, der sogenannten „Schwellenphase“ entsteht, und wie es aus der Komplexität des Raumes speist. Dieser Raum, der autobiographische (Schreib)raum, soll in seiner Komplexität beleuchtet und als Verortung des Liminalen begriffen werden. Dabei wird den Forschungsfragen nachgegangen, inwieweit sich Schreiben gemäß van Gennep als Übergangsritual auffassen lässt, wie sich der autobiographische Raum zusammensetzt und inwiefern er sich eignet, um „das Wesentliche“ nach Knausgård zu verorten. Welche Seiten seines Selbst kann und will Knausgård durch das Schreiben aus dem Verborgenen zu Tage und in seiner Autorfigur unterbringen? Es soll ferner erprobt werden, welche Deutungszusammenhänge sich bei der Untersuchung von Autofiktion über die Dualität von Autor und Autorfigur hinaus ergeben und wo die Grenzen des bewusst Inszenierbaren liegen. Welchen Stellenwert hat „das Ich dazwischen“ für Betrachtungen von Autofiktionen? 7 vgl. van Gennep, Arnold: Übergangsriten, Frankfurt/New York 2005/ Warstat, Matthias: Liminalität, in: Fischer-Lichte, Erika / Kolesch, Doris / Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, Stuttgart/Weimar 2005, S. 186 – 188. 8 vgl. Tholen, Toni: Die Automelanchographie, in: Tholen, Toni / Cifre Wibrow, Patricia / Gimber, Arno (Hg.): Fakten, Fiktions und Fact-Fictions, Hildesheim 2018, S. 39 – 57, hier S.46. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 4 von 33 2. Der Autor im Genre ohne Grenzen Die Dimensionen des Autobiographischen werden in der Literaturwissenschaft mit wachsendem Forschungsinteresse debattiert.9 Insbesondere das gegenüber der Autobiographie noch nicht klar abgegrenzte Genre der Autofiktion zieht seinen Reiz aus dem Umgang mit der ebenso schwammigen Grenzstellung zwischen Fiktionalität und Faktualität sowie deren Wechselspiel. Das Genre ist, wie Serge Doubrovsky es bildlich ausdrückte, „gefangen im Drehkreuz, im Zwischenraum der Gattungen, die gleichzeitig und somit widersprüchlich den autobiographischen und den romanesken Pakt geschlossen haben“10. Wie bereits erläutert, soll sich diese Arbeit nicht isoliert mit der Autofiktion als Genre beschäftigen. Besonders interessant ist aber, dass Doubrovsky in diesem Zitat die Autofiktion behandelt, indem er das Konzept des autobiographischen Pakts anführt, das dem romanesken Pakt gegenübersteht. Dabei handelt es sich um von Phillippe Lejeune vorgeschlagene Ansätze, laut derer sich der „Pakt“ gegenüber der Leserschaft darüber definiert, ob die Identität des Erzählers explizit mit der des Autors übereinstimmt (autobiographischer Pakt) oder, explizit oder implizit, nicht (romanesker Pakt).11 Um über die Genre-Zugehörigkeit zu entscheiden, muss also über das Verhältnis von Autor zu Erzähler entschieden werden. Dementsprechend viel kann man aus Doubvroskys Worten ableiten, um zur Frage überzuleiten, wie eine Autorfigur am besten definiert werden kann und welche Rolle sie einnimmt, sowohl für RezipientInnen als auch für den Autoren als Schreibenden. Ob Autofiktion, Autobiographie, autobiographische Erzählung oder autobiographischer Roman: Durch die „neuen Formen und Verfahrensweisen der 9 vgl. Arnold, Sonja/Gröger, Anita: Einführung, in: Arnold, Sonja / Catani, Stephanie / Gröger, Anita / Jürgensen, u.a. (Hg.): Sich selbst erzählen, Kiel 2018, S. 117. 10 Doubrovsky, Serge: Nah am Text. Kultur & Gespenster: Autofiktion 7 (2008): S. 123 – 133, hier S. 128. 11 vgl. Müller, Jens Oliver: Poetik der Memoria im Romanwerk von Jean Rouaud. Mnemonisches Schreiben als Archäologie des Selbst (2004), S. 179 – 180. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 5 von 33 Selbstdarstellung“ hat „die Debatte um die Autor-Kategorie in der Literaturwissenschaft neue Impulse erhalten“, so Martina Wagner-Egelhaaf 12. Die vieldiskutierten Variationen vom verstärkten Ich-Bezug in der Literatur eint das „Schreiben an der Grenze (...) zwischen Autor und Text ebenso wie an der Grenze zwischen Wirklichkeitsbezug und Fiktion“13. Hier ist bereits abzulesen, dass sich die Elemente, mit denen die Realitätsanteile von Autofiktionalem verhandelt werden, auch auf den Bezug von Autor zu Erzählung ausweiten. Wenn sich Autor und Erzählung gegenüberstehen, sich ein realer Mensch also von einer autobiographischen Erzählung abgrenzen muss beziehungsweise eben dies nicht zufriedenstellend tut, lässt sich die Erzählung mit einem Begriff gleichsetzen, der im Folgenden untersucht werden soll: Der Autorfigur. Insofern davon ausgegangen wird, dass der Autor die faktuale Ebene repräsentiert, steht sie als fiktionalisiertes, ergo literarisiertes, Produkt auf der anderen Seite. 2.1 Gebärden der Autorfigur Die zentrale Rolle der Autorfigur wird auch im oft herangezogenen Definitionsansatz der Autofiktion von Arne Zipfel klar, der hier abermals nicht für eine mögliche Begriffsklärung von Autofiktion angeführt werden soll, sondern vorrangig, um die Rolle des empirischen Autors innerhalb seines autobiographischen Schreibens mitsamt ihres Stellenwertes einzuführen. So beschreibt Zipfel Autofiktionen als Texte, in denen „eine Figur, die eindeutig als der Autor erkennbar ist (durch den gleichen Namen oder eine unverkennbare Ableitung davon, durch Lebensdaten oder die Erwähnung vorheriger Werke), in einer offensichtlich (…) als fiktional 12 Wagner-Engelhaaf, Martina (Hg): Auto(r)fiktion, Klappentext hinten. 13 Grote / Sandberg: Einleitung, in: dies. (Hg.): Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bd. 3: Entwicklungen, Kontexte, Grenzgänger, München 2009, S. 9. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 6 von 33 gekennzeichneten Erzählung auftritt14“. Zimpels Kriterien lassen sich auf den autobiographischen Pakt von Lejeune, den Doubvrosky bereits dem romanesken Pakt gegenübergestellt hat, zurückführen. Iona Mader stellt, ihren Überlegungen zum Phänomen der Autorfigur folgend, in “Metafuktionalität als Selbst-Dekonstruktion“ den Vergleich zu Platons Höhlengleichnis an, indem sie, auf das Phänomen der Autofiktion bezogen, von “Urbild“ und “Abbild“ spricht.15 Dieser Vergleich lässt sich auf viele Formen des Schreibens anwenden, insofern sie einen Impuls (eine Idee) in Schrift ableiten. Wenn der Vergleich aber auf das Thema dieser Arbeit umgeleitet wird, tritt deutlich der besondere Funktionsreichtum des Kernstücks einer jeden Autofiktion hervor: Es ist die Autorfigur, die im Laufe der Geschichte, ob nun als Erzählung oder als Roman eingeordnet, das Verhältnis von 'Urbild' zu 'Abbild' verhandelt. Sie verweist in ihrem Anspruch auf die ultimative Authentizität permanent auf ihren nach innen gerichteten Blick auf die Außenwelt und macht im gleichen Zuge darauf aufmerksam, dass es eine klar gezogene Grenze gibt, die im Moment des Schreibens ganz automatisch entsteht: Die Grenze zwischen der Welt und der Sicht darauf, zwischen dem Schreiben aus der Sicht und dem Schreiben über die Sicht – oder gar zwischen dem Geschriebenen, dem Schreibimpuls und dem, was sich auf dem Weg von einem zum anderen formt, im Moment des Schreibens aber wieder verschwindet, da es sich jeder Art des Festhaltens entzieht. Der Autor fungiert als der Ausgangspunkt, gewissermaßen als das „Urbild“ einer Transformation. Durch das Schreibprojekt unter Einhaltung des autobiographischen Pakts und insbesondere durch das Erschließen und Reflektieren von Produktionsprozessen wird er zu einer in den Schreibraum überführten Figur, deren Schreiben ebenfalls einer Transformation unterstellt ist 14 Zipfel, Frank: Autofiktion, in: Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart 2009, S. 31. 15 vgl. Mader, Iona: Metafiktionalität als Selbst-Dekonstruktion, Würzburg 2017, S. 255 - 256. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 7 von 33 und nicht frei jedweder Produktionsästhetik geschieht. Die Geschichte weist vielmehr darauf hin, dass das Erzählen Teil der eigentlichen Erzählung ist, nicht etwa nur Mittel zum Zweck. So tritt die Autorfigur als Abbild des schreibenden Urhebers ihrer selbst in autobiographischen Romanen in Erscheinung. Als solches ist sie keinesfalls identisch mit dem Autor, aber doch unabdingbar auf ihn als Urbild angewiesen. Auf der anderen Seite, weil er sich nur durch ihre Existenz unter Einsatz seiner selbst-bezüglichen Sprache16 als Autor innerhalb des autobiographischen Genres definieren kann. Ohne sie wäre er mit seiner Person und seinem Leben sprachlich nicht derart unmittelbar in seinem Werk vorhanden. Die Autorfigur ist demnach, ebenso wie der Autor, keine Begleiterscheinung, sondern Voraussetzung für das autobiographische Schreiben. Wie lässt sich die Autorfigur als Endprodukt eines Autors, der dazu ansetzt, sich selbst in Sprache zu übersetzen, im Zusammenspiel mit den antreibenden Faktoren der Faszination für dieses Genre einordnen? Um eine Autorfigur und nicht lediglich ein Autor zu sein, muss über sich selbst geschrieben werden. Um eine Autorfigur und nicht lediglich eine Figur zu sein, muss aus allem gespeist werden, was den Autor zum Autor macht; Die Autorfigur erhält Zugriff auf seinen Namen, seine Berufsbezeichnung, und vor allem greift sie als Akkumulation all dieser Faktoren in Form einer zusätzliche Stimme in sein Schreiben ein, indem sie die Produktionsgedanken von Texten schon im Moment ihrer Entstehung hinterfragt. Jede Form von autobiographischer Literatur wird dementsprechend von einem sich ständig austarierenden Verhältnis von Nähe und Distanz geprägt.17 Während Schreiben über Erinnertes das Heraufbeschwören von Nähe aus der Distanz bedeutet, liefert das Schreiben über das Schreiben einen handwerklichen Kriterien folgenden Blick auf den schwarz auf weiß vorliegenden Text, also einen distanzierten Zugang aus nächster Nähe. Diese handwerklichen Kriterien sind Texten mit einer Autorfigur oder einer 16 Mader (2017), S. 17. 17 vgl. Kraus, Esther: Faktualität und Fiktionalität in autobiographischen Texten des 20. Jahrhunderts, Marburg 2013, S. 388. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 8 von 33 Autorschaftsfigur18 als Protagonist eigen. Die Reflexion bedeutet in diesem Fall den Text, der Text bedeutet, zu reflektieren.19 Das Schreiben und die Figurwerdung geschehen parallel, in einem metafiktionalen20 Verhältnis, das zwangsläufig mit einem Bekenntnis der Unmöglichkeit einhergeht: Das „Bekenntnis der Unmöglichkeit, authentisch zu schreiben“, wie Marion Acker und Anne Fleig feststellen. Durch die Autorfigur und die Autonarration, die mit ihr erfolgt, wird, insofern RezipientInnen um die doppelte Identität wissen, auf die „prinzipielle Unerfüllbarkeit von Wahrheitsansprüchen“21 verwiesen. Leben und Schreiben wird nicht länger als Einheit begriffen oder behauptet. Stattdessen wird die Differenz selbstreflexiv genutzt.22 So konstituiert sich die Autorfigur über „eine sich stets erweiternde und weiter verzweigende Ansammlung von Schreibpraktiken, die zugleich Lebensgesten des Schreibenden in unterschiedlichen Abschnitten sind“23. Die Selbstflexion, die im Zuge von „Schreiben über Schreiben“ stattfindet, fungiert oft auch als eine textuelle Inszenierungspraktik. Hier ruft der Autor bei den Lesenden ein Autorbild auf, das mit dem Brechen von Integrität bewusst verstärkt werden soll. Ein Autorbild im autobiographischen Roman soll nach Möglichkeit deckungsgleich mit der Autorfigur ausfallen, soll heißen: Beim Lesen des Werkes und Entschlüsseln der Autorfigur sollen direkte Rückschlüsse auf den 18 Autorschaftsfiguren sind Teil von 'Autorschaftsfigur-Autofiktionen', die das eigene Schreiben auf metanarrativer Ebene explizit und oft unter der Behauptung von Simultanität von Produktion und Rezeption im eigenen Roman thematisieren. vgl. Pottbeckers (2017), S. 256 – 257. 19 „Die Autobiographie bildet nicht das schon vorhandene Leben ab, sondern versucht nur noch im Nachhinein zu verstehen, welche Schemata sich im Erleben des Subjektes abzeichen.“ Fritz, Jochen: Ruinen des Selbst, Bern 2017, S. 164. 20 „Der Begriff [Metafiktionalität] (…) bezeichnet bereits das, worum es geht – um die Thematisierung von Fiktion innerhalb einer Fiktion, also einerseits um zwei Ebenen von Fiktionen, andererseits um die durch Verweis auf die Fiktionalität angestoßene Reflexion über das Verhältnis von Fiktion und Realität“ Neuhaus 2013, S. 70. 21 Acker, Marion / Fleig, Anne: Kritik der Autonarration aus Sicht der Mehrsprachigkeit, in: (Arnold / Catani, / Gröger u.a. (2018), S. 27. 22 vgl. Pottbeckers (2017), S. 61. 23 Tholen (2018), S. 46. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 9 von 33 Autor gezogen werden. Je näher „Urbild“ und „Abbild“ in ihrer Außenwirkung beieinander scheinen, desto besser kann die Sehnsucht nach Authentizität bedient werden, die den treibenden Faktor für den „zeitgenössischen Boom“ 24 von autobiographischem Schreiben ausmacht. Wenn eine Autorfigur im literarischen Feld, etwa im Literaturbetrieb, agiert, indem sie beispielsweise Bezug auf die strukturellen Abläufe im Verlag nimmt, wird die Produktionsästhetik um eine Ebene ergänzt, die LeserInnen sonst nicht zu Gesicht bekommen. Hierbei handelt es sich um einen Realitätseffekt, die, ganz im Gegensatz zu illusionssteigernden Wirklichkeitseffekten nicht die Glaubwürdigkeit verstärken sollen. Stattdessen treten sie „als heterogenes Material in ihrer fiktionalen Umgebung hervor und verdeutlichen auf diese Weise die Künstlichkeit der literarischen Konstruktion“.25 Mit dem gezielt eingesetzten Verweis auf diese verborgene Ebene kann der Autor seine Autorfigur mit dem Makel des Realistischen ausstatten. An dieser Stelle ändert sich die Lesart. Indem er seine Autorfigur darauf anspielen lässt, dass das Schreiben auf ein Produkt hinausläuft und dass dieses Produkt nicht ausschließlich durch das reine Schreiben entsteht, sondern auch an wirtschaftliche Prozesse und an Dritte geknüpft ist, die nur in der Realität existieren, kann ein Autor sowohl den Schreib- als auch den Lesevorgang entglorifizieren. Hier wird deutlich, dass in Texten ohne Autorfigur eine Vorauswahl getroffen wurde, eine Zensur von dem, was erzählt werden und was geheim bleiben soll. Auf diese Weise erzählt der Autor auch, dass „ein eigentliches Ich auf direktem Wege nicht zugänglich ist“26. Die Autorfigur beginnt also in dem Moment zu existieren, in dem der Autor schreibt, und das als nicht zugängliches Endprodukt des Versuchs, die Wirklichkeit authentisch wirken zu lassen. Gleichzeitig konstruiert sich die Autorfigur selbst, aktiv. Autor und Autorfigur entwerfen durch diese produktive 24 vgl. Pottbeckers (2017), S. 15. 25 ebd., S. 36. 26 ebd., S. 88. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 10 von 33 Wechselwirkung den autobiographischen Raum gemäß Andreas Pottbeckers Ansatz als „poetisches System“ 27, das sich auf der einen Seite zwar aus der Identität und der Sprache des Autors zusammensetzt, andererseits aber auch den Raum abdeckt, „in dem die Figur des Schriftstellers, die Autorfigur, sich immer wieder von Neuem gebiert und inszeniert.“28 Als solches lässt sich auch der autobiographische Raum begreifen. 2.2 Die Überschneidung von Autor und Autorfigur im autobiographischen (Schreib)raum Als ein poetisches System lässt sich auch der autobiographische Raum bezeichnen, in dem sich Autor und Autorfigur, wenn auch sonst gänzlich verschiedenen Realitätsebenen angehörend, gleichzeitig behaupten können. Warum an diesem Nicht-Ort zwei einander ausschließende Wahrheiten, nämlich die von Fakt und Fiktion, existieren können, soll nun aufgeschlüsselt werden. Wenn sich dieser angelegte Raum auch in seiner Anlegung als fiktiv bezeichnen lässt, insofern es sich um den Lebensraum der Autorfigur handelt, stellt er sich doch als besonderes Setting dar. Denn er ist vom Autor vielseitig begehbar. So ist es ihm und Rezipierenden möglich nach dem Lesen eines mehrteiligen Romanprojekts beispielsweise möglich, auf eine Ansammlung von vermeintlichen Erinnerungen aus der Egoperspektive zuzugreifen, die einander allesamt bedingen und im gleichen Moment existieren, unabhängig von Zeit, nicht aber von Gedächtnis zu existieren, ähnlich des Bewusstseins eines real existierenden Menschen: Nachdem es von ihm gelebt wurde, hat er nun sein Leben erneut entworfen und auf die Gefahr hin, seine Erinnerungen nachhaltig einem Anderen, nämlich der Autorfigur überschrieben zu haben, wird sein Leben 27 Pottbeckers (2017), S. 40, zitiert nach Schmitz, Helmut / Ortheil, Hanns-Josef: Das Erzählen der Welt, in: Allkemper, Alo / Eke, Norbert Otto / Steinecke, Hartmut (Hg.): Poetologisch- poetische Interventionen: Gegenwartsliteratur schreiben, München 2012, S. 143 – 160, hier S. 143. 28 Potterbeckers (2017), S. 40. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 11 von 33 von nun an in Retrospektive einen anderen Zugang erfahren, da er den Fluss seines Gedächtnisses in einer Momentaufnahme zum Stoppen gebracht hat: Beim Erschreiben seines (bisherigen) Lebens. Diesen Haltepunkt des eigenen Bewusstseins deckt der autobiographische (Schreib)raum ab. Er ist gewissermaßen die Momentaufnahme eines kontinuierlichen Prozesses, ein Raum der Aneignung, ein Raum der Überführung, ohne klare Zugehörigkeit. Autor und Autorfigur teilen hier eine fiktive Wirklichkeit, befinden sich aber weiterhin ihrem Ursprung entsprechend an entgegengesetzten Enden. Beachtenswert ist, dass der autobiographische Schreib(raum), wie er nun festgehalten wurde, direkte Auswirkungen auf die Erinnerungen des Autors zur Folge haben kann, beziehungsweise bereits das Ergebnis vorangegangenen Schreibens außerhalb des Autobiographischen sein kann. Da autobiographische Texte sich nur zwischen Fakt und Fiktion bewegen, solange sie explizit von sich behaupten, die vermeintliche Vergangenheit oder Gegenwart zum Thema haben, ist das Schreiben über die Zukunft ausgeschlossen, solange sie nicht offen imaginiert ist. Das Schreiben über sich selbst stellt sich also als „Leben im Rückblick“29 dar. Es geht um das Verhandeln von Erinnerungen, das nur durch ein Heraufbeschwören und im Zweifelsfall durch eine Fiktionalisierung geschehen kann. Das „autobiographischen Gedächtnis“, ein Konzept von Harald Welzer, das zur Erschließung von Autofiktion oft herangezogen wird und das Erinnerungen als ständig fiktionalisierendes System beschreibt, weist in seiner Funktion für den Autor große Gemeinsamkeiten mit dem vorgestellten autobiographischen (Schreib)raums auf. So ist die Erinnerung an sich, auch fernab ihrer „Nutzbarmachung“ durch das Schreiben, schon von fiktiven Einflüssen durchzogen, beispielsweise in Form von Erfahrungen, die nicht selbst gemacht, 29 Gfrereis, Heige: Autobiographie, in: dies (Hg.): Grundbegriffe der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1999, S. 19. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 12 von 33 sondern ihrerseits bereits rezipiert wurden. Durch die Überführung in eine Autofiktion kommt es zu einer „Neu-Einschreibung" im Gedächtnis dieser von Grund auf bereits von Imagination und Abstraktion vermengten Realitäten, sodass der Autor sich durch den Schreibprozess zwangsläufig weiter von seinem Ausgangspunkt als in der echten Welt existierende Person entfernt.30 Wenn sich der beschriebene Entwurf eines autobiographischen Raums als fiktiv bezeichnen lässt, in dem Sinne, laut den es sich dabei um den Lebensraum der nur in der Geschichte verortbaren Autorfigur handelt, verfügt er über eine Besonderheit, quasi einen „doppelten Boden“: Es bietet die Relation, in der sich das in seinen Existenzweisen schreibende Ich bewegt 31 und ist als solches vom Autor vielseitig begehbar. Der autobiographische Raum färbt, in seinem echten Lebensraum, fernab vom „literarischen Universum“32, seine Erinnerung und Wahrnehmung. Dies kann wiederum, wenn ein Folgewerk geschrieben wird oder es sich um einen autobiographischen Zyklus handelt, Auswirkungen auf die Konstitution der Autorfigur zur Folge haben. Auch das so essentiell scheinende Verhältnis von Fakt und Fiktion verschiebt sich durch einen solchen Zyklus, da Autor und Autorfigur hier zusätzlich episodisch von der Außenwelt und Mutmaßungen über „die Wahrheit“ beeinflusst werden. Nicht nur die Leserschaft nimmt den Wechsel zwischen den Ebenen unterbewusst wahr, „ohne letztendlich sagen zu können, welche Elemente des Textes auf wirklichem Erleben beruhen und welche als fiktiv anzusehen sind“ 33. Der Schreibende, der Fiktion seines Gedächtnisses und dem Effekt der Überraschung ausgesetzt, der durch die produktive Mischung von 30 vgl. Pottbeckers (2017), S. 29. 31 „Das sich in seinen Existenzweisen schreibende Ich ist ein relationales: Es setzt sich schreibend in Beziehung zu anderen wie zu sich selbst als (jeweils) anders werdendes.“ Tholen (2018), S. 46. 32 Pottbeckers (2017), S. 40, zitiert nach Schmitz, Helmut / Ortheil, Hanns-Josef 2012, S. 143 – 160, hier S. 143. 33 Zipfel, Frank: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität, in: Winko, Simone / Jannidis, Fotis / Lauer, Gerhard (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomenen des Literarischen, Berlin 2009, S. 306. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 13 von 33 Erinnerungsprozess und Schreibfluss zu Tage kommt 34, erlebt seinen Text auf dieselbe Art. Er befindet sich gleichsam im autobiographischen Raum, einem „Zwischen-Raum“, einer „sich stets verändernde Ansammlung von Momenten, Gesten, Erzählungen, Gedanken, Bildern, kurz: von Fragmenten(...)“35. Natürlich kann und muss dies gemäß der bis hierhin aufgestellten Argumentation Fragmente des Selbst einschließen. Schreiben aus der Erinnerung bedeutet also, wie Leben in diesem Sinne auch, nebst der Figurwerdung des eigenen Selbst, die am Ende steht, auch automatisch Dekonstruktion. Wie überführbare Fragmente des Autors möglicherweise angeordnet sind, ehe sie niedergeschrieben die Autorfigur ergeben, zeigt ebenfalls die Kollektivität des autobiographischen (Schreib)raums auf. Er beherbergt eine Ebene zwischen – und jenseits von – Fakt und Fiktion. Im Folgenden soll nun, äquivalent zu dem Raum als eine Art von Verortung als Nicht-Ort der Vorschlag eines Brückenstücks gemacht werden, das die potenzielle Teilmenge von Autor und Autorfigur ergibt. Es wird davon ausgegangen, dass dies vorrangig im Akt der Textproduktion-und Rezeption der Fall ist, während dem die Autorfigur als faktische Person und die Autorfigur als fiktionalisierte Figur außer Kraft gesetzt sind. Es geht um das überraschende, das unterbewusste, das nicht zu kalkulierende Moment des autobiographischen Schreibens, die nebst eines Raums auch eine neue Persona zu Tage fördert: Den Schreibenden. 2.3 Zwischen Autor und Autorfigur: Der Schreibende Nicht nur fiktionales und faktuales Erzählen werden in der Autofiktion miteinander vermischt. Auch Autor und Autorfigur müssen, als die der Erzählung zu Grunde liegenden, aber nicht klar zu umreißende Elemente, ineinander 34 vgl. Doubrovsky (2008), S. 125. 35 Tholen (2018), S. 46. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 14 von 33 übergehen. Dieser unabgeschlossene Prozess bildet das Kernstück des Genres und füttert den Realitätshunger36 der RezipientInnen, indem sie den schreibenden Autoren zu einem unzuverlässigen Erzähler machen – nicht als Resultat einer bewusst vom Schreibenden in seiner Profession als Autor gefällten Entscheidung, sondern auch unzuverlässig sich selbst gegenüber. Wenn diese Prämisse weiterverfolgt wird, kann abgeleitet werden, dass ein Verschwimmen der Grenzen zwischen dem Schreibenden (nicht nur des Autors in seinem Beruf, sondern auch der Privatperson des Schreibenden mit ihrem auch im Alltag jederzeit abrufbaren autobiographischen Gedächtnis) und der Autorfigur keine Begleiterscheinung der erfolgreichen Autofiktion ist, sondern die gewünschte produktive Lesart durch sie noch verstärkt wird. Während metafiktionale Elemente als bewusst vom Autor genutzte Strategie verwirren und RezipientInnen so mit ihren kontrastierenden Erwartungshaltungen und Deutungsansätzen alleine lassen, erlaubt der offengelegte Prozess der Autorfigurwerdung darüber hinaus eine Identifikation mit dem Autor in seiner Figurwerdung. Metafiktionale Elemente, stehen, auch als Inzenierungspraktiken genutzt, der Glaubwürdigkeit vom „Schreiben über das Erinnern“ gegenüber. Sobald der Autor als Autorfigur darauf hinweist, sich im Folgenden einer Erinnerung schreibend zu bedienen, verweist er auf die Unzuverlässigkeit des Erinnerns, die aber nicht gleichzusetzen ist mit der Unzuverlässigkeit des Erzählens. Verdrängtes soll erzählt werden37, und dadurch, dass es durch das Erzählen nicht länger verdrängt ist, wechselt es vor den Augen der Leserschaft die Form, tritt durch das Schreiben erst in Erscheinung und löst sich vom Autor, der immer nur das Element des Verdrängten, nicht aber die konkrete Erinnerung als Inszenierungsstrategie nutzen kann. Die fortan der Autorfigur zugeschriebene 36 vgl. Shields (2011). 37 vgl. Gansel, Carsten: Vom Versuch, Kindheit zu erinnern. In: Roeder, Caroline (Hg.): Topographien der Kindheit. Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen, Bielefeld 2014, S. 69. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 15 von 33 Erinnerung ist also unmittelbar und wirkt real, ohne, dass für das erinnerte Ereignis dasselbe gilt. Diese Betrachtungsweise macht deutlich, dass es sich bei Fiktionalem, insofern es sich um ein Produkt autobiographischen Schreibens handelt, nicht zwangsläufig um den Gegensatz von Faktualem handelt, sondern vielmehr um alternative Fakten, die sich ein Autor durch das Schreiben und Überschreiben tatsächlich aneignen kann. Unter Verwendung der einen Komponente wird die jeweils andere aus ihrem Kontext genommen, der wahr oder fiktiv erst in Erscheinung treten lässt, im simultanen Wechselspiel. Der Schreibende, verortet im autobiographischen Raum, schöpft aus Wirklichkeitserfahrung als Produkt einer Bewusstseinsleistung, die als Wahrnehmung eines Subjektiv ohnehin niemals objektiv, also im herkömmlichen Sinne faktisch, sein kann. Er sieht über „die Unmöglichkeit einer objektiven Darstellung der Welt hinweg und läutet den Rückzug der Literatur auf sich selbst ein.38 „Woran ich mich abarbeite und woran sich vielleicht jeder Schriftsteller abarbeitet, war die Bekämpfung der Fiktion mit Fiktion“, schreibt Karl Ove Knausgård im ersten Teil seiner Romanreihe 39, die im späteren Verlauf dieser Arbeit noch eingehend verhandelt werden soll. Dabei kann das Erschaffen neuer Erinnerungen und das unbewusste Element, das im Prozess so zentral ist, ein potentes Gegenstück zu dieser „doppelten Fiktionalisierung“ darstellen, da sie nicht berechenbar und gänzlich neu ist. Er schreibt ferner: „Unsere Gedanken sind durch Bilder von Orten überschwemmt, an denen wir nie gewesen sind, die wir aber dennoch kennen, von Menschen, denen wir nie begegnet sind, und wir führen unser Leben in einem hohen Maße in Beziehung zu ihnen. Die Empfindung, dass die Welt (…) hermetisch abgeschlossen, ohne Öffnung zu etwas anderem zu sein scheint, ist 38 vgl. Arlart, Usrula: 'Exhaustion' and 'replenishment'. Die Fiktion in der Fikion bei John Barth, Heidelberg 1984, S. 35. 39 Knausgård, Karl Ove: Sterben, München 2015, 3. Aufl., S. 382. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 16 von 33 beinahe inzestuös, und selbst wenn ich wüsste, dass es abgrundtief falsch wäre, da wir im Grunde gar nichts wissen, entkäme ich ihr doch nicht. (…) durch das Schreiben wollte ich die Welt für mich öffnen.“40 Diese „Öffnung“ schließt den Schreibenden mit ein, in seinen Formen als Autor und Autorfigur, geht jedoch noch darüber hinaus: Die oben beschriebenen Ebenen, die in einem ständigen Reibungsverhältnis zueinander stehen, lassen etwas anderes entstehen, jemand Neuen, wenn man so will. Idealerweise wird durch den Schreibprozess eine neue Persona geschaffen, weder Person, noch Figur. Noch stärker als die verschiedenen Genres des autobiographischen Schreibens entzieht sie sich Definitionsansätzen, markiert die Notwendigkeit eines Umwegs über einen „dritten Raum, eine dritte Zeit, eine dritte Position“41. Die Verschmelzung von Autor und Autorfigur zu dieser dritten Instanz bespielt den Realitätshunger, „die Sehnsucht nach Wirklichkeit“ 42 der LeserInnenschaft auf die authentischste Art und Weise. Denn so nimmt sie an einem wahrhaftigen Prozess, an einer Abspaltung oder einer Vereinigung, teil. Es handelt sich dabei um das Einleiten eines Zustands, der unmöglich inszeniert und fiktiv sein kann, der den Autor als Richter über Fakt und Fiktion gegen sich selbst ausspielt und ein Eigenleben fern des Expertise-Bereichs schafft, das der Autor inszenieren oder kontrollieren kann. Wenn Schreiben erst den Zugang zu den eigenen Erinnerungen schafft und durch diesen Zugang Einblicke möglich werden, die vorher unmöglich waren, dann ist der Zugang auf sich selbst der Übergang zwischen Fakt und Fiktion, dann bildet die Überschreibung des Gedächtnis das Kernstück einer Autofiktion. Dann 40 Knausgård (2015), S. 381. 41 Borgards, Roland: Liminale Anthropologien, in: Achilles, Jochen/Borgards/Roland/Burrichter/Brigitte (Hg.): Liminale Anthropologien. Zwischenzeiten, Schwellenphänomene, Zwischenräume in Literatur und Philosophie, Würzburg 2012, S. 9 – 13, hier: S. 9. 42 Krumrey, Brigitta / Vogler, Ingo / Derlin, Katharina: Realitätseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Einleitung, in: dies. (Hg): Realitätseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Schreibweisen nach der Postmoderne?, Heidelberg 2014 S. 9. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 17 von 33 wird der autobiographische (Schreib)raum mitsamt dem Schreibenden zur Schwelle zwischen Autor und Autorfigur. 2. Einführung in die Liminalität Liminalität bezeichnet eben das schwer zu greifende “Zwischen“, auf das in Kapitel 1 eingegangen wurde, obgleich der Begriff in einem konkreteren, anwendungsbezogenen Kontext begründet ist: Der Terminus hat seinen Ursprung in der Ethnologie, genauer in der Ritualtheorie43. Der Ethnologe Arnold van Gennep untersuchte Übergangsriten, beispielsweise in der Altersstufe oder zu einer höheren Berufsgruppe, die eine Transformation zum Ziel hatten. Der Aspekt des Aufstiegs ist dabei von elementarer Wichtigkeit, da eine Dekonstruktion durchgeführt wird, um sich neu und gefestigt(er) wieder einzugliedern. Van Gennep konnte feststellen, dass dieser Aufstieg mit bestimmten Handlungen einherging, die das Fließen des Übergangs durch Schritte stufenweise festzumachen versuchten, um Destabilisierung zu vermeiden und den Prozess kontinuierlich und schon vor dem endgültigen Abschluss zu besiegeln. Für dieses Umleiten einer exponentiellen Veränderung, die ihrer Natur nach nur in Bewegung existiert, zu einem an punktuell festgehaltenen Zustand hin, führt van Gennep ein dreigliedriges Verlaufsmodell an. Dieses Verlaufsmodell beginnt mit der Trennungsphase oder auch Separationsphase, in der sich das Individuum oder die Gruppe von den gewohnten Strukturen zeremoniell loslöst, und endet mit der Wiedereingliederungsphase, beziehungsweise der Aggregation. Dort wurde das rituelle Subjekt erfolgreich einer neuen Ordnung überführt. Den elementaren Teil des dreigliedrigen Verlaufmodells markiert jedoch das Stadium, das, wie oft, dazwischen liegt, zwischen Anfang und Ende: Die zweite Phase – die Schwellenphase – behandelt 43 vgl. Fischer-Lichte, Erika / Kolesch, Doris / Warstat, Matthias (2005), S. 186. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 18 von 33 das, was unter Liminalität verstanden wird.44 Die Schwellenphase ist der zeitliche, örtliche – wenn man so will – gedankliche Raum zwischen dem Prozess der Dekonstruktion und dem Wiederaufbau, im Fall des autobiographischen Schreibens beziehungsweise der Autofiktion zwischen dem Autor, der sich selbst und seine Erinnerungen im rückblickenden Schreiben auseinandernimmt und der Autorfigur, die als Endprodukt stehen bleibt. Dieser Raum kann gleichsam als autobiographischer Raum mitgedacht werden, insofern es sich gemäß den in Kapitel 1 vorgeschlagenen Kriterien als “poetisches System“ 45 begreifen lässt. Wenn liminale Zonen nämlich „als eine unscharfe, aber konkrete Zone, innerhalb derer Positionen und Relationen stets neu ausgehandelt werden müssen“ 46 verstanden werden, ist evident, dass für den autobiographischen Raum, in dem der Autor sich zeitlich, systematisch und räumlich losgelöst durch seine Autorfigur entfalten kann, das Gleiche gilt. So ist der autobiographische Raum, genau wie die Schwellenphase als Teil eines Modells, ein paradigmatischer Ort47. In diesem Stadium wurden noch keine Regeln definiert. Ganz im Gegenteil kann im Sinne van Genneps nur von dem Dazwischen gesprochen werden, wenn der Zustand weder dem des Ausgangsstadiums noch dem des Ziels gleicht. In der Schwellenphase ist es möglich, auf Grund der emergenten 48 Natur dieser Phase, verstörende Erfahrungen zu machen, die sich aus der Abwesenheit von Vertrautem ergeben. Denn „wer eine liminale Erfahrung macht, muss 44 vgl. van Gennep (2005), S. 15. 45 Pottbeckers, Jörg (2017), S. 40. 46 Borgards, Roland: Liminale Anthropologien. Skizze eines Forschungsfeldes, in: Achilles, Jochen / Borgards, Roland / Burrichter, Brigitte (Hg.): Liminale Anthropologien. Zwischenzeiten, Schwellenphänomene, Zwischenräume in Literatur und Philosophie, Würzburg 2012, S. 12. 47 „Der Mensch erscheint so nicht als etwas Gegebenes, sondern als ein Werdendes; nicht als ein Bestimmtes, sondern als ein zu Bestimmendes. Für dieses Werden, dieses Bestimmen bietet die Zone, die Schwelle, der Übergang den paradigmatischen Ort“. Achilles, Jochen / Borgards, Roland / Burrichter, Brigitte, in: ebd., S. 8. 48 Der Begriff “Emergenz“ wird verwendet, um Erscheinungen zu charakterisieren, die vor ihrem Auftauchen nicht hätten vorhergesagt werden können. vgl. Fischer-Lichte, Erika / Kolesch, Doris / Warstat, Matthias (2005), S. 87. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 19 von 33 vorübergehend ohne feste Position, ohne verlässliche Beziehungen, ohne vertraute Umgebung […] und eindeutig definierte Aufgaben auskommen“49. Ergänzt werden Beobachtungen von der auch als “liminalen“ Phase bezeichneten Schwellenphase durch die Strömungen Victor Turners. Laut Turner kann in der liminalen Phase eine Art Fließen, also ein meditatives Verschmelzen von Handlung und Bewusstsein erlebt werden, ähnlicher einer Trance. Die zweite Phase wird gekennzeichnet von einer “Anti-Struktur“50, die auch gesellschaftliche Hierarchien aushebelt und durch eben diese Losgelöstheit die Grenzen des Verortbaren nichtig macht. Auch das autobiographische Schreiben kann in ihren Wurzeln als eine Art der Emanzipation gegenüber vorgegebenen Ordnungen gedeutet werden, in der „mit der Freiheit der Selbstschöpfung […] Typologien verlassen“51 werden. Nachdem nun das Konzept der Liminalität, im Sinne des Verlaufsmodells von Arnold van Gennep und ergänzt durch die Strömungen Turners, eingeführt und die Auffassung des autobiographischen Schreibraums als eine Form des Nicht- Orts erläutert wurde, sollen die drei Stufen mit der Dreiteilung von Autor, Schreibendem und Autorfigur verschränkt werden. Ferner soll auf die Gemeinsamkeiten eingegangen werden, die zwischen der erinnerten Kindheit des Schreibenden als Möglichkeit der Authentifizierung und der Separationsphase bestehen, beziehungsweise wie und ob Inszenierungspraktiken in die Wiedereingliederungsphase einzuordnen sind. Außerdem soll weiterhin die These verfolgt werden, dass der Schreibende als dritte Instanz zwischen Autor und Autorfigur in der liminaren Phase des autobiographischen (Schreib)raums existiert. 49 Fischer-Lichte, Erika / Kolesch, Doris / Warstat, Matthias (2005), S. 186. 50 ebd. 51 vgl. Fritz, Jochen (2007), S. 164. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 20 von 33 3. Die Konstitution des Ich in Karl Ove Knausgårds Romanzyklus Min Kamp anhand van Genneps dreigliedrigen Verlaufsmodells Der norwegische Autor Karl Ove Knausgård hat mit seinem sechsbändigen Romanprojekt Min Kamp ein poetologisches System in Form eines 4000 Seiten und vier Jahrzehnte umfassenden autobiographischen Raums entworfen. Bereits der erste Band, Sterben, hat die Strömungen des autobiographischen Schreibens, die Realität möglichst detailgetreu abzubilden, in Form eines „existenziellen Realismus“ auf die Spitze getrieben52. Im inneren Klappentext des Abschlussbands “Kämpfen“ ist sogar die Rede von einem „Vordringen zum Kern der Menschlichkeit“53. Mit der Bekanntheit seiner Bücher ist das Herzstück, Autor- und Autorfigur Knausgård, ein internationales Phänomen geworden. Er steht, mit seinen Ausführungen fern eines Ziels und jeder Grenzen, exemplarisch für die Figur des verinnerlichten Schriftstellers, der auf sich selbst in der Rolle eines hadernden Autors der Öffentlichkeit trifft. Ob in sich gewandt oder veräußert: Er kann weder mit noch ohne das Schreiben, um zu sein, wer er ist. Wer vom Schreiben lebt, muss schreiben. Auch vor dem Erfolg seines Romanzyklus schrieb Knausgård, der an der Akademie für Schreibkunst in Hordaland studiert hat, Kurzgeschichten und veröffentlichte Romane. Nie gelang es ihm dabei, seinen eigenen Erwartungen gerecht zu werden: Durch das Schreiben die Wirklichkeit hervortreten zu lassen 54 52 vgl. Tholen, Toni: „meinem Leben so nahe zu kommen wie möglich“. Zur Konstitution von Männlichkeit und Autorschaft in Karl Ove Knausgårds autobiographischem Romanzyklus Min Kamp, in: Stauf, Renate / Wiebe, Christian (Hg.): Erschriebenes Leben. Autobiographische Zeugnisse von Marc Aurel bis Knausgård, Heidelberg 2020 (2020), S.17 - 33, hier S. 18. 53 Karl Ove Knausgård: Kämpfen, München 2017. 54 vgl Knausgård (2015), S. 572: „Denn es war nicht so, dass die Sprache die Wirklichkeit in ihre Stimmungen hüllte, sondern umgekehrt, dass die Wirklichkeit aus ihnen hervortrat.“ Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 21 von 33 und sie als Erkenntnisform zu nutzen um „vom Fleck zu kommen“ 55. Als junger Mann will Knausgård „in die Finsternis [seiner] Seele hinab“ 56, dann lernt er das Schreiben und will ausbrechen aus dem Verinnerlichten, den „immer kleinere[n] Kreise[n]“ mit „der immer größeren Dunkelheit“57. Konstant tritt in seinem Kampf das Bedürfnis nach Bewegung hervor, die für ihm neben Zerstörung die wichtigste Komponente für Freiheit ist58. Knausgård wähnt sein Ziel an einem Ort, besser noch in einer Verortung, die mal durch Rückzug, mal durch die Flucht nach vorne erfolgen soll. In jedem Fall bedarf sie aber eines Prozesses: Dem des Schreibens. Und „beim Schreiben geht es eher ums Zerstören als ums Erschaffen“59. Im Romanzyklus werden die Dimensionen dieses Kampfes und folglich auch des Schreibens vor allem durch den Kontrast zweier Elemente gerahmt: Auf der einen Seite stehen die Exkurse über philosophisch-künstlerische Zusammenhängen, die insbesondere im sechsten Band, Kämpfen, die Grenzen des Romans verlassen und zum Essayistischen abdriften. Dem gegenüber stellt Knausgård Alltagsszenen, in denen er das Kochen eines Tees oder den morgendlichen Gang über die Straße so kleinteilig beschreibt, dass Erzählzeit und erzählte Zeit stellenweise identisch ausfallen. Die beiden Pfeiler sind so weit auseinander, dass der Eindruck entsteht, Knausgård habe, so „authentisch“ und „echt“ es eben geht, einfach „runtergeschrieben“, was ihm tagesformabhängig in den Sinn gekommen sei. Dann würde es sich bei Min Kamp um Produktionsnotizen handeln – Eine Form des autobiographischen Schreibens, die keinesfalls neu ist und für den bekennenden Thomas Espedal-Leser Knausgård60 steht es sicherlich nicht zur Debatte, seinen Kampf mit dem Schreiben in einen 55 vgl. Knausgård (2015), S. 596. 56 Knausgård: Träumen, München 2017, S. 248. 57 vgl. Knausgård (2017a): S. 43 – 44. 58 vgl. Knausgård (2015), S. 339. 59 ebd. 60 Espedal und Knausgård haben gemeinsam die Akademie für Schreibkunst besucht; Im Romanprojekt nimmt Knausgård wiederholt Bezug auf das Wirken seines Kollegen. vgl. Knausgård (2017). Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 22 von 33 schon bestehenden Rahmen zu stellen. Dafür ist das Produzieren zu sehr ein Teilaspekt, der sich auf weitere Bereiche seines Lebens ausdehnt, aber niemals ein Problem in sich darstellt. Wenn Knausgård unzufrieden mit seinem Schreiben ist, dann bezieht er sich auf frühere Texte und impliziert, mit dem Roman, in dem diese Unzufriedenheit thematisiert wird, an einem Punkt angelangt zu sein, an dem er das nicht mehr ist. Der Konflikt, der eine Arbeit am Text bedeuten könnte, ist für die Autorfigur Knausgård längst abgeschlossen. Es geht ihm nicht um eine Verbesserung, beispielsweise als detailgetreuere Darstellung oder Interpretation der Wirklichkeit. Min Kamp soll ein Eigenleben entwickeln, einen alternativen Raum schaffen. Als einen Ansatz, das Verhältnis von Beschreibungen des Alltäglichen und das Reflektieren über Kunst in Min Kamp zu deuten und den Zwischenraum zu überbrücken, eignet sich eine Aussage Knausgårds, die er an den Anfang seines Romanzyklus setzt. Bereits auf Seite 20 von Sterben schreibt er: „Die Welt zu verstehen heißt, einen bestimmten Abstand zu ihr einzunehmen“. Diesen Abstand zu gewinnen, dieses “Dazwischen“ zu finden, ist der Lebens- und Schreibanspruch der Autorfigur Karl Ove Knausgård. Beide aufgeführte Extremen sind Teil von Knausgårds allgegenwärtigem „Kampf“: Nicht das Leben oder das Schreiben an sich ist ihm ein Kampf, sondern das Leben als jemand, der schreiben muss und das Schreiben als jemand, der leben muss. So kämpft er darum, sich selbst als Teil der Welt zu begreifen und sie nicht lediglich als äußere Wirklichkeit in Relation zum Raum, den sein Innerstes fordert, vor sich herzuschieben. Würde er sich als Teil der echten Welt und nicht primär als Schriftsteller fühlen, würde er auch eine Vereinigung der vielen Fragmente seiner selbst bewirken. Doch er sieht sich als Schriftsteller. Als solcher ist er zum Schreiben verdammt und kann Sinnhaftigkeit nur begreifen, wenn er Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
Das Ich dazwischen Seite 23 von 33 außerhalb der Ereignisse steht.61 Gleichzeitig kann sein Kampf als Schriftsteller nicht enden, solange er sich durch seine Weltwahrnehmung als Außenstehender fühlt. Denn seiner Auffassung nach muss die Literatur der Moderne ihm zu einer alternativen, nachhaltig veränderten Wahrnehmung seiner Selbst verhelfen, was die Beteiligung seiner Person als Subjekt voraussetzt62. Bedeutende Werke sollen, so Knausgård, eine Erkenntnisform sein, die für eine Bewusstseinverschiebung sorgt. Dies geschehe nicht durch ihre Inhalte, sondern im Zuge der Vorstellung, die er während des Lesens von sich selbst bekommt, „im Schatten der Sätze“ 63, bereichert um „Ahnungen und Wahrnehmungen“64. „Man weiß zu wenig, und es existiert nicht. Man weiß zu viel, und es existiert nicht. Schreiben heißt, das Existierende aus den Schatten dessen zu ziehen, was wir wissen (…) Dort ist der Ort und das Ziel des Schreibens. Aber wie kommt man dorthin?“65 Knausgård zu Folge bedarf es für das Einnehmen des „richtigen Abstands“ also eines alternativen Raumes, jenseits des Existierenden (des Autors) und dem Schatten (der Autorfigur). Dort ist die Zielgerade, die zu überschreiten den Sinn hinter seinem Schreiben bedeutet. 61 vgl. Knausgård (2015), S. 64 - 65: „Warum soll die Tatsache, dass ich Schriftsteller bin, mich von dieser Welt ausschließen? (…) Wenn mich das Leben eins gelehrt hat, dann ist es zu ertragen, es nie in Frage zu stellen, und die Sehnsucht, die dadurch entsteht, in meinem Schreiben zu verbrennen.“ 62 vgl. ebd., S. 570 – 571: „Die Literatur der Moderne mit ihrer riesigen, brachliegenden Maschinerie war ein Werkzeug, eine Erkenntnisform, und wenn man sich in sie eingearbeitet hatte, konnten die Einsichtigen, die sie vermittelte, verworfen werden, ohne dass das Wesentliche an ihr verloren ging, die Form blieb bestehen und ließ auch daraufhin dem eigenen Leben zuwenden, den eigenen Faszinationen, die somit plötzlich in einem völlig neuen und bedeutsamen Licht erscheinen mochten.“ 63 ebd. S. 572. 64 ebd., S. 571. 65 ebd., S. 331. Johanna von Renteln – Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus – Bachelorarbeit
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