DAS JUBELJAHR IN BIBEL UND THEOLOGIE

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DAS JUBELJAHR IN
BIBEL UND THEOLOGIE

Vortrag am ChristNetForum
„Ein Jubeljahr für die Schweiz?“

23. Juni 2012, EGW Bern

© Lukas Amstutz
   Theologisches Seminar Bienenberg
   4410 Liestal

   lukas.amstutz@bienenberg.ch

Lukas Amstutz (1973) ist Dozent am Theologischen Seminar Bienenberg, Liestal (BL) und
Mitglied der Evangelischen Mennonitengemeinde Schänzli, Muttenz (BL). Er ist verheiratet
und hat zwei Kinder. Als mennonitischer Theologe steht er in der Tradition der ältesten
protestantischen Freikirche, die seit der Reformation das Evangelium immer wieder mit
Fragen rund um Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung verbindet.
Das Jubeljahr in Bibel und Theologie                                                                                            Lukas Amstutz

     Inhaltsverzeichnis

      1. Einführung ......................................................................................................................... 3
      2. Zur Begrifflichkeit ............................................................................................................. 4
      3. Das Jubeljahr im Alten Testament .................................................................................. 4
                      Leben in Gemeinschaft ................................................................................................ 5
                      Die (theologische) Bedeutung des Landes ...................................................................... 5
                      Soziales Leben im Land ............................................................................................. 6
                      Das Jubeljahr (Lev 25) .............................................................................................. 7
                      Gute Idee – schlechte Praxis ....................................................................................... 8
      4. Jesus und das Jubeljahr ..................................................................................................... 9
      5. Das Jubeljahr im Leben der Kirche .............................................................................. 10
      6. Abschliessende Bemerkungen ....................................................................................... 12

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     1.          Einführung
        „Noch einmal von vorne anfangen können“ – wer einschlägige Suchmaschinen im
Internet mit diesen Worten füttert, merkt schnell: Diesen Wunsch teilen viele Menschen.
Vor allem die ominöse Midlife-Krise weckt offensichtlich vielfach den Wunsch nach einem
umfassenden Neubeginn.
        Wer nun das Suchfeld noch mit dem Stichwort „Jesus“ ergänzt, merkt ebenso
rasch: „Noch einmal von vorne anfangen können“ – dies scheint so etwas wie eine
Zusammenfassung des Evangeliums zu sein. Wer sich die Suchresultate etwas genauer
ansieht, wird feststellen, dass sich diese gute Nachricht vorwiegend auf eine spirituelle
Dimension konzentriert: Es ist die Sündenvergebung Gottes durch Jesus Christus, die
Menschen einen Neuanfang ermöglicht. Zumindest auf die Schnelle findet sich jedoch kein
Link, der das Heil mit einem materiellen Neuanfang für in Schulden geratene Menschen in
Verbindung bringt. Vor allem aus einer traditionell freikirchlich-evangelikalen Perspektive
scheint klar: Gott ist für den geistlich-moralischen Neuanfang zuständig – bei einem
finanziellen Bankrott braucht es einen Konkursverwalter.
         Diese Zweiteilung mag pragmatisch sinnvoll sein, biblisch ist sie jedoch nicht.1 Das
Evangelium ist keineswegs apolitisch, noch spielen ökonomische Fragen darin keine Rolle.
Gerade das heute Nachmittag im Zentrum stehende Jubeljahr zeigt: Gottes gute Nachricht
umfasst auch sozialwirtschaftliche Aspekte – auch in diesem Bereich sollen Neuanfänge
möglich sein. Darauf weisen Vertreter der friedenskirchlich-täuferischen Tradition seit
Jahrzehnten hin (z.B. Trocmé 1961; Sider 1978; Yoder 1981; Ott 2007). Dass diese
sozialethischen Perspektiven der zuweilen argwöhnisch beachteten „Radikalen
Evangelikalen“ (vgl. Schnabel 1993:28–82) nun auch in neueren Publikationen als
inspirierend aufgegriffen werden (z.B. Faix 2012; Hardmeier 2009:162–179; Tan 2011),
stimmt mich hoffnungsvoll. Meine Ausführungen zum Thema „Das Jubeljahr in Bibel und
Theologie“ stehen denn auch in dieser Linie. Sie sind vom Glauben und der Hoffnung an die
neuschaffende und gesellschaftsverändernde Kraft des Evangeliums getragen (vgl. Faix
& Künkler 2012).

         Noch ein Hinweis zur Gliederung meines Vortrags: Nach einer kurzen Klärung der
Begrifflichkeit, skizziere ich die alttestamentlichen Bestimmungen zum Jubeljahr im
Kontext der damaligen Sozialstruktur. Anschliessend wende ich mich Jesus und seinem
Verhältnis zum Jubeljahr zu. Von der Apostelgeschichte ausgehend, folgen schliesslich
einige Beobachtungen zur christlichen Rezeption des Jubeljahres quer durch die
Geschichte. Mit einigen Schlussbemerkungen soll dann die Brücke zur AHV-Erbschafts-
Initiative geschlagen werden.

––––––––––––––––
1 Diese falsche Dichotomie ist (war?) auch Teil der ökumenisch-evangelikalen Polarisation in der Frage nach
einem (ganzheitlichen) Missionsverständnis (vgl. dazu Ott 2001).

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     2.          Zur Begrifflichkeit
        Auch wenn die Bestimmungen des „Jubeljahres“ bei manchen tatsächlich
überschwängliche Freude auslösen dürfte, lässt sich von der hebräischen Sprache keine
direkte Verbindung zum deutschen Verb „jubeln“ herstellen. Es handelt sich vielmehr um
eine Ableitung des Wortes „Jobeljahr“. Der hebräische Ausdruck jôbel bezieht sich dabei
auf das Widderhorn, mit dem das Jobeljahr jeweils eröffnet wurde (Lev 25,9). Im
Lateinischen hat sich schliesslich die Übersetzung iubilaeus durchgesetzt, wovon der
deutsche Begriff „Jubeljahr“ abgeleitet wurde. Martin Luther übersetzte Widderhorn mit
„Posaune“, leitete davon seinerseits den Begriff „Halljahr“ ab und sprach vom „Frei-
beziehungsweise Erlassjahr“ (Kessler 2009b).
       Welche Terminologie wir auch immer verwenden, letztlich handelt es sich –
zumindest für die Armen in Israel – um gute Nachricht, weswegen ich im Folgenden gerne
den Begriff „Jubeljahr“ weiter verwende.

     3.          Das Jubeljahr im Alten Testament
       Die zentralen Bestimmungen zum Jubeljahr finden sich in Leviticus 25 und
gehören damit zum sogenannten Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26).2 Bemerkenswert ist bei
dieser Gesetzessammlung, dass in der vorliegenden Endgestalt der biblischen Texte, einst
möglicherweise voneinander unabhängige kultische und soziale Gesetze nun ineinander
verwoben sind und gerade so den einen Willen des einen Gottes ausdrücken.3 Dabei ist zu
bedenken, dass die geforderte Heiligkeit im Kontext des gnädigen Befreiungshandeln
Gottes im Exodusgeschehen zu interpretieren ist.
        Der Alttestamentler Eckhart Otto sagt es so: „JHWH hat Israel geheiligt, indem er es aus
Ägypten geführt hat […] Der Exodus wird als Heiligung Israels durch JHWH verstanden, die Israel in
die Lage versetzte, die Gebote zu erfüllen und darin JHWH zu heiligen“ (Otto 1994:239). Anders
gesagt: Das Einhalten der Weisungen Gottes soll für Israel eine Antwort auf Gottes
vorausgehendes Handeln sein.
        Auf diesem Hintergrund kann es nun auch nicht erstaunen, dass die zentrale
Bedeutung des Jubeljahres in Lev 25,10 mit den Worten „Befreiung“ oder „Freiheit“
(hebräisch: derôr) wiedergegeben wird. Das Befreiungshandeln Gottes im Exodus wird
damit zum Vorbild für die Sozialethik Israels. Dies gilt auch für die einschlägigen
Jubeljahrbestimmungen. Bevor wir uns diese etwas genauer anschauen, widmen wir uns
zunächst in aller Kürze der sozial-ökonomischen Struktur im alten Israel.

––––––––––––––––
2 Der Name leitet sich von der in Lev 17-22 mehrfach vorkommenden Heiligkeitsformel ab: „Seid heilig,
denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig.“
3 Ich gehe dabei von einem hermeneutisch-exegetischen Ansatz aus, der unter dem Stichwort „kanonische

Schriftauslegung“ subsumiert werden kann (vgl. Oeming 2007:75–82). Im Gegensatz zu einer ausschliesslich
historisch-kritischen Auslegung, die Spannungen und Widersprüche im Endtext durch hypothetische
Rekonstruktionen von textlichen Vorstufen aufzulösen versucht, fragt eine kanonische Interpretation danach,
wie die vom Verfasser des Endtextes offensichtlich gewünschten oder zumindest akzeptierten Spannungen
zu verstehen sind.

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Leben in Gemeinschaft
         Sowohl der moderne Individualismus, wie auch die heute gängige Kleinfamilie sind
der alttestamentlichen Lebenswelt fremd. Der einzelne Mensch ist vielmehr in ein
vielfältiges Beziehungsgeflecht eingebunden, das weitgehend auf verwandtschaftlichen
Beziehungen basiert. In der Literatur wird diesbezüglich von einer dreiteiligen
Stammesstruktur gesprochen (vgl. Wright 1995:197–198; Tan 2011:50–51):
                 (1) Die grösste Einheit bildet dabei der Volksstamm (hebr.: shevet), der eine
                     Grösse von einigen tausend Menschen aufweist. Die maximale Grösse
                     wies möglicherweise Juda während der Monarchiezeit auf, mit einer
                     Gesamtzahl von bis zu 100‘000 Menschen.
                 (2) Die zweitgrösste Einheit bildet die Sippe (hebr.: mishpahah). In Israel dürfte
                     es rund 60 Sippen gegeben haben, die je eine durchschnittliche Grösse von
                     etwa 10‘000 erwachsenen Männern aufweisen.
                 (3) Die kleinste Einheit ist das „Vaterhaus“ (hebr.: bethav), die von Soziologen
                     auch als 3G-Familie bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um eine
                     Grossfamilie (10-30, ev. gar 100 Erwachsene), die mehrere Generationen,
                     Verwandte, Knechte, Mägde und gelegentlich auch Fremde umfasst. Als
                     Produktionseinheit muss sich diese Grossfamilie wirtschaftlich
                     selbstständig versorgen und benötigt daher genügend fruchtbares Land,
                     das eine ausreichende Ernte ermöglicht.
       Zusammenfassend lässt sich festhalten: Diese verwandtschaftlichen Beziehungen
und Strukturen sollen gemeinsam mit dem zugeteilten Land die nötigen Grundlagen
schaffen, damit sich alle einen gewissen Wohlstand erwirtschaften können.

Die (theologische) Bedeutung des Landes
        Seit dem göttlichen Ruf an Abraham in Genesis 12, gehört die Landverheissung zu
den zentralen Elementen der biblischen Heilsgeschichte. Auch wenn in der Forschung die
im Buch Josua geschilderte Landnahme in vielerlei Hinsicht umstritten ist 4, kommt das
biblische Zeugnis in der theologischen Reflexion derselben zu einem eindeutigen Schluss:
Das Land ist für Israel eine verheissene Gabe Gottes (Jos 21,43-45). Das sollte Israel
niemals vergessen!
        Denn mit der Gabe ist auch eine Aufgabe verbunden: Im Land soll Israel das
Leben nach den Weisungen Gottes gestalten und so ein Licht für die Völker sein (vgl. Dtn
4,6-8; Jes 42,5-7; 58,6-10). Das Leben im Land ist damit ganz eng an die Bundesbeziehung
zwischen Gott und seinem Volk gekoppelt (Wright 1995:200). Es erstaunt daher auch
nicht, dass bereits in der Landverteilung deutlich wird, welche Art von Gemeinschaft Gott
gründen wollte.

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4 Eine leicht verständliche Darstellung der heute in der alttestamentlichen Wissenschaft gängigen
Erklärungsmodelle bietet Jericke (2008).

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       Kim Tan (2011:52f.) fasst dies summarisch in den folgenden vier Prinzipien
prägnant zusammen:
                 (1) Solidarität: Josua ermahnte die Stämme östlich des Jordans zur Mithilfe bei
                     der Landnahme;
                 (2) Fairness: die Landverteilung basiert auf der Grösse der Stämme;
                 (3) Gnade: Auf jeder Seite des Jordans wurden je drei Freistädte (Asylstätten)
                     eingerichtet;
                 (4) Grosszügigkeit: die Leviten erhielten von jedem Stamm eine Anzahl von
                     Städten und Weideland, verzichteten ihrerseits aber auf ein materielles
                     Erbe.
       Mit diesen Prinzipien kann der Landverteilung durchaus ein sakramentaler
Charakter zugesprochen werden: alle sollen an Gottes grosszügiger Gabe Anteil haben
(Janzen 1982:160).

Soziales Leben im Land
        Trotz diesen idealen Startbedingungen geht die alttestamentliche Gesetzgebung
davon aus, dass sich im Land aufgrund unterschiedlicher Faktoren erhebliche
wirtschaftliche und soziale Spannungen ergeben haben. Dies wird jedoch nicht einfach
hingenommen. Ganze Gesetzessammlungen widmen sich diesen Problemkreisen, die an
dieser Stelle nicht näher erläutert werden können. Gewissermassen als Cantus firmus ist
jedoch durchgängig zu hören, dass Gott Eigentümer des Landes bleibt (Lev 25,23; Ps 24,1).
        Damit erhält die gesamte alttestamentliche Sozialordnung eine theologische
Begründung. Weil das Land Gott gehört, dürfen weder Land noch Menschen endgültig
verkauft werden. Und weil Gott als Eigentümer die sozialen Randgruppen in besonderer
Weise am Herzen liegen, begrenzt er zum Beispiel die Rechte von Kreditgebern
dahingehend, dass Schuldner nicht ausgebeutet werden dürfen (vgl. Ex 22,24; Lev 25,35-
37; Dtn 23,19). Weiter bleibt der Schutz und die Würde eines Schuldners dadurch gewahrt,
dass weder lebensnotwendige Dinge gepfändet werden dürfen (Ex 22,25f.; Dtn 24,6) noch
eine eigenmächtige und wahllose Pfändung erfolgen darf (Dtn 24,10f.).
        Zusammen mit einer Reihe weiterer Gesetze formulieren diese Texte aus
unterschiedlichsten Perspektiven Antworten auf die Frage: Wie lebt ein Volk, dessen
Identität von Gottes Heiligkeit geprägt ist? Wie bei einem Puzzle entsteht dadurch ein Bild
einer lebensfördernden Gesellschaft, die sich durch Solidarität und Gemeinschaftstreue
auszeichnet, die dem einzelnen Menschen das gelingen in einer Gemeinschaft ermöglicht.
Die soziale Verantwortung wird dadurch für Israel zu einer Aufgabe um seiner selbst
willen. Denn werden die sozialen Randgruppen vernachlässigt, verliert Israel seine Identität
als Bundesvolk. Der Umgang mit dem Land – und dazu gehört die Solidarität mit den
sozial schwachen Menschen – ist daher so etwas wie das „geistliche Thermometer“, das
anzeigt, wie es um die Bundesbeziehung zwischen Gott und seinem Volk steht (Wright
1983:59). In diesem Sinne sind auch die Regelungen betreffs Jubeljahr zu interpretieren.

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Das Jubeljahr (Lev 25)
       Die umfassendsten Regelungen bezüglich Jubeljahr finden sich in Leviticus 25 und
gehören in den Kontext der teils radikalen sozialwirtschaftlichen Gebote im Alten
Testament. Dazu gehören
                 (1) das Abgabegebot (Dtn 14,28; 26,12), das vorschreibt, dass die Israeliten alle
                 drei Jahre im jeweils nächsten Stadtzentrum den zehnten Teil ihrer Ernte
                 zugunsten der armen Bevölkerung abgeben.
                 (2) ist das Sabbatgebot zu nennen (Dtn 15; Lev 25), das alle sieben Jahre zu den
                 folgenden Massnahmen aufruft:
                            (a) Einen ganzjährigen Feiertag ausrufen (Lev 25). Ein Jahr lang sollen alle,
                            einschliesslich Diener, Angestellte, Tiere und das Land ruhen!
                            Verbunden ist dies mit der Verheissung, dass die vorangehenden
                            Ernten ausreichen, um die Bevölkerung zu ernähren.
                            (b) Alle Schulden werden annulliert (Dtn 15). Mit Hilfe dieser Regelung soll
                            vermieden werden, dass einzelne Menschen in eine verhängnisvolle
                            Schuldenspirale geraten, die zur totalen Verarmung führt. Und
                            schliesslich sollen
                            (c) alle Sklaven entlassen werden (Dtn 15). Dieses Verhalten ist letztlich
                            eine direkte Antwort auf Israels eigene Befreiung aus der Sklaverei.
           Neben Abgabe- und Sabbatgebot ist nun
                 (3) das Jubeljahr zu nennen. Die Anweisungen zu einer einjährigen Brache, dem
                 Schuldenerlass5 und der Sklavenbefreiung sind mit jenen aus dem Sabbatgebot
                 identisch.6 Daneben erwartete Gott von seinem Volk nun aber auch, dass alle
                 fünfzig Jahre die in der Zwischenzeit erworbenen Häuser und Felder wieder
                 ihren ursprünglichen Besitzern zurückgegeben werden.7 Dabei muss bedacht
                 werden, dass Familien ihr Land nicht freiwillig verkauft haben, sondern
                 aufgrund von Schulden, die ganz unterschiedliche Ursachen haben konnten.
                 Als Folge wurde der Besitz verkauft und anschliessend meist in den Städten
                 nach (Sklaven)Arbeit gesucht.
                         Da das Jubeljahr nur alle fünfzig Jahre praktiziert werden soll, ist es
                 aufgrund einer Lebenserwartung von ca. 35 Jahren (Lang 2007) eher
                 unwahrscheinlich, dass jemand, der sein Land verkaufen musste, auch wieder
                 selbst dahin zurückkehren kann. Die Konsequenzen der Verschuldung werden
                 daher nicht unmittelbar aufgehoben.

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5 Ben Ollenburger (2001:214f.) macht richtigerweise darauf aufmerksam, dass im Gegensatz zu Dtn 15,1-5
der Schuldenerlass in Lev 25 nicht erwähnt wird und daher möglicherweise nicht Teil der Jubeljahrregelung
war. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass das Jubeljahr (50. Jahr) jeweils direkt auf einen Schuldenerlass im
Sabbatjahr (49. Jahr) folgt. Zudem waren Schulden in einer agrarischen Gesellschaft oft mit Naturalien und
dem dazugehörigen Land verbunden, weswegen die im Jubeljahr erfolgte Landrückgabe faktisch oft auch
einem Schuldenerlass gleichkam.
6 Diese Nähe erinnert daran, dass das Jubeljahr ganz grundsätzlich im Kontext des Sabbats zu verstehen ist

(vgl. Janzen 1999).
7 Für Häuser in den Städten, levitische Städte und Fremde und Halbbürger gelten aus diversen Gründen

Ausnahmeregelungen (vgl. Ollenburger 2001:215f.).

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                        Aber: das Jubeljahr will verhindern, dass Familien und Sippen für
                 immer von wirtschaftlichen Fehlentwicklungen betroffen sind. Stattdessen
                 sollen Familien alle fünfzig Jahre die Chance auf einen umfassenden
                 Neubeginn erhalten. Deshalb werden Familienbeziehungen und Landbesitz
                 wiederhergestellt, um die neuerliche wirtschaftliche Selbstständigkeit zu
                 ermöglichen. Diese regulierenden Massnahmen verhindern nicht bloss
                 wirtschaftliche Missverhältnisse zwischen Arm und Reich, sondern wirken
                 präventiv gegen politische und gesellschaftliche Unruhen.

       In seinem anregenden Buch Das Erlassjahr-Evangelium nennt Kim Tan (2011:41–45)
wiederum summarisch sechs grundlegende Prinzipien, die hinter dem Jubeljahr stehen.
                 (a) Das Streben nach sozialer Gerechtigkeit: Es ist letztlich Gott selbst, der nach
                     einer Gesellschaft strebt, die sich ganzheitlich um Gerechtigkeit bemüht. In
                     der Fürsorge für die sozialen Randgruppen soll nicht zuletzt sein Charakter
                     und sein Wesen erkennbar werden.
                 (b) Glaube und Vertrauen: Anstelle einer gnadenlosen Ertragsmaximierung,
                     basiert das Jubeljahr auf dem Vertrauen in die anhaltende Fürsorge Gottes.
                 (c) Freiheit: Nicht nur die Armen und Gefangenen sollen befreit werden, auch
                     die Reichen sollen vor der Gefahr der Habgier befreit werden.
                 (d) Haushalterschaft: Israel ist „nur“ mit der Verwaltung des Landes beauftragt.
                     Gott bleibt der Eigentümer und fordert einen sorgfältigen und
                     nachhaltigen Umgang mit den anvertrauten Ressourcen.
                 (e) Familie: Das Jubeljahr hilft mit, die für die soziale Sicherheit
                     überlebenswichtigen Familien-, Sippen- und Verwandtschaftsstrukturen zu
                     erhalten.
                 (f) Grosszügigkeit: Das Jubeljahr zielt nicht auf Almosen zugunsten der Armen,
                     sondern sorgt sich systematisch um eine gerechte Gesellschaft.
                     Grosszügigkeit muss daher als zurechtbringende Gnade verstanden
                     werden.

Gute Idee – schlechte Praxis
         Die Forschung hegt insgesamt grosse Zweifel, ob das Jubeljahr in Israel je einmal
konsequent praktiziert worden ist (vgl. Wright 1995:206–208). Die Gründe dafür mögen
vielschichtig sein, aber wahrscheinlich hat Stuart Murray schon recht, wenn er die
fehlenden Jubeljahre mit den kernigen Worten begründet: „Es handelt sich um gute Nachricht
für die Armen – und um schlechte Nachricht für die Reichen!“ (Murray 2000:199).
        Es ist wohl in gewisser Weise auch bezeichnend, dass der Untergang Jerusalems
nach Jeremia 34 ganz eng mit der Missachtung gegen die Sabbatjahrverordnungen
zusammenhängt. Trotzdem wird in der prophetischen Literatur die Erinnerung an das
Jubeljahr wach gehalten und nun zunehmend mit dem Anbruch einer neuen Heilszeit in
Verbindung gebracht. Das Jubeljahr wird dabei immer stärker zu einem Handeln Gottes für
sein Volk.

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        Einer der prominentesten Texte diesbezüglich dürfte Jesaja 61 sein. Wenn dort
gleich zu Beginn von der Entlassung und der Befreiung der Gefangenen und Gefesselten
die Rede ist, wird damit wörtlich die Sprache von Leviticus 25 aufgegriffen.8 Und wenn
Jesaja 60-62 vom Anbruch eines neuen Reiches spricht, das von einem grosszügigen
Herrscher regiert wird,9 lässt dies daher durchaus an das Jubeljahr denken.10 Diese
Verbindung wird nun auch an der Schwelle zum Neuen Testament bedeutsam. Denn nach
dem Bericht von Lukas, liegen der Antrittspredigt von Jesus in Nazareth Verse aus Jesaja
61 (und 58,6) zugrunde.11

     4.          Jesus und das Jubeljahr
        Die wirtschaftlichen Verhältnisse zur Zeit Jesu unterscheiden sich grundlegend von
jenen, die in Leviticus 25 vorausgesetzt werden. Unter der Herrschaft der Römer war die
Mehrheit der Menschen längst ohne Grundbesitz, die Cäsaren trieben Steuern ein und
niemand hatte die Amtsbefugnis ein Jubeljahr auszurufen. Trotzdem besteht unter den
Theologen ein zunehmender Konsens, dass Jesus seine Antrittspredigt – und damit seinen
ganzen Dienst – im Blick auf das Jubeljahr interpretierte.12 Dabei hatte Jesus nicht die
buchstäbliche Umsetzung der Anweisungen aus Leviticus 25 vor Augen – aber sie stellen
so etwas wie „Bilder der Verheissung“ (Yoder 2011:61) dar, die Jesus dazu dienten, seine
Botschaft vom anbrechenden Reich Gottes auch politisch und wirtschaftlich zu verstehen.
       Der Bezug zum Jubeljahr spielt daher eine besondere Rolle, wie der renommierte
mennonitische Theologe John Howard Yoder in seinem epochalen Werk Die Politik Jesu13
dargelegt hat. Neben der bereits erwähnten Antrittspredigt illustriert er dies an weiteren
Aussagen Jesu (Yoder 1981:59–69).
                 (1) Wenn sich die Jünger bei ihrem Engagement für das Reich Gottes Sorgen
                     um Essen und Trinken machen (Lk 12,29-31), entspricht dies exakt der
                     Sorgen jener, die mit Blick auf die Bracheregelung im Jubeljahr fragen, was
                     sie essen denn essen sollen, wenn nicht gesät wird (Lev 25,20).

––––––––––––––––
8 Diese Verbindung wird besonders in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der sogenannten
Septuaginta (LXX), deutlich, verwendet sie doch das griechische Wort „aphesis“, um sowohl jôbel (Lev 25 und
27) als auch derôr (Lev 25) zu übersetzen. Zu den exegetischen Einzelheiten, vgl. Ollenburger (2001:224–229).
9 Im Alten Orient war es durchaus üblich, dass Herrscher anlässlich ihrer Thronbesteigung umfassende

Schulderlasse verfügten, um das soziale Gefüge im Land wieder herzustellen (Kessler 2009a). Handelt es sich
in diesen Fällen um einen königlichen Gnadenakt, sind die alttestamentlichen Jubeljahrbestimmungen
dagegen fest im kultischen Kalender verankert und damit unabhängig vom Wohlwollen der herrschenden
Elite.
10 Auch wenn Ollenburger (2001:227) bezweifelt, dass Jes 61 ursprünglich ein Jubeljahrtext darstellt, gesteht

er doch zu, dass die Verbindung zum Jubeljahr exegetisch deutlich hergestellt werden kann.
11 Ob Jesus die Jesajastelle selbst gewählt hat oder ob sie ihm zur Lesung zugeteilt wurde (vgl. Bovon

1989:211), spielt an dieser Stelle keine Rolle.
12 „Sollte [Jesus], wie manche Historiker vermuten, im Jahr 26 in Galiläa dem verarmten, verschuldeten und

versklavten Landvolk ein Jubeljahr verkündet haben, dann muss dies im Zusammenhang seiner
Reichsverkündigung als reales Vorzeichen des nahenden Reich Gottes verstanden werden. Auf jeden Fall
aber wird klar, dass Gottes nahendes Reich in der Geschichte Jesu die konkrete Form der messianischen
Erfüllung der Erlass- und Freijahrgesetze Israels annimmt“ (Moltmann 1989:141).
13 „Christianity Today“ setzte dieses Buch auf Platz 5 der 100 wichtigsten theologischen Bücher des 20.

Jahrhunderts. Eine Neuauflage wird im Herbst 2012 im Neufeld Verlag erscheinen.

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                 (2) Die Gleichnisse Jesu, die sich mit den Fragen von Schuld und Befreiung
                     beschäftigen (Mt 18,23-35; Lk 16,1-12). Die Botschaft ist dabei klar: Nur
                     wer Gnade praktiziert, erfährt Gnade. Die Erlösung Gottes wird zunichte,
                     wenn die in materielle Schuld geratenen Geschwister nicht erlöst werden.
                 (3) In diesem Sinn ist auch die Bitte um Vergebung im Vaterunser zu
                     verstehen, wird doch auch hier exakt das gleiche Wort aus Leviticus 25
                     verwendet (aphiemi). Yoder (1981:61) folgert daraus: „Im Vaterunser empfiehlt
                     uns Jesus also nicht einfach vage, denen zu vergeben, die uns geärgert oder Leid zugefügt
                     haben, sondern er sagt uns einfach und klar, dass wir denen, die bei uns in der Kreide
                     stehen, ihre Schuld erlassen sollen; anders ausgedrückt: wir sollen das Jubeljahr
                     praktizieren“.
                 (4) Die Anweisung Jesu an seine (potentiellen) Nachfolger „Verkauft alles und
                     gebt es den Armen“ (Lk 12,33; 18,22) entspricht den Anweisungen zur
                     Neuverteilung gemäss dem Jubeljahr.

        Doch Jesus predigt nicht bloss das Jubeljahr, er praktiziert es in gewisser Weise
auch. Sein Jüngerkreis pflegt offensichtlich eine gemeinsame Kasse (Lk 8,2f.). In seinen
Tischgemeinschaften erweist er sich als ein Freund der sozial Ausgestossenen (Lk 7,34). Er
richtet das gnadenlose religiöse System (Lk 7,45-48), speist die Hungrigen (Lk 9,10-17),
macht Blinde sehend (Lk. 18,35-43), führt die Zerschlagenen in die Freiheit (Lk 7,34-50;
8,26-39; 13,10-17; 17,11-19) und verkündigt den Armen gute Nachricht (Lk 14,15-24; 15,1-
32).
        Kurz: „Mit seinen Worten und Taten interpretierte Jesus die Bedeutung des Erlassjahres radikal
neu. Statt eines Ereignisses, das alle 50 Jahre stattfindet, sollte es jetzt eine tägliche Pflicht im Leben der
Jünger sein“ (Tan 2011:133). Und in der Tat gehört das Ringen um eine alternative
Wirtschaftsform denn auch zu den bemerkenswerten Kennzeichen der Jerusalemer
Gemeinde als direkte Folge des Pfingstgeschehens.

     5.          Das Jubeljahr im Leben der Kirche
        Die zuweilen als „Liebeskommunismus“14 belächelte Gütergemeinschaft in
Apostelgeschichte 4,32 war kein kommunistisches Ideal, wurde das Privateigentum gemäss
den Überzeugungen des Jubeljahres ja gerade nicht abgeschafft. Worauf es ankam, war aber
die radikale Bereitschaft zum Teilen.
       Wenn Lukas in seinem Bericht festhält, dass dies dazu führte, dass keiner unter
ihnen Mangel litt (Apg 4,34), muss dies als Erfüllung der Sozialgesetzgebung aus Dtn 15,4f.
gelesen werden, wo es heisst, dass es in Israel keine Armen geben soll. Was in Israel
schmerzlich vermisst wurde, praktiziert demnach die durch den Geist Gottes befähigte
Gemeinde.

––––––––––––––––
14Zu diesem von Ernst Troeltsch eingeführten Begriff, vgl. Hengel (1973:39–42). Zur Gütergemeinschaft in
Apg 4,32-37 und ihrer Wirkungsgeschichte, siehe auch den informativen Exkurs von Rudolf Pesch
(2005:184–194).

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        Dabei ist klar: die frühe Kirche praktizierte nicht eine wörtliche Umsetzung des
Jubeljahres. Die Kirche wurde weit mehr vom Geist des Jubeljahres erfasst – ein Reich
voller Hoffnung auf Gerechtigkeit und Solidarität.
           Noch bis ins dritte Jahrhundert lehrt der Kirchenvater Irenäus:
                 „Deswegen hat der Herr […] statt des Zehnten die Verteilung der gesamten Habe unter die
                 Armen geboten und befohlen, nicht nur den Nächsten, sondern auch die Feinde zu lieben,
                 nicht nur gute Geber und Verteiler zu sein, sondern freiwillige Geber gegen die, welche uns
                 das Unsrige nehmen“ (Irenäus, um 200 nach Christus, Gegen die Häresien IV, xiv.
                 3; zitiert in Tan 2011:153).
           Auch Clemens von Alexandrien schreibt:
                 „Alle Dinge sind daher gemeinsames Eigentum, und die Reichen sollen für sich nicht mehr
                 in Anspruch nehmen als die anderen […] Es ist aber verkehrt, wenn ein einzelner im
                 Überfluss lebt und viele in Not sind. Denn wie viel rühmlicher ist es, vielen wohlzutun, als
                 prunkvoll zu wohnen! Und wie viel verständiger ist es, sein Vermögen auf Menschen als auf
                 Edelsteine und Gold zu verwenden! (Clemens von Alexandrien, um 200 nach
                 Christus, Paidagogos II, xii.20.6; zitiert in Tan 2011:153).
         Und geradezu resigniert klingt es, wenn Kaiser Julian beim Versuch, das
Christentum zu schwächen, konstatieren muss: „Diese elenden Galiläer speisen nicht nur ihre
eigenen Armen, sondern auch unsere“ (zitiert in Tan 2011:146).

        Eine Veränderung in dieser Praxis bewirkte die sogenannte konstantinische Wende
(4. Jahrhundert) mit ihrem folgenreichen Schulterschluss zwischen Kirche und Staat. Der
Geist des Jubeljahres wurde dadurch zunehmend gedämpft. Anstelle der Sorge um den
wirtschaftlichen Ausgleich propagierte die Kirche ein System mit einem erheblich
geringeren Anspruch: der Zehnte als eine einkommensabhängige Kirchensteuer.
      Obwohl dafür durchaus biblische Belege angeführt werden können, deckt Stuart
Murray die dahinterliegenden Überlegungen und damit verbundenen Fehlentwicklungen
schonungslos auf (Murray 2000:129f.):
                      Das tatsächliche Vermögen eines Individuums spielt keine Rolle mehr.
                      Reichtum muss längst nicht mehr geteilt werden, solange man (angeblich)
                      innerlich nicht daran gebunden ist.
                      Motivation für das Geben ist das eigene Seelenheil. Nicht die materiellen
                      Bedürfnisse der Empfänger stehen im Vordergrund, sondern die
                      himmlische Belohnung des Gebers.
                      Geben wird damit als lohnende Investition dargestellt. Die Logik lautet:
                      Wer gibt, wird von Gott in Form von noch grösserem Wohlstand gesegnet.
                      Spenden werden zu Almosen, die keine systemische Gerechtigkeit
                      herbeiführen.
                      Das Geld wird für den Unterhalt des Kirchenvermögens, - personals und –
                      verwaltungsapparates verwendet, statt Menschen in Not direkt zu helfen.

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       Auf dem Hintergrund dieser Logik erstaunt es auch nicht, dass die unter Papst
Bonifatius VIII. eingeführten „Jubeljahre“ nun hauptsächlich als eine besondere Form des
Sündenablasses darstellten (vgl. Wikipedia 2012).
         Quer durch die Jahrhunderte gab es jedoch immer wieder Bewegungen, die ihre
Stimme für das alttestamentliche Jubeljahr erhoben. Exemplarisch sei hier lediglich auf die
mir am besten bekannte täuferisch-mennonitische Tradition verwiesen.15 Als im 17.
Jahrhundert den Täufern im Zuge der obrigkeitlichen Repressionen mitunter der ganze
Besitz konfisziert wurde, beklagt sich etwa der Pfarrer von Zofingen über den fehlenden
Nutzen dieser Massnahme. Als Grund nennt er die weitreichende Solidarität der Täufer
untereinander, die den mittellosen Geschwistern nicht bloss aus der Schweiz, sondern auch
aus dem Elsass und den Niederlanden sofort umfassende finanzielle Hilfe zukommen
lässt.16 Auch mit den sogenannten Armenkassen reagierten viele täuferische Gemeinden
lange vor einem staatlichen Sozialfürsorgesystem auf finanzielle Schwierigkeiten innerhalb
und teilweise auch ausserhalb der eigenen Gemeinde.17
        Daneben könnten nun selbstredend eine ganze Reihe weiterer Beispiele genannt
werden:     Von       den    mönchischen       Bettelorden    über     die    verschiedenen
Kommunitätsbewegungen bis hin zu den Initiativen wie Erlassjahr 2000 (www.erlassjahr.de)
oder die Micha-Initiative (www.micha-initiative.de) beziehungsweise die Stop Armut-Kampagne
(www.stoparmut2015.ch). Und schliesslich will nun ja auch die geplante
Erbschaftssteuerinitiative sich in diesen Reigen einfügen. Damit komme ich zu einigen
abschliessenden Bemerkungen.

     6.          Abschliessende Bemerkungen
         Der bereits mehrfach erwähnte Theologe John Howard Yoder schrieb einst mit
Blick auf das Jubeljahr: „Eine solche Neuverteilung des Kapitals […] wäre auch heute nichts
Utopisches“ (Yoder 1981:69). Daran hat sich meines Erachtens nichts geändert. Natürlich
lässt sich das Jubeljahr auch heute nicht buchstäblich umsetzen. Aber vielleicht gelingt es
uns neu, das Jubeljahr paradigmatisch zu verstehen18 – als Teil eines alternativen
Wirtschafts- und Gesellschaftsdenkens und                 -handelns. Dazu leistet die
Erbschaftssteuerinitiative meines Erachtens einen wichtigen Beitrag. Sie atmet den Geist
des Jubeljahres und weist einen Weg, wie die alten biblischen Texte eine neue Relevanz für
unsere heutige Gesellschaft entfalten können. Dies ist aus einer biblisch-theologischen
Perspektive sehr zu begrüssen.

––––––––––––––––
15 Die Mennoniten haben ihre historischen Wurzeln in der Reformationszeit des 16. Jahrhunderts und
gehören zu den Historischen Friedenskirchen. Zur Situierung in der freikirchlichen Landschaft, vgl. Geldbach
(2005:198–211).
16 "So mag man mitt der Confiscation [der Güter bei den Teüffern] so gar vil auch nit ußrichtten, sittenmal

Inen uff der stett die Collectae werden zugsandtt, alß dan auch in theüwrer Zyt beschicht, alß uß dem
Oberlandt, Emmenthal, Zürich und Schaffhusergebiet, uß dem Elsaß, und Niderlandtt [=Regionen
rheinabwärts!], ja von Amsterdamischen Kauffherren selbs, wie dan ein gwüßer Kirchendiener sölches im
grund erfahren." Pfr. Adam Forrer von Zofingen (1629). Dieses Zitat verdanke ich Hanspeter Jecker, Dozent für
Kirchengeschichte und Ethik am Theologischen Seminar Bienenberg (Liestal).
17 Einen Einblick in dieses Sozialhilfesystem am Beispiel der Täufergemeinden im Jura gewährt der Beitrag

von Pierre Zürcher (2010).
18 Zum dem paradigmatischen Ansatz der alttestamentlichen Ethik, vgl. Janzen (1994), Wright (1983).

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            Trotzdem möchte ich am Ende dieses Vortrages zwei Punkte zu bedenken geben:
                 (1) Wir haben gesehen, dass die Reglungen zum Jubeljahr in den Kontext des
                     Bundes zwischen Gott und seinem Volk gehören. Diese Bundesbeziehung
                     spielt denn in der Umsetzung dieser radikalen Ideen eine eminent wichtige
                     Rolle. Das Jubeljahr zu praktizieren, braucht Glaube und Vertrauen in die
                     Fürsorge Gottes. Wer sich nicht auf diesen Gott verlassen kann oder will,
                     fragt wohl zu recht: Wie soll das gehen? Warum sollte ich so etwas
                     Verrücktes tun?
                               Es stellt sich daher meines Erachtens die Frage, inwiefern dieses
                       biblische Paradigma von einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft
                       erwartet werden kann. Oder müssten hier nicht gerade auch Kirchen und
                       Gemeinden stärker als Modelle dienen, um vor den Augen dieser Welt
                       wirtschaftliche und gesellschaftliche Alternativen zu illustrieren?19 Erwarten
                       wir am Ende gar von den Reichen in diesem Land mehr, als wir selbst zu
                       praktizieren bereit sind?

                 (2) Die mit der Initiative geforderte Erbschaftssteuer soll der AHV
                     zugutekommen. Dafür gibt es gute und nachvollziehbare Gründe, die die
                     Initiative auch über den kirchlichen Kontext akzeptabel machen. Wenn wir
                     aber vom biblischen Jubeljahr ausgehen, sollten wir daran denken, dass damit
                     umfassende gesellschaftliche und wirtschaftliche Neuanfänge ermöglicht
                     werden sollen. Dazu leistet die AHV sicherlich unbestreitbare Beiträge.
                     Dennoch scheint es mir wichtig zu sein, dass wir daneben die grössere
                     Perspektive nicht aus den Augen verlieren. Ohne die (drohende) Armut in
                     der Schweiz zu verharmlosen, müssen wir uns doch fragen lassen,
                     inwiefern ein „Jubeljahr für die Schweiz“ einen Beitrag zur Bekämpfung
                     der globalen Armut leisten kann. Oder ob – angeregt durch dieses biblische
                     Prinzip – etwa die Nothilfe für Asylbewerber wieder auf Sozialhilfe erhöht
                     werden könnten?
                               Vielleicht wäre dies politisch noch weniger konsensfähig, aber das
                       Jubeljahr fordert uns heraus, weiterhin nach kreativen Wegen Ausschau zu
                       halten, die der Forderung Gottes entsprechen: „Eigentlich sollte es bei [euch]
                       gar keine Armen geben“ (Dtn 15,4). Schenke Gott uns dazu Weisheit und
                       Mut!

––––––––––––––––
 Zur Bedeutung der Kirche und ihrer Praxis als Modell für die Gesamtgesellschaft, vgl. die Studie von John
19

Howard Yoder (2011).

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Das Jubeljahr in Bibel und Theologie                                                                   Lukas Amstutz

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