Das Nessie der Sozialpolitik - Der Chefökonom - 3. September 2021 - Handelsblatt
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Der Chefökonom – 3. September 2021 Das Nessie der Sozialpolitik Ein garantiertes, müheloses Einkommen ist ein alter Traum der Menschheit. Doch dieser ist in einer Marktwirtschaft nicht erfüllbar. von Prof. Bert Rürup Bis weit in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurde in den nachrichtenarmen Sommermonaten oft "Nessie", die Riesenschlange im schottischen Loch Ness, gesichtet. Auch in der wirtschaftspolitischen Diskussion gibt es ein Thema, das in unregelmäßigen Abständen auftaucht, um nach kurzer Zeit wieder in der medialen Versenkung zu verschwinden: das bedingungslose Grundeinkommen. Die Idee, die jetzt der an der Universität Hamburg lehrende Volkswirtschaftsprofessor Thomas Straubhaar propagiert, klingt verblüffend einfach: Da der überwiegend beitragsfinanzierte Sozialstaat Frauen benachteiligt, ist dieses System weder gerecht noch zeitgemäß und sollte daher durch ein bedingungsloses Grundeinkommen von 1000 Euro monatlich ersetzt werden. Im Gegenzug fallen alle bisherigen Sozialleistungen weg. Gegen Krankheit muss sich jeder selbst versichern. Alle Einkommen werden mit 50 Prozent besteuert; Steuer und Grundeinkommen werden verrechnet, sodass die effektive Steuerpflicht ab 24.000 Euro Jahreseinkommen einsetzt. Damit reiht sich der renommierte Ökonom in eine illustre Schar von Anhängern dieser bereits von zahlreichen Philosophen und Utopisten des klassischen Altertums und der Neuzeit propagierten Idee ein. Allein in den zurückliegenden 20 Jahren reicht die Liste nur der prominenten Vertreter vom Informationstheoretiker Erik Brynjolfsson, dem Autor des Weltbestsellers "The Second Machine Age", über Papst Franziskus, Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, Tesla-CEO Elon Musk, Telekom-Chef Timotheus Höttges bis zu dem Wanderer zwischen Spekulation und Altruismus, George Soros, sowie dem Drogeriemarktkönig Götz Werner. Allerdings wird ein bedingungsloses Grundeinkommen von Vertretern des linken Lagers wie Sahra Wagenknecht und Christoph Butterwegge abgelehnt, nicht zuletzt wegen der damit verbundenen Entwertung von Arbeitnehmerschutzrechten. Das Ende der Marktwirtschaft, wie wir sie kennen
Bemerkenswert ist, wie zahlreich und teils widersprüchlich die Hoffnungen sind, die sich die Protagonisten von solch einer Reform des Sozialstaats versprechen. Ausgangspunkt ist stets eine drohende Katastrophe: bei Straubhaar eine sich verfestigende Massenarbeitslosigkeit als Folge der Digitalisierung sowie eine systematische Benachteiligung von Frauen in unserem Sozialsystem. Deshalb müsse der Sozialstaat verschlankt und seine Effizienz gesteigert, mehr umverteilt und zudem den Menschen mehr Selbstverwirklichung ermöglicht werden. Im Gegensatz zu anderen Befürwortern will Straubhaar den Sozialstaat keineswegs deutlich ausweiten. Angesichts eines Sozialbudgets von gut einer Billion Euro wäre der von ihm empfohlene Systemwechsel annähernd kostenneutral, sofern jeder der 83 Millionen Einwohner Deutschlands 12.000 Euro pro Jahr erhielte. Damit erinnert seine Variante an die in den 1960er-Jahren vom späteren Nobelpreisträger Milton Friedman propagierte negative Einkommensteuer - die letztlich ebenfalls ein bedingungsloses Grundeinkommen für jedermann implizierte. Nun ist es zweifellos richtig, dass durch die voranschreitende Digitalisierung und die angestrebte Dekarbonisierung der Wirtschaft in den kommenden Jahrzehnten zahlreiche Arbeitsplätze wegfallen werden. Richtig ist aber auch, dass technischer Fortschritt und Strukturwandel zentrale Elemente einer Marktwirtschaft sind, die in den zurückliegenden technologischen Revolutionen keineswegs zu Massenarbeitslosigkeit geführt haben. Stets entstanden mehr neue Arbeitsplätze, deren Anforderungsprofile man im Voraus nicht kennen konnte. Das alternde Deutschland dürfte in den kommenden Jahren eher mit massivem Fachkräftemangel als mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben. Das wohl größte Hindernis für Frauen zur Aufnahme eine Vollzeitbeschäftigung, die ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt deutlich verbessern würden, ist zudem sicher nicht bei den Sozialversicherungen zu suchen, sondern beim Ehegattensplitting, bei Defiziten in der institutionalisierten Kinderbetreuung und nicht zuletzt in fehlenden Ganztagsschulen. Nicht weniger wichtig das Folgende: Der Glaube, mit einem garantierten Grundeinkommen den Menschen die Ängste vor einer technologischen Massenarbeitslosigkeit nehmen zu können, basiert auf der Annahme, es sei möglich, jedem Einwohner einen halbwegs komfortablen Lebensstandard gewährleisten zu können, ohne dass es dafür eine Voraussetzung oder eine Verpflichtung gibt zu arbeiten. Implizit wird unterstellt, dass eine Gesellschaft durch die Einführung eines Grundeinkommens - zumindest ein Stück weit - ihren Charakter als einkommens- und renditeorientierte Erwerbsgesellschaft verliert. Träfe dies zu, so wäre dies das Ende der Marktwirtschaft, wie wir sie in Deutschland kennen und die seit sieben Jahrzehnten ein Garant für Wohlstand und Sozialstaat ist. 2
Zudem sollten die Verteilungswirkungen und die damit verbundenen Anreize solch eines Grundeinkommens nicht unterschätzt werden. Transferempfänger wie bedürftige Langzeitarbeitslose und Studierende erhielten mehr Geld vom Staat. Für Empfänger von Arbeitslosengeld II stiege die ohnehin sehr hohe Transferentzugsrate vermutlich auf 100 Prozent; der monetäre Anreiz zu arbeiten wäre für sie gleich null. Die beliebten 450-Euro-Jobs würden deutlich unpopulärer, wenn auf solche Hinzuverdienste 50 Prozent Abgaben entfielen. Voraussichtlich müssten die Bruttolöhne für Aushilfen also deutlich steigen. Spürbar steigen sollen zudem die Belastungen für Kapitaleinkommen, die nach Straubhaar ebenfalls mit 50 Prozent zu besteuern wären. Ob in einer globalisierten Welt mit entgrenzten Kapitalmärkten die international mobilen Investoren eine solche Steuererhöhung reaktionslos hinnehmen würden, ist fraglich. Käme es zu einer Flucht von Sach-, Finanz- und damit letztlich auch Humankapital, würden Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit leiden, und die unfreiwillige Arbeitslosigkeit würde steigen. Auf der anderen Seite dürfte ein solch hoher und bedingungsloser Transfer viele Menschen nach Deutschland locken, die gerade nicht zur Erwirtschaftung, sondern lediglich zur Inanspruchnahme dieser jedem Einwohner zustehenden Sozialleistung beitragen wollen. Die juristischen Hürden, andere EU-Bürger von solchen Leistungen auszuschließen, sind nämlich sehr hoch. Für nicht wenige Bulgaren, die im Heimatland in Vollzeit zum durchschnittlichen Monatsbruttolohn von gut 600 Euro arbeiten, dürfte - trotz der deutlichen realen Kaufkraftunterschiede - ein bedingungsloses Grundeinkommen von 1000 Euro steuerfrei wie eine Einladung ins Schlaraffenland klingen. Eine beachtliche Migration nach Deutschland dürfte die Folge sein. Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens könnte somit den Verbleib Deutschlands in der EU infrage stellen. Vergegenwärtigt man sich die gravierenden Probleme, die Europa nicht zuletzt infolge der Pandemie gerade bewältigen muss, würde ein Austritt Deutschlands das Ende dieser Staatengemeinschaft bedeuten. Der ohnehin schleichend an Bedeutung verlierende alte Kontinent würde sich selbst ins Abseits schießen. DIW-Chef Marcel Fratzscher, dessen Institut gerade einen Feldversuch zum bedingungslosen Grundeinkommen durchführt, betont: "Wir wissen nicht, wie und für wen ein bedingungsloses Grundeinkommen funktionieren wird und was es mit den Menschen machen wird." Einigen Menschen dürfte es helfen, eigene Träume und Pläne zu realisieren und sich damit auch verstärkt in die Gesellschaft einzubringen. Andere werden durch ein Grundeinkommen ihre Arbeit aufgeben und nicht mehr, sondern weniger in ihre Bildung und Qualifizierung investieren - mit anderen Worten: Solch eine Reform wäre ein Experiment mit höchst ungewissem Ausgang. 3
Daher lautet meine Prognose: Neigt sich das mediale Sommerloch seinem Ende, wird die Diskussion über ein bedingungslose Grundeinkommen ähnlich rasch wie Nessie wieder in der Versenkung verschwinden - gut so! 4
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