Das Verhältnis zwischen Archiv- und Geschichtswissenschaft
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Universität Zürich Praktikumsbericht Flurina Camenisch Historisches Seminar Staatsarchiv Zürich 10-735-157 Essay zu meinem Praktikum im Staatsarchiv Zürich Das Verhältnis zwischen Archiv- und Geschichtswissenschaft Obwohl ich während des Geschichtsstudiums im Rahmen von Seminararbeiten be- reits vor meinem Praktikum im Staatsarchiv Zürich einige Archiverfahrungen sam- meln konnte, eröffnete mir die archivarische Tätigkeit einen ganz anderen Blickwinkel auf die Quellen, welche die Arbeitsgrundlage jeder meiner wissenschaftlichen- historischen Arbeiten bilden. Sowohl durch den Einblick in die verschiedenen Abtei- lungen des Staatsarchivs, welchen ich im Rahmen eines Einführungsprogrammes gewinnen konnte als auch durch meine Tätigkeit in der Abteilung Aktenerschliessung wurde mir zunehmend bewusster, wie stark die Arbeit der HistorikerInnen von der Vorarbeit der Archive abhängig ist und dass die wissenschaftliche-historische For- schung bis zu einem gewissen Grad auch durch die Entscheide der Archive darüber welche Unterlagen überliefert werden sollen und welche nicht, beeinflusst wird. Auf Grund dieser Eindrücke und Erfahrungen möchte ich im vorliegenden Essay ge- nauer auf das Verhältnis zwischen Archiv- und Geschichtswissenschaft eingehen und dabei insbesondere der Frage nachgehen, inwiefern das Archiv als Speicher einer „vergangenen Wirklichkeit“ betrachtet werden kann. Auf das enge Verhältnis zwischen Archiv- und Geschichtswissenschaft weist sowohl die Tatsache hin, dass HistorikerInnen etwa einen Drittel der ArchivbenutzerInnen ausmachen als auch der Umstand, dass die meisten wissenschaftlichen ArchivarIn- nen von Haus aus HistorikerInnen sind und auch während ihrer archivarischen Be- rufstätigkeit weiterhin zu historischen Themen publizieren.1 Dennoch unterscheiden sich die Zugangsweise und die Erkenntnisinteressen von ArchivarInnen und Histori- kerInnen bei der Arbeit im Archiv grundlegend. So steht bei den HistorikerInnen meist eine Frage im Zentrum des Interesses, über welche sie sich durch das Studium der Unterlagen Aufschluss zu erhalten erhoffen.2 ArchivarInnen hingegen haben zum Ziel, diese Unterlagen zu systematisieren und auf eine möglichst logische Art und Weise online zu erfassen und sie damit für alle interessierten Personen auffindbar 1 Vgl. Pilger, Archive und historische Forschung, S. 370-371. 2 Vgl. Ebd., S. 374. 1
Universität Zürich Praktikumsbericht Flurina Camenisch Historisches Seminar Staatsarchiv Zürich 10-735-157 und zugänglich zu machen. Ihre eigene wissenschaftliche Arbeit wird dadurch in den Hintergrund gedrängt.3 Die Aufgabe der digitalen Verzeichnung der zur Überlieferung ausgewählten Archiva- lien im Archivkatalog übernimmt im Staatsarchiv Zürich die Abteilung Aktenerschlies- sung. Die Abteilung Aktenerschliessung bildet zusammen mit vier weiteren Abteilun- gen – Überlieferungsbildung, Individuelle Kundendienste, Beständeerhaltung und Editionsprojekte – die Organisationsstruktur des Staatsarchivs Zürich. Ich hatte in den vergangenen Monaten mein eigenes Projekt unter dem Arbeitstitel Organisati- onskomitee 700 Jahre Eidgenossenschaft Zürich. Dabei handelte es sich um Akten eines kantonalen Organisationskomitees, welches die Feierlichkeiten zum 700- jährigen Bestehen der Schweiz 1991 plante und organisierte. Meine Aufgabe be- stand darin, die Unterlagen online unter möglichst aussagekräftigen Titeln zu struktu- rieren und zu beschreiben, um sowohl für HistorikerInnen als auch für interessierte Laien einen möglichst guten Zugang zu den Unterlagen zu schaffen. Dabei sollte insbesondere auch die Struktur der Archivalien beibehalten werden (z.B. Unterlagen welche zusammen in einem Ordner waren, werden entweder ebenfalls zusammen belassen oder zumindest im Online-Katalog so abgebildet, dass man sie als zusam- mengehörig erkennen kann), um möglichst viel des Charakters der Unterlagen zu bewahren. Bei dieser Tätigkeit zeigte sich, dass ich Unterlagen ganz anders behan- delte als wenn ich sie mir im Rahmen einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit an- geschaut hätte. Während der archivarischen Tätigkeit stand weniger der historische Gehalt der Akten im Zentrum meines Interessens sondern vielmehr deren Struktur, ihr richtiges Umpacken (dabei müssen störende Materialien wie Büroklammern und Post-Its entfernt, Fotografien in spezielle Mäppchen verpackt werden usw.) und ihre Betitelung. Meine unterschiedlichen Blickwinkel – einerseits als angehende Historike- rin, andererseits als Mitarbeiterin des Staatsarchivs – auf historische Unterlagen zeigte sich insbesondere auch bei der Kassation von als irrelevant eingestuften Ar- chivalien. Als angehende Historikerin fand ich es einerseits traurig all diese Bücher usw. wegwerfen zu müssen. Als Mitarbeiterin des Archivs war es auf der anderen Seite jedoch verständlich, dass man aus Platzgründen nicht alles Material archivieren kann, das vorhanden wäre. Die unterschiedlichen Interessenschwerpunkte von Histo- 3 Vgl. Kellerhals-Maeder, Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Archiv, S. 301. 2
Universität Zürich Praktikumsbericht Flurina Camenisch Historisches Seminar Staatsarchiv Zürich 10-735-157 rikerInnen und ArchivarInnen zeigen sich folglich auch in Bezug auf die Frage, wie- viel historisches Material überliefert werden soll bzw. kann.4 Im Fall des Staatsarchivs Zürich stammt das zu archivierende Material fast aus- schliesslich von kantonalen Institutionen wie dem Kantonsparlament, der kantonalen Verwaltung, den kantonalen Gerichten usw., welche gesetzlich dazu verpflichtet sind, nicht mehr benötigte Unterlagen dem Staatsarchiv zur dauernden Archivierung anzu- bieten. Welchen Anteil welcher Aktengruppe das Staatsarchiv tatsächlich archiviert, bestimmt hauptsächlich die Abteilung Überlieferungsbildung. Ziel ist es dabei die Grundlagen und den Vollzug des Verwaltungshandelns authentisch zu dokumentie- ren. Zu diesem Zweck wird z.B. durch Zufallsprinzip jede zehnte Akte einer bestimm- ten Aktengruppe archiviert oder man wählt bei Personenakten alle Akten eines „mög- lichst neutralen“ Buchstabens des Alphabets (oftmals B weil ca. 10% aller Nachna- men in der Schweiz mit B beginnen und dabei zudem alle Wohnregionen und Natio- nalitäten ausgewogen vertreten sind). Durch ein solches Auswahlverfahren wird ge- währleistet, dass der übernommene Aktenanteil die Inhalte der gesamten Akten- gruppe widerspiegelt. Zusätzlich werden in manchen Fällen auch noch besonders auffällige Akten einer Gruppe (beispielsweise weil es sich um besonders ausgefalle- ne Fälle handelt oder weil sie eine berühmte Persönlichkeit betreffen) aufgenommen. Dabei wird jedoch klar deklariert, dass es sich dabei um Sonderfälle und nicht um eine zufällige Auswahl handelt. Ein Teil der Entscheide darüber, was ins Archiv aufgenommen wird, bleibt dabei na- türlich auch dem Ermessen der ArchivarInnen überlassen. So hatte ich in meinem Bestand Organisationskomitee 700 Jahre Eidgenossenschaft Zürich z.B. oftmals ganze Stapel sehr ähnlicher wenn nicht gar identischer Akten. Dabei handelte es sich oft um Kopien, welche manchmal mit einzelnen handschriftlichen Anmerkungen oder Ähnlichem versehen war. Da es zu aufwändig gewesen wäre, jedes einzelne Blatt abzugleichen, wirkliche Doubletten zu kassieren und abweichende Unterlagen zu behalten, galt es für mich in diesem Fall ebenfalls abzuwägen zwischen der Mög- lichkeit, alles, was nach identischen Unterlagen aussah, zu kassieren und dabei zu riskieren, dass ev. auch unterschiedliche Akten vernichtet werden würden und der alternativem Möglichkeit alle Unterlagen zu behalten, obwohl diese teilweise doppel- te Überlieferung Platz brauchen würde. Dieses Beispiel zeigt meiner Meinung nach gut auf, dass die geschichtswissenschaftliche Forschung bis zu einem gewissen 4 Vgl. Pilger, Archive und historische Forschung, S. 378. 3
Universität Zürich Praktikumsbericht Flurina Camenisch Historisches Seminar Staatsarchiv Zürich 10-735-157 Grad von den Entscheiden der ArchivarInnen abhängig ist. Die HistrorikerInnen kön- nen schliesslich nur mit Material arbeiten, das auch vorhanden ist.5 Nicht selten richten sich die ArchivarInnen bei der Auswahl der zur Überlieferung an- gebotenen Materialien jedoch auch nach besonderen Interessenschwerpunkten in der Geschichtswissenschaft und reagieren mit einer gewissen Prioritätensetzung da- rauf.6 Zum Verhältnis zwischen Archiv- und Geschichtswissenschaft kann abschliessend gesagt werden, dass sich die Erkenntnisinteressen, Herangehensweisen und Blick- winkel von ArchivarInnen und HistorikerInnen zwar oftmals grundlegend unterschei- den, dass die unterschiedlichen Methoden aber zu produktiven Ergebnissen führen, wenn sie miteinander verbunden werden. So brauchen die HistorikerInnen die Kom- petenz und Hinweise der ArchivarInnen, um in einer vernünftigen Zeit zu nutzbrin- genden Forschungsfragen und -Ergebnissen zu gelangen. Umgekehrt macht die ar- chivarische Tätigkeit der ArchivarInnen insbesondere dann einen Sinn, wenn die be- reitgestellten Materialien auch tatsächlich zu Forschungszwecken genutzt werden. In Bezug auf die Sicht eines Archivs als Speicher einer „vergangenen Wirklichkeit“ kann festgehalten werden, dass Archive auf Grund des Platzmangels und der dadurch erforderlichen Auswahl des angebotenen Materials zwar nicht eine vollstän- dige vergangene Wirklichkeit bewahren können, dass die ArchivarInnen aber sehr darum bemüht sind, ein möglichst entsprechendes Abbild der Wirklichkeit zu schaf- fen, indem – wie oben dargelegt – eine repräsentative Auswahl der Akten behalten wird, die Struktur der Akten nicht verändert wird (d.h. man belässt die Unterlagen weitgehend in ihrer überlieferten Ordnung, auch wenn sie nach eigenem Empfinden ungeordnet sind) usw. Dass dabei auch manchmal Unterlagen verloren gehen, die für die historische Forschung interessant gewesen wäre, liegt in der Natur des Ar- chivs. Abschliessend kann ich sagen, dass ich durch mein Praktikum einen guten Einblick in die sehr durchdachten Strukturen des Staatsarchivs erhalten habe. Die Archiv- erfahrung veranlasste mich mein Vorgehen beim wissenschaftlichen Arbeiten zu re- flektieren und vermehrt über quellenkritische Fragen wie die der Quellenüberlieferung nachzudenken. 5 Vgl. Pilger, Archive und historische Forschung, S. 377. 6 Vgl. Küsters, Gespräch, S. 393. 4
Universität Zürich Praktikumsbericht Flurina Camenisch Historisches Seminar Staatsarchiv Zürich 10-735-157 Literaturverzeichnis Pilger, Andreas: Die Archive und die historische Forschung. Eine Podiumsdiskussion zwischen Archivaren und Historikern, in: Der Archivar 4, 2011, S. 370-385. Küsters, Hanns Jürgen: Gespräch mit Hanns Jürgen Küsters zum Verhältnis von Ar- chiven und historischer Forschung, in: Der Archivar 4, 2011, S. 391-396. Kellerhals-Maeder, Andreas: Einige Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Archiv heute aus archivischer Sicht, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 3, 2003, S. 300-305. 5
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