De-/Kolonisierung Des Wissens - polis aktuell 1/2022 - Zentrum polis
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Liebe LeserIn, lieber Leser! In dieser Ausgabe von polis aktuell wollen wir uns mit Diese Entwicklungen spiegeln sich auch im Lehrplan einem Thema beschäftigen, das in den letzten Jahren und im Grundsatzerlass Politische Bildung wider. großen Aufwind erfahren hat. Es handelt sich um die Um uns dem Thema anzunähern, müssen wir erst De-/Kolonisierung des Wissens. verstehen, was Kolonialismus mit Bildung und Wissen Viele Ereignisse haben die Gesellschaft in den letzten zu tun hat. Dazu werden wir zu Beginn den Begriff Jahren dazu bewegt, genauer auf koloniale Kontinuitä- „Wissen“ vorstellen, anschließend einen Blick auf die ten zu schauen. Während Rassismus schon seit der Bür- Kolonialismusgeschichte aus der Perspektive von Wissen gerInnenrechtsbewegung in den USA auf der progressi- und Bildung werfen und den Begriff der epistemischen ven politischen Agenda steht, sind koloniale Inhalte von Gewalt vorstellen. Anschließend tauchen wir ein in The- Lehrplänen in Schulen und Hochschulen als Ursache für orie und Praxis der Dekolonisierung. In mehreren Pra- Rassismen erst seit kurzem in den Blick von sozialen xisbeiträgen erfahren wir aus erster Hand, wie Dekoloni- Bewegungen genommen worden. sierung in Österreich praktisch umgesetzt werden kann. Eine Bewegung hat in den letzten Jahren den Diskurs Das Unterrichtsbeispiel „Rassismus im Schulbuch?“ gibt um Rassismus und Kolonialismus maßgeblich geprägt: einen ersten Anstoß zur Umsetzung des Themas in der Black Lives Matter. Ihr verdanken wir es, dass Men- Schule. Zum Schluss haben wir Material-, Link- und schen rund um die Welt bei rassistischer Gewalt nicht Lesetipps aufbereitet. mehr tatenlos zuschauen. Ausgelöst wurde die Welle der Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen. Empörung am 25. Mai 2020 durch die Ermordung des US-Amerikaners George Floyd durch einen Polizisten. Ihr Team von Zentrum polis Bereits fünf Jahre zuvor hat eine andere dekoloniale Be- > service@politik-lernen.at wegung auf sich aufmerksam gemacht: Rhodes Must Fall. Diese kritisierte das Gedenken an Kolonialherrscher im inhalt öffentlichen Raum. Weitere Ereignisse, die wir uns zum Anlass genom- 1. Begriffliche Annäherung an das Thema............................................ 3 men haben, dieses Heft zu schreiben, sind die UN-Deka- de der indigenen Sprachen und die spanische Kolonisie- 2. Walter Mignolo: Dekoloniales Denken............ 5 rung Mexikos, die vor 500 Jahren begann. 3. Dekoloniale Praktiken................................ 6 In den letzten Jahren hat sich ein lebendiger, aber noch 4. Unterrichtsbeispiel................................... 18 nicht allzu bekannter Diskurs um die De-/Kolonisierung 5. Materialien, Links, Tipps............................ 19 des Wissens entwickelt, den wir hier für die pädagogi- sche Praxis aufbereiten wollen. polis aktuell Nr. 2 2016 Transkulturelles und Interkulturelles Lernen KÖRPE R AUSS EH EN ANSC WELT-HAUUNG CHEN FT HERKUN SPRA EN T ECH VERM N ÖGEN SSE ERE L INT CH GES FAMIL ER ALT IE RELIGIONEN o Kultur(en): Begriffe und Konzepte o Interkulturelles und Transkulturelles Lernen o Ausgewählte Themenfelder (u.a. Identität/en, Diversität, Mehrsprachigkeit) o Kontextwissen für Lehrkräfte o Materialien und Links Sprachenrechte Grenzen Transkulturelles und polis aktuell 5/2021 polis aktuell 4/2019 Interkulturelles Lernen polis aktuell 2/2016 > www.politik-lernen.at/ > www.politik-lernen.at/ pa_sprachenrechte pa_grenzen > www.politik-lernen.at/ pa_transkulturelleslernen 2 polis aktuell 1/2022
1 Begriffliche Annäherung an das Thema 1.1 Was ist wissen? 1.2 WIE WIRKT KOLONIALISMUS? Der Duden definiert Wissen als „Gesamtheit der Kennt- Um zu verstehen, wie Wissen und Kolonialismus zusam- nisse, die jemand auf einem bestimmten Gebiet hat.“1 menhängen, wie also Wissen kolonisiert wurde und heu- Diese Definition ist richtig, wenn wir von Wissen aus te noch aktiv kolonisiert wird, müssen die Wirkungsme- Sicht des Individuums ausgehen. Unser Interesse liegt chanismen des Kolonialismus betrachtet werden. Über in diesem Heft bei der sozialen Bedeutung von Wissen, die Kolonisierung von Wissen gibt es eine seit über 40 also welche Rolle Wissen für die Gesellschaft spielt. Jahren währende akademische Debatte, aus der einige Wissen, in diesem weiteren Sinn als Gesamtheit von wichtige Beiträge im Folgenden zusammengefasst wer- sozialen und kulturellen Erfahrungen und Erkenntnissen den. in der und über die Welt, wird in verschiedenen Gesell- schaften unterschiedlich vermittelt. Es lassen sich zwei Edward W. Said: Die Konstruktion der Anderen Hauptformen der Wissensweitergabe unterscheiden: die 1978 erschien das einflussreiche Buch „Orientalism“ des mündliche und die schriftliche. Bei der mündlichen Wei- Literaturwissenschafters Edward W. Said. Seine Studien tergabe von Wissen ist auch von oral history die Rede. hatten zwei Fragen im Fokus: Wie konstruiert Europa In der westlichen Gesellschaft hat sich die schriftliche den Orient? Und wie wird dieses Wissen zur kolonialen Weitergabe von Wissen durchgesetzt. Zentrale Institu- Herrschaftsstabilisierung instrumentalisiert? Der Orien- tion der westlichen Wissensproduktion ist die Wissen- talismus, der als eigene akademische Disziplin im 18. schaft. Hier wird anhand von anerkannten Methoden Jahrhundert entstand, konstruiert den orientalischen an neuen Ideen geforscht. Ergebnisse werden nach dem Menschen als exaktes – stereotypes – Gegenbild des Peer-Review-Verfahren von unabhängigen GutachterIn- europäischen Menschen (othering): feminin, irrational nen gesichtet und korrigiert. Dieses Verfahren soll die und primitiv im Gegensatz zum maskulinen, rationalen Qualität der Ergebnisse sichern. und fortschrittlichen Westen. Diese westliche (Fehl-)Re- Ein weiterer wichtiger Begriff in diesem Zusammen- präsentation des Orients stellt nach Said eine Form der hang ist die Erkenntnistheorie oder Epistemologie. Der Gewaltlegitimation dar. Brockhaus definiert Epistemologie als „philosophische María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: Edward W. Said – Der orien- Untersuchung der Möglichkeit, der Natur, der Quellen, talisierte Orient. In: Postkoloniale Theorie – Eine kritische Einführung. des Umfangs, der Verlässlichkeit und der Grenzen von 3. Aufl. Bielefeld 2020, S. 99 ff. Wissen“2. Die Epistemologie fragt ... ... nach den Wegen, auf denen wir Wirklichkeit erkennen können. ... nach den Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. ... nach dem, was Wahrheit überhaupt ist. ... nach dem, was eine Wissenschaft kennzeichnet und eine Wissenschaft von einer Nicht-Wissen- Quelle: Kira Kohnen, Glokal e.V. schaft unterscheidet (Wissenschaftstheorie).3 1 Duden (2022): Wissen, das. www.duden.de/rechtschreibung/Wissen 2 Brockhaus (2022): Erkenntnistheorie. https://brockhaus.de/ecs/enzy/article/erkenntnistheorie 3 Aus dem Onlineportal des Vereins Philosophie.ch (2022). www.philosophie.ch/beitraege/themenbereiche/theoretische-philosophie/erkenntnistheorie Titelbild: Die verwendete Weltkarte geht zurück auf den US-amerikanischen Futuristen und Architekten Richard Buckminster Fuller. Er schuf die „Dymaxion-Weltkarte“ als Projektion des gewohnten Globus auf einen Ikosaeder, einen aus zwanzig Flächen bestehenden Körper. Ausgefaltet als Karte ergibt sich eine neue Perspektive, die Kontinente erscheinen anders sortiert und nahezu verbunden. Fuller wollte so einen Blick frei von den herrschen- den soziokulturellen Deutungsmustern ermöglichen. Grafik: Justin Kunimune. CC BY-SA 4.0 polis aktuell 1/2022 3
Homi K. Bhabha: „Agency“ Gegen Said argumentiert Homi K. Bhabha, dass die Au- der betroffenen Frauen. Solche Mechanismen, nämlich, torität der kolonialen Macht niemals absolut war, und dass über bestimmte Menschengruppen hinweg disku- nimmt dabei die Handlungsmacht („agency“) der Ko- tiert wird, ohne dass diese selbst zu Wort kommen, kön- lonisierten in den Blick. In seiner Arbeit setzt er sich nen beispielsweise auch beim kontrovers debattierten vermehrt mit den multiplen und dezentralen Strukturen „Burkaverbot“ beobachtet werden. von Macht und Opposition auseinander, ohne die der Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität antikoloniale Widerstand unmöglich geblieben wäre. Die und subalterne Artikulation. Aus dem Englischen von Alexander Josko- Autorität der Kolonialmächte war stets ambivalent und wicz und Stefan Nowotny. Wien 2020. ängstlich, ihre Unterwanderung war möglich, weil ihre Macht niemals total oder absolut war. Die Ambivalenz, Claudia Brunner: Epistemische Gewalt die er feststellt, hilft uns auch bei der Analyse zeitge- Epistemische Gewalt bezeichnet jene Gewaltform, die nössischer Entwicklungen, in denen immer komplexere mit unserem Wissen zu tun hat. Diese verortet Brunner globalisierte Netzwerke und hartnäckig proklamierte in einer globalen Dimension von Ungleichverhältnissen, Identitäten einander gegenüberstehen. Bhabhas Ar- die immer auch Gewaltverhältnisse sind. Das klingt pa- beit verdeutlicht, dass der Kolonialismus nicht in der radox, erstens, weil Wissen – das Epistemische – ja ge- Vergangenheit verhaftet bleibt und trotz der bedeuten- radezu als Gegenmittel zu Gewalt verstanden wird, und den Geschichten und Siege des Antikolonialismus nicht zweitens, weil sich Wissenschaft als universelle Sprache überwunden ist. Nicht nur anhaltende asymmetrische der Gewaltlosigkeit zu inszenieren weiß. Beziehungen, sondern auch ein halbes Jahrtausend des Zentral für das Konzept epistemischer Gewalt ist die Widerstands, der Verhandlungen und der kulturellen Analyse von Rassismus und Sexismus, weil diese die glo- Übersetzungen setzen sich bis in die Gegenwart fort. bale Arbeits- und Ressourcen(ver-)teilung eines globa- María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: Homi K. Bhabha – Mimikry, lisierten kapitalistischen Weltsystems organisieren und Hybridität und Dritte Räume. In: Postkoloniale Theorie – Eine kritische naturalisieren. Dessen Anfänge liegen in der kolonialen Einführung. 3. Aufl. Bielefeld 2020, S. 231 f. Expansion Europas seit dem so genannten „langen 16. Jahrhundert“. Dies war nicht nur mit Geld und Waffen Gayatri C. Spivak: zu machen, sondern benötigte zunehmend universali- Die Stimmen der „Subalternen“ siertes Wissen und entsprechende Normen, um die Aus- Während Said und Bhabha in erster Linie Strukturen beutung von Menschen und Ressourcen ebenso wie die der Unterdrückung und Möglichkeiten des Widerstands Vernichtung von alternativen Wissens- und Seinsweisen herausarbeiten, die ihre Wurzeln im europäischen Ko- (Epistemizid) zu rechtfertigen. lonialismus haben, weist Spivak auf Widersprüche in- Die Kategorie „Rasse“ hat die Akkumulation des nerhalb des Globalen Südens hin. Dabei untersucht sie Wohlstands im europäischen Zentrum auf Dauer gewähr- insbesondere die problematischen Geschlechter- und leistet – und mit ihm die epistemischen und daraus re- Klassenverhältnisse innerhalb von dekolonialen Wider- sultierenden anderen Privilegien. standsbewegungen, vor allem die gewaltsame Unterdrü- Claudia Brunner: Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der ckung von Frauen des Südens. Diese unterprivilegierte kolonialen Moderne. Bielefeld 2020, S. 10-16; 44 f. Mehrheit des Globalen Südens bezeichnet Spivak als www.transcript-verlag.de/978-3-8376-5131-7/epistemische-gewalt subaltern, das heißt als depriviert und marginalisiert. In Ihrem bekanntesten Essay „Can the Subaltern Speak?“ EpistemIzid ... (Spivak, 1988) zeigt sie anhand des Verbots der Witwen- ... [meint] das systematische Auslöschen von verbrennung (Sati) durch die englische Kolonialverwal- Wissen, das als „nicht gültig“, also nicht bedeu- tung, dass die Witwen weder von den Engländern [sic!] tend oder nicht relevant, angesehen wird. Nur noch von den indischen Eliten in angemessener Weise das Wissen, das nach den Kriterien der weißen, repräsentiert wurden. Beide Seiten maßten sich an, für bürgerlichen Gesellschaft seit der Aufklärung diese Frauen sprechen zu können: Die Kolonialverwal- geschaffen wurde, gilt als wissenschaftlich. Der tung stellte sie als passive Opfer dar, die man vor ihrer E. – und die damit einhergehende Diskreditie- eigenen Kultur schützen müsse, während die nationalis- rung nicht-westlichen bzw. nicht-weißen Wissens tischen Eliten die angebliche Freiwilligkeit des Suizids – begann mit der Kolonisierung und dauert bis heute an. und den Heroismus der Frauen unterstrichen bzw. be- Quelle: IDA e.V. haupteten. Ironischerweise fehlte in diesem Diskurs die www.idaev.de/recherchetools/glossar Perspektive derjenigen, um die es eigentlich geht: die 4 polis aktuell 1/2022
2 walter mignolo: dekoloniales denken Bevor im nächsten Kapitel auf aktuelle Praxisbeispiele eingegangen wird, soll hier nochmals eine Brücke geschlagen werden zur Theorie, um den historischen Kontext herzustellen, in dem sich Dekolonisierung bewegt. Dazu wird im Folgenden ein Vortrag von Professor Walter Mignolo von der Duke University (USA) vom 23. November 2021 in übersetzter, gekürzter und leicht adaptierter Fassung wiedergegeben. Zum Nachhören in der englischen Originalfassung unter: youtu.be/BZfXSs8FioE Ich möchte Ihnen dekoloniales Denken anhand von zwei Das zweite Beispiel basiert auf den Arbeiten von Beispielen erklären: eines von Mahatma Gandhi und Linda T. Smith, einer Professorin für indigene Bildung. ein anderes von Linda T. Smith. Gandhi wollte die bri- Sie arbeitet eng mit den Mãori zusammen, die sie als tischen Kolonialmächte aus Indien vertreiben, weil sie indigene soziale Bewegung bezeichnet. Wenn Mãori das die Lebensweise der indischen Bevölkerung störten. Er Wort „Forschung“ hören, wissen sie, dass sie es mit ei- kämpfte für die Befreiung und die Unabhängigkeit der ner Waffe zu tun haben, um sie zu kontrollieren. Die InderInnen. Er tat es durch das, was er zivilen Unge- Dekolonisierung von Wissen ist für Linda Smith ein Weg, horsam nannte. Diesen zivilen Ungehorsam übernahm er um ihre eigene Forschung zu betreiben und um heraus- von David Thoreau, einem US-amerikanischen Denker, zufinden, welche Art von Wissen die Mãori brauchen, Schriftsteller und Aktivisten aus der ersten Hälfte des warum sie es brauchen, wann sie es brauchen und wo 19. Jahrhunderts. Für Thoreau bedeutete ziviler Unge- sie es brauchen. Das ist notwendig, um sich von den horsam, Ungehorsam gegenüber dem Staat, denn er war Vorschriften westlichen Denkens zu befreien. Die Art gegen den Krieg der Vereinigten Staaten gegen Mexiko und Weise, wie die Mãori über Wissen nachdenken, ent- in den Jahren 1846 bis 1848. Er weigerte sich, Steuern zu stammt nicht der westlichen Kosmologie, die sich u.a. zahlen, weil die Regierung die Steuern zur Finanzierung von Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin ableitet, dieses Kriegs verwendete. Als Gandhi von zivilem Unge- sondern ihrer eigenen. horsam sprach, war die Situation anders. Thoreau dachte Wir sehen überall Menschen, die sich von der west- in der gleichen westlichen Kosmologie, gegen die er sich lichen Erkenntnistheorie lösen und mit der Wiederher- auflehnte. Die westliche Kosmologie ist im Grunde eine stellung ihrer eigenen Kosmologie, der Denkweise ih- christliche Theologie, die sich im 19. Jahrhundert mit rer Vorfahren, beginnen, in ihrer eigenen Sprache, die der säkularen Wissenschaft und Philosophie verband. durch und während der Invasion der Siedler zerstört Kosmologien werden in Form von Erzählungen weiter- wurde. Und zwar nicht nur politisch und wirtschaftlich, gegeben und dienen als Erklärungen, um zu verstehen, sondern vor allem durch Bildung. warum wir hier sind, wie wir hierhergekommen sind und Gandhi und Smith hatten verschiedene Ziele, aber so weiter. David Thoreau bewegte sich zwar innerhalb einen gemeinsamen Horizont. der westlichen Kosmologie, aber er war ungehorsam. Gandhi kam aus einer völlig anderen Kosmologie. Seine Es geht darum, sich von der westlichen Invasion Sprache war nicht Englisch, seine Sprache war Gujarati, zu befreien. Weder Gandhi noch Linda Smith und wir wissen, dass es in Indien viele, viele Sprachen können aber zur kulturellen Zivilisation und gab. Er übernahm den zivilen Ungehorsam von Thoreau, zur Denkweise der InderInnen und Mãori vor der aber unter seinen Bedingungen. Er verwandelte ihn in Invasion der Briten zurückkehren. Die Neu-Konsti- einen epistemischen Ungehorsam, weil er die epistemi- tuierung dessen, was zerstört wurde, muss also in sche Grundlage des westlichen Denkens missachtete. Konfrontation mit der Bildung der westlichen Statt der westlichen Art und Weise, Gesellschaften zu Zivilisation erfolgen, die in uns allen steckt. organisieren, die auf der Errichtung von Staaten basiert, entwickelte er Hind Swaraj, das als Ausgangspunkt für Das europäische Denken ist großartig, es hat fantas- eine neue indische Gesellschaftsordnung dienen sollte. tische Dinge geleistet. Diese wurden aber in und für Eu- Es ging ihm also nicht darum, einen Nationalstaat in ropa getan. Dekoloniales Denken heißt in jeder Region Indien zu errichten, er setzte sich vielmehr für eine be- der Welt eine Pluralität des Wissens, Denkens und Glau- dürfnisorientierte kommunale Entwicklung ein. bens zu schaffen. polis aktuell 1/2022 5
3 dekoloniale praktiken 3.1 GASTBEITRAG VON MARCELA TORRES HEREDIA UND GABRIELE SLEZAK Marcela Torres Heredia absolvierte das Lehramt in Sozialwissenschaften an der Universidad Pedagógica Nacional, Bogotá (2009), den Master in Lateinamerikastudien der Universität Wien (2016) und den Master für angewandtes Wissensmanagement an der Fachhochschule Burgenland (2019). Derzeit ist sie Doktorandin und Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (DOC-team) am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Universität Wien und forscht zur Rolle von Wissen zwischen kolonialer Reproduktion und sozialen Alternativen innerhalb der afrokolumbianischen Frauenbewegungen. Gabriele Slezak studierte Afrikawissenschaften mit Doktorat in Soziolinguistik an der Universität Wien, der Université de Ouagadougou und der Universität Bayreuth. Seit 1997 lehrt und forscht sie an der Universität Wien mit einem Schwerpunkt im Bereich Mehrsprachigkeit in institutionellen Kontexten, kolonialen Kontinuitäten in Bildungseinrichtungen und transdisziplinärer Forschung in Westafrika. Seit 1998 arbeitet sie in der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE), aktuell als Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit und Wissenschaftskommunikation. Wie spiegeln sich koloniale Strukturen in unserem Wissen wider? Torres Heredia: Vielen Menschen fällt es schwer, sich vorzu- stellen, dass koloniale Strukturen immer noch eine bedeu- tende Rolle in unserem Alltag spielen; es ist auch schwie- rig, sich vorzustellen, warum es wichtig ist, über etwas zu sprechen, das mehr mit der Vergangenheit als mit der Gegenwart oder Zukunft assoziiert wird und weit entfernt von unserer aktuellen Lebenssituation zu sein scheint. Marcela Torres Heredia. Diese Perspektive ist kein Zufall; es ist keine einfa- Foto: privat che Aufgabe, die Vorteile zu verstehen, die Gesellschaf- ten des Globalen Nordens auf der Basis der Ausbeutung von natürlichen Ressourcen und der Körper bestimm- ter sozialer Gruppen hatten, im eigenen Land und noch mehr im Globalen Süden. Eine erste Schwierigkeit ist die eigene Verortung und Sozialisierung: Wenn man auf der Seite der Profiteure steht, ist es nicht einfach, das Aus- maß und die Auswirkungen der verschiedenen Formen der Ausbeutung zu begreifen. Sie äußern sich sowohl in den physischen und materiellen Folgen für die betroffe- nen Ökosysteme als auch in den verschiedenen Formen sozialer Ungleichheit. Um die so entstandene soziale Ungleichheit zu rechtfertigen, braucht es Weltbilder (Ideologien), die eine Geschichte davon erzählen, dass alles seine rechte Ordnung hat. Diese Geschichten wer- den überall erzählt, auch in Bereichen, die wir für ideologiefrei halten, wie z.B. beim Wissen. Im Bereich des Wissens geschieht dies auf ver- schiedene Weise. Es ist entscheidend, wer Wissen wo 6 polis aktuell 1/2022
Gabriele Slezak. Foto: privat generiert, welches Wissen tatsächlich als solches aner- historische Mission, die in den Gesellschaften, die sie kannt wird, denn oft gelten andere Sichtweisen zum übernehmen wollen, entstanden ist, hat die Rechtferti- Verständnis und zur Interpretation der Welt als unter- gung zahlreicher Mechanismen extremer Gewalt ermög- legen oder existieren in unseren Augen nicht. Einer der licht, die dauerhafte Auswirkungen hinterlassen hat. wichtigsten Beiträge der Kolonialitätsforschung zum Diese Narrative, die bestimmte Formen des Fortschritts, Verständnis unserer Beziehungen zueinander besteht der Entwicklung und der Zivilisation propagieren, wur- darin, klar zu stellen, dass Nichtexistenzen oder Un- den unter der Idee der Moderne verbreitet, die aus ei- sichtbarkeiten aktiv erzeugt werden. Wenn wir das Wis- ner dekolonialen Perspektive direkt mit der Kolonialität sen der Gemeinschaften des Amazonas oder der Anden verknüpft ist, d.h. die Kolonialität ist die dunkle und nicht kennen, wenn wir glauben, dass sie kein Wissen mitkonstitutive Seite der Moderne. haben oder ihre Geschichte homogen und unveränderlich ist, dann liegt das daran, dass die kolonialen Strukturen Slezak: Wissen ist kolonial geprägt. Es ist durchdrungen des Wissens uns dazu bringen, solche Vorstellungen zu von kolonialen Konzepten der Überlegenheit, Unterdrü- reproduzieren. Wenn wir uns anschauen, was unter All- ckung, Abwertung und Legitimierung von Ungerechtig- gemeinwissen gemeint ist, können wir feststellen, dass keit. Warum ist das so? Weil die Entstehung kolonialen viele Wissensformen, die wenig mit europäischer Univer- Denkens auf einen bestimmten Zeitpunkt zurückgeht. salität oder Allgemeinheit zu tun haben, sondern eher Wir sehen, dass mit dem Zeitalter der Aufklärung und lokal und spezifisch sind, davon ausgeschlossen sind. der Entstehung von Nationalstaaten eine Privilegierung Historisch gesehen ist das Rezept Barbaren/Zivi- Europas gegenüber dem Rest der Welt etabliert wurde. lisierte weit verbreitet und immer noch aktiv, obwohl Diese eurozentrische Perspektive ist ein Paradigmen- es Aktualisierungen oder neue Formate für diese Logik wechsel in der Produktion von Wissen. Jede Art von gibt, zum Beispiel die Idee der Entwicklung/Unterent- Wissen, ungeachtet der Disziplin, das seit der Aufklä- wicklung, neben vielen anderen derartigen Mustern. Ich rung produziert, verhandelt, aufbereitet und verwaltet erwähne sie aber vor allem deshalb, weil diese Idee im wird, ist durchwoben von den Auswirkungen des Kolo- Bereich des Wissens eine historische Grundlage für die nialismus in der Gesellschaft. Schon alleine die Frage, Rechtfertigung von Interventionen in anderen Kontex- wer dieses Wissen produziert hat, ja auch die Frage, wer ten und menschlichen Gruppen geliefert hat, und zwar entscheiden konnte, was als Wissen zugelassen wurde, unter der Vorstellung, dass es die Pflicht der Zivilisierten um es zu archivieren und zu dokumentieren, führt uns ist, die Barbaren zu zivilisieren, oder der Entwickelten, zu kolonialem Denken. Wir finden daher seine Spuren die Unterentwickelten zu entwickeln; diese scheinbare in allen Disziplinen, nicht nur in der Geographie oder polis aktuell 1/2022 7
der Afrikawissenschaft, was naheliegend ist. Auch in der Eines unserer wichtigsten Instrumente im Dekolo- Psychologie, Medizin, Philosophie, Rechtswissenschaft, nisierungsversuch ist die Reflexivität, d.h. ein Prozess Biologie oder Geologie findet sich Gedankengut, das wie der kritischen Selbstbetrachtung und der Offenheit für unsichtbar ist, weil es wenig bewusst ist und als gegeben die Herausforderung, uns mit unseren eigenen Struk- angesehen wird. Was ungesagt bleibt, ist, dass Wissen turen auseinanderzusetzen und zu verstehen, wie un- von nicht-weißen, nicht-europäischen Gesellschaften sere Handlungsweise Machtverhältnisse reproduziert ausgeklammert wurde. Man berücksichtigt zum Beispiel und ihre Kontinuität gewährleistet, in diesem Fall im nicht, dass auch die Art, wie Wissen in einer Bibliothek Bildungsprozess. Dekolonisierung bedeutet, sich zu fra- geordnet und aufbereitet wird, noch immer Strukturen gen, wo es in meinem Bildungskontext unsichtbar ge- aufweist, die nicht-weiße Perspektiven ausklammern. machte Subjekte gibt und welche Strategien ich anwen- Daran erkennen wir, dass es sehr wichtig ist, einen kri- den kann, um diese Unsichtbarkeit zu bekämpfen. Es tischen Blick zu entwickeln, der hilft, koloniale Spuren bedeutet, die Hierarchien des Wissens zu hinterfragen im Denken zu erkennen. Ich beschäftige mich mit dieser und zu überlegen, inwieweit die Dichotomie von Wissen- Frage aus einer Perspektive der Afrikawissenschaften. den und Nichtwissenden reproduziert wird und wie ich Dieser interdisziplinäre Zugang hilft mir, kontinuier- einen Dialog zwischen den verschiedenen Arten der In- lich immer wieder auf rassistisch geprägte, Ungleichheit terpretation sozialer Erfahrungen herstellen kann. Das festschreibende Praktiken im Sprechen, Schreiben, Den- bedeutet auch, dass ich darüber nachdenke, welchen ken, Lehren und Lernen aufmerksam zu werden. Es ist Wert ich den Fähigkeiten derjenigen beimesse, die sich mir ein Anliegen, den Unterricht als einen Raum zu ge- in einem Bildungsprozess befinden, ob alle Fähigkeiten stalten, der es erlaubt, eine kritische, dekoloniale Pers- wertgeschätzt werden oder ob sie ausgeschlossen wer- pektive im Austausch zu üben. Ich nehme mich als Weiße den, weil sie nicht als produktiv, nützlich, effizient usw. aus dieser Lernerfahrung nicht aus, wenn wir zum Bei- angesehen werden. spiel gemeinsam der Frage nachgehen, welche kolonialen Praktiken in Bibliotheken analysiert werden können. RFCDC Teacher Self-Reflection Tool Dieses Instrument soll Lehr- Welche Strategien zur Dekolonisierung gibt es im kräfte und MultiplikatorInnen Allgemeinen? Welche verfolgt ihr? Und warum diese bei ihrer Arbeit mit dem und nicht andere? Referenzrahmen für Kompeten- Torres Heredia: Unter Dekolonisierung verstehen wir zen für eine demokratische den Prozess der Reflexion, in dem wir versuchen, diese Kultur (RFCDC) des Europarats Strukturen, die aus kolonialen Logiken entstanden sind begleiten. Es kann als Einstieg und die wir in unseren verschiedenen Lebensbereichen verwendet werden, um sich sowie in den sozialen Strukturen reproduzieren, sicht- mit dem RFCDC vertraut zu machen, kann aber auch bar zu machen. Darüber hinaus zielt der Prozess der De- als ein sehr allgemeiner Begleiter zur Selbstreflexion kolonisierung darauf ab, alternative Praktiken zur hier- über Unterricht und demokratische Kompetenzen archischen, homogenisierenden, unsichtbar machenden gesehen werden. und dichotomisierenden Sichtweise der Welt zu entwer- fen. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass die Be- www.politik-lernen.at/teacherreflectiontool mühungen um Dekolonisierung nicht das Vorhandensein eines einzigen, im Voraus festgelegten Weges implizie- ren, der buchstabengetreu zu befolgen ist; im Gegenteil, All diese Ideen sind mit der Vorstellung eines li- es handelt sich um einen kontextbezogenen Prozess, nearen Fortschritts verbunden. Außerdem bin ich der der eng mit den spezifischen Realitäten jedes Einzelnen Meinung, dass skalenübergreifendes Denken von grund- verbunden ist, mit den Empfindungen des Körpers, mit legender Bedeutung ist, d.h. die Fähigkeit, zwischen lo- den Interaktionen mit den Wesen um uns herum, seien kaler, nationaler und globaler Ebene zu verknüpfen und es menschliche oder nichtmenschliche Akteure. Es geht zu interagieren. Diese Verbindungen sind sehr wichtig, darum, etwas zu versuchen und vielleicht (und sicher- insbesondere in Bildungskontexten, die von Migrations- lich sogar) dabei zu scheitern, wobei das Scheitern nicht prozessen geprägt sind. Dabei ist die Hinterfragung der als Problem, sondern als Chance gesehen werden soll, Machtverhältnisse, die z.B. zu Vertreibungen führen, weiter zu lernen und die Schwierigkeiten im Umgang sowie deren Auswirkungen auf das Leben derjenigen, mit den verschiedenen kolonialen Strukturen, die uns die diese Geschichte erleben, von grundlegender Bedeu- umgeben, zu verstehen. tung. 8 polis aktuell 1/2022
unsichtbar gemacht wurden; die Schaffung von For- > lesetipp men der Selbstorganisation, um Zugang zu und Dialog mit verschiedenen Formen von Wissen zu erhalten; die Handbuch Migrationspädagogik Schaffung alternativer Strategien der Repräsentation Paul Mecheril. Beltz Verlag, 2016. von marginalisierten und rassifizierten Gruppen; In- Migrationspädagogik bezeichnet einen Blick terventionen bei der Selbstdarstellung von Machtinsti- winkel, unter dem Fragen gestellt und thema- tutionen, die weiterhin die Ausbeutung des Lebens in tisiert werden, die bedeutsam sind für eine anderen Kontexten fortführen, wie z.B. transnationale Pädagogik unter den Bedingungen einer Unternehmen. Dies sind nur einige Beispiele. Migrationsgesellschaft. www.beltz.de/fachmedien/paedagogik/produk- te/details/30210-handbuch-migrationspaedago- > lesetipp gik.html Vera Heimisch: Künstlerische Interventionen als dekoloniale Strategie? Entstanden im Rahmen der gleichnamigen Masterarbeit an der Universität Bremen, 2020. Ich glaube, dass es zu den Aufgaben der Schule ge- hört, verschiedene Arten von Wissen in einen Dialog zu www.yumpu.com/en/document/read/64617690/ bringen, und zwar nicht in einer exotisierenden Weise kunstlerische-interventionen-als-dekoloniale- oder als Teil eines einmaligen Ereignisses im Schulka- strategie lender, sondern als eine ständige Aufgabe, die von allen Mitgliedern der Gesellschaft Lernen und Verlernen ver- langt. Was die konkreten Strategien der Dekolonisierung Slezak: Dekolonisierungsarbeit beginnt bei einem selbst. angeht, an denen viele Menschen beteiligt sind, so be- Dekolonisierung heute ist nicht gleichzusetzen mit dem wegen sie sich in mehreren Bereichen. An dieser Stelle Prozess, den Kolonialismus abzuschaffen, sondern es möchte ich die Rolle der Kollektivität in diesem Prozess verlangt, dekolonial zu denken und zu handeln. Damit betonen; ich dekolonisiere nicht allein, Dekolonisierung meine ich, aus gewohnten Denkmustern auszusteigen. ist ein kollektiver Prozess. Hier trifft der Ubuntu-Satz Es braucht eine Reflexion und kritische Betrachtung der „Ich bin, weil wir sind“ sehr gut zu. Dies verdeutlicht eigenen Annahmen. Aber dieser Prozess ist damit nicht den Einfluss des Kollektivs, in dem man sich befindet, abgeschlossen. Es ist notwendig, dass er zu Veränderun- sowie des kollektiven Handelns und gleichzeitig meine gen im Handeln führt. Verantwortung für das Kollektiv. Warum? Die Erfindung der menschlichen Rasse und Wir wollen der kolonialen Geschichtsschreibung im die darauf aufbauende Rassentheorie durch europäische urbanen Raum auf die Spur gehen. Wir tun dies in Form und amerikanische weiße Männer hat es ermöglicht, von Stadterkundungen wie Decolonizing in Vienna4 oder andere Menschen zu kolonisieren, zu unterdrücken mit Gruppen von Studierenden. Darüber hinaus versu- und zu versklaven. Diese Ungerechtigkeit wurde mit chen wir mit der Gruppe Antikoloniale Interventionen in Machtstrukturen und Wissen untermauert. Strukturen, Wien5 die Kämpfe zahlreicher Menschen in verschiede- die der Kolonialismus einst geschaffen hat, prägen bis nen Kontexten gegen die negativen Auswirkungen der heute Gesellschaften weltweit. Postkoloniale Theoreti- Kolonialität im Globalen Norden sichtbar zu machen, kerInnen zeigen auf, wie der Imperialismus anhaltenden zum Beispiel die Kämpfe indigener Völker und von Um- Einfluss auf alle Lebensbereiche hat. Die hierarchische weltaktivistInnen aus dem Globalen Süden gegen die Weltordnung prägt Sprache, Identität, Verhaltenswei- Zerstörung ihrer Lebensweisen. sen, Politik- und Wirtschaftsentscheidungen bis heute. Dies sind einige Strategien, aber es gibt auch an- Es geht also um das Aufgeben unbewusster Vorurteile, dere, wie die Wiederherstellung von Erinnerungen und um Gleichberechtigung näher zu kommen. Wissen von Subjekten, die in verschiedenen Kontexten 4 https://decolonizinginvienna.at 5 Das Kollektiv ist auf Facebook und Instagram zu finden: www.facebook.com/Kollektiv-antikolonialer-Interventionen-in-Wien-104377878015281 www.instagram.com/antikoloniale_interventionen polis aktuell 1/2022 9
Sollte dekoloniales Denken stärker in die oder unsichtbar gemacht wurden, und sich mit der Antirassismus-Arbeit einfließen? Wie hängt beides komplexen, dynamischen, sich wandelnden und viel- zusammen? Könnt ihr konkrete Beispiele von schichtigen Geschichte von Subjekten zu befassen, die kolonialen Kontinuitäten in der österreichischen der Segregation unterworfen waren. Es bedeutet, Aus- Bildungslandschaft nennen? drucksmöglichkeiten in allen erforderlichen Sprachen zu schaffen und den Mehrwert zu erkennen, der in der Vielfalt der Perspektiven auf ein Phänomen besteht. > hörtipp Er impliziert einen Dialog auf Augenhöhe, d.h. das Aufbrechen einer Reihe von Hierarchien bei der Produk- Durch Widerstand unser koloniales Erbe tion und Reproduktion von Wissen. Dass mehrere Stim- überwinden men auch entscheiden können, was fürs Lernen relevant Der Kolonialismus prägt nach wie vor unsere ist, wo die Interessen im Bildungssystem liegen, welche Wirtschaft und wie wir heute leben. Um das zu Dynamik in dem Bildungsumfeld entstehen soll. Dies ist ändern, müssen wir verstehen, welche Mecha- eine der großen Herausforderungen der Schule, nämlich nismen ihn hervorgebracht haben und heute ein Umfeld zu schaffen, in dem Lernen nicht vom Lehr- noch aufrechterhalten. personal auf den Lernenden übertragen wird, sondern in dem die Möglichkeit besteht, von allen am Lernprozess https://enorm-magazin.de/gesellschaft/zusam- Beteiligten zu lernen, und zwar in Verbindung mit dem menleben/tschuess-kolonialismus-durch-wider- sie umgebenden Kontext. Dies ist der Schlüssel dazu, stand-unser-koloniales-erbe-ueberwinden dass Lernen nicht nur eine spezifische Aktivität in der Schule oder in offiziellen Bildungseinrichtungen ist, sondern eine ständige Aufgabe, die in der Lage ist, zur Torres Heredia: Zweifellos gehen beide Aspekte Hand in Emanzipation der Menschen beizutragen und sich der Hand: Wie ich bereits erwähnt habe, ist die Hinterfra- Welt zu stellen, in der wir heute leben, das heißt einer gung des Rassismus und seiner aktuellen Auswirkun- komplexen, sich verändernden und vielfältigen Welt. gen einer der zentralen Aspekte der Dekolonialität. Dies betrifft nicht nur die Repräsentation der Menschen und den symbolischen Bereich, sondern auch konkre- UN-Dekade der indigenen Sprachen te Diskriminierung, Eine dekoloniale Denkweise führt notwendigerweise zu einer antirassistischen Praxis und Die Vereinten Nationen haben die Jahre 2022- umgekehrt. 2032 zur Internationalen Dekade der indigenen Sprachen ausgerufen, um die Aufmerksamkeit der Was können Schulen, insbesondere Lehrkräfte tun, Weltöffentlichkeit auf die kritische Situation vieler um Wissen zu dekolonisieren? indigener Sprachen zu lenken und deren Erhaltung Slezak: In einem unserer Workshop-Module (siehe und Wiederbelebung zu fördern. Seite 12, Anm. d. Red.) zeigen vier junge Menschen https://en.unesco.org/idil2022-2032 in einem Video, wie wichtig es ihnen ist, aktivis- tisch gegen Rassismus aufzutreten, die aber nicht als wandelndes Rassismuslexikon zur Verfügung stehen möchten. Ihre Forderung, dass sich alle selbstständig Podcast: Richtig und Falsch bilden und eigene Vorurteile aufdecken sollen, geht an Folge 5: Alltagsrassismus erkennen alle Mitglieder der Gesellschaft – Ressourcen gibt es ge- und diskutieren nug. Ich denke diese Forderung ist genau so auch an Wie kann politisches und rassis Schulen und Lehrkräfte gerichtet. Sie können einen muskritisches Lernen heute aus- Lernraum gestalten, der es erlaubt, Kompetenzen für sehen? Was tun bei rassistischen Zwischenfällen eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Rassismen auf- im Klassenzimmer? Und vor allem, wo liegen die zubauen. eigenen blinden Flecken, was versteckten Alltags Torres Heredia: Einige dekoloniale AutorInnen sprechen rassismus betrifft? vom Wissensdialog als einer dringenden Notwendigkeit, um die Kolonialität des Wissens zu durchbrechen. Eine www.politik-lernen.at/folge5_richtigundfalsch der ersten Voraussetzungen für diesen Dialog besteht darin, diejenigen kennenzulernen, die zuvor exotisiert 10 polis aktuell 1/2022
3.2 ÖFFENTLICHEN RAUM DEKOLONISIEREN Protest gegen das Denkmal von Karl Lueger, Bürgermeister Wiens von 1897 bis 1910. Wegen der antisemitischen Einstellungen Luegers ist das Denkmal im 1. Wiener Bezirk seit längerer Zeit in der Kritik. Die Stadt Wien plant als Reaktion dessen Umgestaltung. Foto: Nikolai Weber Der öffentliche Raum ist umkämpft. Spätestens seit dem Erscheinen von sozialen Bewegungen wie Rhodes Must Fall oder Black Lives Matter stehen rassistische > Unterrichtsimpuls: Umgang mit Denkmälern aus dekolonialer Perspektive Symbole, Darstellungen und Verherrlichungen des Kolo- Gehen Sie mit Ihrer Klasse auf einen Stadtspazier- nialismus sowie andere Formen von Unterdrückung und gang. Geben Sie vorher Ihren SchülerInnen einige Diskriminierung wie z.B. Antisemitismus unter zuneh- Reflexionsfragen mit: mender Kritik. Warum meint ihr, wird bestimmten Personen ein Denkmal gewidmet und anderen nicht? Welche Argumente findet ihr, warum es prob- lematisch sein kann, wenn Personen, die für Menschrechtsverletzungen bekannt sind, ein Denkmal erhalten? Wie sollte man mit problematischen Denkmälern umgehen? Artikel zur Einführung in das Thema: „Dekoloniale Utopien: Welche Denkmäler brauchen wir?“ https://decolonizinginvienna.at/?p=203 Entfernung der Statue von Cecil Rhodes vom Campus der Universität von Kapstadt, 9. April 2015, im Zuge der Rhodes Must Fall Protestbewegung. Foto: Desmond Bowles, CC BY-SA 2.0 polis aktuell 1/2022 11
3.3 BIBLIOTHEKEN DEKOLONISIEREN Bibliotheken als Wissensspeicher bieten viele Möglich- keiten, um Methoden der Dekolonisierung umzusetzen. > Unterrichtsimpuls: Die C3-Bibliothek für Entwicklungspolitik, die von Diskutieren Sie in Ihrer Klasse folgende Fragen: der Österreichischen Forschungsstiftung für Internati- Welche Literatur wird in Bibliotheken ange- onale Entwicklung (ÖFSE), der Frauen*solidarität und boten, welche findet keinen Eingang in den Baobab geführt wird, setzt sich seit 2018 mit Strategi- Bibliothekskatalog? en der Dekolonisierung und rassismuskritischen Bildung Warum nicht? auseinander. Die Bibliothek ist öffentlich und hat den größten Bestand Österreichs zu den Themen Internatio- Wie hängt das mit dem Thema De-/Kolonisie- nale Entwicklung, Frauen, Gender und Globales Lernen, rung von Wissen zusammen? der auch ein breites Angebot zu globalen Ungerechtig- Wie soll man mit rassistischer Literatur um keiten, Rassismus und kolonialen Kontinuitäten für Pä- gehen? dagogInnen wie auch SchülerInnen beinhaltet. > lesetipp ÖFSE Workshop: Kolonialismus. Auswirkungen im Gabriele Slezak et al.: Rassismen im Bücher- Heute verstehen und Rassismus erkennen. regal? Ein Praxisbericht von der kolonialen Interaktiver Online-Workshop mit Live-Moderation Spurensuche in der Bibliothek bis hin zu einer für Schulklassen, empfohlen für 10. und 11. Schul rassismuskritischen Bildung, 2021. stufe. Kann jederzeit gebucht werden. Auf dieser Website finden Sie den oben Ein Online-Workshop mit vier Modulen zu Kolo- genannten Bericht sowie alle Informationen zu nialismus. Der Workshop berücksichtigt soziale, den dekolonialen Aktivitäten und Ansätzen der politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse, C3-Bibliothek für Entwicklungspolitik, bspw. um Wissensproduktion, Informationsverteilung eine Anleitung zur „kolonialen Spurensuche“ in und –zugang auf globaler Ebene kritisch zu der eigenen Bibliothek: hinterfragen. Es wird der Frage nachgegangen, https://libreas.eu/ausgabe40/slezak/ wessen Perspektiven und Stimmen Gehör finden und welche nicht, sowie wer in welchen Situa tionen für wen spricht. Es werden exemplarische Werke aus dem Bestand der C3-Bibliothek aus- gewählt und auf unterschiedliche Formen von Rassismus untersucht – wie zum Beispiel othering, Fremdbezeichnungen oder die White-Savior-Figur. Damit können explizite wie implizite Erschei- nungsformen von Rassismus benannt und Schü- lerInnen Anhaltspunkte gegeben werden, selbst unterschiedliche Medien einer rassismuskritischen Prüfung zu unterziehen. Ein Modul führt hin zum Alltag von jungen Menschen, die aktivistisch tätig sind und ihre Einsichten und Erfahrungen zu Rassismus in Österreich teilen. www.oefse.at/en/veranstaltungen/rueckblick/ veranstaltung/event/show/Event/kolonialismus- auswirkungen-im-heute-verstehen-und-rassismus- erkennen 12 polis aktuell 1/2022
3.4 EINE REISE FÜR DAS LEBEN Begrüßungsansprache von Subcomandante Moises am Flughafen Wien Schwechat, 14.9.2021. Foto: privat Im Herbst 2020 kündigten die Zapatistas, indigene RebellInnen aus dem Süden Mexikos, an, mit einer „Reise für das Leben“ Abgesandte auf alle Kontinente zu entsenden, beginnend mit Europa. Im Juni 2021 erreichte eine Vorhut von sieben Delegierten per Schiff das spanische Festland, um am 13. August 2021 in der Hauptstadt Madrid demonstrativ den 500. Jahrestag der Zerstörung der Aztekenhauptstadt Tenochtitlan durch spanische Raubmörder zu zelebrieren. Unter dem Motto: „No Nos Conquistaron“ (span.: „Sie haben uns nicht erobert“) erinnerten die Delegierten vor allem an 500 Jahre ungebrochenen Widerstand der Bevölkerungen der amerikanischen Länder gegen den kolonialen Landraub, die Unterdrückung der Menschen und die Zerstörung von Kultur und Umwelt. Im September 2021 stiegen dann fast 200 Delegierte der selbstverwalteten Gebiete der Zapatistas und anderer indigener Gemeinden, die sich im Congreso Nacional Indígena (Nationaler Indigener Kongress – CNI) zusammengeschlossen haben, in Schwechat aus dem Flugzeug, um von Wien aus ganz Europa zu bereisen. Zwei Drittel der Gäste waren junge Frauen. Im Rahmen ihres Besuchs in Österreich fand ein Kolloquium unter dem Titel „Saberes de abajo – Wissen von unten“ statt. Ziel der Veranstaltung war es, Erfahrungsberichte aus zutauschen und in Dialog zu treten sowie disziplinäre, ethnische und nationale Barrieren zu überwinden. Ein Netzwerk verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen und einzelner AktivistInnen hat den Besuch der mexikanischen RebellInnen in Österreich organisiert und beabsichtigt, sich auch weiterhin um einen Austausch von Geschichten, Wissen, Gefühlen, Werten, Herausforderungen, Misserfolgen und Erfolgen zu bemühen – zwischen Menschen verschiedenster Weltgegenden, die gemeinsam an der Überwindung von Kolonialismus und Gewalt arbeiten möchten. Wir haben einige der AktivistInnen gebeten, für uns ein Resümee dieses ganz besonderen Besuchs zu ziehen. Eine umfassende Dokumentation der Reise befindet sich unter: www.zapalotta.org/category/reise-fuer-das-leben polis aktuell 1/2022 13
Welchen Ansatz verfolgen die Zapatistas, um zu Wie hat dich der Besuch der zapatistischen einer Dekolonisierung der Welt beizutragen? Delegation beeinflusst? Welche Rolle spielt Wissen dabei? Wir haben die Erkenntnis gewonnen, dass die Motivati- Mit ihren Selbstverwaltungsstrukturen entziehen die on für antikoloniale Arbeit nicht das tolle Gefühl sein Zapatistas sich selber und ihre Gebiete im südlichsten darf, als notorische Besserwisserin den Mitmenschen um und ärmsten mexikanischen Bundesstaat Chiapas dem einen antikolonialen Denkschritt voraus zu sein, um sie neokolonialen, kapitalistischen Zugriff. Gleichzeitig ha- zu belehren, sondern vor allem einmal: Zuhören. Sich in ben sie seit 28 Jahren alle wesentlichen Schritte des andere Weltwahrnehmungen hineinversetzen. Denkan- Aufbaus kommunitärer, revolutionärer Selbstverwal- schlüsse suchen. (Tina Leisch) tung mit großen und kleinen Erzählungen weltweit be- kannt gemacht. Erzählungen, die nicht nur geschickte „Für eine Welt, in der viele Welten Platz haben“, ist ei- Agitprop für ihr eigenes politisch-soziales Projekt sind, ner der Sätze, die ich von den Zapatistas gelernt habe. sondern vor allem als mentale Rahmen, als Frames, als Alle Ideologien können zum Faschismus führen, wenn Narrative dienen, mit denen und durch die Menschen sie den Menschen vergessen. Von den Zapatistas können auf der ganzen Welt dekolonisierende/antikoloniale Per- wir lernen: Vorschlagen, nicht nachschimpfen. Abstim- spektiven ausprobieren können. men, nicht wählen. (anonym) Auch der Besuch in Europa im Sommer und Herbst 2021 war Wie hat die Delegation zur Dekolonisierung beides: Konkrete Begegnung von rassistischer oder kolonialer Strukturen in Österreich AktivistInnen, Kennenlernen der beigetragen? zapatistischen Kämpfe, Strukturen Die gründlichen, selbstkritischen und dadurch auch sehr und Menschen, Vernetzung einer- lehrreichen Schilderungen ihrer Erfahrungen im Kämp- seits und eine große, freche, antikoloniale Erzählung fen, Widerstand leisten, eigene Selbstverwaltungsstruk- vom „Gegenbesuch”, den die Zapatistas 500 Jahre nach turen aufbauen, Konflikte lösen und Zusammenhalten der Zerstörung der Aztekenhauptstadt Tenochtitlan waren sehr inspirierend. Unsere Gäste haben uns über- durch europäische Raubmörder unternehmen. Eine Er- wältigt durch ihren Mut, mit 200 Leuten vertrauensvoll zählung, die 500 Jahre koloniale Zurichtung und Unter- zu gänzlich unbekannten Menschen zu reisen und sich werfung und 500 Jahre Widerstand dagegen auf die Bild- auf uns zu verlassen. (Tina Leisch) schirme gebracht und die Menschen neugierig gemacht hat, mehr zu erfahren. Für mich war es besonders spannend, nach den Gesprä- Auch die Berichte der Delegierten des Congreso Na- chen mit den Delegierten zu reflektieren, was Menschen cional Indígena, die die Reise begleitet und über den in Mexiko, die von Menschenrechtsverletzungen und Widerstand indigener Gemeinden in anderen mexikani- Umweltverschmutzung durch das kapitalistische Wirt- schen Bundesstaaten berichtet haben, sind Musterbei- schaftssystem auf schlimmste Weise betroffen sind, spiele dafür, wie die mexikanische Regierung im Dienste konkret (nicht) tun können, um darauf zu achten, dass großer, oft transnationaler Unternehmen die Rechte der es innerhalb der Lieferketten keine Menschen-, Arbeits- indigenen Bevölkerungen verletzt. Die Berichte über das und Umweltrechtsverletzungen gibt. Das war wichtig Megaprojekt des fälschlicherweise „Tren Maya“ (Maya- für die Überlegungen, wie wir ein österreichisches oder Zug) genannten Ausbeutungs- und Erschließungspro- europäisches Lieferkettengesetz designen können, mit jektes von Mayagebieten gegen den Willen der dort dem Betriebe in Europa für solche Rechtsverletzungen lebenden Bevölkerung, die Berichte über agroindustriel- verantwortlich gemacht werden sollen. In unserem Den- len Avocadoanbau durch Drogenkartelle auf indigenem ken haben wir Organisationen (NGOs, Gewerkschaften, Land, über Industrieparks, Windparks, Autobahnen, MenschenrechtsverteidigerInnen, indigene Gemein- Gaspipelines, die gegen den erklärten Willen und den schaften oder Betriebsratskörperschaften) eine viel zu Widerstand der indigenen Gemeinden durchgesetzt wer- tragende Rolle zugedacht, die sie real wahrscheinlich den, haben uns Zuhörenden wirtschaftliche und poli- nicht erfüllen können. Trotzdem hat in diesen Über- tische Strukturen einer neokolonialen Weltordnung an legungen die Möglichkeit, den Menschen vor Ort einen ganz konkreten Beispielen klar gemacht. (Tina Leisch, Zugang zu europäischen Gerichten zu eröffnen und ih- Regisseurin, Journalistin und politische Aktivistin) nen Rechtsschutz zu bieten, immer noch einen hohen Stellenwert. (Petra Bayr, Nationalratsabgeordnete) 14 polis aktuell 1/2022
> lesetipps Beitrag zur Leseförderung Kinder sollen lernen, mit der Erde zu leben Die Hälfte der Sonne. Interview mit Marichuy, der ersten indigenen Chimamanda Ngozi Adichie. Kandidatin für eine Präsidentschaftswahl in Aus dem Englischen von Mexiko, bei einer der Stationen der „Reise für Judith Schwab. Frankfurt am das Leben“. Main: Fischer Taschenbuch, https://kijuku.at/bildung/kinder-sollen-lernen- 5. Aufl., 2016. mit-der-erde-zu-leben Jens Kastner: Dekolonialistische Theorie aus 1967 erklärte sich ein Teil Lateinamerika. von Nigeria zur unabhän- Unrast Verlag, 2021. gigen Nation Biafra. Drei https://unrast-verlag.de/vorankuendigungen/ Jahre und einen verhee- dekolonialistische-theorie-aus-lateinamerika- renden Krieg später, in dem die Zivilbevölkerung detail systematisch ausgehungert wurde, hatte die nigerianische Regierung wieder Oberhand über die erdölreiche Region. Durch Wechsel der Perspektiven und Zeitebenen wird ein breites, postkoloniales Gesellschaftspanorama entworfen. Die Rolle und > Unterrichtsimpuls: Verantwortung der britischen Kolonialherrschaft wird dabei genau analysiert. MUSEEN ALS ORTE DER DE-/KOLONISIERUNG Museen spielen eine tragende Rolle innerhalb der Diskussion um die Dekolonisierung des Wissens. So widmet sich beispielsweise das Haus der Geschichte Mehrsprachiger Redewettbewerb Österreich der Schwarzen Geschichte hierzuzulande: „Sag’s Multi!“ www.hdgoe.at/pasua Beim mehrsprachigen Redewettbewerb „Sag’s www.hdgoe.at/nachgefragt_spanbauer Multi!“ treten Jugendliche in bis zu 50 verschiede- Das Weltmuseum Wien gibt der künsterischen nen Sprachen an. Dabei sind inspirierende Gedan- Auseinandersetzung mit Themen wie Rassismus, ken von Jugendlichen aus den unterschiedlichsten Kolonialismus und Eigen- sowie Fremddarstellungen Herkunftskulturen zu hören. immer wieder in Form von Ausstellungen Raum. Das https://sagsmulti.orf.at Weltmuseum ist jedoch selbst Gegenstand kontrover- sieller Diskussionen, beispielsweise wenn es um die koloniale Aneignung fremder Wertgegenstände wie des Azteken-Federkopfschmucks „Penacho“ geht. Themenvorschläge für vorwissenschaftliche Besuchen Sie mit Ihrer Klasse den Saal „Geschich- Arbeiten und Diplomarbeiten ten aus Mesoamerika“ in der Schausammlung des Weltmuseums. Diskutieren Sie im Anschluss folgende Decolonize the city! Wo ist das koloniale Erbe noch Artikel mit Ihrer Klasse: sichtbar? Wie prägt der Kolonialismus noch heute www.wien.orf.at/stories/3117026 unser Denken? www.bit.ly/3rNr0qH Kolonialismus in Schulbüchern. Koloniale Kontinui- www.fluter.de/restitution-savoy-afrikas-kampf-kunst täten im österreichischen Bildungssystem. Rassismusprävention im europäischen und interna- Was spricht für die museale Ausstellung von tionalen Kontext: rechtliche Rahmenbedingungen „fremden“ Objekten? und konkrete Maßnahmen Warum wird dies als problematisch diskutiert? Angebot der C3-Bibliothek für SchülerInnen für die VWA- oder DA-Vorbereitung: Welche Argumente sprechen für eine Rückgabe www.centrum3.at/bibliothek/unser-service/vorwis- des Azteken-Federkopfschmucks, welche dagegen? senschaftliches-arbeiten polis aktuell 1/2022 15
3.5 Black Voices Anti-Rassismus Volksbegehren Noomi Anyanwu und Madgalena Osawaru, Sprecherinnen des Black Voices Volksbegehrens, kommen zur De-/Kolonisierung des österreichischen Schulsystems zu sprechen. Zentrale Forderung des Volksbegehrens ist die Einführung eines Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus, in dem anti-rassistische Maßnahmen für die Bereiche Repräsentation und Öffentlichkeit, Polizei, Flucht und Migration, Gesundheit, Bildung und Arbeitsmarkt erstellt werden. In unseren Schulen wird Geschichte und Wissen ab- Dieser Satz kommt sehr oft als Vorwand, sich nicht seits der weißen, eurozentrischen Norm wenig bis gar mit dem Thema Dekolonisierung und strukturellem Ras- nicht thematisiert. Im Unterricht lernen wir die wich- sismus auseinander setzen zu müssen. Kolonien sind tigsten Aspekte von Geschichte, diese aber stets aus aber keine Voraussetzung dafür, dass sich Rassismus in der Sicht weißer Menschen, und oft sind die auch noch unseren Strukturen und Köpfen festsetzt. Wir fordern männlich und alt. Das heißt, wir müssen uns fragen: deshalb die Einführung des Unterrichtsprinzips Post- Wie wird Wissen produziert und von wem? Und welches Kolonialismus, in dessen Rahmen z.B. reflektiert werden Wissen wird uns gelehrt beziehungsweise lehren wir? kann: Wer war Angelou Soliman, wieso gibt es Diskus- Wir sollten uns damit auseinandersetzen, wie wir unser sionen über die M*Gasse6 in Wien und was hat das mit Bildungssystem diversifizieren können. Denn Österreich mir zu tun? ist viel mehr als weiß, alt und männlich. Zwei wichtige Stützpfeiler der rassismuskritischen Prinzipien des Anti-Rassismus müssen als separat Bildungsarbeit sind die curricularen Gegebenheiten, hervorgehobener und fixer Bestandteil in die österrei- wie erwähnt, und eben die Lehrkräfte – das gilt vom chischen Lehrpläne aufgenommen werden. Bis dato fin- elementar-pädagogischen bis hin zum universitären Bil- det man in den Allgemeinen Didaktischen Grundsätzen dungssektor. zwar ein eigenes Kapitel zum Thema Diversität und In- Um die angestrebten Änderungen adäquat umzuset- klusion, Chancen- und Geschlechtergerechtigkeit wie- zen ist es wichtig, dass die Lehrkräfte geschult werden. der, in dem auf kulturelle Vielfalt und Mehrsprachigkeit Die Handlungen von LehrerInnen und SchulleiterInnen eingegangen wird, jedoch wird dadurch die Dringlich- sind ausschlaggebend für die Qualität der Schulzeit ihrer keit und Größenordnung des österreichischen Rassis- SchülerInnen. Die LehrerInnen haben damit eine große mus-Problems nicht deutlich. Es reicht nicht, Anti-Rassismus einfach „mitzuden- Madgalena Osawaru. ken“ und unter dem Sammelbegriff „Inklusion“ zu pa- Foto: privat cken. Natürlich ist die Diversifizierung der Unterrichts- materialien (Stichwort Repräsentation) wichtig, um den Kindern ein akkurates Bild unserer Gesellschaft zu ver- mitteln, aber es ist sicherlich nicht damit getan, in allen Beispielen die Namen von Lisa und Philipp auf Yusuf und Azra zu ändern. Vielmehr muss in den Curricula der einzelnen Fächern aufgeräumt werden. Beispielsweise muss laut Mittelschullehrplan Rassismus explizit nur im Geschichteunterricht bei den Themen Kolonialisierung und Shoa thematisiert werden. Rassismus ist jedoch kein in sich abgeschlossenes historisches Phänomen, sondern allgegenwärtig, und so sollte auch die Thematisierung dessen sowie Präventions- und Aufklärungsarbeit fixer Bestandteil der Schulkultur sein. „Wir hatten keine Kolonien. Was haben wir mit Rassismus zu tun?“ 6 Es handelt sich hier um zwei rassistische Straßennamen in Wien-Leopold stadt, deren Anführung im Klartext für Menschen mit rassistischer Diskri- minierungserfahrung beleidigend ist. 16 polis aktuell 1/2022
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