Demokratieentwicklung in der Türkei im Spannungsfeld zwischen Repression und sozialem Wandel - EurActiv
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Demokratieentwicklung in der Türkei im Spannungsfeld zwischen Repression und sozialem Wandel Masterarbeit Betreuer/Erstgutachter: Prof. Günter Verheugen Professur für Europastudien Logenstr. 11-12 Verfasser: 15230 Frankfurt (Oder) Bernhard Joachim Weidenbach Matrikelnummer: 63611 Zweitgutachter: Gutzkowstr. 7 Dr. Raphael Bossong 10827 Berlin Professur für Europastudien Tel: 0176/23376613 Logenstr. 11-12 E-Mail: euv131037@europa-uni.de 15230 Frankfurt (Oder) I
Kulturwissenschaftliche Fakultät European Studies Betreuer: Prof. Günter Verheugen/Dr. Raphael Bossong „Demokratieentwicklung in der Türkei im Spannungsfeld zwischen Repression und sozialem Wan- del“ Abschlussarbeit im Fach European Studies zur Erlangung des Akademischen Grades „Master of Arts“ (M.A.) der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Vorgelegt am: ??.??.2015 von: Bernhard Joachim Weidenbach aus: Osterode am Harz II
Abkürzungen: AA Auswärtiges Amt ADL Anti-Defamation League AFP Agence France-Presse AKP Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei (Adalet ve Kalkınma Partisi) AP Gerechtigkeitspartei (Adalet Partisi) ATT Vertrag über den Waffenhandel (Arms Trade Treaty) BBP Große Einheitspartei (Büyük Birlik Partisi) BDP Partei des Friedens und der Demokratie (Barış ve Demokrasi Partisi) bpb Bundeszentrale für Politische Bildung BTK Informations- und Kommunikationstechnologiebehörde (Bilgi Teknolojileri ve İletişim Kurumu) CEIP Carnegie Stiftung für internationalen Frieden (Carnegie Endowment for International Peace) CFR Rat für auswärtige Beziehungen (Council on Foreign Relations) CHP Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi) CIA Central Intelligence Agency CKMP Republikanische Bauern-Volkspartei (Cumhuriyetçi Köylü Millet Partisi) CPJ Committee to Protect Journalists COE Europarat (Council of Europe) CUSİAD Republikanischer Industriellen- und Geschäftsmannverband (Cumhuriyetci Sanayici ve Isadamlari Dernegi) DEP Demokratiepartei (Demokrasi Partisi) DEHAP Demokratische Volkspartei (Demokratik Halk Partisi) DGAP Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik DGM Staatssicherheitsgericht (Devlet Güvenlik Mahkemeleri) DİB Präsidium für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet İşleri Başkanlığı) DİSK Bund Revolutionärer Arbeitergewerkschaften (Devrimçi İşçi Sendikaları Konfederasyonu) DNA Doğan News Agency DP Demokratische Partei (Demokrat Parti) DSP Demokratische Linkspartei (Demokrat Sol Parti) DYP Partei des Rechten Wegs (Doğru Yol Partisi) EC Europäische Kommission (European Commission) ECHR Europäische Menschenrechtskonvention (European Convention on Human Rights) ECtHR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (European Court of Human Rights) EET Osteuropäische Zeit (Eastern European Time) EIU Economist Intelligence Unit EP Europäisches Parlament EU Europäische Union EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FP Tugendpartei (Fazilet Partisi) GP Jugendpartei (Genç Parti) HADEP Partei der Demokratie des Volkes (Halkın Demokrasi Partisi) HEP Arbeitspartei des Volkes (Halkın Emek Partisi) HSYK Hoher Rat der Richter und Staatsanwälte (Hakimler ve Savcılar Yüksek Kurulu) ICG International Crisis Group İHD Menschenrechtsverein (İnsan Hakları Derneği) İHL Imam-Hatip-Schulen/Prediger und Vorbeterschulen (İmam Hatip Lisesi) IP Internationale Politik (Zeitschrift) IPG Internationale Politik und Gesellschaft (Zeitschrift) IPI Internation Press Institute III
IS „Islamischer Staat“ (ad-daula al-islāmīya) IWF Internationaler Währungsfonds KAS Konrad Adenauer Stiftung KCK Union der Gemeinschaften Kurdistans (Koma Civakên Kurdistan) LGBT Lesbisch-Schwul-Bi-Transsexuell (Lesbian Gay Bi Transsexual) MGK/NSC Nationaler Sicherheitsrat (Milli Güvenlik Kurulu/ National Security Council) MHP Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi) MİSİAD Verband Vaterländischer Unternehmer und Industrieller (Memleketçi Sanayici ve İşadamları Derneği) MİSK Bund Nationalistischer Arbeitergewerkschaften (Milliyetçi İşçi Sendikaları Konfederasyonu) MİT Nationaler Nachrichtendienst (Millî İstihbarat Teşkilâtı) MKYK Zentrales Entscheidungs- und Administrativkomitee (Merkez Karar Yönetim Kurulu) MNP Partei der Nationalen Ordnung (Milli Nizam Partisi) MÜSİAD Vereinigung Unabhängiger Unternehmer und Industrieller (Mustaklil Sanayici ve İş Adamları Derneği) n.p. keine Seitenangabe (no page) NZZ Neue Züricher Zeitung ÖZDEP Partei für Freiheit und Demokratie (Özgürlük ve Demokrasi Partisi) ÖZEP Partei für Freiheit und Gleichberechtigung (Özgürlük ve Eşitlik Partisi) OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa p. Seite (page) PDK Demokratische Partei Kurdistans (Partiya Demokrata Kurdistanê) PKK Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistan) PwC PricewaterhouseCoopers Aktiengesellschaft Wirtschaftsprüfergesellschaft PYD Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekitîya Demokrat) RP Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) RTÜK Oberster Rundfunk- und Fernsehrat (Radyo ve Televizyon Üst Kurulu) SETA(V) Stiftung für politische, wirtschaftliche und Sozialstudien (Siyaset, Ekonomi ve Toplum Araştırmaları Vakfı) SHP Sozialdemokratische Volkspartei (Sosyaldemokrat Halk Partisi) SWP Stiftung Wissenschaft und Politik SZ Süddeutsche Zeitung TBMM Große Nationalversammlung der Türkei (Türkiye Büyük Millet Meclisi) TESEV Türkische Stiftung für wirtschaftliche und soziale Studien (Türkiye Ekonomik ve Sosyal Etüdler Vakfı) TGC Türkische Journalistenvereinigung (Türkiye Gazeticiler Cemiyeti) TMSF Bankeneinlagensicherungsfonds (Tasarruf Mevduati Sigorta Fortu) (Y)TL (Neue) Türkische Lira ((Yeni) Türkçe Lirası) TRT Türkische Radio- und Telefongesellschaft (Türkiye Radyo ve Televizyon Kurumu) TTK Gesellschaft für türkische Geschichte (Türk Tarih Kurumu) TÜRGEV Türkische Jugend- und Bildungsdienststiftung (Türkiye Gençlik ve Eğitime Hizmet Vakfı) TÜSİAD Vereinigung Türkischer Unternehmer und Industrieller (Mustaklil Sanayici ve İş Adamları Derneği) USD US Dollar/$ YPG [Kurdische] Volksverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Gel) YSK Hoher Wahlausschuss (Yüksek Seçim Kurulu) IV
Inhalt 1 Einleitung, Fragestellung, Quellenlage & Hinweise......................................................................... 1 2 Überblick über den Demokratisierungsprozess in der Türkei ......................................................... 3 2.1 Von der Republikgründung bis zum ersten Militärputsch (1923-1960) .................................. 3 2.2 Die Zeit der Militärputsche (1960 bis 1997) ............................................................................ 7 2.3 Intermezzo (1997-2002)......................................................................................................... 12 3 Entwicklungen seit AKP-Regierungsantritt (2002) ........................................................................ 14 3.1 AKP-Wahlsieg, Reformen und der Beginn der Beitrittsverhandlungen (2002-2005/06) ...... 14 3.2 Polarisierung, Tiefer Staat und Entmachtung des Militärs (2005/06-2008/09) .................... 17 3.3 Konsolidierung und zunehmende Polarisierung bis Gezipark (2008/09-2013) ..................... 24 3.4 Gezipark: Ein Zeichen zivilgesellschaftlicher Stärke? ............................................................. 27 3.5 Korruptionsermittlungen, Bruch mit Gülen, Kommunal- und Präsidentschaftswahl und Planungen zur Verfassungsänderung (ab 2013) .................................................................... 34 3.6 Sozialer Wandel und Spannungen ......................................................................................... 39 3.7 Die Medien und ihre Beeinflussung: (Selbst-)Zensur............................................................. 43 4 Jüngste Entwicklungen: Das Wahljahr 2015 und die erneute Eskalation des Kurdenkonflikts .... 47 4.1 Die Wahl vom Juni 2015 ........................................................................................................ 49 4.2 Eskalation und Konfrontation: Der Kurdenkonflikt und der Bürgerkrieg in Syrien ............... 54 4.3 Die Wahlen vom November 2015.......................................................................................... 59 5 Demokratisierung oder Repression? Versuch einer Bilanz ........................................................... 62 6 Fazit ............................................................................................................................................... 70 7 Literatur: .......................................................................................................................................... a Eidesstaatliche Erklärung zur Masterarbeit ............................................................................................ u V
1 Einleitung, Fragestellung, Quellenlage & Hinweise „Die Türkei ist in der muslimischen Welt die einzige pluralistische und säkulare Demokratie mit einem Rechtssystem, das mit seinen Strukturen und Inhalten kontinentaleuropäischen Mustern entspricht.“1 Dabei kann die Türkische Republik seit ihrer Gründung aus den Überresten des Osmanischen Reiches im Jahr 1923 auf eine lange und wechselvolle Demokratiegeschichte mit einigen Zäsuren und Rück- schlägen zurückblicken: Die Einparteienherrschaft der CHP Atatürks und Inönüs bis 1950, die drei Mi- litärputsche von 1960, 1971 und 1980 und in jüngster Zeit die Wahl der AKP im Jahr 2002, welche seitdem die Geschicke des Landes bestimmt. Von dieser wurden, unter Führung des langjährigen Mi- nisterpräsidenten und jetzigem Staatspräsidenten Erdoğan, zahlreiche Reformen unternommen, die auf einen Beitritt zur Europäischen Union abzielten und von dieser durchaus gewürdigt wurden. Zahl- reiche, auf Demokratisierung, Partizipation und kultureller Öffnung abzielende Schritte wurden von der Regierung unternommen und die AKP wurde als Hoffnungsträger für eine konsequente Westbin- dung und demokratischen Reformeifer gesehen. Ihre Herkunft und ideologische Verwurzelung im is- lamistischen Umfeld der Türkei wurde dabei hingenommen und ihren Erklärungen, dieser Ideologie abgeschworen zu haben, Glauben geschenkt. Heute verbindet die Türkei „Elemente einer modernen, westlichen, demokratischen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft mit einem lebendigen und in der türkischen Gesellschaft tief verwurzelten Islam moderner Prägung sowie mit einem teilweise aus- geprägten Nationalismus. Sie ist von starken politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegensätzen gekennzeichnet, die das politische System immer wieder auf eine Belastungsproben stellen.“2 Nach ersten Jahren der Reformen machte sich jedoch ein zunehmend autoritärer Zug in der Regie- rungsführung der AKP bemerkbar, der die ohnehin schon tiefe Polarisierung der türkischen Gesell- schaft mit tiefen, möglicherweise irreparablen Bruchlinien, insbes. aufgrund einer als schleichende Is- lamisierung verstandenen Politik, die sich stark in den Alltag der Bürger einmischte, noch vertiefte. Gleichzeitig waren Kontroll- und Korrektivmechanismen durch zahlreiche, offiziell auf Liberalisierung zielende Reformen außer Kraft gesetzt worden, so dass auch das einst übermächtige türkische Militär zum Zuschauen verurteilt war. Dies ging einher mit einer massiven Einschränkung der Pressefreiheit, die die öffentliche Meinung weiter kalt stellte. Wann genau dieser autoritäre Schwenk stattfand, ist in der Literatur umstritten. Häufig wird 2005 genannt, weil zeitgleich mit der Erklärung zum EU-Beitritts- kandidaten der Reformeifer rapide nachließ,3 während andere den Beginn der Kopftuch- und Verfas- sungsdebatte und die Ergenekon-Ermittlungen, die anfangs begrüßt wurden, zunehmend aber zur Re- pression und Verfolgung von Regierungskritikern genutzt wurden, als Wendepunkt betrachten.4 Auch 1 RUMPF 2012, p. 121. 2 AA 2015, n.p. 3 Z.B. BACIA 2012, KUBICEK 2013 & CORNELL 2015b vertreten diese Meinung. 4 Z.B. AKSER/BAYBARS-HAWKS 2012 & p. 307 COOK/KOPLOW 2013, n.p. 1
2011 wird als Wendepunkt gesehen,5 spätestens aber das Niederschlagen der Geziproteste und die Korruptionsermittlungen gegen Erdoğan nahestehende Politiker und Unternehmer ab 2013 haben das Bild nachhaltig getrübt und zu einer autoritären, wenn nicht autokratischen Wahrnehmung beigetra- gen.6 Im Rahmen der Arbeit soll folglich in erster Linie ein Überblick über die Demokratieprozesse der Türkei, insbes. seit Regierungsantritt der AKP gegeben werden; weiterhin soll versucht werden, den ambiva- lenten Weg der AKP zwischen demokratischen und liberalen Reformen auf der einen und Repression auf der anderen Seite nachzuzeichnen. Der gesamte Demokratieprozess in der Türkei wird von einem tiefgreifenden sozialen Wandel begleitet, auf den ebenso eingegangen werden soll. Die Arbeit gliedert sich wie folgt: In Kapitel 2 wird auf die Demokratisierungsprozesse von 1923 bis 2001 eingegangen, unterteilt in thematisch passende Unterkapitel. Kapitel 3 legt den Schwerpunkt auf die Regierungszeit der AKP, wiederum unterteilt in einzelne Themenkomplexe. Sowohl der soziale Wandel als auch die Mediensituation werden hier gesondert behandelt, wobei beide Punkte auch an vielen weiteren Stel- len Erwähnung finden. Kapitel 4 widmet sich den Entwicklungen des Jahres 2015 mit seinen beiden Wahlen und der Eskalation der innenpolitischen Lage, während in Kapitel 5 die Demokratisierung und die Repression gegenüber gestellt werden. In Kapitel 6 soll ein Fazit gezogen werden. Für die Arbeit wurde ein breites Spektrum an Literatur herangezogen und es wurde versucht, ein mög- lichst ausgewogenes Bild zu präsentieren. Eher regierungsnahe türkische Publikationen (Insight Tur- key, SETAV) sowie Publikationen liberaler türkischer Thinktanks (TESEV) finden ebenso Raum wie Arti- kel verschiedener türkischer (Tages-)Zeitungen verschiedener Ausrichtung. Dazu kommen zahlreiche Veröffentlichungen der SWP, DGAP und der deutschen parteinahen Stiftungen, insbes. KAS, FES & FNS und Zeitungsartikel verschiedener Länder, insbes. NZZ & The Economist, FAZ, SZ, TAZ & Tagesspiegel bis hin zu den verschiedenen US-amerikanischen außenpolitischen Veröffentlichungen, schwerpunkt- mäßig Foreign Affairs, Foreign Policy & National Interest sowie einiger Stiftungen. Dazu kommen ver- schiedene Wirtschaftsstatistiken, Ranglisten wie z.B. Demokratieindex, Pressefreiheitsindex etc. sowie einige unabhängige Publikationen. Die Literatur und Quellen sind überwiegend in deutscher oder eng- lischer Sprache, teilweise auch in Türkisch. Insgesamt bietet sich beim Forschungsstand und der Quel- lenlage ein breites und ausgewogenes Bild, welches diese Arbeit stützt. Als Endpunkt des untersuchten Zeitraums wurde der 03. November 2015 gesetzt, so dass zumindest erste Analysen noch eingearbeitet werden konnten. Jüngere Entwicklungen hätten den Rahmen der Arbeit gesprengt. Es wurde versucht möglichst einheitliche Schreibweisen zu verwenden. Türkische Namen und Bezeich- 5 Z.B. YEL/NAS 2013. 6 Z.B. ALARANTA 2015, n.p. 2
nungen folgen nach Möglichkeit der türkischen Schreibweise inkl. der im Deutschen nicht gebräuchli- chen diakritischen Zeichen. Es wird die Schreibweise AKP und nicht AK-Partei (AK parti) verwendet. Ebenso wurde versucht zwischen ‚muslimisch‘, ‚islamisch‘ und ‚islamistisch’ zu differenzieren.7 2 Überblick über den Demokratisierungsprozess in der Türkei In den folgenden Unterkapiteln soll versucht werden, einen kurzen Abriss des Demokratisierungspro- zesses und der politischen Geschichte seit Gründung der Türkei bis zu den Wahlen von 2002 zu geben. 2.1 Von der Republikgründung bis zum ersten Militärputsch (1923-1960) Die Republik Türkei wurde am 29. Oktober 1923 aus den türkisch-sprachigen Landesteilen des zer- schlagenen Osmanischen Reiches als Folge des verlorenen Ersten Weltkriegs und des gewonnenen Türkischen Befreiungskriegs von Mustafa Kemal (dem später ehrenhalber der Titel und Nachname A- tatürk verliehen wurde) begründet. Dieser „war mit vielen Altersgenossen überzeugt, dass für das Überleben der Türkei keine Alternative zu einer radikalen, d.h. raschen und vollständigen Modernisie- rung und Säkularisierung bestand“,8 auch wenn es schon im Osmanischen Reich Strömungen gegeben hatte, die sich bewusst für eine Annäherung an das Ideal der westlichen Werte, Säkularismus und So- zialliberalismus einsetzte.9 Somit waren die ersten Jahre der Republik unter der Präsidentschaft Ata- türks (1923-1938) und seines Amtsnachfolgers İsmet İnönü (1938-1950) von Modernisierung und ‚Ver- westlichung‘, gleichzeitig jedoch einer autoritären Einparteienherrschaft geprägt.10 In den nachfolgen- den Jahren etablierte sich der sog. Kemalismus (Atatürkçülük) als Staatsideologie der Türkei. Dieser basiert auf sechs Grundprinzipien: ‚Republikanismus‘ (cumhuriyetçilik) als Staatsform, ‚Nationalismus‘ (milliyetçilik) im Gegensatz zum osmanischen Vielvölkerstaat, ‚Populismus‘ (halkçılık), d.h. Solidarität der türkischen Bürger zur Mobilisierung für den Aufbau des Staates, ‚Revolutionismus‘ (devrimcilik) in Form von fortlaufender Modernisierung und Reformen, ‚Etatismus‘ (devletçilik) durch staatliche Inter- vention in die Wirtschaft und der bis heute eine tragende Rolle einnehmende ‚Laizismus‘ (laiklik), also der Trennung von Staat und Religion.11 Die türkische Version des Laizismus sieht jedoch „nicht die Trennung von Staat und Religion vor, sondern erlaubt dem Staat, die Religion mit Hilfe des staatlichen 7 SEUFERT 2004, p. 7. 8 KREISER/NEUMANN 2006, p. 409. 9 DALMIŞ 2014, p. 7. 10 JUNG 2012, pp. 92-93. 11 WARNING 2012f, p. 185; Diese werden durch sechs Pfeile (altı ok) symbolisiert. Ab 1924 (bis 1961) waren diese sechs Prinzipien im Art. 2 der Verfassung niedergeschrieben, vgl. auch: REPUBLIK TÜRKEI 1924, Art. 2. 3
Präsidiums für Religionsangelegenheiten (DİB) zu kontrollieren.“12 Dieses wurde am 03. März 1924 ge- gründet (zeitgleich zur Abschaffung des Kalifats) und folgt grundsätzlich der hanefitisch-sunnitischen Lehrmeinung des Islam und soll die Gesellschaft in religiösen Fragen aufklären und die Gebetsstätten verwalten, was in einer staatlichen Kontrolle der Religion und dem Verbot islamistischer Parteien re- sultierte.13 Seine Rolle „als einzige, offizielle Autorität bzgl. des Islam“ führte aber schon früh zu Span- nungen, da die Türkei eine große Breite muslimischer Gruppen und unorthodoxer Gruppen wie Alevi- ten, Nurcus und Süleymancilar, aber auch nichtmuslimischer Gruppen aufwies und aufweist.14 Die Ke- malisten der frühen CHP waren aber davon ausgegangen, „dass sich gut ausgebildete, im westlichen Sinn erzogene Menschen früher oder später aus freien Stücken von der Religion abwenden oder sie in einer nüchternen philosophisch-aufgeklärten Form praktizieren würden.“15 Früh propagierte deshalb die CHP einen Säkularismus, der eine Spaltung der Gesellschaft begünstigte, da eigene Schulen, Uni- versitäten, Organisationen und Gewerkschaften für Säkularisten betrieben wurden,16 wodurch insge- samt im Zuge der Säkularisierung und Modernisierung die Religion in der Türkei sichtbarer wurde und eine noch größere Rolle einnahm.17 Das Beispiel des DİB, welches sich auch auf weitere moderne poli- tische Institutionen der Türkei (bis heute) anwenden lässt, illustriert aber sehr gut eines der Grund- probleme der türkischen Politik, nämlich, dass diese Institutionen „nicht das Resultat einer bürgerli- chen Revolution, sondern das Ergebnis einer von der militärisch-bürokratischen Elite durchgeführten elitären Modernisierungspolitik“ waren und sind.18 An dieser Stelle sei auch bereits kurz auf einen weiteren prägenden Diskurs der türkischen Republik- geschichte eingegangen, der bis heute von größter Bedeutung erscheint: Die Kurdenfrage. Eine kurdi- sche Ethnizität wurde durch „die hochexklusive kemalistische Auffassung der türkischen Staatsbürger- schaft“ (Diffamierung als „Bergtürken“; Dağ Türkleri) geleugnet und kurdische Sprache, Geschichte und Kultur aus dem öffentlichen Leben der Türkei verbannt. Alle Bewohner der Türkei galten als ‚Tür- ken‘ was sich nicht nur auf den staatsbürgerlichen Status bezieht, sondern auch im Sinne einer Identi- tätsbestimmung verstanden wird.19 Die Kurden verstehen sich jedoch als eigenständiges (und „erbit- tert stolzes“) Volk, „deren jahrzehntelanger Kampf für Anerkennung und Selbstbestimmung […] regel- mäßig Ausdruck in Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit fand, ein allgegenwärtiger aufs Herz 12 LANDWEHR 2012, p. 186. 13 SEUFERT 2012b, pp. 212-213; vgl. auch WARNING 2012f, p. 185. 14 ULUC, 2015, p. 54; Mit Aufstellung muslimischer (auch unorthodoxer) Minderheiten; vgl. EBENDA 2015, p. 52. 15 KREISER/NEUMANN 2006, p. 415. 16 ABBAS 2013, pp. 22-23. 17 ULUC 2015, p. 50. 18 JUNG 2012, p. 111. 19 DIETERT 2012, p. 159. 4
der territorialen Integrität und Einheit gerichteter Dolch.“20 “Dennoch bilden die Kurden „keine homo- gene religiöse Gemeinschaft. Sie sind mehrheitlich sunnitische Muslime (der schafiitischen Denomina- tion), doch gibt es auch zahlreiche alevitische Kurden.21 Heute sind 10-15 Mio. der türkischen Staats- bürger kurdischer Abstammung (ethnische Zugehörigkeit wird in der Türkei nicht zentral erfasst). 12% der Bevölkerung gaben 2007 Kurdisch als Muttersprache an, 1% Zazaki. Ein kleinerer Teil der Kurden lebt integriert und verstreut in der Türkei, ein größerer Teil in den wirtschaftlich unterentwickelten Regionen im Osten und Südosten der Türkei,22 die etwa ein Viertel der Fläche der Türkei ausmachen.23 Auch wenn sich die Zeit der Einparteienherrschaft nur begrenzt als demokratisch bezeichnen lässt, wurden demokratische Grundprinzipien wie freie und geheime Wahlen weitgehend gewahrt. Frauen wurde 1930 das aktive und 1934 das passive Wahlrecht auf kommunaler wie nationaler Ebene ge- währt, wodurch auch das Prinzip der Gleichheit beachtet wurde.24 Nach dem Tod Atatürks und mit Beginn der Präsidentschaft (des populären Generals der Befreiungskrieg) İnönüs ab 1938 wurde das System jedoch zunehmend repressiv, da İnönü seine quasi-diktatorische Macht, für den Erhalt seiner autoritären Regierung nutzte. In der Folge wurden Kritiker inhaftiert, Zeitungen geschlossen und Juden sowie Christen mit Zusatzsteuern belegt. Ab 1946 gab es starke Tendenzen zum Mehrparteiensystem, die – manipulierten – Wahlen desselben Jahres konnten jedoch von İnönü gewonnen werden. Erst 1950 kam es zu wirklich freien Wahlen in einem Mehrparteiensystem25 Die Gründe für den Übergang sind umstritten. Während einige diese Veränderung als dem Kemalismus innewohnend betrachteten, spielten auch sozioökonomische Faktoren und insbes. die Westbindung eine Rolle und waren „somit auch eine Reaktion auf Veränderungen der Machtkonstellationen in der internationalen Politik.“26 Gem. FEROZ AHMAD begann erst 1950 „das türkische Experiment in Demokratie“.27 Wahlsieger von 1950 war die DP, die von prominenten, ehemaligen CHP-Politikern gegründet worden war, darunter Celal Bayar (der Staatspräsident wurde), Adnan Menderes (der Ministerpräsident wurde), Fuad Köprülü und Refik Koraltan.28 Spätestens ab 1950 wurde auch mit dem strengen Laizis- mus der Einparteienherrschaft der CHP gebrochen und es wurden „Konzessionen an die religiösen Ge- fühle breiter Teile, namentlich der ländlichen Bevölkerung gemacht.“29 Unter der DP begann eine Phase einer modernen Re-Islamisierung, deren Verfechter „die unleugbare Religionsfeindlichkeit der 20 HANNAH 2013, n.p. [aus dem Englischen] 21 KREISER/NEUMANN 2006, p. 468. 22 AA 2015, n.p.; vgl. auch CAGAPTAY 2015, n.p., CIA 2015, n.p., SEUFERT 2012a, p. 233 & STEIN/BLASER 2015, n.p. 23 TANCHUM 2015b, n.p. 24 KREISER/NEUMANN 2006, p. 414. 25 DANFORTH 2015, n.p. 26 JUNG 2012, pp. 92-93. 27 Zit. nach: KREISER/NEUMANN 2006, p. 426. 28 DALMIŞ 2014, p. 7. 29 STEINBACH 2012b, p. 62. 5
ersten Republikjahrzehnte“ als „‚Degenerationserscheinungen‘ interpretiert[en], die mit den Grundla- gen der islamischen Religion und türkischen Kultur wenig gemeinsam hätten.“30 Mit dem Bruch des Einparteiensystems wurden endgültig die beiden Richtungen begründet, welche die türkische Politik – ebenso wie in den meisten anderen Staaten – nachhaltig beeinflusste: Eine eher rechtsgerichtete und eher linke Tradition. Grob lassen sich CHP und Nachfolgeparteien als links, DP und Nachfolgeparteien als rechts klassifizieren.31 Die DP schaffte es, bei den Folgewahlen von 1954 ihr Ergebnis sogar auf 58 % der Wählerstimmen zu steigern. Danach „wurde die DP zunehmend autoritär, regierte mangelhaft und sah sich selbst zunehmend Vorwürfen der Korruption und Bestechung ausgesetzt.“ Zwar konnten auch die Wahlen von 1957 mit Verlusten gewonnen werden,32 die zunehmende Kritik an seiner Regie- rung veranlasste Menderes jedoch dazu, 1960 in der TBMM einen Untersuchungsausschuss einzurich- ten, welcher zur Pressezensur, zu Zeitungsverboten und zum Verhängen von Gefängnisstrafen bis zu drei Jahren ohne Gerichtsurteil befugt war. Dieser Ausschuss war einer der Auslöser für ein prägendes und einschneidendes Element in der türkischen Politik – den ersten der Militärputsche.33 Im selben Jahr übernahm unter der Führung von General Cemal Gürsel das Militär, das sich bis heute selbst als ‚Hüter der Republik‘, bzw. ‚Hüterin des Kemalismus‘34 betrachtet, die Macht. Menderes und Bayar wur- den zum Tode verurteilt.35 Der Putsch von 1960 sowie die 1961 beschlossene Verfassung waren indes wichtig für die weitere rechtsstaatliche Entwicklung der Türkei. So wurden Institutionen wie das Verfassungsgericht, der HSYK und der MGK begründet,36 ein beratendes (und kontrollierendes) Gremium „von obersten Rängen des Heeres, der Luftwaffe, der Marine sowie der Gendarmerie mit dem Generalstabschef an der Spitze.“37 Des Weiteren gewährte die Verfassung einen umfassenden Grundrechtschutz, garantierte die Unab- hängigkeit der Justiz, das Streikrecht der Gewerkschaften, schuf ein Zweikammerparlament und ord- nete dem Staatspräsidenten eine weitgehend repräsentative Rolle zu, galt „als fortschrittlichste aller türkischen Verfassungen“ und hielt „jedem Vergleich mit den existierenden Verfassungen in Europa stand.“38 30 KREISER/NEUMANN 2006, p. 464. 31 DALMIŞ 2014, p. 7; für eine gute Übersicht der Parteien und Einordnung in das politische Links-Rechts-Spekt- rum vgl. auch Darstellung 1, vgl. Ebenda, p. 7. 32 Ebenda, pp. 11-12. 33 KREISER/NEUMANN 2006, p. 409; den ‚zivilen‘ oder ‚postmodernen‘ Putsch von 1997 mitgezählt, gab es vier Mi- litärputsche in der Türkei: 1960, 1971, 1980, 1997; vgl. auch COOK 2014, n.p. 34 LANDWEHR 2012, p. 184. 35 DANFORTH 2015, n.p.; Menderes wurde hingerichtet, die Strafe Bayars zu lebenslanger Haft umgewandelt. 1966 wurde er begnadigt 36 KREISER/NEUMANN 2006, p. 429; vgl. auch JUNG 2012, pp. 113-114. 37 WARNING 2012g, p. 105. 38 RUMPF 2012, p. 121. 6
2.2 Die Zeit der Militärputsche (1960 bis 1997) Die Türkische Parteienlandschaft war spätestens seit den 1960er Jahren von starker Zersplitterung, Klientelpolitik und Korruption beherrscht, was durch den starken Militäreinfluss reguliert wurde, der ebenfalls seit den 1960ern erheblich wurde, in den 1990ern seinen Höhepunkt erreichte und sich in vier Eingriffen in die politische Ordnung der Türkei niederschlug.39 Die DP war im Zuge des Putsches verboten worden, jedoch wurde schon 1961 die AP als Nachfolge- partei begründet, in der Süleyman Demirel eine herausragende Rolle einnahm.40 Insgesamt siebenmal hatte er (zumeist kurz) das Amt des Ministerpräsidenten inne, von 1993 bis 2000 war er Staatspräsi- dent der Türkei.41 Ebenfalls 1961 wurde der 1950 abgewählte İnönü erneut zum Ministerpräsidenten. Während seiner Amtszeit unterzeichneten am 12.09.1963 die EWG und die Türkei ein Assoziierungs- abkommen (‚Ankara-Abkommen‘) zur Stärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen.42 Die Jahre nach İnönü „bis zur Militärintervention vom 12. September 1980 waren durch eine permanente Insta- bilität des politischen Systems gekennzeichnet. Im Durchschnitt wechselte die Regierung jährlich ein- mal.“43 Auch gewann in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die islamische politische Bewegung um Necmet- tin Erbakan als neues Phänomen in der türkischen Politik Bedeutung,44 was durch einen „Säkularismus nach Art der Jakobiner und die völlige Verdrängung der Religion aus der Öffentlichkeit […] nach Ausru- fung der türkischen Republik im Jahr 1923“ begünstigt wurde.45 Erbakan begründete 1967 die Milli- Görüş-Bewegung (‚Nationale Sicht‘), die „antiwestlich, antizionistisch und antisemitisch“ war und ihre Wurzeln im streng konservativen Naqshibendi-Orden hatte.46 Erbakan und seine Bewegung (und die von ihm gegründeten Parteien) propagierten eine ‚Gerechte Ordnung‘ (adil düzen) und warfen dem Westen Dekadenz vor, dessen militärische Macht und Wohlstand die moralische Überlegenheit der islamischen Zivilisation nicht ausgleichen könnten,47 weshalb es Erbakans erklärtes Ziel war, sich vom westlichen Gesellschaftssystem zu distanzieren48 und er „unverblümt, wenn auch im Einzelnen un- scharf […] die Errichtung eines islamischen Systems, d.h. einer gesellschaftlichen und politischen Ord- nung, die auf dem islamischen Gesetz (arab. shar’ia; türk. şeriat) beruhen würde“, forderte.49 Auf Basis 39 JUNG 2012, p. 94. 40 KREISER/NEUMANN 2006, p. 430. 41 KINZER 2015, n.p., vgl. auch WARNING 2012j, p. 45. 42 BACIA 2012, p. 432. 43 KREISER/NEUMANN 2006, p. 431. 44 AKSER/BAYBARS-HAWKS 2012, p. 305 45 GRIGORIADIS 2007, p. 22 46 CORNELL 2015b, p. 32. 47 GRIGORIADIS 2007, pp. 23-24. 48 WARNING 2012i, p. 222. 49 STEINBACH 2012b, p. 62. 7
seiner Bewegung war Erbakan 1970 Gründer und Vorsitzender der ersten islamistischen Partei, der MNP,50 die 1971 bereits wieder verboten wurde. 1972 wurde von Erbakan als Nachfolgepartei die MSP begründet, mit der er in Folge in drei verschiedenen Koalitionsregierungen stellvertretender Minister- präsident wurde.51 Im Jahr 1969 betrat bereits mit der ultranationalistischen MHP eine weitere neue und prägende Formation die politische Bühne, die von Alparslan Türkeş aus Teilen des CKMP gegrün- det wurde, von der er 1965 den Vorsitz übernahm. 1961 hatte er bereits die ‚Grauen Wölfe‘ (bozkurt- lar, in Eigenbezeichnung auch ‚Idealisten‘, ülkücüler) begründet.52 Die Aleviten, deren Glauben Ähnlichkeiten mit dem schiitischen Islam und dem Alawitentum, bei ana- tolischer Prägung und Elementen des Sufismus, aufweist,53 begannen ebenfalls in den 1960er Jahren als homogene Gruppe aufzutreten bzw. als solch eine wahrgenommen zu werden und es entwickelte sich ein Türkeiweites alevitisches Bewusstsein. Zuvor wurden sie in allen Landesteilen der Türkei ver- schieden bezeichnet. Spätestens ab den 1960er Jahren zeichneten sich die Aleviten in der Türkei dann mehr durch Säkularismus als durch Frömmigkeit aus, wobei viele Aleviten den säkularen Kemalismus Atatürks schon früh begrüßt und begleitet hatten.54 Die heutige Zahl der Aleviten in der Türkei ist schwer bestimmbar, Schätzungen reichen von 8% bis 14%, eine Zahl von knapp 10 Mio. Aleviten er- scheint realistisch.55 Die politische Instabilität führte Ende der 60er Jahre zu offen auf der Straße ausgetragenen Differenzen verschiedener extremistischer Gruppen und da Ministerpräsident Demirel nicht in der Lage war, die Situation unter Kontrolle zu bringen, überbrachte ihm der Generalstabschef ein Memorandum, in dem dieser aufgefordert wurde, die Lage in den Griff zu bekommen und grundlegende Reformen durchzu- führen, woraufhin dieser zurücktrat.56 Dieser ‚Putsch‘ von 1971 führte zu einer Zersplitterung der po- litischen Rechten in fünf Parteien,57 was auch zu einem vorübergehenden Erfolgskurs der CHP führte, die durch ihren Vorsitzenden Bülent Ecevit bei den Wahlen von 1973 das beste Ergebnis seit Einfüh- rung des Mehrparteiensystems (33,5%) verbuchen konnte und der es schaffte, die CHP in eine mo- derne sozialdemokratische Partei zu wandeln.58 Seitdem befindet sich die CHP (mit Ausnahme eines erneuten kurzfristigen Hochs nach dem Militärputsch von 1980,) eher im Abwärtstrend, während rechte Parteien seitdem (mit Einbrüchen in den 1990ern) tendenziell eher im Aufwärtstrend sind.59 Die 50 SEUFERT 2012b, p. 223. 51 WARNING 2012i, p. 222. 52 WARNING, 2012c, p. 100. 53 FISHER ONAR 2015, n.p. 54 SEUFERT 2012a, p. 249; hier auch eine Liste mit weiteren Fremd- und Eigenbezeichnungen 55 FISHER ONAR 2015, n.p.; vgl. auch SEUFERT 2012a, p. 252 56 STEINBACH 2012b, p. 62. 57 DALMIŞ 2014, pp. 12-13. 58 STEINBACH 2010, p. 50; vgl. zu Ecevit auch WARNING 2012h, p. 52. 59 DALMIŞ 2014, p. 7; 8
übliche Wählerklientel der CHP umfasste durchweg insbes. die Mittel- und Oberschicht im Westen, Teile der bürokratischen und intellektuellen Elite, säkulare Kemalisten, Aleviten und die balkanstäm- migen Bevölkerungsschichten in den westlichen Städten, daneben aber auch kleinere (alevitische oder säkulare) Teile der kurdischen Bevölkerung,60 wobei letztere ab den 1990ern auch zunehmend von kurdischen Parteigründungen wie der HADEP, der DEHAP und der BDP abspenstig gemacht wurden, was in den Wahlen geschätzt 4 % der Stimmen kostete.61 Ebenfalls als Folge von 1971 waren mit den DGM 1973 außerordentliche Gerichte geschaffen, um staatsfeindliche Verbrechen („Nationale Sicher- heit“) zu ahnden.62 Die Gewerkschaften hatten elementare Rechte (Streik- & Tarifverhandlungsrecht) erst 1961 gewährt bekommen und konnten auch in der Folge nur unter staatlicher Kontrolle bestehen. Nichtsdestoweni- ger kam es zu einer starken Radikalisierung und Militarisierung der Gewerkschaftsbewegung in den 1970ern, die ein Abbild der Parteienlandschaft wurden: Während die Türk-Iş staatsnah-kemalistisch auftrat, zeigte sich die DİSK linksradikal. Auch kam es zur Gründung der der MHP nahestehenden MİSK und der dem islamistischen Lager nahe stehende Hak-Iş.63 Insgesamt stand die Türkei in den 1970ern vor gewaltigen innenpolitischen Zerreißproben: Die Wirtschaft stand kurz vor dem Kollaps und es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen militanten links- und rechtsgerichteten Gruppierun- gen und den Sicherheitskräften mit tausenden Toten,64 die als Resultat und Kulmination der weitrei- chenden Politisierung und Polarisierung aller Bereiche der türkischen Gesellschaft, aus Sicht der Streit- kräfte das anzugehende Grundproblem waren, weswegen das Militär 1980 erneut putschte, diesmal unter Führung des Generalstabschefs Kenan Evren. Die Generäle verfolgten dabei drei Ziele: Die Wie- derherstellung von Ruhe und Ordnung, die Schaffung eines politischen Systems, welches eine Wieder- holung des Vorputschzustands verhindern sollte, sowie die Schaffung einer neuen Wirtschaftsord- nung: Sie ließen dabei aber „von Anfang an keinen Zweifel daran, daß [sic] sie früher oder später die Macht an die Politiker zurückgeben würden.“65 Auch wurde der Putsch von der Mehrheit der Bevölke- rung unterstützt.66 Die Militärregierung versuchte zur Steigerung der politischen Stabilität ein Zweipar- teiensystem zu etablieren, wozu auch die neu eingeführte sehr hohe Zehnprozenthürde für den Einzug in die TBMM beitragen sollte,67 wodurch von allem kleine Parteien und Minderheiten benachteiligt wurden und werden.68 Auch wurde 1982 eine neue Verfassung verabschiedet, die, mit zahlreichen 60 STEINBACH 2012b, pp. 67-68, vgl. auch CAGAPTAY 2015, n.p. & DALMIŞ 2014, p. 17. 61 DALMIŞ 2014, p. 17. 62 GRIGORIADIS 2007, pp. 23-24. 63 JUNG 2012, pp. 113-114. 64 CAGAPTAY 2015, n.p. 65 STEINBACH 2010, p. 53; vgl. auch KREISER/NEUMANN 2006, p. 472. 66 DANFORTH 2015, n.p. 67 KANAT 2015, p. 8, vgl. auch KIRIŞCI/CENGIZ 2015b, n.p. 68 EURACTIV.DE 2015b, n.p.; vgl. auch OSZE 2015, p. 2. 9
Änderungen, bis heute in Kraft ist.69 Prägender Politiker der 1980er und 1990er Jahre war Turgut Özal, der als anerkannter Wirtschaftsfach- mann als Begründer einer neuen wirtschaftlichen Liberalisierung in der Türkei gesehen wird. Von 1983 bis 1989 führte er mit seiner ANAP die Regierungsgeschäfte in absoluter Mehrheit.70 „Einerseits ein Bewunderer des Westens, war er andererseits sehr religiös und leistete mit seiner Politik einem Wie- dererstarken islamistischer Bewegungen Vorschub.“71 Unter ihm stellte die Türkei am 14. April 1987 die Türkei ein offizielles Beitrittsgesuch an die EWG, das jedoch 1989 abgelehnt wurde.72 Dennoch gab es in Richtung der EU seit Mitte der 1990er intensivierte Beitrittsbemühungen, deren erster Erfolg die Einrichtung einer Zollunion zum 01.01.1996 war,73 deren Einführung bereits im ‚Ankara-Abkommen‘ beschlossen worden war.74 Die frühen 1990er Jahre waren nach den Reformen Özals als Ministerprä- sident bzw. als Staatspräsident (ab 1989) und dessen Tod im Jahr 1993 unruhig. Ministerpräsident De- mirel (DYP) wurde 1993 Özals Nachfolger im Präsidentenamt und Tansu Çiller neue Ministerpräsiden- tin.75 Diese ging eine Koalitionsregierung mit der CHP ein, die jedoch von deren neu gewähltem (linken) Parteivorsitzenden Deniz Baykal beendet wurde. In den angesetzten Neuwahlen 1995 wurde die (1983 von Erbakan als Nachfolgepartei der FP begründete76) islamistische RP stärkste Kraft. Nach einer nur dreimonatigen Koalitionsregierung von ANAP und DYP, gingen die DYP unter Çiller und die RP mit Erbakan als Ministerpräsidenten eine Koalition ein.77 Nach dem Militärputsch von 1980 begann sich in der Türkei allmählich eine Zivilgesellschaft herauszu- bilden, die auch ein breites Spektrum an breit aufgestellten Vereinen gründete, die sich in allen Berei- chen des öffentlichen Lebens von Frauenrechten, Erziehung, Ökologie, Sport bis hin zu Kultur organi- sierten. Wichtiges Aktionsfeld wurden hierbei auch die Menschenrechte: Die erste Menschenrechts- organisation, der İHD, wurde 1986 gegründet und von weiten Teilen der politischen Türkei als staats- feindlich betrachtet. Nichtsdestoweniger stieg die Mitgliederzahl innerhalb von zehn Jahren auf 16.000 Mitglieder. Im islamistischen Lager wurde als Pendant die Mazlum-Der gegründet, die ‚Islamische Men- schenrechte‘ propagierte, sich mittlerweile aber auch für universelle Menschenrechte einsetzt. Beide Organisationen richteten sich gegen die Dogmen des kemalistischen Staats. Das andauernde Miss- trauen von Teilen der Bevölkerung und des Staates gegen zivilgesellschaftliche Vereine und Projekte 69 COOK 2014, n.p. 70 STEINBACH 2010, p. 54. 71 WARNING 2012k, p. 49. 72 KREISER/NEUMANN 2006, p. 449; vgl. auch BACIA 2012, p. 432. 73 DIETERT 2012, p. 152. 74 KREISER/NEUMANN 2006, p. 449. 75 STEINBACH 2010, pp. 56-58. 76 SEUFERT 2012b, p. 223. 77 STEINBACH 2010, pp. 59-60. 10
ist auch durch deren teilweise Finanzierung aus dem Ausland sowie durch EU-Unterstützung begrün- det, was als unwillkommene Einmischung betrachtet wird.78 Auch das Spektrum der Arbeitgeber- und Unternehmerverbände vergrößerte sich und zeigte die für die türkische Gesellschaft übliche Zerrissen- heit. Der größte, traditions- und lange Zeit einflussreichste Verband ist der 1971 gegründete TÜSİAD, dessen Mitglieder das türkische Großunternehmertum repräsentieren und eher dem kemalistischen Gedankengut zugeneigt sind (weswegen sich der TÜSİAD in den 1990ern gegen islamistische Bewe- gungen engagierte), die stark von etatistischen Staatsubventionen profitierten und sich mittlerweile zunehmend für Demokratisierung79 und Rechtstaatlichkeit einsetzen.80 Als islamisch-konservatives Pendant wurde 1990 der MÜSİAD gegründet, der eher kleine und mittelständische, religiös-geprägte Unternehmer vertritt, die der neuen Mittelschicht entstammten, die von der Liberalisierung unter Tur- gut Özal profitiert hatten. Dazu kam der MHP-nahe MİSİAD und seit 1997 der alevitische CUSİAD.81 Auch als Folge des Militärputsches von 1980 radikalisierten sich Teile der kurdischen Bevölkerung. Im Jahr 1984 erklärte die PKK (diese wurde bereits 1978 von Abdullah Öcalan gegründet; er selber flüch- tete 1979 nach Damaskus82), eine sich selbst als leninistisch verstehende Organisation bzw. Partei, die von der Türkei, der EU und den USA als Terrororganisation betrachtet wird, der Türkei den bewaffne- ten Kampf, was zum (mit einigen Waffenstillständen bis heute andauernden, s. 4.2) Bürgerkrieg im Südosten der Türkei führte.83 Erklärtes Ziel war die Errichtung eines sozialistischen Kurdistans. Mitte der 1990er Jahre wurde die Stärke der PKK auf 10.000 aktive Kämpfer, 50.000 Militante und ca. 315.000 Sympathisanten geschätzt.84 Der Bürgerkrieg wurde von beiden Seiten unerbittlich und mit aller Härte geführt. Während die PKK gezielt überwiegend Sicherheitskräfte wie Polizisten und Solda- ten, aber auch Zivilisten wie Lehrer und Ärzte ermordete,85 setzten die türkischen Streitkräfte auf Luft- schläge und Dorfräumungen. Im Zuge des Bürgerkriegs wurden etwa 3000 Dörfer zwangsgeräumt und etwa 1 Mio. Menschen (binnen-)vertrieben.86 Die Zahl der Toten wird auf 23.00087 bis 40.000 ge- schätzt.88 Die Unerbittlichkeit des Konflikts lässt sich auch deutlich am Missverhältnis der getöteten (14.838) und verletzten (399) PKK-Mitglieder illustrieren.89 Auch wirtschaftlich hatte der Krieg massive Folgen für die Türkei: 1994 wurden 12% des türkischen Volkseinkommens für den Kampf gegen die 78 JUNG 2012, p. 115. 79 Ebenda 2012, p. 112. Vgl. auch: VORHOFF 2000, pp. 99-142. 80 SEUFERT/KUBASEK 2006, p. 101. 81 JUNG 2012, p. 112. Vgl. auch: HÜRRIYET DAILY NEWS 1997, n.p. 82 WARNING 2012b, p. 196. 83 HANNAH 2013, n.p. 84 KREISER/NEUMANN 2006, p. 470. 85 SEUFERT/KUBASEK 2006, p. 153. 86 DIETERT 2012, p. 151. 87 KREISER/NEUMANN 2006, p. 470. 88 DIETERT 2012, p. 151. 89 KREISER/NEUMANN 2006, p. 470. 11
PKK verwendet; die Inflation stieg auf fast 150 %, die Staatsverschuldung wuchs.90 2.3 Intermezzo (1997-2002) 1996 war Çiller eine Koalitionsregierung mit der RP Erbakans eingegangen, der daraufhin Ministerprä- sident wurde und versuchte der Türkei ein islamischeres Bild zu geben, u.a. durch eine außenpolitische Neuorientierung und Stärkung der İHL. Das kemalistische Establishment, insbes. das Militär, übten durch den MGK Druck aus, die Reformen zurückzunehmen, was erfolgreich war und die İHL degra- dierte. Erbakan und einigen seiner Gefolgsleute wurden Politikverbote erteilt. Die RP wurde 1998 ver- boten, schon 1997 war jedoch von deren Führung die FP in Voraussicht zur Absicherung als islamisti- sche Nachfolgepartei der RP gegründet worden, 91 in der Erbakan im Hintergrund erneut die Fäden zog. 92 Die Intervention wurde später als Postmoderner Coup bzw. Putsch bezeichnet und wird teilweise mit in die Aufzählung der türkischen Militärputsche aufgenommen.93 Die Parlamentswahlen vom 18. April 1999 führten zu einem schwachen Sieg der DSP unter Ecevit, ei- nem starkem Abschneiden der MHP (erstmals unter Bahçeli) und dem erstmaligen Ausscheiden der CHP. Die DSP bildete gemeinsam mit MHP und ANAP eine Koalitionsregierung.94 Auf der EU-Ratssit- zung im Dezember 1999 wurde die Türkei zum Beitrittskandidaten erklärt. Die EC sollte zukünftig Fort- schritte (‚Kopenhagener Kriterien‘95) analysieren und in einem Bericht niederlegen. Die DSP und ihre Partnerin, die ANAP, welche für Europa zuständig und durchaus reformbewusst war, setzten zahlreiche Reformen um, die die MHP jedoch teilweise zu blockieren versuchte.96 Dennoch wurden das System der Renten- und Krankenversicherungen, der Steuergesetzgebung und des Bankensystems reformiert. Die Koalition führte eine Arbeitslosenversicherung ein und die Türkei erkannte die internationale Schiedsgerichtsbarkeit an. Gleichzeitig wurden Privatisierungen erleichtert und die Bevölkerung profi- tierte von einer Stärkung der Rechtssicherheit, bürgerlichen Freiheiten und Menschenrechten, auch wurden die Strafen für Folter und Misshandlung massiv erhöht.97 Im Sommer 2002 wurde die Todes- strafe abgeschafft.98 Die Verfassungsänderungen im Oktober 2001 und August/September 2002 wur- den als großer Schritt auf dem Weg für einen potentiellen EU-Beitritt gesehen. Auch die Wahl des vorigen Präsidenten des Verfassungsgerichts, Ahmet Necdet Sezers, zum Staatspräsidenten im Jahr 90 SEUFERT 2012a, p. 243. 91 STEINBACH 2012b, p. 62; vgl. auch CORNELL 2015a, n.p. 92 SEUFERT 2012b, p. 223. 93 CORKE et al. 2014, p. 7. 94 STEINBACH 2010, p. 63. 95 Vgl. insbes. STEPPACHER 2012, pp. 81-82. 96 DIETERT 2012, pp. 152-153; vgl. auch STEINBACH 2010, p. 63. 97 STEINBACH 2010, p. 63. 98 DIETERT 2012, p. 153. (Die endgültige Abschaffung auch in Ausnahmefällen erfolgte erst 2004.) 12
2000 wurde international begrüßt,99 nicht zuletzt weil er weder einen militärischen, noch einen Partei- hintergrund besaß.100 Ab 2000 hatte die Wirtschaft durch Fehler im Bankensektor zu kriseln begonnen101 und 2001 führte eine Kurzschlussreaktion Ecevits in einer Besprechung über die grassierende Korruption (derer er selbst unverdächtig war) mit Staatspräsident Sezer und dem Verlassen der Besprechung für Gerüchte über ein Koalitionsende. Durch die Schwäche des politischen und des krisengeplagten wirtschaftlichen Systems führte dieses Gerücht zu einem Börsensturz und massiver Inflation, in deren Folge es 2002 zu Neuwahlen kam.102 Zuvor wurde jedoch noch der damalige Weltbank-Vizepräsident Kemal Derviş zum Krisenmanager und Wirtschaftsminister berufen, der dem Land einen strikten Sparkurs auferlegte.103 Ein Jahr zuvor, 2001, war es jedoch bereits im Umfeld der Bewegung Erbakans zu einer erneuten Ver- schiebung gekommen: Die FP war vom Verfassungsgericht verboten worden. Innerhalb dieser Bewe- gung hatte sich zuvor eine jüngere Generation von moderaten Islamisten positioniert, die als grundle- gend „moderat, prowestlich und globalisierungs- und kapitalismusfreundlich gesehen wurde.“104 Einer der dynamischsten Gefolgsleute Erbakans wurde Recep Tayyip Erdoğan. „1954 als Sohn eines See- manns vom Schwarzen Meer im Istanbuler Stadtteil Kasımpaşa geboren, vollzog er einen steilen Auf- stieg in der Bewegung Erbakans.“ Erdoğan kam „gemeinsam mit einer Reihe seiner Parteifreunde zu dem Ergebnis, dass sich die Spannungen, die sich über Jahrzehnte über die Frage des Islam in der tür- kischen Gesellschaft ergeben hatten, nur durch ein vorbehaltloses Bekenntnis zu einer Demokratie auf der Grundlage der türkischen Verfassung würden auflösen lassen. Nach Lage der Dinge aber war dafür das Konzept eines Staates, der auf der Scharia beruhen sollte, keine Erfolg versprechende Strategie.“105 Folgerichtig gründeten sie eine neue Partei, nannten diese AKP und bezeichneten diese als „Post-Is- lamistische Partei“, ohne Aversion gegen Säkularismus, Kapitalismus und Europa. Diese Transforma- tion wurde im ‚Westen‘ weitgehend akzeptiert.106 Erbakan, der bis dahin prägende Faktor des politi- schen Islams, spielte in der AKP erstmals keine Rolle mehr. Er gründete als konservativere Alternative die SP, die jedoch in der Bedeutungslosigkeit versank.107 99 STEINBACH 2010, p. 63. 100 Bayar und Özal waren die beiden einzigen zivilen Präsidenten vor Sezer (jedoch beide parteilich gebunden). Atatürk und İnönü entstammten dem Militär. Zwischen Bayar und Özal ausschließlich Generäle oder Admiräle: Cemal Gürsel, Cevdet Sunay, Fahri Korutürk, Kenan Evren. Vgl.: KREISER/NEUMANN 2006, pp. 434-435. 101 AKSER/BAYBARS-HAWKS 2012, p. 306. 102 STEINBACH 2010, p. 64-65; durch verschiedene Schuldentransfers wurde die Türkei binnen eines Tages um 25% ärmer, vgl. ÜNLÜHISARCIKLI 2013, pp. 4-5. 103 ÜNLÜHISARCIKLI 2013, p. 5. 104 AKSER/BAYBARS-HAWKS 2012, p. 305-306. [aus dem Englischen] 105 STEINBACH 2012b, pp. 63-64. 106 CORNELL 2015b, p. 32. 107 SEUFERT 2012b, p. 223. 13
Im Bereich der Kurdenfrage und des ‚bewaffneten Kampfs‘ der PKK gelang der Türkei mit der Verhaf- tung (bzw. Auslieferung) Öcalans 1999 ein prestigeträchtiger Erfolg. Er wurde zum Tode verurteilt (das Urteil wurde 2002 im Zuge der Abschaffung der Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt) und ist bis heute auf der Insel İmralı inhaftiert. Bis heute wird er von vielen Kurden verehrt und ist bei vielen Türken als Terrorist, „dessen Hände mit dem Blut von Unschuldigen besudelt sind“, verhasst.108 3 Entwicklungen seit AKP-Regierungsantritt (2002) In dem folgenden Kapitel sollen in den einzelnen Unterkapiteln Schwerpunkte und Zäsuren der türki- schen Demokratieentwicklung seit dem AKP-Wahlsieg 2002 dargestellt und auch die Rolle der Medien sowie der soziale Wandel hervorgehoben betrachtet werden. 3.1 AKP-Wahlsieg, Reformen und der Beginn der Beitrittsverhandlungen (2002-2005/06) Die Neuwahlen fanden am 03. November 2002 statt und führten zu einem unerwartet deutlichen Sieg der AKP, die es schaffte, mit 34,3 % der Stimmen, die absolute Mehrheit zu erreichen, weil die drei Regierungsparteien (DSP, ANAP & MHP) an der Zehnprozenthürde scheiterten109 und die AKP bei ih- rem Wahlsieg somit von den für sie günstigen Umständen profitieren konnte.110 Die CHP stellte die alleinige Opposition und der AKP fehlten mit 363 (von 550) Sitzen in der TBMM nur 2 Sitze für eine Zweidrittelmehrheit, mit der sie Verfassungsänderungen hätte beschließen können.111 Als sie 2002 an die Macht kam, rief die AKP nach „Mehr Demokratie“,112 wodurch im Ausland Hoffnun- gen auf einen demokratischen Umbruch, den Beginn einer „neuen“ Türkei unter der AKP geweckt wur- den,113 was zu einem Intensivierung des Verhältnisses mit den USA und der EU führte, die wirtschaft- liche Chancen entdeckten und in der Folge die Investitionen erhöhten.114 Dennoch gab es kurz nach der Wahl im ‚Westen‘ auch die Sorge, die Türkei könnte die Westbindung aufgeben, was auch als Folge der ‚Islamophobie‘ nach dem 11. September gesehen wurde, was die AKP durch eine Bekräftigung der NATO-Zugehörigkeit und zahlreiche liberalisierende Reformen zu widerlegen versuchte.115 Auch das Konjunkturprogramm und der Sparkurs Kemal Derviş‘ wurden von der AKP konsequent fortgesetzt. Die 108 HANNAH 2013, n.p. [aus dem Englischen] 109 GRIGORIADIS 2007, p. 22; vgl. auch STEINBACH 2010, p. 65. 110 AKSER/BAYBARS-HAWKS 2012, p. 306 111 STEINBACH 2012b, p. 62. 112 Ebenda, p. 302 113 HASCHE 2015, n.p. vgl. auch KUBICEK 2013 & p. 41; YAVUZ 2006. 114 KAZIM 2015a, p. 100. 115 COOK/KOPLOW 2013, n.p. 14
türkische Wirtschaft sollte in den nächsten Jahren stark und langanhaltend florieren.116 Erster AKP- Ministerpräsident wurde Abdullah Gül, der zu seinen RP-Zeiten mit antisäkularen Aussagen auf sich aufmerksam gemacht hatte. Im März 2003 übernahm dieser das Amt des Außenministers und Erdoğan wurde Ministerpräsident, da er zuvor noch einem Politikverbot unterworfen und 1998 wegen islamis- tischer Umtriebe zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war.117 Die Zeit der ersten AKP-Regierung war insgesamt von der Implementierung eines Wirtschaftspro- gramms und der Verabschiedung zahlreicher, der EU-Harmonisierung dienender Reformpakete ge- prägt,118 von denen zwischen 2002 und 2005 insgesamt acht verabschiedet wurden.119 „So war die Regierung bemüht, den Prozess innerer Reformen, der in der Endphase der Vorgängerregierung unter Bülent Ecevit begonnen hatte, mit dem Ziel fortzusetzen, die Gesellschaft gemäß den Vorgaben der ‚Kopenhagener Kriterien‘ zu verändern“,120 und versuchte mittels der Medien, der Justiz und der Intel- ligenz ihre konservative wenn nicht sogar säkulare Prägung zu behaupten.121 Aus dem Grund betrafen die frühen Schwerpunkte der AKP-Reformen den Menschen- und Minderheitenrechtsschutz, die Stär- kung der Meinungs-, Vereins-, sowie der Versammlungsfreiheit. Das Recht zur Individualklage und ein Ombudsmann-System wurden eingeführt, die rechtliche Diskriminierung von Frauen beendet und eine grundlegende Straf- und Strafprozessrechtsreform eingeleitet, die auch Maßnahmen zur Verhütung und erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung der Folter (‚Null-Toleranz-Politik‘122) beinhaltete. Wichtige Schritte waren die Einführung des Wiederaufnahmeverfahrens nach einer Verurteilung durch den EGMR und die Abschaffung der Todesstrafe.123 „Besondere Aufmerksamkeit galt [auch] der Stärkung der zivilen Kontrolle über das Militär – im Lichte der Geschichte der Türkischen Republik ein Punkt von besonderer Sensibilität.“124 So wurden die 1973 geschaffenen DGMs abgeschafft und der MGK reformiert. Schon seit einer Reform von 2001 stellten in diesem Zivilisten die Mehrheit und seit 2004 wurde dieses Gremium von einem Zivilisten geleitet, trat nur noch alle zwei Monate zusammen und besaß eine ausschließlich beratende Funktion.125 2004 wurde das Budgetrecht der TBMM auf das Militär ausgedehnt,126 denn die „strengen Forderungen der EU für institutionelle Reformen lieferten ein zusätzliches Mandat um die Beteiligung des Militärs im öffentlichen Leben zu verringern.“127 Im 116 ÜNLÜHISARCIKLI 2013, p. 5. (Das Wirtschaftswachstum erreichte 2002 6,2%, 2003 5,2% & 2004 9,4%) 117 WARNING 2012a, p. 87; vgl. auch: KAZIM 2015a, p. 101. 118 AKSER/BAYBARS-HAWKS 2012, p. 307; vgl. auch COOK 2014, n.p.. 119 DIETERT 2012, p. 153. 120 STEINBACH 2012b, pp. 64-65. 121 AKSER/BAYBARS-HAWKS 2012, p. 307 122 Vgl. auch: DIETERT 2012, p. 154. 123 AA 2015, n.p.; vgl. auch STEINBACH 2012b, pp. 64-65. 124 STEINBACH 2012b, pp. 64-65. 125 GRIGORIADIS 2007, pp. 23-24; vgl. auch WARNING 2012g, p. 106. 126 JUNG 2012, pp. 108-109. 127 CORKE et al. 2014, p. 7. 15
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