DENKEN GLAUBEN - Uni Graz
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
DENKEN GLAUBEN Nr. 198 Frühjahr | Sommer 2021 Zeitschrift der Katholischen Hochschulgemeinde für die Grazer Universitäten und Hochschulen www.khg - graz.at wording & wahrheit Denken + Glauben – Nr.198 – Frühjahr | Sommer 2021 1 Katholische Hochschulgemeinde Graz
Die Qual der Wahrheit Warum wir zwangsläufig alle häretisch sind Von Theresia Heimerl Clemens Hollerer, The unravelling (Detail), 2020. © Hollerer „Was ist Wahrheit?“, fragt der Provinzbeamte Pontius Gegenwart, der, im Sinne des italienischen Philosophen Pilatus im Jahr 30 resigniert einen der zahlreichen Wahr- und Kulturtheoretikers Umberto Eco, auch ein Weg heitskünder in jenem religiös wie politisch so unüber- zurück in die Vergangenheit sein kann. sichtlichen Land an der Ostküste des Mittelmeeres. Weder die Fragen noch die Antworten zur Wahrheit sind seitdem weniger geworden. Dieser Beitrag will weder die Etablierte Wahrheit einen noch die anderen vermehren. Ich möchte mich dem Der Frage des römischen Statthalters in Jerusalem geht Thema auf einem anderen, meiner Profession entspre- eine Aussage voraus, die für das junge Christentum Pro- chenden Weg nähern, nämlich jenem der europäischen gramm wird: „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt Religionsgeschichte. Dort lässt sich paradigmatisch ver- gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege“ knappt ablesen, wie eine eindeutige Antwort auf die Frage (Joh 18, 37). Die Jünger und Jüngerinnen des Jesus von des Pilatus über mehr als tausend Jahre aufrecht erhalten Nazareth, der Pilatus diese Steilvorlage geliefert hat, werden konnte – und um welchen Preis. Beschließen verstehen sich als Verkünder der Wahrheit. Allerdings werde ich diese Ausführungen mit einem Sprung in die bemerkt schon die erste Generation, nur wenige Jahre 8 Denken + Glauben – Nr.198 – Frühjahr | Sommer 2021
Clemens Hollerer, Estranged (Detail), 2020. © Hollerer nach dem Tod Jesu, dass die Wahrheit nicht in allen Wahrheit braucht Macht. Um für sehr viele Menschen, ja christlichen Gemeinden die gleiche ist. Paulus reist zwi- für fast alle die eine Wahrheit zu werden, braucht diese schen Kleinasien, Griechenland und Rom hin und her, Wahrheit zumindest das Wohlwollen der Mächtigen. um zu gewährleisten, dass die Wahrheit über den Aufer- Wortgewaltige Juristen, hohe Beamte, Kaiserwitwen und standenen und das Heil verkündet wird und nicht diverse irgendwann den Kaiser selbst. Wahrheiten. Vergeblich. 100 Jahre später haben wir so viele Versionen der frohen Botschaft, dass sie zwei bis Interpretierte Wahrheit drei dicke Bücher füllen. Evangelium des Johannes, des Philippus, des Thomas, des Matthäus, der Maria … Hin- Die Religionsgeschichte zeigt: Das westliche Christen- ter allen diesen Worten der Wahrheit stehen Menschen tum hat für mehr als 1000 Jahre, von Konstantin bis zur mit der festen Überzeugung, die eine Wahrheit, die Jesus Reformation, erfolgreich seine Wahrheit als die eine und einst Pilatus versprochen hat, zu haben. Die Religions- einzige Wahrheit etabliert. Fast. Natürlich gibt es in die- geschichte des frühen Christentums zeigt exemplarisch, sem Millennium eine ganz Anzahl an alternativen Wahr- wie sich in einem Wettstreit der vielen, sehr ähnlichen heiten. Sie sind meist gar nicht so sehr wirklich andere Wahrheiten eine davon als einziges, „echtes“ Narrativ der Wahrheiten, sondern eher divergierende Interpretationen Wahrheit etablieren lässt: Wahrheit braucht Networking. der christlichen Wahrheit. Doch das Christentum hat aus Je mehr Bischöfe und Theologen sich quer durch die seinen eigenen, schwierigen Anfängen in Sachen Wort weit verstreuten christlichen Communities einig sind, und Wahrheit gelernt. Wer eine einzige religiöse Wahrheit welche frohen Botschaften, welche Aussagen über den vertritt und als solche erhalten will, darf nur eine einzige Gründer die wahren sind, desto leichter lassen sich diese Interpretation zulassen. Vor allem aber muss die Interpre- gegen verstreute Einzelkämpfer anderer Botschaften und tationshoheit ein Gut sein, das nur die institutionalisierte Aussagen durchsetzen. Wahrheit braucht Zeugnis. Wer Hüterin der Wahrheit vergeben kann. Wer darf die frohe eine neue Wahrheit etablieren und gegenüber anderen Botschaft, deren Wort seit dem Jahr 367 sich nur bei vier durchsetzen will, braucht Testimonials – idealerweise Verfassern findet, deren Texte fortan als die kanonischen solche mit Sexappeal und einer guten Story. Schöne, Evangelien gelten, im Wortlaut lesen? Wer darf sie ausle- junge Märtyrerinnen und Asketen von unmenschlicher gen? Wer darf in diesen Worten der Wahrheit womöglich Disziplin überzeugen mehr als philosophische Diskurse. noch andere, verborgene Wahrheiten entdecken? Die eine Denken + Glauben – Nr.198 – Frühjahr | Sommer 2021 9
Wahrheit zu bewahren heißt in der europäischen Reli- sollen zu ihr (zu welcher aus dem reichen Angebot auch gionsgeschichte die Interpretation einem eigenen Stand immer) verführt werden. Religiös-konservative Zyni- zu überantworten und diesem ein Deutungsmonopol zu ker könnten – und historisch-sachlich nicht einmal zu gewähren. Das Wort allein, und mag es noch so heilig Unrecht – an dieser Stelle einwerfen, wir hätten bekom- sein, reicht nicht. Im Gegenteil: Je mehr Wahrheit dem men, was wir wollten: Besteht nicht darin die aufgeklärte, Wort zugeschrieben wird, desto sorgsamer wird seine liberale, demokratische, offene Gesellschaft aus freien Interpretation gehütet. Wer selbst und ohne vorher die Individuen und freien Erkenntnissen? Die Antwort muss, Erlaubnis zur Deutung erhalten zu haben, die Wahrheit gerade in Kenntnis dessen, was es braucht, um nur eine im Wort entdecken will, ist ein Häretiker, also einer, der Wahrheit zu haben und zu erhalten, schlicht „ja“ lauten. einer anderen Deutung anhängt – und allein damit die Nicht nur die faktische Wahrheit muss den Menschen Wahrheit verfälscht, selbst wenn er die gleichen Worte zumutbar sein, wie es Hannah Arendt postulierte, auch liest. Petrus Valdes, Arnold von Brescia und schließlich das Postulat verschiedener, inhaltlich schwer vereinbarer die Reformatoren, ihr Wunsch nach eigener Deutung des religiöser Wahrheiten müssen wir uns zumuten, wenn wir Wortes wird zur anderen Wahrheit, zur Gegen-Wahrheit. nicht auch die Maßnahmen, die zur Aufrechterhaltung einer einzigen Wahrheit notwendig sind, mittragen wol- Verteidigte Wahrheit len, um im aktuellen Wording zu bleiben. Krisenzeiten befördern nicht nur verschiedene Wahrheiten, sondern Dass das (westliche) Christentum so lange eine einzige auch die Vehemenz ihres Anspruchs und die zunehmende Wahrheit als großes, von allen Institutionen anerkanntes Sehnsucht nach einem Monopol, natürlich immer exklu- und perpetuiertes Narrativ erhalten konnte, liegt auch siv für die eigene Wahrheit. Wir sind im Sinne Bergers daran, dass es diese Wahrheit mit allen Mitteln vertei- zwar alle Häretiker, aber es ist nicht mehr die von Berger digt hat. Nicht alle dieser Mittel scheinen uns heute mit vorgestellte Häresie der Moderne, in der jeder und jede dem Wort, in dem die Wahrheit situiert wurde, mit der wählt, ja wählen muss, was gefällt. In der aktuellen Situ- Botschaft Jesu, gerechtfertigt. Die Verfolgung aller, die ation sind wir viel eher „Auf dem Wege zu einem Neuen einer alternativen Interpretation der Wahrheit dieses Mittelalter“, wie es Umberto Eco bereits 1972 imaginierte: Wortes oder gar einer anderen Wahrheit anhängen, ist Die Suche nach der einen, die „insecuritas“, die Eco als kurz- und mittelfristig effektiv. Irgendwann zerbricht einen der zehn Schlüsselbegriffe seines neuen Mittelalters jedes Wahrheitsmonopol und dies passiert selten ohne ausmacht, beendenden Wahrheit lässt uns zwangsläufig Gewalt – je länger es mit eben dieser Gewalt aufrecht- alle anderen Wahrheiten als Häresien be- und verurtei- erhalten worden ist, desto gewalttätiger ging es zu. Die len. Die Häretiker, das sind die anderen, ihre Wahrheit christliche Religionsgeschichte kennt aber auch andere ist Lüge, ihre Interpretation der wahren Worte, die heute Formen der Wahrheitsverteidigung: Die gelehrten Dis- meist Zahlen sind, ist eine Irrlehre. Gehen wir den Weg kurse des Mittelalters sind solche elaborierten Formen ins neue Mittelalter weiter, wird es früher oder später wie- der Verteidigung – die Defensio, bis heute Bestandteil der eine einzige Wahrheit geben und die entsprechenden von Rigorosen zur Erlangung des Doktorats, entstammt Mittel, sie zu verteidigen. Bleiben wir dem Anspruch der der Verteidigung der eigenen Auslegung des Wortes und Moderne, in der wir groß geworden sind, verpflichtet, der Wahrheit in mittelalterlichen Fakultäten, freilich müssen wir mit der Häresie als Normalität der Wahrheit immer unter Wahrung des Wort und Wahrheit umgrei- auch in unsicheren Zeiten leben lernen. Wohin es geht, fenden Deutungsmonopols. werden wir wohl erst im Nachhinein beurteilen können. Die Wahrheit, ist, wie ein Politiker einst feststellte, eine Qual der Wahrheit Tochter der Zeit. Pilatus war es übrigens nicht, auch wenn das Zitat zu ihm gepasst hätte. Unser heutiger Umgang mit der Wahrheit ist zwangsläu- fig der des Häretikers, wie der Soziologe Peter L. Berger 1979 in seinem Werk The Heretical Imperative (dt.: Der Zwang zur Häresie) ausführt. Wir sind in der Situ- ation, permanent aus verschiedenen Wahrheiten wählen zu müssen. Längst sind es nicht mehr, wie am Anfang Theresia Heimerl, des epistemologischen Monopolbruchs, nur religiöse geb. 1971 in Linz, Studien der Deut- Wahrheitsangebote. Wissenschaften aller Disziplinen, schen und Klassischen Philologie politische Ideen und Ideologien stehen zur Auswahl. Ihre und Katholischen Theologie; seit 2003 ao. Professorin für Religions- Mittel sind (in unseren Breiten) nur mehr selten Gewalt, wissenschaft an der Katholisch- umso mehr jedoch Worte, Zahlen und Bilder. Auch die Theologischen Fakultät der Karl- Wahrheit unterliegt den Logiken des Kapitalismus, wir Franzens-Universität Graz. Foto: Leljak 10 Denken + Glauben – Nr.198 – Frühjahr | Sommer 2021
Zwischen den Fakten Nerd-Kultur hat viel mit der Freude daran zu tun, Dinge bewusst zu ernst zu nehmen. Dieser Balanceakt kann gefährlich kippen. Von Harald Koberg Menschen haben Klingonisch oder Elbisch gelernt. Der Jedi-Kult ist mancherorts eine anerkannte Religion. Und die Diskussionen darüber, ob die Superhelden-Serie Helstrom Teil des Marvel-Cine- matic-Universe-Kanons ist, also ob sie im selben fiktiven Universum spielt wie die Avengers-Filme, wird fundiert, emotional und ausufernd geführt. Serien und Spiele, die der Nerd-Kultur zugeord- Belanglosigkeiten lustvoll zu ernst zu nehmen ist net werden. Da werden schon einmal Medien- schon lange eine Dynamik, die die Faszination von schaffende mit Morddrohungen bedacht, wenn Unterhaltungsmedien und Spielen mitbestimmt. der neueste Teil einer beliebten Reihe zu liberal Und Teil dieser Faszination ist es auch, an der daherkommt. Und anschließend zerkugelt man Grenze zur Ernsthaftigkeit entlang zu tänzeln. sich über empörte Reaktionen. Das war doch alles Schwierig wird es dort, wo der Tanz zwischen „Ist nur Spaß, freche Streiche im Netz. Die politisch doch nur Spaß!“ und „Ihr habt uns verraten!“ ideo- Korrekten sind ja so humorbefreit! Aber wenn aus logisch aufgeladen wird. Ein Video darüber, dass den Streichen persönlicher oder wirtschaftlicher Fans des Videospiels The Last of Us Part II wütend Schaden entsteht, ist die Freude dann doch wieder auf ein anderes Video reagiert hätten, in dem groß. Und die vermeintlich harmlosen Provoka- berichtet wurde, dass das Spiel Ghost of Tsushima tionen richten sich ideologisch betrachtet auch mehr digitale Kopien verkauft hätte als Ersteres, immer gegen dieselben Gruppen. wurde auf YouTube in wenigen Stunden fünfzig- Wer nach den Ursprüngen jener Irrationalis- tausendmal aufgerufen. Das wirkt erstmal absurd. men sucht, die zunehmend politische Diskurse Ein weiteres Schäufelchen an Absurdität legt das und Inszenierungen prägen, tut wohl gut daran, Thumbnail – das Vorschaubild des Videos – nach: Foucault und Derrida beiseite zu legen und sich Zu sehen ist unter anderem Greta Thunberg mit stattdessen vom Strom der Algorithmen durch ungewöhnlich muskulösen, verschränkten Armen. Online-Plattformen treiben zu lassen. Dort haben Was hier mit dem halbernsten Ton nerdiger Online- sich einige die theoretisch überholte, aber vieler- Debatten verhandelt wird, ist die alte Leier vom orts vehement verteidigte Dichotomie von virtuell links-intellektuellen Meinungsdiktat. The Last of und real, digitalen und „echten“ Welten, zu Nutze Us Part II provozierte grantige Antifeministen mit gemacht. Wenn soziale Interaktionen im digitalen der Abwesenheit des bärtigen 08/15-Helden, einer Raum nicht „echt“ sind, dann sind es Provokatio- lesbischen Liebesgeschichte und einer Protagonis- nen und verbale Grenzüberschreitungen natürlich tin mit muskulösen Armen. Eindeutig feministi- auch nicht. So lässt sich gefahrlos ausloten, wofür sche Propaganda also. Und so wird der Sieg einer es Zustimmung gibt. Und wo der Gegenwind zu spielerischen Samurai-Saga über das propagan- scharf wird, war alles nur Sarkasmus. distische Unding als Triumph über hypersensible Foto: mrFoto Fakten sind ein Plus, aber kein Muss in dieser linke Schneeflocken gefeiert. Und deren purste Form der Auseinandersetzung. Aufmerksamkeit Harald Koberg, Manifestation ist – zweifelsfrei – Greta Thunberg. und Zustimmung sind die Währungen im Netz – geb. 1984 in Graz. Alles klar soweit? Studium der Philosophie und immer mehr auch darüber hinaus. Der sowie Volkskunde und Das ideologische Auseinanderdriften demokrati- Unterhaltungswert steht höher im Kurs als die Kulturanthropologie an der KFU Graz. Arbeitet scher Gesellschaften ist zu einem Standbein vieler Logik. Das ist nicht Dekonstruktivismus sondern als Medienpädagoge, Unterhaltungskanäle geworden. Und kaum wo ist die egoistische Suche nach der bequemsten und Öffentlichkeitsreferent das so spürbar, wie in den Disputen um Filme, vermarktbarsten Weltdeutung. und Karate-Trainer. Denken + Glauben – Nr.198 – Frühjahr | Sommer 2021 27
Sie können auch lesen