Rollstuhltennis Schwerpunkt I: Gold-Kraemer-Stiftung
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Trainingspraxis Inklusion Seit einigen Jahren ist das Wort Inklusion ein wichtiges Thema. Hier geht es darum, dass sich die Vielfalt der Gesellschaft in allen Teilbereichen widerspiegelt. Das Einbezogensein von Menschen mit Behinderung ist i dabei besonders in den Fokus gerückt. Als drittgrößter Sportverband Deutschlands kann der Deutsche Tennis Bund gemeinsam mit den zahlreichen Akteuren der deutschen Tennislandschaft eine wichtige Rolle in diesem Prozess einnehmen. Mit der Artikelreihe „Trainingspraxis Inklusion“ nähert sich die TennisSport in allen vier Ausgaben des Jahres 2017 diesem Thema und gibt jeweils zu einem besonderen Schwerpunkt einen kompak- ten Überblick sowie Impulse für die Trainings- und Vereinsarbeit: Rollstuhltennis, Gehörlosentennis, Tennis von Menschen mit geistiger Behinderung und Blindentennis. Schwerpunkt I: Rollstuhltennis Gemeinsames Spielen ermöglicht spannende Begegnungen und erweitert den Tennis-Horizont aller Beteiligten. TennisSport | 1_2017 | 42
Geschichte spielsweise beim Zurücklehnen in der Als Ideenvater des Rollstuhltennis gilt Bogenspannung des Aufschlagens, der Amerikaner Brad Parks, der durch durch ein hinten unten angebrachtes einen Unfall eine Querschnittlähmung zusätzliches Rad ausgeschlossen. erwarb und schon während seiner Bei noch schulpflichtigen Kin- Rehabilitation 1976 erste Versuche mit dern stellt die Anschaffung eines sol- Tennis im Rollstuhl unternahm. Nach chen Sportrollstuhls meist ein weit- der Gründung verschiedener Verbände aus geringeres Problem dar, als bei ist die Sportart seit 1992 paralympisch Erwachsenen, die oft lange um die und seit 1998 offizieller Teil der Inter- Bezuschussung durch Krankenkassen national Tennis Federation. 2009 wur- kämpfen müssen. Der Deutsche Roll- de der Deutsche Rollstuhltennis-Ver- stuhl-Sportverband weist hier erfah- band aufgelöst und als eigenständiges rungsgemäß Expertise auf. Referat in den Deutschen Tennis Bund Entgegen gängiger Vorurteile eine ‚Spina Bifida‘, eine embryonale integriert, der sich die administrative kann Rollstuhltennis auf jedem Belag Fehlbildung in der Anlage des zentralen und finanzielle Zuständigkeit mit dem gespielt werden und ein gut gepflegter Nervensystems. Kontakt zur Klientel Deutschen Behindertensportverband Sandplatz trägt keine Schäden davon. lässt sich über Förder- oder inklusive teilt. Es gibt einen DTB-Bundestrainer Schulen und Kindergärten, Rehaklini- für Rollstuhltennis und einen nationa- Zielgruppe ken und Orthopäden oder bereits beste- len Kader. Offiziell darf an Rollstuhltennis-Wett- hende Rollstuhlsportgruppen knüpfen. Die Disziplin lässt sich auf jeder kämpfen teilnehmen, wer eine attes- Im Gegensatz zu vielen anderen Ebene des Tennissports ausüben: als tierte Gehbehinderung hat, sich auf- Behindertensportarten, starten alle Anfänger im Kinder- und Jugend- grund einer Beeinträchtigung nur mit- Athleten unabhängig von ihrer Beein- bereich, durch alle Stufen des Play- tels Rollstuhl fortbewegen kann oder in trächtigung in derselben Klasse, also &Stay-Konzeptes, als Breitensportler, besonderen Fällen einen irreparablen Junioren, Damen oder Herren. Nur für Senior oder als Profisportler. Neben Schaden an Hüft-, Knie- oder Fußge- Sportler mit einer Einschränkung von einigen Turnieren für Breitensportler lenken vorweist. In breitensportlichen drei oder mehr Extremitäten gibt es existieren ebenso Future-Serien und oder Trainings-Kontexten kann diese eine gesonderte Startklasse, die ‚Quads‘. auch bei allen Grand Slams gibt es Regelung jedoch aufgelockert werden. Wheelchair Tennis-Konkurrenzen. Häufig auftretende Beeinträchti- Trainingspraxis Die Preisgelder unterscheiden sich gungen von Rollstuhltennisspielern Das Modell aus Abbildung 1 zeigt eine jedoch erheblich von denen der ‚Fuß- sind neben Amputationen beispiels- vereinfachte, nicht hierarchisierte gänger‘. Im Gegensatz zu einigen ande- weise Querschnittlähmungen oder Übersicht leistungsbestimmender Fak- ren Ländern ist es aufgrund fehlen- der Fördermittel in Deutschland nicht möglich, vom Rollstuhltennis-Profi- sport zu leben, selbst als erfolgreicher Top 10-Spieler in der Weltrangliste. Regeln und Material Im Rollstuhltennis gelten die offizi- ellen Regularien der ITF. Die einzige Modifikation ist, dass der Ball zwei Mal aufspringen darf, wobei der erste Bodenkontakt im regulären Feld statt- finden muss. Der Rollstuhl als Sport- gerät wird als dem Körper zugehörig betrachtet, aus ihm darf nicht aufge- standen werden und die Füße dürfen nicht den Boden berühren. Besonders wichtig für die sichere und freudvolle Partizipation am Ten- nisspielen ist das Vorhandensein eines passenden Sportrollstuhls. Im Gegen- satz zum sogenannten ‚Alltags-Roll- stuhl‘ ermöglicht dieser eine deutlich dynamischere Mobilität, etwa durch sein reduziertes Gewicht oder die Rennradreifen mit ‚negativem Sturz‘, also weniger Auflagefläche und deut- lich höherer Wendigkeit. Außerdem wird ein Umfallen nach hinten, bei- Abbildung 1 Übersicht der leistungsbestimmenden Faktoren im Tennis und Roll- stuhltennis 43 | 1_2017
Trainingspraxis Inklusion toren im Tennis bzw. Rollstuhlten- der Trainings- und Wettkampfplanung schieben. An dieser Stelle ist innerhalb nis. Schnell fällt auf, dass wohl mehr Berücksichtigung finden: der letzten Jahre ein spannendes tech- Gemeinsamkeiten als Unterschiede Jede Aktivität, die im regulären nisches Phänomen in der Rollstuhl- vorhanden sind. Somit kann definitiv Tennis zu Fuß geschieht, wird im Roll- tennis-Spitze aufgetreten: Durch die die Basisregel gelten, wer ein Fachmann stuhltennis aus dem Sportrollstuhl aus- erheblich zunehmende Spielgeschwin- für Tennis, ein guter Tennistrainer ist, geführt, alles Stehende und Laufende digkeit, wird, um Zeit zu sparen, die- wird auch ein guter Rollstuhltennis dementsprechend sitzend und fahrend. ser Semi-Westerngriff für das Spielen trainer sein. Die folgende Ausführung So wie also für einen erfolgreichen einer Rückhand nicht mehr gewech- nimmt daher weniger die Gemeinsam- Tennisspieler neben allen sonstigen selt. Das Handgelenk proniert also keiten, sondern mehr die wichtigsten motorischen Herausforderungen des dergestalt, dass bei der Rückhand der Unterschiede in den Blick. Denn eini- Sports beispielsweise eine effiziente Handrücken Richtung Körper zeigt, ge besondere Denkansätze sollten in Beinarbeit essentiell ist, bilden im Roll- Vor- und Rückhand also mit dersel- stuhltennis gezielte Fahrübungen und ben Schlagfläche getroffen werden (das Koordinationseinheiten einen uner- kann selbstverständlich nicht für einen lässlichen Trainingsgegenstand. Rückhand-Slice gelten). Hält man sich den Ebe- Im Bereich der Taktik lassen sich nenwechsel vom Stehen viele Parallelen zum Tennis der Fuß- zum Sitzen vor Augen gänger ziehen, taktische Grundprin- und geht davon aus, zipien, wie eigene Fehler vermeiden dass die Flugkurven und den Gegner zu Fehlern zwingen, der Bälle, etwa behalten ihre seit Anbeginn bestechen- eines Top- de Gültigkeit. Interessant ist für den spins, dabei Rollstuhltennisspieler allerdings das n a h e z u Abwägen zwischen einem ein- oder identisch bleiben, zweimaligen Aufspringen des Balles, wird unweigerlich wobei Studien unlängst gezeigt haben, eine Anpassung der dass im dynamischen Spiel der Welt Griffhaltung notwen- spitze das zweimalige Aufspringen fast dig. Denn der als optimal nur noch in Notsituationen angewandt definierte Treffpunkt, wird (Anneken, 1998), was natürlich die Hüfthöhe eines ste- keineswegs bedeuten darf, in brei- henden Tennisspielers, tensportlichen (Trainings-)Bereichen ist meist die Schulterhöhe darauf zu verzichten. des Rollstuhltennis-Spie- Große Beachtung sollten mögliche lers. Die Griffhaltung muss Besonderheiten innerhalb der äuße- sich also unweigerlich ren und inneren Faktoren einnehmen, deutlich vom Eastern- in denn die individuellen anatomisch-bio- Richtung Westerngriff ver- logischen Voraussetzungen, die der Bounce Drill Return Drill Trainingsziel: Trainingsziel: • Reaktionsfähigkeit • Antizipation und Fahr-Timing • Beschleunigung • Return • Wendigkeit Durchführung: Durchführung: • Trainer bringt mit einem Aufschlag • Sportler startet mittig hinter der den Ball ins Spiel Grundlinie • Sportler startet ca. einen Meter • Trainer bringt Ball ins Spiel und hinter der Grundlinie. Schon bei ruft, wie oft dieser aufspringen Anwurf des Balles durch den Trai- darf, bevor der Spieler in berüh- ner macht er die ersten Schübe ren/fangen/schlagen muss ins Feld und orientiert sich zu Vor- • Viermal wiederholen, Sportler bzw. Rückhand rotiert mit dem Schlag immer • Mit dem Schlag rotiert er Richtung zurück zur Ausgangsposition, Grundlinienmitte kommt nie gänzlich zum Stehen. • Optional Anschlussball oder Ball- wechsel. TennisSport | 1_2017 | 44
Spieler durch seine Form der Behin- derung mitbringt, können Anlass für besondere technische Anpassungen sein. So ist jemand mit amputiertem Bein beispielsweise deutlich bewegli- cher, als jemand mit einer Lähmung ab einem hohen Wirbel, was Auswirkun- gen auf Rotationsvermögen und gene- relle Stabilität haben kann. Hier gilt es immer, nah am Athleten zu arbeiten und gemeinsam Grenzen, Möglichkei- ten und Wege auszuloten. Ebenso kann als bedeutsamer innerer Faktor die Auseinandersetzung und Bewältigung der eigenen Behinderung seitens des Sportlers eine große Rolle einnehmen. Als Unterschiede innerhalb der äußeren Faktoren lassen sich zwei wichtige Punkte festhalten: zum einen die Möglichkeit, (annähernd barriere- frei) Plätze und Sanitäranlagen zu nut- zen und zum anderen das Vorhanden- sein eines Sportrollstuhls. Trainingsimpuls Mobilität Dynamisches Fahren, rasante Beschleu- nigung, Rotation und Richtungswech- sel sind wesentlich für Rollstuhltennis. Schnelligkeit, Kraft, Ausdauer, Beweg- lichkeit und die koordinativen Fähig- keiten müssen ihren festen Platz in jedem Training einnehmen. Was dem Fußgänger beispielsweise sein Lauf- ABC, Slalom- oder Linienlauf ist, kann kreativ auf das Fahren im Sportroll- stuhl adaptiert werden. So finden sich durch mutiges Ausprobieren für so gut wie jede Übungsform zu allgemeinen oder sportartspezifischen Kompeten- zen zielführende Entsprechungen für den Rollstuhlsport. Ein sich bereits bewegendes Objekt benötigt weniger kann. So kann durch lange, kontrollier- Tennis‘ für den Rollstuhlsportler Energie zur Geschwindigkeitsaufnah- te Schübe Fahrt aufgenommen werden. nutzbar machen lässt. me, als ein stillstehendes. Daher ist Genau wie im Tennis der Fuß- es unerlässlich, dass der Sportrollstuhl Trainingsimpuls Technik gänger kommt dem Training von während der gesamten Rallye in per- Die gängigen Grundprinzipien aus dem Aufschlag+Return+Folgeschlag manenter Bewegung bleibt (Bullock, regulären Tennis, etwa die Bewegungs- eine besondere Bedeutung zu. 2014). richtung in der Hauptaktion der Schlä- Eine komplexe Besonderheit bildet ge, bleiben im Rollstuhltennis bestehen. Inklusionspotenzial allerdings das Fahren mit dem Tennis- Andererseits müssen einige biomecha- Der Inklusionsgedanke darf nicht schläger in der Hand, denn dieser liegt nische Prinzipien, zum Beispiel das missverstanden werden, als die niemals auf dem Schoß oder wird in der Erhaltung und Koordination von strikte Handlungsmaxime, dass vergleichbarer Weise irgendwie für das Teilimpulsen, gedanklich angepasst jedes Sportangebot zwingend Manövrieren aus der Hand genommen. werden. Denn die Arbeit der unteren gemeinsam von einer heterogenen Generell bestehen zwei Varianten: Ent- Extremitäten, möglicherweise auch der Gruppe, etwa Menschen mit und weder wird der Schlägergriff ‚vorne‘ Hüftbeuger und unteren Bauch- und ohne Behinderung, wahrgenom- in die Finger gelegt, sodass der Hand- Rückenmuskulatur, mit ihrer uner- men werden muss. Inklusion soll ballen frei bleibt und zum Anschieben lässlichen Rotation, müssen durch das Teilhabe ermöglichen und wertvol- auf dem Greifriemen des Rades Platz Eindrehen des Sportrollstuhls simuliert le Begegnungen schaffen und das finden kann oder aber der Schlägergriff werden. ist zum Beispiel der Fall, wenn im selbst wird direkt an den Greifriemen Doch schon wie zuvor im Bereich regulären Trainingsangebot eines gedrückt, der dann zusätzlich noch Mobilitätstraining gilt, dass sich so gut Tennisvereins auch Einheiten für mit den Fingerspitzen umfasst werden wie jede Übung und Idee vom ‚guten Rollstuhlfahrer oder Menschen 45 | 1_2017
Trainingspraxis Inklusion mit anderen Behinderungen angebo- ten werden und sich diese als wertge- schätzte und gleichberechtigte Club- mitglieder auf der Anlage bewegen können und an Vereinsevents und der- gleichen teilnehmen. Ganz besondere Begegnungen kön- nen aber gemeinsame Camps oder Wettkämpfe bilden, etwa das Spielen in einem Tandem-Doppel nach dem RuF-Modell, das unter einem gemein- samen Regelwerk einen Rollstuhl- fahrer und einen Fußgänger auf dem Tennisplatz vereint und beide gleicher- maßen sportlich herausfordert (Höf- ken, 2015). In Wettkampf und Trai- ning nicht aufwendig methodisch oder regeltechnisch umdenken zu müssen, ist sicherlich einer der großen Vorteile bei der Partizipation von Rollstuhlten- nisspielern im regulären Betrieb. Dass der Ball beim Spieler auf Rädern zwei- malig aufspringen darf, ist die einzige Modifikation, die mitgedacht werden muss, und schon steht einem gemeinsa- men Ballwechsel nichts mehr im Wege. Noch einen weiteren Pluspunkt bringt die Disziplin mit sich: Die Fas- zination am außergewöhnlichen Sportgerät des Sportrollstuhls. Gerade Kinder scheuen sich oft nicht nachzu- fragen, ob sie selbst einmal mit dem Rollstuhl fahren dürfen und auch für Erwachsene jeder Leistungsstufe birgt die Auseinandersetzung mit ihrer Sportart aus dem Sportrollstuhl heraus spannende neue Bewegungsimpulse. So werden spielerisch mentale Barri- eren und mögliche Berührungsängs- siertes Miteinander das Bewusstsein land vom Platz, über das Vereinsleben, te abgebaut. Es entsteht durch das für ein inklusives Leben im Alltag. Die- bis in die Gesellschaft vorantreiben Potenzial des Sports als Plattform und se Zukunftsentwicklung können die und Inklusion so für alle zum Gewinn durch ein respektvolles und interes- Akteure des Tennissports in Deutsch- machen. Autoren und Kontakt Niklas Höfken leitet das ‚Tennis für Alle‘-Projekt der Gold-Kraemer-Stiftung und ist Lehrbeauftragter für das Fach Tennis an der Deutschen Sporthochschule Köln. Er referiert regelmäßig zum Thema ‚Inklusion und Heterogenität in Tennistraining und -Verein‘ u.a. im Tennisverband Mittelrhein und berät den Deutschen Tennis Bund. niklas.hoefken@gold-kraemer-stiftung.de Dr. Volker Anneken leitet das Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport, ein An-Institut der Deutschen Sporthochschule Köln, und ist Fachgeschäftsführer der Gold-Kraemer-Stiftung. Literatur: Anneken, Volker, Taktik und Spielstruktur im Rollstuhltennis, S. 8-10 – In: TennisSport, 8(6), Sindelfingen: Sportverlag, 1998. Bullock, Mark, ITF Wheelchair Tennis Coaching Manual, Zugriff unter http://www.itftennis.com/wheelchair/development/ coaching (geprüft März 2016). Höfken, N., Inklusion im Tennis umsetzen, S. 40-43 - In: TennisSport. Fachzeitschrift für Training und Wettkampf, Ausgabe 4/2015, Sindelfingen: Sportverlag Schmidt & Dreisilker, 2015. TennisSport | 1_2017 | 46
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