Der 109. Deutsche Bi blio thekartag 2021 in Bremen - De ...

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                                                                                   ABI Technik 2021; 41(4): 267–276

Tagungsbericht

Joachim Dinter, Dominik Hagel, Franziska Harnisch, Tabea Klaus, Miriam Kötter, Gunther
Kunze, Mirco Limpinsel-Pesavento, Sina Menzel, Anne Rethmann, Cosima Wagner,
Janet Wagner

Der 109. Deutsche Bi­blio­thekartag 2021 in Bremen
https://doi.org/10.1515/abitech-2021-0045
                                                                        2 N
                                                                           eue bi­blio­thekarische
                                                                          Handlungsfelder
1 E
   inleitung                                                           Die gegenwärtig stattfindenden medialen und gesell­
                                                                        schaftlichen Veränderungen und die mit ihnen verbun­
Die diesjährige Veranstaltung war aus diversen Gründen
                                                                        denen Herausforderungen für Bi­blio­theken bildeten auch
eine besondere. Nach dem pandemiebedingten Ausfall
                                                                        dieses Jahr den thematischen Rahmen großer Teile der
2020 konnte in diesem Jahr ein hybrides Format angebo­
                                                                        Veranstaltung. So loteten mehrere, ganz unterschiedliche
ten werden. Dadurch konnten circa 100 Personen an zwei
                                                                        Beiträge neue bi­blio­thekarische Handlungsfelder aus.
Tagen vor Ort in Bremen live und mehr als 2 000 Interes­
sierte online teilnehmen. Die Themen unter dem Motto „In
der Fremde und Zuhause – Wagen und Gewinnen“ waren
                                                                        2.1 O
                                                                             ER-Strategien und Datenkompetenz
breit gestreut von neuen bi­blio­thekarischen Handlungs­
feldern über strategische Planungen in Bi­blio­theken bis
                                                                        Zunehmendes bi­blio­thekarisches Interesse gilt beispiels­
zum Themenkomplex Bi­blio­thek und Gesellschaft.
                                                                        weise dem Thema Datenkompetenz, dem sich die Session
     Die Übertragung der Veranstaltung ins vorwiegend
                                                                        „OER-Strategien und Datenkompetenz“ widmete. In ihrem
Digitale kann als gelungen bezeichnet werden – vor allem
                                                                        Vortrag zum Thema „Datenkompetenz als neue Schlüssel­
mit Blick auf die Inhalte. Besonders praktisch ist in diesem
                                                                        kompetenz – Welche Rolle haben Bi­blio­theken?“ behan­
Jahr, dass die Videoaufzeichnungen der Vorträge und Dis­
                                                                        delte Simone Fühles-Ubach (TH Köln) die Frage, wie sich
kussion auch im Nachhinein abrufbar sind. Abstriche
                                                                        Bi­blio­theken bei der Vermittlung von Kompetenzen im
mussten natürlich in Bezug auf Begegnungen gemacht
                                                                        Bereich Data Literacy einbringen können. Das am Insti­
werden. Es ist zu hoffen, dass im nächsten Jahr eine Ver­
                                                                        tut für Informationswissenschaft der TH Köln entwickelte
anstaltung vor Ort mit allen, die das wünschen, stattfin­
                                                                        Mehrebenen-Modell zu den verschiedenen Aspekten der
den kann, bei der gleichzeitig die Vorteile aus diesem Jahr
                                                                        Datenkompetenz zeigte sehr eindrücklich die Komplexität
berücksichtigt werden.
                                                                        des Themas und stellte dessen Relevanz als Zukunftsfeld
     Eine weitere Besonderheit des Kongresses 2021 war
                                                                        für die Arbeit von Bi­blio­theken heraus.
die Initiative zur Umbenennung des Veranstaltungstitels,
                                                                             Unter dem Titel „Ein Forschungsdatenrepositorium
die sich während der laufenden Veranstaltung bildete. Im
                                                                        für den Austausch von Learning Analytics Daten“ stellte
Kern geht es darum, die Diversität und Vielfalt der Themen
                                                                        Ian Wolff (UB Magdeburg) ein Verfahren zur Analyse
und Teilnehmenden auch in der Bezeichnung der Veran­
                                                                        von Daten vor, die Lehrende und Lernende während der
staltung widerzuspiegeln. Aus diesem Grund wurde die
                                                                        Nutzung von Lernplattformen erzeugen. Innerhalb des
Petition „Zeitgemäßer Name für den ‚Bi­blio­thekar‘tag“
                                                                        Kontexts Hochschule ließ sich der hohe Anwendungsbe­
gestartet, die nach zwei Wochen bereits über 1500 Unter­
                                                                        zug des jungen Forschungsfeldes unschwer erkennen, da
schriften erreicht hatte.1 Die Beitragenden dieses Be­
                                                                        die verwendeten Analysemodelle dabei helfen können,
richts unterstützen diese Initiative. Der erste digitale
                                                                        Lernprozesse und -probleme sichtbar zu machen und auf
Bi­blio­thekartag könnte daher zugleich der letzte „Bi­blio­
                                                                        diesem Weg zum Beispiel Abbrecherquoten zu reduzieren.
thekartag“ gewesen sein.
                                                                        Ein Forschungsdatenrepositorium erweist sich in diesem
                                                                        Prozess als hilfreich, um Daten zu aggregieren und um­
                                                                        fangreichere Analysen zu ermöglichen.
1 https://www.openpetition.de/petition/online/zeitgemaesser-                 Im abschließenden Vortrag von Anna Arndt (SLUB
name-fuer-den-bi­blio­thekartag (17.09.2021).                           Dresden) „Kooperative Entwicklung von Services zu Open

  Open Access. © 2021 Joachim Dinter et al., published by De Gruyter.         This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0
International License.
268          Tagungsbericht Joachim Dinter et al., Der 109. Deutsche Bi­blio­thekartag 2021 in Bremen

Educational Resources an der SLUB Dresden gemeinsam                        Selbstkritisch merkte Greenhall in seiner Präsen­
mit der TU Dresden“ schwenkte der Fokus der Session auf               tation zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie
den Bereich der offenen und nachnutzbaren Lehr- und                   auf die RLUK-Bi­blio­theken an, dass sie trotz des „Digi­
Lernmaterialien. Auf Grundlage eines gemeinsamen Stra­                tal-Shift“-Strategieprozesses weniger auf die digitalen An­
tegiepapiers etablieren beide Einrichtungen derzeit unter­            forderungen vorbereitet gewesen seien, als bei der Erstel­
schiedliche Formate, um Lehrende über Open Educational                lung des Manifests angenommen. „Digital Poverty“ und
Resources zu informieren und zum Mitmachen anzuregen.                 der ungleiche Zugang zu digitalen Informationen seien
Die Vielzahl an Fragen aus dem Plenum unterstrich die Re­             nun stark in den Fokus gerückt, aber auch Chancen wie
levanz des Themas, machte aber auch deutlich, dass es                 die Entwicklung von neuen Serviceformaten, von denen
noch an entsprechenden Anreizen für Hochschulmitglie­                 er eines am Beispiel der Virtual Reading Rooms (VRR)
der zum Teilen der eigenen Lehrmaterialien mangelt.                   näher erläuterte. Diese seien zunächst als pragmatische
                                                                      Lösung für die Unterstützung von Forschenden einge­
                                                                      richtet worden, damit diese mittels Video-Konferenz­
2.2 #
     digitalshift                                                    technologie und Scannern, die individuell von Bi­blio­
                                                                      theksmitarbeitenden für die jeweiligen Forschenden vor
Neben dem intensiven Austausch zu allen bi­          blio­            Ort bedient wurden, auf nicht-digitalisierte Medien aus Bi­
theksbezogenen Themen mit der deutschsprachigen Fach­                 blio­theken zugreifen zu können. Mit derartigen Formaten
community gab es auch die Gelegenheit für einen „Blick                beweise die Bi­blio­thek ihre rasche Reaktionsfähigkeit und
über den Tellerrand“ nach Großbritannien. Unter dem Titel             Serviceorientierung für ihre Nutzenden, in Großbritannien
„#digitalshift – Digitale Transformation und Openness                 kämen diesen „Embedded Services“ daher auch zukünftig
in deutschen und britischen wissenschaftlichen Bi­blio­               eine wichtige Bedeutung zu.
theken“ hatten der Verein Deutscher Bi­blio­thekarinnen                    In der anschließenden Diskussion wurde das Thema
und Bi­blio­thekare (VDB) und der Fachverband Research                der Marktmacht von kommerziellen Unternehmen in
Libraries UK (RLUK) eine Diskussionsveranstaltung orga­               wissenschaftlichen Bi­blio­theken noch einmal aufgegrif­
nisiert, die zugleich als Auftakt für einen weiteren Aus­             fen. Wichtig sei es, Grundprinzipien zum Beispiel für
tausch zwischen beiden Ländern dienen sollte. Moderiert               die Lizenzierung von Medien festzulegen, die bei jedem
von Ewald Brahms (UB Hildesheim) berichteten Torsten                  Beschaffungsprozess bezüglich Datensicherheit usw. an­
Reimer (Leiter der Abteilung „Content and Research                    gewendet werden sollten. Bi­blio­theken sollten sich ihrer
Services“ der British Library) und Matthew Greenhall                  Marktmacht stärker bewusstwerden und international auf
(stellvertretender Präsident von RLUK) über die „Digi­                diesem Gebiet zusammenarbeiten.
tal-Shift“-Initiative der britischen Forschungsbi­   blio­
theken. Bereits im vergangenen Jahr hatte RLUK mittels
eines Strategieprozesses ein Digital Shift Manifesto2 mit             2.3 N
                                                                           achhaltigkeit
dem Ziel entwickelt, sich als wissenschaftliche Bi­blio­
theken aktiver in die Gestaltung des Aufgabenfelds der                Das Thema ökologischer, ökonomischer und sozialer
„digitalen Transformation“ einzubringen statt sich davon              Nachhaltigkeit, das im Digital Shift Manifesto ebenfalls
treiben zu lassen. Im Manifest werden dazu für Bi­blio­               adressiert wird, war auch Gegenstand einer weiteren
theken insbesondere die stärkere Entwicklung von Fähig­               Session. Neben der vom Deutschen Bi­blio­theksverband
keiten zur Technikfolgenabschätzung, mehr Kenntnisse                  (dbv) dargestellten Übersicht zur Positionierung der
im Bereich Künstliche Intelligenz und die Stärkung der                Bi­blio­theken zur Agenda 2030 und den 17 Zielen für nach­
digitalen Gestaltung von Geschäftsprozessen hervorge­                 haltige Entwicklung wurden mehrere Praxisbeispiele vor­
hoben. Dabei sollte jedoch das Vertrauen der Nutzenden                gestellt.
in Bi­blio­theksinfrastrukturen nicht dadurch verspielt                    Patricia Fasheh (Stadtbücherei Schwarzenbek) und
werden, dass mehr und mehr „Closed Systems“ von kom­                  Susanne Brandt (Büchereizentrale Schleswig-Holstein)
merziellen Anbietern in Bi­blio­theken verwendet würden,              gaben Einblicke zur Vernetzung lokaler Bi­    blio­theken.
die zum Beispiel ein Datentracking ermöglichen, und das               Seit letztem Jahr gibt es den „Runden Tisch Grüne Bi­blio­
Gegenteil von Transparenz und ansonsten viel beschwore­               theken in Schleswig-Holstein“.3 Neben der Bündelung
ner Offenheit darstellten.                                            gemeinsamer Aktivitäten wie die Teilnahme an den jährli­

                                                                      3 https://www.bz-sh.de/leistungen/fortbildungen-und-veranstaltun
2 https://www.rluk.ac.uk/digital-shift/ (17.09.2021).                 gen/runder-tisch-gruene-bi­blio­theken (17.09.2021).
Joachim Dinter et al., Der 109. Deutsche Bi­blio­thekartag 2021 in Bremen Tagungsbericht       269

chen „Aktionstagen Nachhaltigkeit“ im September wurde                 an sprachlichem Input zahle sich in jedem Fall aus und
dazu aufgerufen, die „bi­blio­thekarische Blase“ zu verlas­           habe keine negativen Auswirkungen auf das Erlernen der
sen und proaktiv lokale Zusammenarbeit anzubahnen.                    Mehrheitssprache. Es gehe vor allem um eine altersge­
Eindrückliche und nachhaltige Projekte, die aus diesem                rechte mehrsprachige Medienversorgung. Dabei können
Ansatz bereits entstanden, sind: die mobile Saatgutbi­blio­           Bi­blio­theken wichtige Hilfestellung leisten. Wie diese
thek zum Erhalt alter Saatgutsorten, das Projekt „Erzähl­             aussehen kann, wurde in der Folge vorgestellt. Krystyna
wege“ und auch die vielfältigen Angebote zur „Bi­blio­thek            Strozyk und Gudrun Möwes-Butschko berichteten von
der Dinge“ in den einzelnen Bi­blio­theken, die das grund­            der Ein- und Weiterführung des Projekts Mulingula,5 das
legende Prinzip „Leihen statt Kaufen“ als eine Strategie              multilinguale Leseaktivitäten im analogen und digitalen
der nachhaltigen Entwicklung unterstützen und fördern.                Raum verknüpft. Darüber hinaus präsentierte Silke Schu­
     Der Ermittlung der eigenen Klimabilanz widmeten                  mann (Stadtbücherei Frankfurt am Main) unterschiedli­
sich die Stadtbi­blio­thek Berlin-Pankow und die Stadtbü­             che bereits existierende Plattformen und Werkzeuge,6 die
cherei Norderstedt. Gefördert als Projekt der Kulturstif­             Bi­blio­theken zur multilingualen Leseförderung einsetzen
tung des Bundes wurden von Herbst 2020 bis Januar 2021                können. Bei der Auswahl wurde besonderer Wert auf die
alle direkten und indirekten Treibhausgasemissionswerte               sprachliche Authentizität und Nähe zur Lebensrealität der
in den Bereichen Strom- und Energieverbrauch, Mobilität,              Kinder gelegt. Die Bedeutung der Leseförderung liegt auf
Fuhrpark, Abfall und Müll und Elektroschrott innerhalb                der Hand: Solche Maßnahmen können entscheidend zur
der Einrichtung ermittelt und ausgewertet. Tim Schumann               Inklusion bildungsbenachteiligter und/oder sozial stigma­
(Stadtbi­blio­thek Berlin Pankow) berichtete von einem ent­           tisierter Gruppen beitragen und stellen daher eine essenti­
wickelten Maßnahmenkatalog zur konkreten Einsparung                   elle Dienstleistung öffentlicher Bi­blio­theken dar. Dennoch
von Emissionen. Klimabilanzierungen seien ein erster und              ist die Intersektion von Digitalisierung und Multilinguali­
wichtiger Schritt für Bi­blio­theken, um interne und externe          tät auch für wissenschaftliche Bi­blio­theken ein relevantes
Prozesse in der eigenen Einrichtung hinsichtlich Ressour­             Feld (Beispiel: Forschungsdatenmanagement) und bedarf
ceneinsparungen und Emissionsreduzierung anzustoßen.                  in Zukunft sicherlich größerer Aufmerksamkeit.
Die validen Werte einer Klimabilanz können dazu bei­
tragen, im eigenen Bi­blio­theksteam für das bedeutende
Thema Nachhaltigkeit zu sensibilisieren und ein Umden­                2.5 C
                                                                           o-Working
ken herbeizuführen.
                                                                      Klaus Ulrich Werner (UB Freie Universität Berlin) sprach
                                                                      über Co-Working-Spaces und die davon ausgehenden
2.4 S
     prachenvielfalt                                                 Inspirationen für den Lernort Bi­blio­thek. Das Selbstver­
                                                                      ständnis von Bi­blio­theken als Lernort hat sich grund­
In dem von Miriam Schmidt (Stadtbi­blio­thek Magdeburg)               legend gewandelt. Zunehmend sind Bi­blio­theken leben­
und Britta Schmedemann (Stadtbi­blio­thek Bremen) orga­               dige, öffentliche Orte, die mit neuen Raum-Ideen den
nisierten und moderierten Themenkreis „Politische und                 sehr unterschiedlichen Bedürfnissen der Nutzerinnen
gesellschaftliche Sprachenvielfalt und Digitalisierung“               und Nutzer gerecht werden wollen. Zusätzlich zum tra­
lag der Fokus auf der Rolle digitaler Medien für den                  ditionellen „stillen Arbeitsplatz“ einerseits und kommu­
(Zweit-)Sprachenerwerb von Kindern, sowie am Rande                    nikativen Zonen andererseits gehören heute geschützte
auch um deren Einsatz in der Erwachsenenbildung. Den                  Räume für kleine Arbeitsgruppen, Schulungsräume sowie
theoretischen Überbau lieferte Marija Smuda Duric (Inter­             multifunktionale Flächen für kreative Aktivitäten wie
nationale Forschungsstelle für Mehrsprachigkeit der Lud­              zum Beispiel Makerspaces zum Profil von Bi­blio­theken.
wig-Maximilians-Universität München), die gegen das                   Co-Working-Räume können jedoch noch mehr bieten für
Zerrbild des defektiven Spracherwerbs argumentierte, der              das gemeinsame Arbeiten: eine durchgängige (online)
gerade Kindern unterstellt wird, deren Anderssprachig­                Betreuung für die IT-Infrastrukturen, eine Bar mit Selbst­
keit als besonders „markiert“ gelten kann:4 Die Vielfalt              bedienung zu Kaffee, Tee und Softdrinks oder auch Ein­

4 Also solche Kinder, deren Erstsprache nicht Englisch, Französisch   5 https://www.mulingula-praxis.de/ (17.09.2021).
oder möglicherweise eine andere (westeuropäische) Sprache ist,        6 Netzwerk GDL (Global Digital Library): https://digitallibrary.io;
deren Beherrschung/Verwendung mit einem gewissen Prestige aus­        Bilingual Picturebooks: https://www.bilingual-picturebooks.org/;
gestattet ist.                                                        Amira: https://www.amira-lesen.de/#page=home (alle 17.09.2021).
270        Tagungsbericht Joachim Dinter et al., Der 109. Deutsche Bi­blio­thekartag 2021 in Bremen

richtungsgegenstände wie ein Teppich. Zusätzliche Räume              2.7 O
                                                                          pen Access und Open Science
für die Entspannung mit Hängesesseln, Tischkicker oder
Bewegungszonen können das Co-Working-Konzept in                      Open-Access-Dienstleistungen sind inzwischen Teil des
seiner Gänze abrunden. Der klassische Lesesaal ist wei­              Kerngeschäfts von wissenschaftlichen Bi­blio­theken und
terhin gewünscht, reiht sich jedoch zukünftig in die ver­            damit jedes Jahr ein Thema von großem Interesse. 2021
schiedenen anderen Raumangebote von Bi­blio­theken ein.              waren drei Sessions im Themenkreis „Content und Digi­
                                                                     talisierung“ den Fragen rund um Open Access in Bi­blio­
                                                                     theken gewidmet.
2.6 Z
     um Status quo des Fachreferats                                      Den Beginn machte am Mittwochmorgen die Session
                                                                     „Open Access – Chancen und Risiken“. Angela Holzer
Wie sich, auch angesichts all dieser Entwicklungen, das              (Deutsche Forschungsgemeinschaft – DFG) stellte darin
traditionelle Fachreferat entwickelt, war Gegenstand                 die beiden neuen DFG-Förderprogramme aus dem Open-­
einer von Vivien Petras (Humboldt-Universität zu Berlin)             Access-Bereich vor: „Infrastrukturen für wissenschaftli­
moderierten Diskussionsveranstaltung. Bei der von den                ches Publizieren“ und „Open-Access-Publikationskosten“.
beiden VDB-Kommissionen für forschungsnahe Dienste                   Letzteres gewährt einen Zuschuss zu Publikationskosten
und für Fachreferatsarbeit organisierten Veranstaltung               wissenschaftlicher Einrichtungen und soll damit die
kamen sowohl Fachreferentinnen und Fachreferenten                    Transformation hin zu einer publikationsbasierten Finan­
(Björn Gebert, Fachreferent für Geschichte, Theologie und            zierung von Open-Access-Artikeln unterstützen. 2021 war
Kunst an der ULB Münster, und Sibylle Hermann, Fach­                 die Anzahl der Anträge höher als von der DFG erwartet
referentin für Maschinenbau an der UB Stuttgart) als auch            und das Antragsvolumen ist entsprechend überzeichnet.
eine Bi­blio­theksleiterin (Maria Elisabeth Müller, Direkto­         Die entstehenden Mehrkosten für Open-Access-Publika­
rin der SuUB Bremen) und ein Wissenschaftler (Albrecht               tionen können nicht von der DFG allein getragen werden.
Hausmann, Professor für kulturwissenschaftliche Mediä­               Abschließend stellte Angela Holzer die Rahmenbedingun­
vistik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg)              gen für eine nachhaltige Open-Access-Transformation vor
zu Wort. Deutlich wurden dabei zunächst die Breite und               und ging dabei auch genauer auf die wesentliche Rolle der
fachspezifisch sehr unterschiedliche Akzentuierung der               Bi­blio­theken als Vermittlung zwischen Forschenden und
forschungsnahen bi­blio­thekarischen Arbeit. Der Anteil              Verlagen ein.
von Tätigkeiten, die dem Fachreferat klassischer Prägung                  Im Anschluss folgte der Vortrag „Open-Access-Trans­
zugerechnet werden können, ist teilweise so gering, dass             formationsverträge – Entwicklungen in Deutschland und
selbst der Terminus „Fachreferat“ in Frage gestellt werden           international“ von Kai Geschuhn (Max Planck Digital
muss. Bei allen Unterschieden in den verschiedenen                   Library – MPDL). Zunächst wurden die Hintergründe von
Disziplinen zeigte die Diskussion, dass die wesentliche              Transformationsverträgen vorgestellt und anschließend
Komponente der Tätigkeit von einzelnen Fächern dezi­                 auf die von der MPDL gegründete ESAC Initiative (Effi­
diert zugeordneten Bi­blio­thekarinnen und Bi­blio­thekaren          ciency and Standards for Article Charges) eingegangen,7
eine Übersetzungs- und Vermittlungsfunktion zwischen                 die einen internationalen Austausch zu diesem Thema er­
dem Dienstleistungsportfolio der Bi­blio­theken und dem              möglicht.
wissenschaftlichem Personal ist. Die Diskussion verlief                   Den Abschluss der Session bildete der Vortrag „Das
insofern unglücklich, als sich die Diskutierenden hierfür            Lesen der Anderen: User Tracking auf Verlags-Plattfor­
auf die Metapher des Brückenkopfes (d. i. im Wortsinn                men“ von Renke Siems (Baden-Württembergisches Mi­
eine militärische Stellung auf feindlichem Territorium)              nisterium für Wissenschaft und Kunst). Siems berichtete
einigten. Besonders erhellend für die bi­blio­thekarische            über den rasanten Anstieg von Data Analytics durch Groß­
Gemeinschaft sollten die Beiträge Albrecht Hausmanns                 verlage. Das User-Tracking stellt ein finanziell bedeuten­
sein, der aus der Perspektive des Wissenschaftlers auf die           des neues Geschäftsfeld für die Verlage dar. Ob und wie
Schwierigkeiten der Interaktion zwischen Forschenden                 Datenprodukte weiterverkauft oder -verwendet werden, ist
und Bi­blio­theksmitarbeitenden hinwies und klarmachte,              mangels Transparenz jedoch weitgehend unklar. Passend
dass offene Kommunikation und eine „verwandte wis­                   wurde die aktuelle Situation daher als ein neues Modell
senschaftliche Sozialisation“ Voraussetzung für eine pro­            von Double Dipping beschrieben: „Autor*innen bezahlen
duktive Zusammenarbeit ist. Die Podiumsdiskussion bot                mit APCs, Nutzer*innen mit ihren persönlichen Daten“.
Ansätze zur Vermessung eines komplexen Zusammen­                     Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, werden drin­
hangs, der im Rahmen eines o-bib-Themenheftes weiter
ergründet werden soll.                                               7 https://esac-initiative.org/ (17.09.2021).
Joachim Dinter et al., Der 109. Deutsche Bi­blio­thekartag 2021 in Bremen Tagungsbericht   271

gend regulatorische Maßnahmen benötigt. Diese Forde­             Offenheit nicht als Ziel, sondern als Basis zu verstehen,
rung unterstützt auch der Ausschuss für Wissenschaft­            von der aus die Rolle der Bi­blio­thek im Wissenschaftskon­
liche Bi­blio­theken und Informationssysteme (AWBI) der          text neu verhandelt werden könne.
DFG in einem Informationspapier zum Datentracking in                  Juliane Stiller (Agentur You, We & Digital) stellte in
der Wissenschaft.8                                               ihrem Vortrag erste Ergebnisse einer Online-Konsultation
     Am Donnerstag folgte eine Podiumsdiskussion zum             vor, die in Zusammenarbeit mit dem Open-Access-Büro
Thema „Wie finanzieren wir die Open-Access-Transfor­             Berlin an Wissenschafts- und Kultureinrichtungen des
mation?“ geleitet von Klaus-Rainer Brintzinger (UB der           Landes durchgeführt wurde. Identifiziert werden sollten
Ludwig-Maximilians-Universität München). Ursprünglich            an den Einrichtungen bereits bestehende Praktiken und
schon als zentrale Veranstaltung für den Bi­blio­thekartag       Einstellungen zum Themenkomplex Open Research, um
2020 geplant, wurde diese Diskussion nun aufgrund der            ein Bewusstsein für größtmögliche Offenheit in allen
aktuell steigenden Bedeutung ins Digitale verlegt. Anwe­         Phasen des Forschungszyklus zu schaffen und eine
send vor Ort auf dem Podium waren der Generalsekretär            Grundlage für die Formulierung einer Berliner Open-Sci­
der Hochschulrektorenkonferenz Jens-Peter Gaul, Kons­            ence-Strategie zu legen.
tanze Söllner (UB Erlangen-Nürnberg) und Ralf Brugbauer               Aus der Arbeit an der Digitalisierungsstrategie
(UB Bayreuth). Jens-Peter Gaul stellte zunächst die Erfolge      des Bundes für den Kulturbereich berichtete Frédéric
der DEAL-Verhandlungen vor, worauf ein Bericht über              Döhl (DNB) in seinem Projektbericht. Der Anspruch des
die Erfahrungen der beiden Bi­blio­theken folgte. Dabei          sparten- und institutionsübergreifenden Strategieprojekts
standen die Nachzahlungen im Rahmen der DEAL-Ver­                ist es, kulturelle Arbeit im digitalen Wandel sichtbar zu
träge im Mittelpunkt, die aufgrund der Differenz der ver­        machen und prioritäre Arbeitsfelder des öffentlichen Kul­
einbarten Zahlungen und der Anzahl der veröffentlichten          turbereichs für die kommenden Jahre zu umreißen.
Artikel beim jeweiligen Verlag resultieren. Der von der Uni­          Zum Abschluss der Session wurde im Beitrag von Eli­
versität Erlangen-Nürnberg geforderte Nachzahlungsbe­            sabeth Engl (Herzog August Bi­blio­thek Wolfenbüttel) der
trag war so hoch, dass er nicht geleistet werden kann und        Fokus auf die technische Umsetzung gelegt. Das von der
auch im Bereich der Gold-Open-Access-Journals scheint es         DFG geförderte Vorhaben OCR-D zur Digitalisierung von
aufgrund von steigenden Artikelzahlen keine Kostenkon­           Drucken aus dem 16.–19. Jahrhundert geht in seine mitt­
trolle mehr zu geben. Es sei daher im Moment unklar, ob          lerweile dritte Projektphase und macht den Schritt von
die Universität die Kosten für DEAL zukünftig tragen kann.       der Pilotphase in die bi­blio­thekarische Praxis. Dargestellt
Auch Ralf Brugbauer betrachtet die Entwicklungen mit             wurden Herausforderungen beim Rollout der Software
Sorge. Nachdem wie zuvor berichtet das DFG-Förderpro­            und die vielfältigen Anwendungsszenarien bei der Mas­
gramm „Open-Access-Publikationskosten“ überzeichnet              sendigitalisierung. Eine User-Community soll zukünftig
ist, sei es ungewiss, wie die Kosten für die DEAL-Verträge       Unterstützung im täglichen Betrieb leisten.
in Zukunft aufgebracht werden können. Darüber hinaus
wurde mehr Transparenz in Bezug auf die zu leistenden
Zahlungen gefordert.
     In der Sektion „Auf dem Weg zu mehr Openness“ ging
                                                                 3 S
                                                                    trategische Planung in
es um verschiedene Perspektiven der bi­blio­thekarischen           Bi­blio­theken
Arbeit in Zeiten von Open Science, wobei der rote Faden
zwischen den einzelnen Slots nicht immer erkennbar war.          Großes Interesse erhielten die Fragen der strategischen
Diskussionsanregend war der Beitrag von Marcel Knö­              Planung und des Managements, konkret also die Frage:
chelmann (University College London), der über „Das              Wie können Bi­blio­theken als Organisationen auf Heraus­
gerechtere Publizieren und die Bi­blio­thek der Zukunft:         forderungen jeglicher Art reagieren.
Über nationale Transformationen und deren lokale Ver­
wirklichungen“ referierte. Marcel Knöchelmann vermisst
eine Debatte darüber, wie wissenschaftliches Publizieren         3.1 P
                                                                      rojektplanung und strategisches
in Zukunft aussehen soll und warf Bi­blio­theken vor, sich           Management
durch die Versteifung auf Open Access an der Engführung
der Diskussion zu beteiligen. Geboten sei es aber vielmehr,      In der Session „Projektplanung und strategisches Manage­
                                                                 ment“ präsentierte Olaf Eigenbrodt (SUB Hamburg) fünf
8 https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/programme/lis/      Thesen zum Verhältnis aktueller bi­     blio­thekarischer
datentracking_papier_de.pdf (17.09.2021).                        Herausforderungen und bi­blio­thekswissenschaftlicher
272        Tagungsbericht Joachim Dinter et al., Der 109. Deutsche Bi­blio­thekartag 2021 in Bremen

Antwortangebote und gab damit den folgenden Vorstel­                 petenz und Feedbackkultur“ vorgestellt und diskutiert.
lungen aus der Bi­blio­thekspraxis einen intellektuell anre­         Während Scheitern nach wie vor häufig als Hinderungs­
genden Rahmen. Olaf Eigenbrodts Aufriss behauptete (1)               grund gesehen wird, Projekte anzugehen, verstanden die
die Notwendigkeit sowohl historischer Reflexion als auch             Referentinnen und Referenten – Martin Lee (UB der Freien
(2) soziologischer Information bi­blio­thekarischen Han­             Universität Berlin), Caroline Leiß (UB der Technischen
delns, adressierte (3) die Verhandlung ethischer Grund­              Universität München) Wolfgang Stille (hessian.AI – Hessi­
lagen ebenso wie (4) die Theorie von Organisations- und              sches Zentrum für Künstliche Intelligenz), Frauke Untiedt
Managementkulturen und wies (5) auf die nicht-techni­                (Stiftung Hamburger Öffentliche Bücherhallen) und
schen Aspekte der Digitalisierung hin – womit ein sehr               Danilo Vetter (Stadtbi­blio­thek Berlin Pankow) – Fehler
vielseitiges Themenangebot dargelegt wurde, das in den               als notwendiges und potentiell chancenreiches Moment
einzelnen Vorträgen nur teilweise aufgegriffen werden                jeglicher Projektarbeit, insbesondere wenn es darum
konnte.                                                              geht, neue Formate zu entwickeln. Die verbreitete Angst,
    Dass der von Olaf Eigenbrodt skizzierte Problemkom­              Fehler zu machen, habe einen großen Anteil daran, dass
plex in der Praxis sehr verschieden skaliert werden muss,            insbesondere der Öffentliche Dienst weitgehend agili­
machte der Vortrag von Michaela Jobb (Bi­blio­thek Wirt­             tätsfeindlich sei. Die Referierenden forderten dement­
schaft und Management der TU Berlin) deutlich, der das               sprechend neue Kulturen des Sprechens über Fehler und
Managementinstrument des Retreats zur Einbindung der                 stellten exemplarisch Projekte vor, die gescheitert sind.
Mitarbeitenden in die Projektplanung und gleichzeitigen              Aus diesem Scheitern aber, darin stimmten alle überein,
Entlastung der Bi­blio­theksleitung vorstellte.                      haben sie Entscheidendes gelernt.
    Über eine ungewöhnliche Zusammenarbeit berichte­
ten Christian Osterheld (ZB Zürich) und Benjamin Scher
(Universität St. Gallen), die gemeinsam versuchen, durch             3.3 E
                                                                          inbeziehung der Nutzenden
die digitale Transformation bewirkte Verunsicherungen
der Bi­blio­thek produktiv zu machen. Zu diesem Zweck                Ein Thema, das sich bereits 2019 in vielen Vorträgen
wurde 2018 eine Forschungspartnerschaft zwischen der                 zeigte, war in diesem Jahr noch deutlicher zu erkennen:
ZB Zürich und dem RISE Management Innovation Lab der                 die Einbeziehung Nutzender für eine menschzentrierte
Universität St. Gallen ins Leben gerufen, in deren Rahmen            Weiterentwicklung von Bi­blio­theken. Als zentrale Begriffe
Benjamin Scher als teilnehmender Beobachter den Stra­                fielen hier immer wieder „Benutzungsforschung“ und
tegieentwicklungsprozess der Bi­blio­thek begleitet und              „Partizipation“.
unterstützt.                                                              Dass Kompetenzen auf diesem Gebiet einen eindeu­
    Martin Lee und Christina Riesenweber (UB der Freien              tigen Mehrwert und neue Möglichkeiten in Bi­blio­theken
Universität Berlin) berichteten vom Strategieentwick­                bringen, beschrieb Romy Hilbrich in ihren Beiträgen auf
lungsprozess der Universitätsbi­blio­thek der Freien Uni­            dem Podium „Kundenorientierung quergedacht: Neue
versität Berlin, der das Bi­blio­thekssystem mit dem bis             Kompetenzen für neue Services (?)“ des dbv eindrücklich.
dahin unabhängigen Center für digitale Systeme der Uni­              Sie bekleidet seit 2018 die Stabsstelle für „Nutzerforschung
versität zusammenführte. Der Schwerpunkt wurde dabei                 und Statistik“ an der Staatsbi­blio­thek zu Berlin, die dort
auf eine nutzerorientierte und wandlungsfähige Ausrich­              bei der Leitung der Benutzungsabteilung angesiedelt ist.
tung der Gesamtorganisation gelegt. Basierend auf einem                   Auch Claudius Lüthi (ZB Zürich) griff im Block „Agil
systemischen, der Komplexität der Umwelten Rechnung                  und smart im Team“ die Rolle Benutzungsforschung für
tragenden Ansatz wurde in einem extern begleiteten,                  die Produktentwicklung auf. Der Ansatz „Lösung sucht ein
partizipativen Prozess das Konzept einer zukunftsfähigen             Problem“ gehe hier „immer schief“. Man müsse vielmehr
Universitätsbi­blio­thek entwickelt, in der nicht zuletzt die        durch Forschung die Bedürfnisse der Nutzenden erkennen
Organisationsentwicklung einen festen Platz innerhalb                und dafür Lösungen suchen. Empirie sei hier höher zu be­
der Organisation hat.                                                werten als bloße Annahmen.
                                                                          Im selben Block berichteten Linda Freyberg (Urban
                                                                     Complexity Lab der Fachhochschule Potsdam) und Sabine
3.2 F ehlerkultur                                                   Wolf (Stadtbi­blio­thek Berlin-Mitte) von Partizipation an
                                                                     Bi­blio­theken als Smart Libraries. Im Kontrast zum Begriff
In der von Frank Scholze (DNB) moderierten Veranstal­                der „Kooperation“ hoben sie hervor, dass „Partizipation“
tung unter dem Titel „Dumm gelaufen“ wurden „Beispiele               die Gleichwertigkeit der Partnerinnen und Partner voraus­
des produktiven Scheiterns zum Aufbau von Fehlerkom­                 setze, jedoch verschiedene Ausprägungen haben könne.
Joachim Dinter et al., Der 109. Deutsche Bi­blio­thekartag 2021 in Bremen Tagungsbericht          273

Die Partizipationspyramide9 biete hier einen Überblick                   dem Bi­blio­thekar und Mit-Übersetzer Oliver Schoenbeck
über verschiedene Grade der Beteiligung, die von Infor­                  (Bi­
                                                                            blio­
                                                                                theks- und Informationssystem der Universität
mieren hin zu Eigenaktivitäten der Nutzenden reiche.                     Oldenburg), dem Bildungswissenschaftler Karsten Speck
     Martin Holtorf und Jörg Räuber beschrieben die neues­               (Universität Oldenburg) und dem Informationswissen­
ten Aktivitäten der DNB im Bereich Benutzungsforschung.                  schaftler Joachim Griesbau (Universität Hildesheim). Auch
Eine aktuelle qualitative Studie aus dem September 2020                  wenn es Details zu kritisieren gäbe und die Übertragung
bezog sich dabei auf die Frage, wie sich die Aussetzung                  vom angloamerikanischen auf den deutschen Kontext
der Nutzungsgebühren und die Corona-Lage individuell                     nicht immer reibungsfrei möglich sei, begrüßten die Dis­
auf Vor-Ort Nutzende der DNB auswirkt. In Kurzinter­                     kutanten das Framework doch prinzipiell. Gerade aktuell
views wurden dabei viele positive, aber auch einige ne­                  sei die Förderung des Hinterfragens und Abwägens von
gative Auswirkungen der fehlenden Nutzungsgebühren                       Informationen im Rahmen der Informationskompetenz
strukturiert erfasst. Eine erste praktische Auswertung der               eine wichtige Aufgabe, auch und gerade in Bi­blio­theken.
Interview-Ergebnisse ist die Anpassung der buchbaren
Zeitslots für Arbeitsplätze mit Hygienekonzept nach Wie­
dereröffnung. Parallel fand 2020 die aktuellste quantita­                4.2 C
                                                                              itizen Science
tive Nutzendenbefragung der DNB statt. Auch hier stellten
sich im Vergleich zur letzten großen Befragung 2016 einige               Vielfältige Möglichkeiten für Bi­blio­theken, ein Gegen­
neue Erkenntnisse heraus, die oftmals auch mit den ver­                  gewicht zu Verschwörungstheorien und sogenannten
änderten Nutzungsbedingungen während der Pandemie                        alternativen Fakten zu setzen, liegen in den verschiedenen
zusammenhingen.                                                          Formaten von Citizen Science, der Beteiligung von Laien an
     Auch im Bereich Öffentlicher Bi­    blio­
                                             theken wurde                wissenschaftlichen Forschungsprojekten. Thomas Kaars­
die Einbeziehung Nutzender immer wieder in Projekt­                      ted (University of Southern Denmark) hielt ein enthusias­
vorstellungen deutlich. Die Vorträge der beiden Blöcke                   tisches und inspirierendes Plädoyer für das Engagement
„Lernräume im Wandel I + II“10 zeigten zum Beispiel, dass                von Bi­blio­theken im Zusammenhang mit Citizen Science.
partizipative Prozesse bei der Um- oder Neuplanung von                   Bi­blio­theken könnten als Hubs für Citizen Science das
Bi­blio­theksbauten eine immer wichtigere Rolle spielen.                 Bindeglied zwischen den Bürgerinnen und Bürgern, Wis­
Das betonte Ragna Körby (Stadtplanerin von der TU Kai­                   senschaftsinstitutionen, Schulen und der Politik sein. Ins­
serslautern) und zeigte viele anschauliche Beispiele für                 besondere als Beispiele für die Umsetzung der Sustainable
aktuelle Entwicklungen von Bi­blio­theken im Stadtbild.                  Development Goals der Vereinten Nationen existierten in
                                                                         Bi­blio­theken in Deutschland bereits zahlreiche Citizen
                                                                         Science nahestehende Projekte.11 Thomas Kaarsted ermu­

4 B
   i­blio­thek und Gesellschaft                                         tigte die Bi­blio­theken, dieses Engagement zukünftig fort­
                                                                         zusetzen und auszubauen.
                                                                              Die beiden Wissenschaftlerinnen Melike Peterson
Die Zeit der COVID-19-Pandemie ist auch durch den spür­
                                                                         (Universität Bremen) und Katja Thiele (Universität Bonn)
baren Zuwachs von Verschwörungstheorien, Fake News
                                                                         nahmen Citizen Science aus der Perspektive der Forschung
und Rechtspopulismus gekennzeichnet. Gleich mehrere
                                                                         für und mit Bi­blio­theken in den Blick. Citizen Science
Beiträge setzen sich mit diesem Problemkomplex aus­
                                                                         als partizipativer Forschungsstil bereichere durch neue
einander.
                                                                         Impulse die Wissenschaftskommunikation und fordere
                                                                         etablierte Methoden, Prozesse und Hierarchien heraus.
                                                                              Stefan Wiederkehr (ZB Zürich) berichtete von den
4.1 F ramework for Information Literacy for
                                                                         Chancen von Citizen Science für Bi­blio­theken. Vor allem
    Higher Education                                                     für Bi­ blio­
                                                                                     theken mit einem besonderen historischen,
                                                                         lokalen Bestand böten sich im Zusammenhang mit der
Anlässlich der kürzlich erschienenen deutschen Über­
                                                                         Digitalisierung nicht nur vielfältige Möglichkeiten der un­
setzung des „Framework for Information Literacy for
                                                                         terstützenden und forschenden Beteiligung der Citizens –
Higher Education” gab es eine Podiumsdiskussion mit
                                                                         den Kundinnen und Kunden der Bi­blio­thek. Durch Citizen
                                                                         Science entstünden einerseits neue Fragestellungen an
9 www.partizipationspyramide.de (17.09.2021).
10 Siehe auch die Zusammenfassungen einzelner hier beschriebe­
                                                                         den Bestand und zugleich gewährleisteten die Infrastruk­
ner Vorträge als Blogbeitrag unter https://b-u-b.de/bi­blio­thekartag-
2021-blog/ (17.09.2021).                                                 11 https://www.biblio2030.de/beispielsammlung/ (17.09.2021).
274        Tagungsbericht Joachim Dinter et al., Der 109. Deutsche Bi­blio­thekartag 2021 in Bremen

turen der Bi­blio­theken die nachhaltige Bereitstellung der          Ebert-Stiftung. Das vom Deutschen Zentrum Kulturgut­
Ergebnisse aus den Projekten – eine vielversprechende                verluste finanzierte Projekt beinhaltet die Überprüfung
Verbindung.                                                          von etwa 18 000 projektrelevanten Büchern. Ziel der sys­
                                                                     tematischen Bestandsüberprüfung ist die virtuelle Rekon­
                                                                     struktion der historischen SPD-Parteibi­blio­thek vor 1933.
4.3 R
     iffreporter                                                         Sebastian Finsterwalder (ZLB Berlin) unterstrich in
                                                                     seinem Vortrag, dass der offene Umgang mit erhobenen
Die seit 2014 laufende Masterclass Wissenschaftsjournalis­           Forschungsdaten unerlässlich ist für eine erfolgreiche
mus ermöglicht es, neue Formate in und mit Bi­blio­theken            Provenienzforschung. Forschungsdaten wie Autogramme,
zu entwickeln. In der Veranstaltung „Journalismus in die             Widmungen, Exlibris werden direkt nach der Erfassung
Bi­blio­thek. Die Riffreporter-Masterclass 2020“ berichteten         online in die Provenienzdatenbank „Looted Cultural
zwölf Journalistinnen und Journalisten exemplarisch von              Assets“ gestellt. Anhand der Identifikationsgeschichte des
ihren Projekten. Sie nutzen bi­blio­thekarische Räume, um            Exlibris von Ernst G. Preuß zeigte Sebastian Finsterwalder,
den Nutzenden ganz unterschiedliche Themen zu vermit­                wie wichtig sowohl die Veröffentlichung von Provenienz­
teln. Indem sie teils ihren Schreibtisch für einige Wochen           daten als auch die Inanspruchnahme von Hinweisen aus
in der Bi­blio­thek platzieren, soll zudem die journalistische       der Bevölkerung für die eigene Arbeit ist.
Arbeit transparenter werden. Auch für diese Form der                      Tomasz Łopatka berichtete von seiner Katalogisie­
Zusammenarbeit bieten Bi­blio­theken eine ideale Umge­               rungsarbeit in der Forschungsbi­blio­thek des Herder-In­
bung.                                                                stituts. Zwischen 2016 und 2019 wurde ein Teilbestand,
                                                                     der aus der ehemaligen Publikationsstelle Berlin-Dahlem
                                                                     stammte, auf Provenienzspuren hin untersucht. Es han­
4.4 M
     edien an den Rändern                                           delte sich um 17 500 Bände, die unter NS-Raubgutverdacht
                                                                     standen. Die erste Restitution sei in Planung. Das Her­
Um ein dezidiert bi­blio­thekarisches Problem im Zusam­              der-Institut erstellte eine eigene Access-Datenbank. Mitt­
menhang mit Verschwörungstheorien und Fake News                      lerweile sind circa 11 000 Titel im eigenen Katalog mit Pro­
ging es in der Vorstellung von „Medien an den Rändern“:              venienzmerkmalen versehen und mit der GND verknüpft.
Wie sollen Bi­blio­theken mit Medien umgehen, die „an                Die Moderatorin Regine Dehnel fasste die Beiträge des
den Rändern“ lokalisiert sind, die also beispielsweise               Panels treffend zusammen: Bei der Provenienzforschung
rechtspopulistische Inhalte haben? Einigen technischen               gehe es um Öffentlichkeit, Transparenz, Vernetzung und
­Störungen zum Trotz skizzierten vor allem Tom Becker                nicht zuletzt um die Erinnerung an die Menschen, denen
 (TH Köln) und Beate Meinck (Stadtbi­blio­thek Reutlingen),          die Bücher geraubt wurden.
 mit welchen konzeptuellen Fragen und Probleme sich                       Diese Aspekte wurden in der Podiumsdiskussion
 die noch junge Arbeitsgruppe befasst. Im Chat entspann              „Provenienzforschung – Und was haben wir davon?“
 sich eine lebhafte Diskussion über anzuwendende Krite­              weiter diskutiert. Ulrich Johannes Schneider (UB Leipzig)
 rien. Der „Expert:innenzirkel“ ist, das machte Tom Becker           moderierte die Runde mit Christiane Hoffrath (USB Köln),
 deutlich, offen für die Beteiligung weiterer Kolleginnen            Robert Langer (Sächsische Landesfachstelle für Bi­blio­
 und Kollegen.                                                       theken) und Regine Dehnel (Staatsbi­blio­thek zu Berlin).
                                                                     Ulrich Johannes Schneider hob dabei hervor, dass Bi­
                                                                     blio­theken mit der eigenen Provenienzforschung einen
4.5 P
     rovenienzforschung                                             großen Beitrag für weitere Forschungen leisten. Regine
                                                                     Dehnel griff diesen Gedanken auf und verwies darauf,
Im Gegensatz zur Existenz von NS-Raubgut im Kunst­                   dass Provenienzforschung andere Forschungen erst er­
handel und in Museen ist der breiten Öffentlichkeit weit             möglicht wie Institutionengeschichte, Buchgeschichte
weniger bekannt, dass der Raub von Kulturgütern im                   und Biographien. Bei Provenienzforschung gehe es, so
großen Umfang auch Bücher betraf. Es ist daher sehr                  Christiane Hoffrath, auch nicht allein um Wiedergutma­
begrüßenswert, dass dieser Thematik mit drei Veranstal­              chung, sondern um Forschung, Dokumentation und Resti­
tungen gebührend Platz eingeräumt wurde. In der ersten               tution. Das sei kein Nice-to-Have, keine moralische Frage,
Veranstaltung „Provenienzen in der Praxis“ standen                   sondern eine zentrale Aufgabe von Bi­blio­theken, Archiven
Berichte aus dem Arbeitsalltag der Provenienzforschung               und Museen, die seit 1999 mit der Gemeinsamen Erklä­
im Vordergrund. Hannah Schneider berichtete von ihrer                rung zudem auch eine Verpflichtung ist. Robert Langer,
Arbeit im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-              der zuvor in der Provenienzforschung in der Stadtbi­blio­
Joachim Dinter et al., Der 109. Deutsche Bi­blio­thekartag 2021 in Bremen Tagungsbericht      275

thek Bautzen arbeitete, wies auf die Schwierigkeit hin, ein       Michael Dominik Hagel
Bewusstsein für NS-Raubgut in Bi­blio­theken zu schaffen,         Wissenschaftskolleg zu Berlin
                                                                  Wallotstraße 19
wenn keine Infrastruktur vorhanden ist. In seiner derzei­
                                                                  14193 Berlin
tigen Position als Leiter der Sächsischen Landesfachstelle
                                                                  hagel@wiko-berlin.de
für Bi­blio­theken sieht er in dem Vernetzungsaspekt eine         orcid.org/0000-0002-8850-5622
wesentliche Aufgabe. Die Veranstaltungen haben verdeut­
licht, dass Provenienzforschung 1. ein selbstverständli­          Franziska Harnisch
cher Bestandteil bi­blio­thekarischen Arbeitens sein sollte,      Universitätsbi­blio­thek der Freien Universität Berlin
                                                                  Garystraße 39
2. der Kooperation und des freien Zugangs zu Forschungs­
                                                                  14195 Berlin
daten bedarf und 3. Erinnerung an diejenigen Menschen             f.harnisch@fu-berlin.de
ermöglicht, denen nicht nur die Bücher, sondern in den            orcid.org/0000-0002-7863-1836
meisten Fällen auch ihre Leben brutal genommen wurden.
In Zeiten, in denen der Ruf nach einem Schlussstrich in           Tabea Klaus
                                                                  Zentral- und Landesbi­blio­thek Berlin
Deutschland wieder lauter wird, ist Provenienzforschung
                                                                  Breite Straße 30–36
aktueller denn je.
                                                                  10178 Berlin-Mitte
                                                                  tabea.klaus@zlb.de
                                                                  orcid.org/0000-0002-2791-1053

5 S
   chluss                                                        Miriam Kötter
                                                                  Universitätsbi­blio­thek der Technischen Universität Berlin
Die Konferenzteilnahme in rein digitaler Umgebung blieb           Fasanenstraße 88
auch nach über einem Jahr Pandemieerfahrung gewöh­                10623 Berlin
                                                                  miriambernard@gmx.de
nungsbedürftig. So ließ die Software offenbar nur einen
                                                                  orcid.org/0000-0002-7253-2933
Login zugleich zu, so dass die Verbindung sofort beendet
wurde, wenn man an einem „Second Screen“, einem                   Gunther Kunze
zweiten Gerät, einen kurzen Blick ins Programm werfen             Ibero-Amerikanisches Institut Preußischer Kulturbesitz
wollte. Von solchen Unannehmlichkeiten abgesehen funk­            Potsdamer Straße 37
tionierte die technische Umsetzung aber einwandfrei. Zu           10785 Berlin
                                                                  orcid.org/0000-0002-3715-6178
kurz kam hingegen die Möglichkeit, sich mit Kolleginnen
und Kollegen zu vernetzen, was ja eigentlich, neben den           Mirco Limpinsel-Pesavento
inhaltlichen Impulsen, eine Hauptfunktion der ganzen              Universitätsbi­blio­thek der Freien Universität Berlin
Veranstaltung sein sollte. Speziell für Neulinge war es           Garystraße 39
praktisch unmöglich, sich auszutauschen und zu ver­               14195 Berlin
                                                                  limpinsel@ub.fu-berlin.de
netzen. Die sich in den Chats mitunter entspinnenden
                                                                  orcid.org/0000-0002-4301-6892
Anschluss- und Paralleldiskussionen waren zwar inhalt­
lich oft interessant, aber kein adäquater Ersatz für das          Sina Menzel
Gespräch in der Kaffeepause. Insofern bleibt dringend zu          Universitätsbi­blio­thek der Freien Universität Berlin
hoffen, dass die Veranstaltung im nächsten Jahr wieder in         Garystraße 39
physischer Präsenz stattfinden kann.                              14195 Berlin
                                                                  sina.menzel@fu-berlin.de
                                                                  orcid.org/0000-0003-1798-2672

Autoreninformationen                                              Anne Rethmann
                                                                  Zentral- und Landesbi­blio­thek Berlin
                                                                  Breite Straße 30–36
Joachim Dinter                                                    10178 Berlin
Alice Salomon Hochschule Berlin                                   anne.rethmann@zlb.de
Bi­blio­thek                                                      orcid.org/0000-0001-7632-7550
Alice-Salomon-Platz 5
12627 Berlin
dinter@ash-berlin.eu
orcid.org/0000-0002-9918-2769
276          Tagungsbericht Joachim Dinter et al., Der 109. Deutsche Bi­blio­thekartag 2021 in Bremen

Cosima Wagner                                                          Janet Wagner
Universitätsbi­blio­thek der Freien Universität Berlin                 Universitätsbi­blio­thek der Freien Universität Berlin
Garystraße 39                                                          Garystraße 39
14195 Berlin                                                           14195 Berlin
cosima.wagner@fu-berlin.de                                             janet.wagner@fu-berlin.de
orcid.org/0000-0003-4957-3478                                          orcid.org/0000-0001-6428-1372
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