Der deutsche Wald - DER BÜRGER IM STAAT 51. Jahrgang Heft 1 2001 - Zeitschrift Bürger und Staat

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Der deutsche Wald - DER BÜRGER IM STAAT 51. Jahrgang Heft 1 2001 - Zeitschrift Bürger und Staat
DER BÜRGER
                           IM STAAT

                           51. Jahrgang Heft 1 2001

Der
deutsche Wald

  Landeszentrale
  für politische Bildung
  Baden-Württemberg
Der deutsche Wald - DER BÜRGER IM STAAT 51. Jahrgang Heft 1 2001 - Zeitschrift Bürger und Staat
Herausgegeben von der
                                               Landeszentrale für politische Bildung
 DER BÜRGER                                    Baden-Württemberg

 IM STAAT

                                               Schriftleiter
                                               Prof. Dr. Hans-Georg Wehling
                                               Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart
                                               Fax (0711) 164099-77
51. Jahrgang Heft 1 2001                       hans-georg.wehling@lpb.bwl.de

Inhaltsverzeichnis

Der deutsche Wald

Vorwort                                    2    Karl-Reinhard Volz
                                                Wem gehört eigentlich der Wald?                    51
Albrecht Lehmann
Mythos Deutscher Wald                      4    Helmut Brandl
                                                Bäuerlicher Waldbesitz
Hansjörg Küster                                 in Baden-Württemberg                               59
Auch der Wald hat seine Geschichte        10
                                                Gerd Wegener/Bernhard Zimmer
Uwe Eduard Schmidt                              Holz als Rohstoff                                  67
Waldfrevel contra staatliche Interessen   17
                                                Dietrich Burger/Barbara von Kruedener
Klaus Schriewer                                 Der Wald weltweit –
Waldbewusstsein und Waldnutzung:                ein Zustandsbericht                                73
eine ökologische Wende                    24
                                                Das politische Buch                                81
Peter Weidenbach
Waldbauliche Ziele im Wandel              30
                                                Einzelbestellungen und Abonnements bei der
Anke Höltermann/Gerhard Oesten                  Landeszentrale (bitte schriftlich)
Forstliche Nachhaltigkeit                 39
                                                Impressum: Seite 72
Ernst E. Hildebrand
                                                Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel
Neuartige Waldschäden:                          mit dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte
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Der deutsche Wald - DER BÜRGER IM STAAT 51. Jahrgang Heft 1 2001 - Zeitschrift Bürger und Staat
Der deutsche Wald

Deutschland ist ein waldreiches Land. Nahezu         forstlicher Nutzung, zwischen Wald und Weide.
ein Drittel der Fläche ist waldbestanden. Vor        In Konkurrenz zur materiellen, wirtschaftlichen
allem aber besteht hier eine besondere Bezie-        Nutzung der Wälder in Form von Holz für die
hung zum Wald: Wald in Deutschland wird als          verschiedensten Zwecke blieb im Wesentlichen
deutscher Wald wahrgenommen, als Teil der            die Jagd übrig, als herrschaftliches Privileg.
deutschen Identität. So hat seinerzeit das prog-     Bahnbrechend für die Holzwirtschaft war vor
nostizierte „Waldsterben“ uns betroffener ge-        allem die Einführung des Prinzips der Nachhal-
macht als jedes andere Land: Waldsterben war         tigkeit in die Forstpolitik, demzufolge nicht
ein deutsches Thema.                                 mehr an Holz eingeschlagen werden darf als
Die Wahrnehmung unserer Umwelt, so auch              nachwächst. Das Konzept war außerordentlich
die Wahrnehmung des Waldes ist kulturell             erfolgreich. Das Prinzip der Nachhaltigkeit hat
vermittelt. Von besonderer Bedeutung war             inzwischen längst über den Forstbereich hinaus
hier sicherlich die deutsche Romantik. In zahl-      Karriere gemacht: als Prinzip für den Umgang
losen Märchen und Sagen spielt der Wald eine         mit der Natur überhaupt, verbunden mit dem
Rolle. Das 19. Jahrhundert griff auf den römi-       Postulat, verstärkt solche Rohstoffe zu nutzen,
schen Schriftsteller Tacitus zurück, um den          die nachwachsen können.
Wald als deutsches Identitätssymbol zu legiti-       Doch der Wald ist mehr als ein Reservoir von
mieren.                                              Holz für die Energiegewinnung und als Roh-
In unseren Köpfen – oder sollten wir besser          stoff. Der Wald hat eine ökologische Ausgleichs-
sagen: in unseren Herzen? – haben wir ausge-         funktion, reguliert den Wasserhaushalt, dient
prägte Wald-Bilder, von Kindheit an uns vermit-      dem Boden- und Klimaschutz. Diese ökologi-
telt. Im Wald suchen wir uns selbst wieder zu        schen Funktionen sind in den letzten Jahrzehn-
finden, mit unseren Vorstellungen davon, was         ten immer stärker in den Vordergrund gerückt,
als schön und richtig anzusehen ist. Mit uns         angesichts der Gefährdungen unserer Umwelt
zusammen hat unsere Wald-Wahrnehmung                 und unseres Bewusstseins davon. So hat denn
Geschichte, ist dem Wandel unterworfen, schon        auch innerhalb des Naturschutzes selbst ein
zwischen den Generationen.                           Paradigmenwechsel stattgefunden: weg vom
Selbstverständlich hat auch der Wald in Deutsch-     Schutz einzelner Arten zum Systemschutz, des
land selbst seine Geschichte: bestimmt einmal        Ökosystems als Ganzem. Nicht zuletzt die gewal-
durch die geomorphologischen, mehr noch              tigen Sturmschäden der letzten Jahre, aber auch
durch die klimatischen Bedingungen, die über         die Gefährdungen des Waldes durch Schadstoff-
lange Zeiträume hinweg sich geändert haben.          einträge, die unter dem Namen „Waldsterben“
Markantes Ereignis stellt dabei die Eiszeit dar,     bekannt geworden sind, haben ein Umdenken
innerhalb derer nur bestimmte Pflanzen in be-        gefördert. Stärker in den Vordergrund getreten
günstigten Inseln überleben konnten. Danach          ist inzwischen auch die soziale Bedeutung des
wanderten neue Pflanzenarten ein, allerdings         Waldes. Wald dient der Erholung, mit einem
mussten sie den Sperr-Riegel der Alpen überwin-      Zugangsrecht für alle.
den, was der Artenvielfalt Grenzen setzte.           Die Forstpolitik hat entsprechend reagiert. Als
In massiver Weise griffen zudem die Menschen         Leitbild der Forstpolitik gilt nunmehr der natur-
in den Wald ein und bestimmten damit sein            nahe Wald. Zudem gilt Nachhaltigkeit nicht nur
Erscheinungsbild, gesamthaft und in seiner           ökonomisch, sondern auch für die ökologischen
Zusammensetzung im Einzelnen – durch Roden,          und sozialen Funktionen des Waldes.
Ackerbau, Weidenutzung, Holzgewinnung.               Das beinhaltet für die Waldbesitzer wirtschaftli-
Insofern ist die Geschichte des Waldes zugleich      che Nutzungsbeschränkungen, die für den Staat
auch die Geschichte der Nutzung des Waldes           oder die Kommunen leichter zu tragen sind als
durch die Menschen, mithin Teil der menschli-        für die vielen privaten Waldbesitzer, in deren
chen Geschichte.                                     Händen sich immerhin fast die Hälfte des Waldes
Seit der Aufklärung wurde von Staats wegen           in Deutschland befindet. Darunter sind nicht
gezielt Forstpolitik betrieben: zur Sicherstellung   zuletzt viele landwirtschaftliche Betriebe, für
des Rohstoff- und Energiebedarfs angesichts          die der Wald eine wichtige wirtschaftliche Aus-
zunehmend schwindender Wälder. Zum Nutzen            gleichsfunktion besitzt. Das gilt beispielsweise
des Waldes wurden klare Abgrenzungen vorge-          für den Schwarzwald, in dem viele Betriebe nur
nommen, zwischen landwirtschaftlicher und            deshalb überleben können, weil sie auch über

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Waldbesitz verfügen. Diese Betriebe brauchen      delt, in Holz. Folglich ist die Verwendung von
eine Überlebenschance, auch wenn ihr unmittel-    Holz ökologisch nützlich, ferner ist Holz ein
barer Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt nicht      hervorragender Grundstoff über die unmittel-
allzu hoch ist. Hinzu kommt im Schwarzwald        bare Nutzung hinaus, für die Papier- und Textil-
eine Fülle Holz verarbeitender Betriebe in        industrie, selbst für die chemische Industrie.
unmittelbarer Nähe. Vor allem aber lebt der       Zudem erfüllt Holz in idealer Weise ökologische
Fremdenverkehr davon, dass der Schwarzwald        Anforderungen an die Produktion: Zur Gewin-
eben ein Waldgebiet ist, mit dem charakteristi-   nung von Materialien aus Holz sowie für die
schen Wechsel von Wiesen, Weiden und Wald         Beseitigung von Produkten, die aus dem Roh-
sowie behäbigen Schwarzwaldhöfen. Diese wie-      stoff Holz gewonnen sind, wird nur ein Mindest-
derum können ihre landschaftspflegerische und     maß an fossilen, nicht erneuerbaren Energieträ-
ökologische Aufgabe nur erfüllen, wenn sie        gern gebraucht. Vor allem ist Holz ein Rohstoff,
wirtschaftlich lebensfähig sind.                  der nachwächst – und dabei gleichzeitig die
Nimmt man alles zusammen, dann ist der Bei-       Umweltqualität erhöht.
trag des Waldes zum Bruttoinlandsprodukt also     Die Wälder unserer Erde dienen dem Boden-
wesentlich höher als es auf den ersten Blick      und Gewässerschutz sowie der Stabilisierung
erschienen ist. Kaum zu bemessen, kaum zu         des Klimas. Darüber hinaus bewahren sie
überschätzen ist vor allem der Beitrag des Wal-   die Artenvielfalt, stellen ein genetisches Re-
des für das Ökosystem. Das gleiche gilt für den   servoir ungeheuren Ausmaßes dar. Doch die
Erholungs- und Erlebniswert, den der Wald dar-    Wälder sind weltweit bedroht – durch den
stellt. Auch er ist nicht in Geld zu messen.      Menschen.
Weltweit ökologisch aufgewertet ist der Wald      So gesehen ist Forstpolitik nicht nur ein Thema
durch die globale Bedrohung unserer natürli-      für Forstleute und Waldbesitzer. Forstpolitik ist
chen Lebenswelt. So vermag der Wald CO2 zu        ein Thema für Politik ganz allgemein, wenn sie
binden und leistet damit einen beträchtlichen     über den Tag hinaus denkt, und sie ist mithin ein
Beitrag zur Verminderung des Treibhauseffek-      Thema für die politische Bildung.
tes. Schadstoffe werden so in Rohstoffe verwan-                                Hans-Georg Wehling

                                                                                                3
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Natur und Kultur begegnen sich im Wald

     Mythos Deutscher Wald
     Waldbewusstsein und Waldwissen in Deutschland

     Von Albrecht Lehmann

Prof. Dr. Albrecht Lehmann ist Direktor         te stadtrömische Leserschaft bestimmt.        dig politisch gemeint. Doch sind sie seit
des Instituts für Volkskunde der Univer-        Von den Romantikern um Jacob Grimm            der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
sität Hamburg.                                  wurde die Germania als historische Quelle     und in der Zeit des Nationalsozialismus
                                                ernst genommen. Bis in die erste Hälfte       sehr wirkungsvoll politisch instrumentali-
Die Deutschen sind das „Waldvolk“               des 20. Jahrhunderts wurde sie von            siert worden. Es ist nicht verwunderlich,
schlechthin. Der Wald ist für sie Identitäts-   Germanisten, Volkskundlern und beson-         dass nach dem Ende des nationalsozialisti-
symbol. Verständlich so, dass das „Wald-        ders von Lehrern der unterschiedlichen        schen Systems ein mythologisch begrün-
sterben“ sie zutiefst treffen musste. Im        Schularten als historische Tatsache vermit-   deter Glaube an den Wald als Ursprungs-
Kontrast dazu steht, dass das Waldwissen,       telt. Sie war damit zum Ursprungsmythos       mythos obsolet werden musste. Dabei
aber auch die Waldnutzung in Deutsch-           für die Deutschen geworden.                   werden „unsere Wälder“ immer noch
land verhältnismäßig gering sind. Den           In Ursprungsmythen wirken Geschichts-         besungen und wegen ihrer Schönheit
Wald nimmt man von den eigenen kultu-           wünsche und Geschichtsvorstellungen in        geliebt. Hier wird ein Zwiespalt erkenn-
rellen Prägungen her wahr: als Landschafts-     eine Gesellschaft hinein. Sie fungieren als   bar: Infolge der Geschichte des 20. Jahr-
kulisse, als harmonisches Zusammenleben         Bilder, in denen Völker ihre Vergangen-       hunderts ist der Wald als politisches Sym-
altersverschiedener Bäume und Baum-             heit deuten und gegenwärtig halten (Lan-      bol, wie andere Optimismus und Stärke
arten. Inzwischen ist ein Wandel zu einem       gewiesche 1999, 614). Ursprungsmythen         ausdrückende Nationalsymbole, fragwür-
eher „französischen“ Waldverständnis zu         sagen viel über den mentalen Zustand          dig geworden. Aber seine Bedeutung als
beobachten, das verstärkt den individuel-       einer Gesellschaft oder Nation aus. Die       Natursymbol hat der Wald behalten! Von
len Baum wahrnimmt. Gleichzeitig aber           fatale Voraussetzung bei der Verwendung       diesem Zwiespalt handelt mein Artikel.
gibt es in Frankreich und Italien eine Ten-     des deutschen Waldmythos im 19. und           Vor allem handelt er vom heutigen Wald-
denz zum „deutschen“ Waldverständnis,           20. Jahrhundert lag in einer Kontinuitäts-    bewusstsein, d. h. von den Waldgefühlen
das den Wald als Ganzes sieht und liebt.        vorstellung. Über alle historischen Ent-      und dem Waldwissen in der gegenwärti-
                                        Red.    wicklungen – Kriege, soziale Veränderun-      gen Bevölkerung (Lehmann 2001); außer-
                                                gen und technische Revolutionen hinweg        dem von der tatsächlichen Nutzung der
Mythengeschichte: unsere Herkunft               – wurde eine Identität der Deutschen des      Wälder als Aufenthaltsort. Beim Waldbe-
aus undurchdringlichen Wäldern                  Jahres 1900 oder 1920 mit den alten Ger-      wusstsein geht es also nicht vordringlich
                                                manen unterstellt: „Wir erfahren von Taci-    um biologische Tatbestände, nicht darum,
Wer wissen will, wie der Wald zum Mythos        tus, mit welch heiliger Scheu die Germa-      ob die Forste tatsächlich gesund oder
der Deutschen wurde, muss sich weit in die      nen ihre Wälder betraten. Noch heute          krank sind, wie die Tiere in ihnen leben
Geschichte zurück denken. Am Anfang             wirkt die Stille oder das Rauschen der        etc. Für die Kulturwissenschaft geht es
steht der altrömische Historiker und Eth-       Bäume tief auf das Gefühl des Volkes ein“,    stattdessen um Menschen mit ihren diver-
nograf Tacitus; vor allem aber dessen           hatte ein bekannter Germanist verkündet       sen Wünschen, Kenntnissen, Interessen
Interpretation durch die Mythenfor-             (Mogk 1921, 31).                              und Erfahrungen.
schung des 19. Jahrhunderts. Seine Ger-         Im 19. Jahrhundert war dieser als un-         Die wichtigste Grundlage des Artikels ist
mania, um das Jahr 100 unserer Zeitrech-        korrigierbare Tatsache genommene Ur-          ein Hamburger volkskundliches For-
nung verfasst, war im 15. Jahrhundert           sprungsmythos sehr materialreich durch        schungsprojekt (Lehmann 1999; Lehmann/
wieder aufgefunden worden. Als Jacob            Forschungen „bewiesen“ worden, etwa           Schriewer 2000). Etwa 130 Männer und
Grimm und andere Romantiker aus                 von dem Germanisten und Mythologen            Frauen – zu gleichen Teilen „waldfern“ in
Mythen und Sagen eine verborgene                Wilhelm Mannhardt in seinen Wald- und         norddeutschen Großstädten und „wald-
Geschichte der Deutschen rekonstruieren         Feldkulten. In den aus Volkserzählungen       nahe“ in ländlichen Gebieten lebend –
wollten, erhoben sie dieses Werk zum            rekonstruierten Glaubensvorstellungen         wurden ausführlich in offenen Interviews
ältesten deutschen Geschichtsbuch. Wie          der Germanen und ihrer Nachbarstämme          über ihre Ansichten und über ihr Waldwis-
bei ethnografischen Berichten bis heute         suchte und fand dieser hochgelehrte           sen befragt. Außerdem wurden viele
üblich, lag auch bei der Germania der Reiz      Mann in Wald und Feld eine mythische          andere Quellen in die Untersuchung ein-
für die Leser nicht vornehmlich in der          Welt voller Dämonen vor. Diese Geistwe-       bezogen. Wir gingen von der Vorausset-
Beschreibung fremdartiger Landschaften,         sen beseelten Steine, hielten sich in Bäu-    zung aus, dass sich das Waldbewusstsein
sondern in den Erzählungen über die             men und Flüssen auf. Besonders wohl aber      nicht allein aus Waldspaziergängen, Wan-
darin lebenden merkwürdigen Leute mit           sollen sich die Geister in den deutschen      derungen und Picknicks am Waldrand her-
ihren exotischen Gebräuchen.                    Wäldern gefühlt haben: „Noch heute            leitet, sondern außerdem aus der Hoch-
Tacitus hatte seinen römischen Lesern von       guckt fast aus jeder Ecke und aus jedem       und Unterhaltungsliteratur, aus Gedich-
den riesigen Urwäldern im germanischen          Baumstumpf ein Spukgesicht heraus und         ten, Märchen und Romanen, aus Malerei,
Norden erzählt und vor allem von der            erschreckt die armen Leute, die dort Lese-    Musik und Massenmedien: vom vertonten
Furcht der Bewohner „Germaniens“ vor            holz suchen“ (Mannhardt 1875, 43). Wer        Eichendorff-Gedicht über die Bilder eines
dem Betreten bestimmter Waldbezirke.            im Jahre 2001 über solche Vorstellungen       Caspar David Friedrich und seiner Epigo-
Vom Standpunkt der Mythenkunde des              heidnisch-germanischer Kulturüberliefe-       nen; von Walt Disneys Bambi-Film bis zum
19. Jahrhunderts aber war der Hinweis auf       rung lächelt, sollte an das gegenwärtige      jährlichen deutschen „Waldschadensbe-
den mutmaßlichen Glauben der Germa-             Esoterikangebot denken, etwa an die           richt“. Es kam uns in unserem Projekt da-
nen an den Ursprung ihrer Stämme wich-          Neuen Heiden. Die Wirklichkeitsbilder der     rauf an, „soziale Kulturerscheinungen aus
tig, auf ihre geheimnisvolle Herkunft aus       Mythologen des 19. Jahrhunderts haben         den Bedingungen ihres Entstehens“ zu
undurchdringlichen dunklen Wäldern.             in diesen Milieus gerade wieder Konjunk-      erklären (Weber 1968, 600).
Diese Erzählung war von Tacitus und viel-       tur (Lehmann 1999, 181ff.).
leicht sogar von seinen germanischen                                                          Romantische Seelenlandschaften
Informanten als ein Ursprungsmythos             Natursymbol und politisches Symbol
gedacht. Sie war als der Mythos eines                                                         Wie die politische Waldmythologie, so
wilden, unzivilisierten Volkes von ihm auf-     Die Mythenbilder der romantischen Ger-        entstammen auch die kulturellen Muster
gezeichnet worden und für eine zivilisier-      manenforscher waren nicht vordergrün-         des heutigen Waldbewusstseins, welche

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Der deutsche Wald - DER BÜRGER IM STAAT 51. Jahrgang Heft 1 2001 - Zeitschrift Bürger und Staat
die Medien der Hochkultur vermitteln, der
Epoche der Romantik. Auch diese kulturel-
len Bilder waren ein Ergebnis der städti-
schen Intellektuellenkultur. Zur Lebens-
weise der Intellektuellen des frühen 19.
Jahrhunderts gehörte die räumliche und
geistige Distanzierung von den Unbilden
der Natur (Elias 1986). Es bedurfte erst der
Sicherheit der Städte, um das Gefühl
romantischer Natursehnsucht zu empfin-
den. Dazu gehörte von Anfang an die
Erfahrung des Verlustes: des persönlichen
lebensgeschichtlichen Verlustes eines
Erfahrungsraumes, aber auch des Verlus-
tes eines Teils der natürlichen Umwelt. Die
Wälder der romantischen Dichter und
Maler waren Seelenlandschaften, Erinne-
rungswälder, die diesen städtischen Intel-
lektuellen bereits als Wohnort verloren
gegangen waren. Als der Maler und
Schriftsteller Adalbert Stifter seine
berühmte Erzählung Hochwald (1842)
schrieb, lebte er in Wien. Jahrelang blieb
er den böhmischen Wäldern seiner Erzäh-
lungen fern. Die meisterhaften Naturbe-
schreibungen schildern eine geträumte
Landschaft aus der Kindheit. Wie es sein
Biograf Wolfgang Matz (1995, 152) aus-
drückt, war der Hochwald „die Natur-
fantasmagorie eines Städters“. Dabei
waren die Wälder in Mitteleuropa damals
längst keine unberührten Naturlandschaf-
ten mehr, sondern wirtschaftlich intensiv
genutzte Flächen. Infolge wirtschaftlicher
Übernutzung befand sich der Wald an der
Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in
einer erbärmlichen ökologischen Situati-
on. Die heutigen Waldzustände nehmen
sich im Vergleich dazu idyllisch aus.

Der Wald der Bauern war nicht
„romantisch“

Das romantische Landschafts- und Wald-
gefühl war in den intellektuellen Eliten
entstanden. „Natur als Landschaft ist
Frucht und Erzeugnis des theoretischen
Geistes“ (Ritter 1974, 146). Die waldnahe
lebende Bevölkerung auf den Dörfern
konnte mit den forstgeschichtlichen und
waldästhetischen Vorstellungen der
Gebildeten zunächst nicht viel anfangen.
Der Wald war für die bäuerliche Wirt-
schaft primär ein Nutzungsraum für             Die Deutschen als Waldvolk
Brenn- und Bauholz. Hinzu kamen diverse        Das Volk aus den Wäldern besiegte die römischen Feinde: Hermann der Cherusker und
bäuerliche „Nebennutzungen“. Sie reich-        sein Denkmal im Teutoburger Wald, nicht zufällig im 19. Jahrhundert errichtet und in
ten von der Imkerei und der Weide bis zum      Beisein von Kaiser Wilhelm I. im Jahre 1875 eingeweiht.
Beerenpflücken und Harzzapfen (Radkau                                                                    Foto: Landesverband Lippe
2000). Volkskundler „wissen“ es heute
nicht mehr so genau wie vor 100 Jahren:        Gegend überhaupt nur dann besuchten,            Maler in die Realität des forstlichen Wald-
Aber vielleicht glaubten viele auf den Dör-    wenn dort gerade wieder einmal Nutzholz         baus übertragen. Wie auf den Ölgemälden,
fern, wie es Wilhelm Mannhardt be-             „ausgeteilt oder ausgewiesen“ wurde             sollten Steine, Bäche, stattliche Bäume zum
schrieb, damals wirklich daran, dass in den    (Stifter 1990, 26).                             „Schmuck der Waldungen“ werden. Hein-
Bäumen des Waldes, in Felsen und Hügeln                                                        rich von Salisch, einer der Gründer der Forst-
Geister und Dämonen hausen. – Die              Naturgenuss dem Kunstgenuss                     ästhetik, sah den Naturgenuss als gleich-
„Waldeinsamkeit“, die Ludwig Tieck zum         gleichgestellt: die Verbreitung des             wertig neben dem Kunstgenuss an. Der
„Schlagwort“ der Romantik gemacht              romantischen Waldbewusstseins                   Besuch eines Waldes sollte für ihn zum
hatte, wurde zunächst in den unteren                                                           Äquivalent eines Museumsbesuchs wer-
Schichten keineswegs als heimelig und          Die Schönheitsvorstellungen der malen-          den. Der schlesische Forstbesitzer von Sa-
erholsam empfunden. Darauf weisen viele        den und schreibenden Romantiker breite-         lisch entwickelte am Beispiel des Waldes
regionale Sagen hin, die z.B. von der Angst    ten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts rasch    eine „Farbenlehre der Landschaft“ (von Sa-
der Waldarbeiter in den Mittags- und           in der Bevölkerung aus. Zunächst erreich-       lisch 1902, 39, 51, 116f.) mit feinen Abstu-
Abendstunden erzählen. Für die Schön-          ten sie das Forstwesen. Dafür ist die wissen-   fungen der Laub- und Grüntöne, des Was-
heit eines Waldes oder eines Flusses hat-      schaftliche Forstästhetik ein Beispiel. Die     sers, Laubes und Mooses. Doch auch der
ten die Bewohner der Dörfer vermutlich         Exponenten dieser angewandten Kultur-           Waldgeruch und die „Stimmen des Wal-
keinen Sinn. Adalbert Stifter erzählt          wissenschaft wollten die Landschaftsvor-        des“ – Windgeräusche und der Vogelgesang
davon, dass die Bauern die Wälder ihrer        stellungen der romantischen Dichter und         – gehörten zu seiner Ästhetik des Waldes.

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Der deutsche Wald - DER BÜRGER IM STAAT 51. Jahrgang Heft 1 2001 - Zeitschrift Bürger und Staat
Eine bemerkenswerte Kontinuität                romantischen Bewegung, also in der Mitte       „Kulturfrau“ – tatsächlich die damalige
des Waldbewusstseins, schicht-                 des 19. Jahrhunderts, eingesetzt. In der       Bezeichnung für Waldarbeiterinnen –
übergreifend                                   Zeit des aufkommenden Nationalismus            gerade damit beschäftigt, einen Eichen-
                                               wurde der deutsche Wald zunehmend zu           schössling als Symbol einer verheißungs-
Dieses romantische Bild bestimmt bis heu-      einem politischen Symbol. Die Liebe zu         vollen Zukunft einzupflanzen. Immerhin:
te das Waldverständnis der Bevölkerung.        den schönen, wilden Wäldern wurde von          Die Deutsche Mark ist schließlich zu einer
Über alle sozialen Konflikte und Klassen-      nationalistischen Publizisten zu etwas         unbezweifelbaren Erfolgsstory und ver-
gegensätze der Industrialisierungsepoche       exklusiv Deutschem, zu einer wesentli-         mutlich zum eigentlichen politischen
hinaus breitete es sich im 19. Jahrhundert     chen Dimension ihres Nationalcharakters        Nationalsymbol – zumindest der West-
aus. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte    erklärt. Durch diesen intellektuellen          deutschen – geworden.
die Vorstellung vom Wald als Ort der Muße      Kunstgriff wurden die Deutschen zu dem
und als Symbol der menschlichen Eintracht      Waldvolk Europas. Mochten die anderen          Das „Waldsterben“ wurde
mit der Natur durch Schule und Journalis-      Völker, vor allem die Engländer und Fran-      zur Metapher einer weltweiten
mus – nicht zuletzt auch durch die Insti-      zosen, doch ihre Parks und Ziergärten lie-     Umweltkatastrophe
tutionen der Arbeiterbildung – die Schicht     ben, das taten ja auch die Deutschen. Sie
der Industriearbeiter erreicht. Adolf Le-      hatten aber außerdem den „deutschen            Sind die Deutschen immer noch das Wald-
venstein veröffentlichte 1912 seine Arbei-     Wald“, etwas Einmaliges.                       volk, das sie im 19. und in der ersten Hälfte
terfrage, ein Werk, das auf eine empirische    Dieser politischen Waldideologie lag die       des 20. Jahrhunderts im eigenen Selbstbild
Erhebung unter 8.000 Arbeitern zurück-         Vorstellung zugrunde, dass sich National-      und auch im Fremdbild ihrer Nachbarn
ging. „Was denken Sie, wenn Sie auf dem        charaktere als kollektive Identitäten von      sein sollten? – Verhalten sie sich tatsäch-
Waldboden liegen, ringsum tiefe Einsam-        Stämmen und Völkern nicht allein aus der       lich so, wie es Elias Canetti 1960 über sie
keit?“, wollte er wissen. Die schriftlichen    gemeinsamen Geschichte, sondern auch           schrieb? „Das Rigide und Parallele der auf-
Antworten lassen erkennen, wie der Wald        aus der Bodenbeschaffenheit ableiten.          recht stehenden Bäume, ihre Dichte und
in der Bevölkerung bereits zum Gesamt-         Darauf bezog sich Wilhelm Heinrich Riehl       ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen
symbol für Natur geworden war. Ein Berli-      (1894, 50–57), der einflussreichste Wald-      mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er
ner Textilarbeiter versuchte, seine Gefühle    ideologe des 19. Jahrhunderts. In Deutsch-     sucht den Wald, in dem seine Vorfahren
im Stil romantischer Dichtung auszudrü-        land bestimme der Wald immer noch das          gelebt haben, noch heute gern auf und
cken: „Ja. Ich liege im Moos und blicke em-    Bild der Landschaft. Dichte Wälder symbo-      fühlt sich eins mit den Bäumen“ (Canetti
por zum reinen Firmament, nichts regt sich,    lisierten für ihn die Wildnis der Natur. Bei   1960, 195).
nichts stört mich, ein unendlich wohliges      anderen Völkern, speziell in den Konkur-       Wer nach den Gründen für die Karriere des
Gefühl durchzieht die Brust, ich fühle es,     renznationen Frankreich und England, wo        Themas „Waldsterben“ in den Massenme-
wie ich langsam wieder Mensch werde, wie       die Wälder schon früh gerodet worden           dien und im Bewusstsein der Bevölkerung
ich zur Natur zurückkehre, wie ich wieder      waren, bestimme nicht die natürliche           in den 1980er-Jahren fragt, wird kaum
eins werde mit dem großen, unendlichen         Kraft rohen Volkstums den Kulturstil, son-     daran vorbeikommen, den Waldmythos in
All“ (Levenstein 1912, 370).                   dern die Ordnung der Zivilisation. Die         Betracht zu ziehen und die romantischen
Diese Schilderung eines subjektiven Ge-        Nachbarvölker des Westens seien mithin         Angebote unseres Waldbewusstseins un-
fühls ist inzwischen fast einhundert Jahre     in ihre kulturelle Endphase eingetreten,       ter die Ursachen dieser kollektiven Erre-
alt. Unsere Hamburger Untersuchungen           ins Stadium eines „halbwegs ausgelebten        gung zu zählen. Der Untergangsmythos
lassen keinen Zweifel: Bis in die Sprach-      Volkstums“. Sein Fazit: In der Wildnis der     vom „Waldsterben“ erreichte offenbar
muster hinein artikuliert sich das heutige     deutschen Wälder ruhe nicht nur ihre völ-      wirklich verborgene seelische Schichten.
Waldbewusstsein auf so romantische Wei-        kische Vergangenheit, dort liege auch die      Die Angst vor dem Verlust kultureller Tra-
se. Was hier Klischee ist und was erlebtes     Verjüngungskraft ihrer Zukunft verbor-         ditionen gehört ohnehin zu den Motiven
Gefühl, ist eine rein akademische Frage,       gen.                                           der Romantik. Wie schon die romantische
denn die Vorgaben des Bewusstseins wir-                                                       Bewegung und ihre Waldliebe, so war
ken stets in unsere Wahrnehmungen und          Ein Waldvolk ist auch rassisch                 dann auch die Angst vor dem Waldsterben
Gefühle hinein. Wenn man allerdings die        überlegen: der Nationalsozialismus             zunächst ein Phänomen der Städte (Holz-
politischen und sozialen Entwicklungen in                                                     berger 1995; Lehmann 1999, 263ff.). Je na-
Deutschland in den vergangenen neunzig         Solch eine politische Waldsymbolik des         turferner die Bevölkerung lebte, desto ge-
Jahren in Betracht zieht, ist diese Konti-     19. Jahrhunderts passte ausgezeichnet ins      wisser war sie sich des Verlustes der Wälder
nuität des Waldbewusstseins ein bemer-         völkisch-politische Konzept der National-      und gelegentlich des daraus resultieren-
kenswerter Tatbestand. Die Frage nach den      sozialisten. Die von den Waldideologen         den Untergangs der ganzen Menschheit.
Funktionen dieser und anderer romanti-         verkündete Kraft und Ursprünglichkeit          Wohl kaum in deutschen Dörfern, aber
scher Bewusstseinsvorgaben in der Gegen-       eines Waldvolkes ließ sich als rassisch        überall in den Großstädten fand sich der
wart bedarf weiterer Untersuchungen.           bedingte Überlegenheit innerhalb der           populäre Wandspruch „Erst stirbt der
Zum damaligen Naturbewusstsein zählte          europäischen Völker interpretieren (Hel-       Baum, dann stirbt der Mensch“. Dem deut-
außerdem eine quasi moralische Dimen-          bok 1937, 680–691). Gelegentlich gingen        schen Wald wurde in den 1980er-Jahren
sion. Levenstein fand im Waldgefühl seiner     wissenschaftliche Publizisten noch weiter.     von vielen Journalisten nur noch eine kurze
Arbeiter, dass sie dem Zusammenspiel der       Sie wollten eine Parallele zwischen dem        Zeit des Überlebens verheißen. „Schauen
unterschiedlichen Lebensformen in der          deutschen Volk und seinen Wäldern krei-        Sie sich ihn noch einmal an. Bald gibt es den
Natur vielfach eine höhere Moral zuspra-       ieren, der Bevölkerung den Wald als sozia-     deutschen Wald nicht mehr“, galt als eine
chen als den Sozialbeziehungen in der          les Vorbild anbieten. Der Wald als Erzieher    wissenschaftlich gesicherte journalistische
menschlichen Gesellschaft: Natur als           lautete der Titel eines Buches, welches        Aussage. Rudi Holzberger (1995) hat in
Wunschtraum und Modell für eine glückli-       eine Parallele zwischen Baum und Mensch        seiner Untersuchung des journalistischen
chere Zukunft. Auch dieser Gegensatz Na-       und zwischen Wald und Volk entwickelte         Diskurses über das „Waldsterben“ die Me-
tur-Kultur-Gesellschaft wirkt bis heute. Die   (Mammen 1934). Kaum zu glauben: Das            dienkarriere des Themas minutiös analy-
harmonische, wie von Künstlerhand ge-          Werk war ernst gemeint.                        siert. Als Forstwissenschaftler und Umwelt-
ordnete Natur des Waldes, seine Ein-           Die politische Bewirtschaftung deutscher       schützer im Jahre 1978 aufgrund ihrer
samkeit und Stille fungieren noch immer        Mythen, also auch des Mythos vom deut-         ökologischen Untersuchungen zum ersten
als Gegenentwurf zur unübersichtlichen         schen Wald, ist nach dem Zweiten Welt-         Mal Hinweise auf den bedrohlichen Zu-
Groß stadt und zur Welt der Technik.           krieg bald an ihr Ende gekommen. Freilich      stand vieler Wälder gaben, reagierten die
                                               mochte selbst die symbolängstliche Bun-        Presse und das Fernsehen ungewöhnlich
Die Liebe zum Wald wurde zu etwas              desrepublik am Anfang noch nicht völlig        schnell. Zwei bis drei Jahre später be-
exklusiv Deutschem                             auf die Symbolkraft des Waldes und des         stimmte das Thema die gesamte Diskussion
                                               deutschen Eichbaums verzichten. Das            über Natur. Wer als Wissenschaftler zur
Die politische Instrumentalisierung der        Eichblatt ziert bis heute jede Münze vom       Vorsicht vor einem ungebremsten Alarmis-
romantischen Idylle aus Malerei und Dich-      1-Pfennig- bis zum Markstück. Und auf der      mus warnte, hatte keine Chance, in den
tung hatte bereits kurz nach dem Ende der      Rückseite der 50-Pfennig-Münze ist eine        Medien überhaupt zur Kenntnis genom-

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Der deutsche Wald - DER BÜRGER IM STAAT 51. Jahrgang Heft 1 2001 - Zeitschrift Bürger und Staat
Bäume, Wald und Hochgebirge: deutsche Seelenlandschaften.                                                         Foto: Helga Wöstheinrich

men zu werden. Der „sterbende“ Wald war          Krankheiten erfüllen uns mit Sorge. Aber         die Ränder der Waldwege. Wer die Schön-
zur Metapher für eine weltweite Umwelt-          trotz allem: Ein „durchschnittlicher“ Groß-      heit eines Waldes beschreibt, mag kaum
katastrophe geworden.                            städter stellt allenfalls ein- bis zweimal im    auf die Schilderung ihrer frischen Farben
Inwieweit damals erwachsene Leute                Jahr sein Auto für einen Spaziergang am          verzichten und auch nicht auf die Atmo-
ernsthaft an die minutiös aufgelisteten          Waldrand ab (Ammer und Pröbstl 1991).            sphäre, die sie verbreiten. Vor allem inte-
Schreckensszenarien dieses Todesmythos           Das Waldwissen kann bei derartig redu-           ressiert das – als eine Art wahrgenomme-
glaubten, ist eine offene Frage. Auch bei        zierten Formen des „Waldkonsums“ kaum            ne – Moos aber in seiner Funktion als Kis-
anderen Mythen ist die Frage der individu-       von Naturbeobachtungen stammen,                  sen. Fast jedem fällt unverzüglich das
ellen Glaubensbereitschaft schwer zu be-         zumal auch der Biologieunterricht in den         Wort „Moospolster“ ein.
antworten. Doch die Tatsache, dass im My-        letzten Jahrzehnten nur sehr selten in frei-
thos vom „Waldsterben“ der alte Mythos           er Natur gehalten wird. Tatsächlich wissen       … genau so pauschal wie
von den Deutschen und den ihre Kultur            nur wenige etwas Genaues über die                das Tierwissen
und das Leben spendenden Wäldern nach-           Lebensverhältnisse in den Wäldern (Stein-
hallte, ist kaum zu bestreiten. In den           lin 1985). Sieht man von den „Waldpro-           Ähnlich pauschal ist das Tierwissen. In
Nachbarländern, vor allem in Frankreich,         fis“, also von Forstleuten, Biologielehrern      deutschen Wäldern leben etwa 100 Vogel-
staunten die Journalisten über diesen neu-       usw. ab, finden sich die meisten Kenner          arten. Davon „singen“ fünfzig bis sechzig.
erlichen Ausbruch deutscher Angst. Inzwi-        des Waldes unter Pilzsammlern, Fotogra-          Das sind die Singvögel. „Irgendwie ist be-
schen ist die Gewissheit über das Sterben        fen, Vogelkundlern. Unsere Untersuchun-          kannt“, dass es davon verschiedene Arten
der Wälder selbst in den Publikationsorga-       gen zeigen: Außerhalb der Gruppen die-           gibt. Einen einzelnen Singvogel zu bestim-
nen, die damals dem Wald nur noch einige         ser Hobby-Waldkenner kann nur eine               men, fällt aber bereits unter das Speziali-
Überlebensjahre geben wollten, einer             Minderheit mehr als vier oder fünf Baum-         stenwissen der Ornithologen. Doch jeder
nüchternen Beobachtung gewichen: „Ge-            arten bestimmen. Für viele ist jeder Nadel-      liebt die fleißigen Sänger. Ihre Stimmen
nerelle Urteile über die Auswirkungen der        baum eine „Tanne“. Dass Bäume über-              gehören unverzichtbar zum Naturgenuss.
Eingriffe der Menschen in das neben den          haupt unter die Pflanzen fallen, ist in der      Das war zur Zeit des Tiervaters Alfred
Ozeanen wichtigste Ökosystem der Erde            verbreiteten Alltagsbotanik nur selten           Brehm nicht anders: „Die Singvögel sind es,
sind nicht möglich“ (Paper news 1996;            bekannt (Stachow 2000, 218ff.). Denn als         die der Waldesdichtung das rechte Wort
Küster 1998, 220ff.).                            Pflanze gilt hier zunächst etwas Krautiges,      leihen und zum Wort den rechten Klang zu
                                                 d. h. Gewächse, die kein Holz bilden. Auf        finden wissen; ihnen zumeist dankt der
Pauschal ist das Waldwissen …                    der Basis dieses populären Klassifikations-      Wald die Liebe, mit der wir an ihm hängen“
                                                 musters setzt sich die Waldflora aus Bäu-        (Brehm 1947, 3). Wenn die Singvögel in je-
Wer sich an einem beliebigen Wochentag           men, Pflanzen, Pilzen und Moosen zusam-          dem Winter fast völlig verstummen, stei-
und selbst am Wochenende tiefer als 500          men. Jeder weiß natürlich, dass es essbare       gert sich die melancholisch-depressive
Meter in einen Wald abseits der großen           und giftige Pilze gibt. Und den Fliegenpilz      Stimmung, die ohnehin zum Besuch eines
Städte hineinbegibt, stellt fest, dass er sich   kennt auch jeder – aus den Illustrationen        schneefreien, wolkenverhangenen Win-
dort in einer fast menschenfreien Zone           des Kinderbuchs. Aufgrund dieser frühen          terwaldes gehört. Die Waldvögel gelten im
bewegt. Wir können also in den Wäldern           literarischen Erfahrung ist dieser Pilz selbst   populären Waldbewusstsein vielfach in ih-
immer noch die Waldeinsamkeit genie-             ein Symbol des „deutschen Waldes“                rer Gesamtheit als gefährdete, vom Aus-
ßen, von der die romantischen Dichter so         geworden. Zu den Favoriten zählt neben           sterben bedrohte Lebewesen.
eindrucksvoll geschwärmt haben. Der              Steinpilz und Marone der Pfifferling. Alle       Nicht nur die Vögel, sondern auch die at-
Wald wird immer noch wegen seiner                drei – Pilze des Wochenmarktes.                  traktiven Säugetierarten sind in diesem
Schönheit geliebt und besungen. Seine            Moose schmücken in großer Artenvielfalt          Waldverständnis gefährdet. Man muss sol-

                                                                                                                                          7
Der deutsche Wald - DER BÜRGER IM STAAT 51. Jahrgang Heft 1 2001 - Zeitschrift Bürger und Staat
che seltenen Tiere von Staats wegen schüt-
zen. Andernfalls sterben sie in bestimm-
ten Regionen aus und müssen danach, wie
es bei Luchs und Auerhahn inzwischen
praktiziert wird, wieder mühevoll angesie-
delt werden. Eine Auffassung wie diese
lässt sich aus den in der Bevölkerung übli-
chen Umständen des Waldbesuches ablei-
ten, z. B. aus der Wahl der Tageszeit beim
Spaziergang. Denn bei einem der üblichen
mittäglichen Waldbesuche lassen sich fast
nie attraktive Tiere, z. B. Wildschweine, Hir-
sche, Dachse beobachten. Das führt viel-
fach zu der Überzeugung, diese Arten seien
nicht mehr ausreichend zwischen den Tan-
nen und Buchen vorhanden. Dabei liegt
die Ursache des „Fehlens“ dieser Tiere in
der unterschiedlichen Tageseinteilung bei
Wildtieren und Menschen: Frühmorgens
oder in der Dämmerung, wenn Hirsche und
Dachse unterwegs sind, ist der menschliche
„Normalnutzer“ des Waldes zu Hause. Die
verbreitete Vorstellung von der existen-
ziellen Bedrohung der Waldtiere ergibt
sich also aus der Tatsache, dass das heutige
Waldbewusstsein weitgehend nicht auf
alltäglicher Naturerfahrung beruht, son-
dern auf selektiv wahrgenommenen Infor-
mationen aus den Massenmedien.

Die Ökologie fungiert als Arzt                   Weidebäume
                                                 In freier Lage konnten sie sich zu vollendeter Schönheit entwickeln. Sie boten den Tieren
Die Vorstellung von der „essentiellen Güte       Schutz, manchmal auch noch Nahrung.
der Natur“ (Elias1986, 476) bestimmt heute                                       Foto: Archiv Landesforstverwaltung Baden-Württemberg
das gesamte Naturbewusstsein, also auch
das populäre Waldbewusstsein. Das Wort           Wald nach dem Bild der Familie:                 Am Boden modernde Stämme und Äste
Natur wird primär als „Lobwort“ verwen-          wo Vater, Mutter, Kinder einträchtig            drücken in Gemälden bis in die Gegenwart
det. Ökologie firmiert im Alltag nicht als       zusammen leben                                  hinein nicht die Harmonie in der Natur
Bezeichnung einer Forschungsrichtung                                                             aus, sondern eher das Chaos und den Nie-
(Stachow 2000, 230), sondern fast aus-           Die Monokulturen der Fichte, die heute          dergang. Hier zeigt sich wiederum, wie
schließlich als Synonym für Schadenskun-         immer noch etwa die Hälfte der Wälder in        tradierte kulturelle Muster das gegenwär-
de. Sie ist ein Teilbereich des Umweltschut-     Deutschland bestimmen, werden von der           tige Naturgefühl vorprägen. Es sind Vor-
zes. Die häufigste Aussage, in der sich ein      Bevölkerung kritisch gesehen. Forstwis-         gaben einer Ikonologie des Alltags, die
populäres Naturbewusstsein ausdrückt,            senschaftler haben herausgefunden, dass         uns über die bildende Kunst, Literatur,
lautet: Die Natur des Waldes, der Flüsse         der Wald von der Bevölkerung als Arten-         Zeitschriften und Sachbücher, Wandbilder
und Gebirge ist durch menschliche Ein-           mischwald und zugleich als Altersklassen-       des Schulunterrichts und natürlich durch
wirkungen krank geworden. Der Ökologe            wald unterschiedlicher Baumgeneratio-           Fernsehsendungen vermittelt werden.
fungiert als Arzt.                               nen gewünscht wird (Ammer und Pröbstl
Andererseits gerät das Bewusstsein auch          1991, 37, 148; Lehmann 1999, 58ff.). In ver-    Kindheitswälder oder das
bei der Frage nach dem Waldzustand in            schiedenen gemeinsam sichtbaren Pflan-          Heimatliche einer Landschaft
einen Zwiespalt: Der Wald bleibt die wich-       zenarten und Wachstumsstufen – großen
tigste Metapher für Natur, aber zu viel          und kleinen Bäumen, Sträuchern und              Dieses Muster der Vermittlung des Natur-
Natur ist unerwünscht. Denn in der Forst-        Kräutern – soll der Wald dem Muster einer       bewusstseins ist gegenwärtig maßge-
ästhetik der Waldlaien wird – anders als im      funktionierenden Familie gerecht wer-           bend. Es ist ein Naturbewusstsein aus
Umweltschützermilieu – keineswegs der            den, wo Vater, Mutter, Kinder einträchtig       zweiter Hand. Wenn das Naturgefühl im
dichte, schwer durchdringliche Urwald            zusammmenleben. Das heißt: Ein Waldge-          Gegensatz dazu auf eigenen Lebenserfah-
favorisiert, wie er etwa auch als Märchen-       biet soll natürlich aussehen und zugleich       rungen beruht, sind nicht allein die Kennt-
und Sagenwald in der Volksliteratur prä-         so weit wie möglich die Werte unserer Kul-      nisse konkreter, auch die Vorliebe für die
sent ist. Das populäre Waldverständnis           tur präsentieren. – Also keine militärisch in   Wälder ist dann größer. Kindheitserfah-
favorisiert stattdessen die offene Land-         Reih und Glied formierten Fichten, nicht        rungen lassen den Wald manchmal gera-
schaft eines Mischwaldes. Eine ideale            die „Stangengärtnerei“ Heideggers (Hei-         dezu „zum Lebensstichwort“ werden.
Waldlandschaft soll möglichst überall            degger 1980).                                   Davon hat Thomas Bernhard (1988, 302ff.)
einen freien Blick auf ein harmonisches          Aber ein Waldstück soll auch keine unauf-       in dem von ihm als „Erregung“ bezeichne-
Panoramabild gestatten. Die Wege sind            geräumte Wildnis sein, mit kreuz und quer       ten Roman Holzfällen, gesprochen. Das
dabei wichtig, denn von ihnen aus                am Boden herumliegenden Stämmen und             Wort Wald zähle zu den „Lebensstichwör-
schweift das Auge des „Normalnutzers“            Ästen. Offensichtlich spielen die Vorstel-      tern“ von Millionen von Menschen. –
über die Fläche. Nur eine Minderheit, spe-       lungen vom städtischen Park und viel-           Einen berühmten, unter dem Einfluss von
ziell die engagierten Tierbeobachter oder        leicht auch die vom wohl organisierten,         Alkohol gerade sentimental werdenden
Pilzsammler, verlässt diese Waldstraßen          sauberen Garten hinter dem Eigenheim            Wiener Schauspieler lässt er Folgendes
regelmäßig. Denn das Waldesinnere ist für        ins populäre Waldverständnis hinein. Ein        sagen: „In den Wald gehen, tief in den
viele von uns immer noch etwas „Unheim-          Begriff wie „Totholz“ wird außerhalb von        Wald hinein ... sich gänzlich dem Wald
liches“ oder „Geheimnisvolles“ geblieben.        Umweltschützer-Gruppen nur ungern               überlassen, das ist es immer gewesen, der
Jedenfalls etwas, worin wir uns leicht ver-      akzeptiert. Das hat auch seine quasi kunst-     Gedanke, nichts anderes, als selbst Natur
laufen können. – Wer wird diese reduzier-        historischen Gründe. Totes Holz, positiv als    zu sein. Wald, Hochwald, Holzfällen, das
te Nutzung der Wälder beklagen wollen,           Teil natürlicher Prozesse bewertet, findet      ist es immer gewesen.“
wenn er sich als „Bürger im Staat“ eine          ja kaum eine Entsprechung in den Darstel-       Unsere Untersuchungen zeigen: Es sind
gesunde Natur wünscht?                           lungen des Waldes in der bildenden Kunst.       speziell die Erinnerungen an dieses „In-

 8
den-Wald-Hineingehen“, es sind Erinne-        wusstsein vieler Jugendlicher und junger        Kontext einer die Ländergrenzen überwin-
rungen an Familienwanderungen und             Erwachsenen zwei der „typisch deut-             denden europäischen Symbolik zu sehen.
Geländespiele der Kindheit, an die Beob-      schen“ Leidenschaften als Unarten des Ver-      Als Baum Europas (Johler 2000, 96) wurde
achtung von Tieren und Bächen, in denen       haltens und vielleicht auch des Geschmacks      in Wien aus Anlass des 40. Jahrestages der
sich die lebensgeschichtliche Bedeutung       gemeinsam auf den Punkt. Fast niemand           Unterzeichnung der Römischen Verträge
des Naturerlebnisses konkretisiert. Wenn      wollte sich gern „den Wanderern“ zurech-        zwischen all die „Landesbäume“, zwi-
von Erinnerungen an eine Kindheit und         nen lassen, diesen älteren kniebundbe-          schen deutsche Eiche, italienischen Esche
Jugend in der Natur die Rede war, fehlte      hosten Leuten mit ihren gewürfelten Hem-        usw. eine Eibe gepflanzt. Der Wahl der
selten der Hinweis auf vorbildhafte           den. Viel lieber sahen sie sich in ihren        Eibe zum Symbolbaum Europas ist eine ge-
Erwachsene, die damals den Naturaufent-       Erzählungen Beachvolleyball spielend am         wisse Logik nicht abzusprechen. Denn die-
halt inszenierten und dabei den Kindern       Strand oder auf der eleganten Skipiste.         ser Baum ist alles andere als prächtig. Die
ihr Wissen vermittelten – Eltern, Groß-       Was so „typisch deutsch“ ist wie der Wald,      Eibe wächst nur langsam. Für lange Zeit ve-
eltern und Lehrer als Vorbilder. „Meine       kann schwerlich die Zustimmung junger in-       getiert sie unscheinbar im Unterholz. Aber
Eltern haben mich schon im Kinderwagen        ternational denkender Leute finden.             ist sie erst einmal aus dem Gröbsten he-
in den Wald gescho-ben. Deshalb liebe ich     Manchmal stoßen die dichten Massen der          raus, erweist sie sich als so widerstands-
bis heute die Wälder.“ – Wenn die Wald-       Wälder geradezu auf Abneigung. Statt            fähig wie sonst kaum ein Baum.
liebe auf kindlichen Erfahrungen beruht,      dessen gilt die Vorliebe eher einem allein      Zum Schluss deshalb ein konkretes Beispiel
gilt sie meistens nicht „allen Wäldern“,      für sich wachsenden stattlichen Baum,           zum neu ernannten Europabaum: Das Al-
sondern bestimmten Waldformen, etwa           etwa der Individualistin unter den Bäu-         ter der Eibe in Hennersdorf in Schlesien
dem Fichtenwald des Harzes, den Buchen-       men, der Kastanie, oder der weiblichen          wurde auf über 1.400 Jahre geschätzt. Der
wäldern im niedersächsischen Solling. Auf     hellzarten Birke. Diese Abneigung gegen         Baum war buchstäblich nicht kaputt zu
diese Weise entsteht ein bleibendes           den Wald bei gleichzeitiger Vorliebe für        kriegen. Die Hühner brüteten darin, und
Gefühl für das Heimatliche einer Land-        solitär wachsende Bäume entspricht fran-        auch die Schulkinder hatten im Stamm ihre
schaft. Wenn sich Gefühle beim Einzelnen      zösischer Tradition (Tournier 1987).            Nester. Älter als Methusalem: Mindestens
an eine bestimmte Landschaft als Erfah-                                                       bis ins Jahr 1945 galt die Hennersdorfer
rungsraum binden, ist es nicht erstaunlich,   Eine Symbolverschiebung zum allein              Eibe als ältestes Lebewesen Deutschlands.
dass von Menschen bewirkte Veränderun-        wachsenden Baum
gen an solchen „Kindheitswäldern“ wie
ein Eingriff in die persönliche Biografie     Die Symbolverschiebung vom Massensym-             Literaturhinweise
empfunden werden. – „Da war ein Wald-         bol Wald zum allein wachsenden Baum als
                                                                                              Ammer, U. und U. Pröbstl (1991): Freizeit und Natur,
stück. Das war unser Spielplatz. Wunder-      Zeichen des Individualismus lässt sich als      Hamburg/Berlin.
schön. Und im letzten Jahr ist es gefällt     Teil des allgemeinen Internationalisie-         Bernhard, T. (1988): Holzfällen. Eine Erregung, Frank-
worden. Das fehlt mir heute sehr.“            rungsprozesses in der Gesellschaft der          furt/M.
                                                                                              Brehm, A. (1947): Die Singvögel des deutschen Waldes,
                                              Gegenwart und als ein Teilaspekt eines          Frankfurt/M.
Unterschiede nach Generationen                europäischen Internationalisierungspro-         Canetti, E. (1960): Masse und Macht, Hamburg.
                                                                                              Elias, N. (1986): Über die Natur, in: Merkur 40 (1986),
                                              zesses deuten. Die Internationalisierung        469–481.
Beim Naturverständnis fallen die Unter-       der Jugendkultur betrifft also nicht nur        Heidegger, M. (1980): Holzwege, Frankfurt/M.
schiede zwischen den heute zusammenle-        die Musikszene und die Mode, sondern            Helbok, A. (1937): Grundlagen der Volksgeschichte
                                                                                              Deutschlands und Frankreichs, 2 Bde. Berlin/Leipzig.
benden Generationen ins Auge. Die Nach-       offensichtlich auch das Naturgefühl. – Es       Holzberger, R. (1995): Das sogenannte Waldsterben,
kriegsjahre des Zweiten Weltkriegs waren      ist eine Internationalisierung, die nicht       Bergatreute.
                                                                                              Johler, R. (2000): Wald, Kultur, Nation. Ein deutsch-ita-
Zeiten der Not oder doch wenigstens der       allein in eine Richtung verläuft, sondern       lienischer Vergleich, in: Lehmann und Schriewer (2000),
kollektiven materiellen Einschränkung.        ein Austauschprozess. Denn kulturelle           83–96.
                                                                                              Küster, H. (1998): Geschichte des Waldes, München.
Wer diese Jahre noch bewusst erlebt hat,      Muster, die in Deutschland ihre Tradition       Langewiesche, D. (1999): 1848 – ein Epochenjahr in der
die Zeit des Pilze- und Bucheckernsam-        haben, wirken ebenfalls in die Kulturen         deutschen Geschichte? in: Geschichte und Gesellschaft
melns (für die Speiseölgewinnung), die        anderer Länder hinein. Das gilt gerade          25 (1999), S. 613–625.
                                                                                              Lehmann, A. (1999): Von Menschen und Bäumen. Die
Zeit der Wandertage in die Wälder und der     auch für das Waldbewusstsein. Das Wort          Deutschen und ihr Wald, Reinbek.
Geländespiele, der sieht den Wald anders      Waldsterben war bekanntlich unverzüg-           Lehmann, A. und K. Schriewer (Hg.) (2000): Der Wald –
                                                                                              Ein deutscher Mythos? Berlin/Hamburg (Lebensformen
als die Generation der heutigen Jugend.       lich in die französische und englische Spra-    Bd. 16).
Dieses Waldbewusstsein beruht auf eige-       che übernommen worden.                          Lehmann, A. (2001): Waldbewusstsein. Zur Analyse ei-
ner Erfahrung. Es unterscheidet sich in                                                       nes Kulturthemas in der Gegenwart, in: Forstwissen-
                                                                                              schaftliches Centralblatt 120 (2001), S. 1–12.
seiner Anschaulichkeit vom Waldbewusst-       Deutsche Waldvorstellungen                      Levenstein, A. (1912): Die Arbeiterfrage, München.
sein aus zweiter Hand, welches heute das      verbreiten sich nach Frankreich und             Mammen, F. von (1934): Der Wald als Erzieher. Eine
                                                                                              volkswirtschaftlich-ethische Parallele zwischen Baum
Thema bei den „jungen Leuten“ bestimmt.       Italien                                         und Mensch und zwischen Wald und Volk, Dresden/
Auf der Grundlage interessengeleiteter                                                        Leipzig.
                                                                                              Mannhardt, W. (1875): Wald- und Feldkulte. 1. Teil: Der
Tätigkeiten in der Familie und unter Freun-   Jüngst hat nun der Volkskundler Reinhard        Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme.
den haben sich in der „älteren Generation“    Johler (2000, 83–96) gezeigt, wie in den        Mythologische Untersuchungen, Berlin.
also wesentlich intimere Kenntnisse über      letzten Jahrzehnten das „deutsche Wald-         Matz, W. (1995): Adalbert Stifter oder Diese fürchterli-
                                                                                              che Wendung der Dinge, München/Wien.
die Zusammenhänge der Natur entwickelt.       bewusstsein“ und auch die deutschen Vor-        Mogk, E. (1921): Germanische Religionsgeschichte und
Das Beispiel zeigt, wie die große Ge-         stellungen von der Jagd zunehmend Ein-          Mythologie, 2. Aufl. Berlin/Leipzig.
                                                                                              Paper news (1996): Nachrichten und Meinungen zum
schichte der Wirtschaft und der Politik ins   gang ins italienische Naturbewusstsein          Thema Papier (Magazin von „Bunte”, „Der Spiegel“,
Naturbewusstsein hineinwirkt.                 finden. Johler stellt fest: Das „mediterran-    „Hör zu“, „stern“, „TV Hören und Sehen“.
                                              lateinisch-hedonistische Muster“ – „land-       Radkau, J. (2000): Natur und Macht. Eine Weltge-
                                                                                              schichte der Umwelt, München.
Ein Wandel zeigt sich hin zur Euro-           wirtschaftlich und waldfeindlich“ – hat es      Riehl, W. H. (1896): Land und Leute, 9. Aufl. Stuttgart
päisierung des Naturbewusstseins              zunehmend schwer, sich gegenüber den            (zuerst 1854).
                                                                                              Ritter, J. (1974): Landschaft. Zur Funktion des Ästheti-
                                              „asketischen“ deutschen Vorstellungen           schen in der modernen Gesellschaft, in: ders.: Subjekti-
Das Natur- und Waldbewusstsein der Be-        von Wald- und Umweltschutz in den Mas-          vität, Frankfurt/M., 141–163.
                                                                                              Salisch, H. von (1902): Forstästhetik, Berlin (zuerst 1885).
völkerung ist stets im Wandel. Das gilt für   senmedien Italiens zu behaupten. Fast           Stachow, H. (2000): Botanik, Ökologie und Esoterik. Zu
alle Generationen, d. h. auch für die An-     wirkt es auf den Beobachter erheiternd,         drei Erfahrungsformen von Wald, in: Lehmann und
gehörigen der Nachkriegsgenerationen.         wenn italienische und französische Kultur-      Schriewer (2000), 215–232.
                                                                                              Steinlin, H. (1985): Wald und Mensch heute, in: Bun-
Viele der „jüngeren Leute“, die wir befrag-   anthropologen peu à peu die Übernahme           desanstalt für Arbeitsschutz (Hg.): Humanisierung des
ten, sprachen mit deutlichen Vorbehalten      einer logica „germanica“ ins eigene Natur-      Arbeitslebens in der Forstwirtschaft, Dortmund.
                                                                                              Stifter, A. (1990): Der Waldgänger, Berlin (zuerst 1847).
über den Wald; nicht nur über den Wald als    bewusstsein bestaunen: gewissermaßen            Tournier, M. (1987): Der Baum und der Wald, in: Aka-
politisches Symbol, sondern auch über den     eine „Ver-Protestantisierung“ der Mensch-       demie der Künste (Hg.): Waldungen, Berlin 1987.
Wald als Aufenthaltsort. Das lässt sich am    Natur-Beziehungen. Die Überlegungen             Weber, M. (1968): Wissenschaft als Beruf, in: ders.: Ge-
                                                                                              sammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen
Beispiel der Tätigkeit „Wandern“ veran-       Johlers unterstreichen, dass es notwendig       1968 (zuerst 1919), 582–613.
schaulichen. Die beiden Wörter „Wan-          ist, nicht nur Politik, Wirtschaft und Sport,
dern“ und „Wald“ bringen heute im Be-         sondern auch die Naturvorstellungen im

                                                                                                                                                     9
Das folgenreiche Missverständnis des Tacitus

     Auch der Wald hat seine Geschichte
     Natürliche und kulturelle Bedingungen der Bewaldung Mitteleuropas

     Von Hansjörg Küster

Prof. Dr. Hansjörg Küster ist Professor für
Pflanzenökologie am Institut für Geobo-
tanik der Universität Hannover

Eine einzige Art der „natürlichen“ Bewal-
dung gibt es nicht. Denn Natur ist einem
ständigen Wandel unterworfen, durch
Klimaveränderungen, durch Wande-
rungsbewegungen von Pflanzen und Tie-
ren, durch Eingriffe der Menschen. So
haben sich die Waldbilder Mitteleuropas
über Jahrtausende hinweg verändert, bis
in unsere Gegenwart hinein. Pollenanaly-
sen erlauben es, diesen Wandel zu verfol-
gen. So kann es auch nicht darum gehen,
„naturnahen“ Wald (wieder)herzustellen,
sondern allenfals Wald- und Landschafts-
bilder, die uns vertraut sind und in denen
wir uns wiederfinden können.           Red.

Wie untersucht man die Geschichte
des Waldes?

Geschichte im engeren Sinne befasst sich
ausschließlich mit schriftlichen Quellen,
also mit gedruckten Texten, handschriftli-
chen Urkunden und mit Landkarten. Diese
Quellen sind aber nur aus solchen Zeital-
tern überliefert, in denen Menschen etwas
aufschrieben über den Gegenstand, des-
sen Geschichte man untersuchen möchte.
Über den Wald, in dem und mit dem sie
lebten, schrieben sie lange Zeit nichts auf.
Überhaupt keine Schriftzeugnisse sind aus
vorgeschichtlicher Zeit bekannt; daher ist
diese Periode ja „vor-geschichtlich“. Weni-
ges über den Wald Mitteleuropas erfah-
ren wir aus römerzeitlichen Schriftquel-
len; was damals aufgeschrieben wurde,
gab später Anlass zu mancherlei Fehldeu-
tungen, wovon in diesem Artikel noch die
Rede sein soll. Häufiger wurde etwas über
den Wald erst in den letzten Jahrhunder-
ten aufgeschrieben, als die wirtschaftli-
chen Interessen am Wald immer vielfälti-
ger wurden (vgl. Beitrag Schmidt in die-
sem Heft).                                     Waldweide
Interessiert man sich für die Geschichte des   Vielfältig wurde der Wald seit jeher von den Menschen genutzt, so auch als Weide,
Waldes und des Verhältnisses zwischen          insbesondere für die Schweinemast.
Mensch und Wald in älteren Perioden,                                       Foto: Archiv Landesforstverwaltung Baden-Württemberg
muss man völlig andersartige Geschichts-
zeugnisse auswerten. Man kann sich mit         möglichst Eibenholz zur Herstellung von     bung einer Siedlung, weil dabei die Aus-
den Holzresten befassen, die sich bei          Pfeil und Bogen verwenden sollte und        wahl gewisser Holzarten weniger eine
archäologischen Ausgrabungen finden            Kohle aus Buchenholz die höchsten Tem-      Rolle spielte.
lassen; wenn die Reste gut erhalten sind,      peraturen erzeugte, die man zur Schmelze
kann man die Holzarten mit Hilfe des           von Erz benötigte. Aus den Mengenantei-     Ablagerungen von Pollen in
Mikroskops gut bestimmen (Schweingru-          len bestimmter Holzarten kann man also      Mooren und Seen
ber 1976). Dabei muss beachtet werden,         nur mit Einschränkungen darauf zurück-
dass die gefundenen Reste möglicherwei-        schließen, wie ein Wald insgesamt zusam-    Noch umfassendere Rückschlüsse über die
se von Hölzern stammen, die vom prähis-        mengesetzt war, besonders dann, wenn        Entwicklung der Wälder erlaubt die Un-
torischen Menschen für einen bestimm-          lediglich das für bestimmte Zwecke ausge-   tersuchung von Ablagerungen, in denen
ten Zweck ausgewählt wurden; denn die          wählte Bau- und Werkholz einer Analyse      Pollenkörner erhalten geblieben sind. In
Menschen wussten auch vor Jahrtausen-          unterzogen wurde. Bestimmt man das          den mikroskopisch kleinen Pollen- oder
den schon genau, dass Hütten aus Eichen-       Brenn- und Leseholz, kommt man zu           Blütenstaubkörnern ist die männliche Erb-
holz wegen seines Gehaltes an Gerbstof-        direkteren Rückschlüssen auf die Zusam-     substanz von Blütenpflanzen enthalten. In
fen besonders haltbar waren, dass man          mensetzung von Wäldern in der Umge-         den Körnern wird das genetische Material

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