Der deutsche Wald - DER BÜRGER IM STAAT 51. Jahrgang Heft 1 2001 - Zeitschrift Bürger und Staat
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DER BÜRGER IM STAAT 51. Jahrgang Heft 1 2001 Der deutsche Wald Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg
Herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung DER BÜRGER Baden-Württemberg IM STAAT Schriftleiter Prof. Dr. Hans-Georg Wehling Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Fax (0711) 164099-77 51. Jahrgang Heft 1 2001 hans-georg.wehling@lpb.bwl.de Inhaltsverzeichnis Der deutsche Wald Vorwort 2 Karl-Reinhard Volz Wem gehört eigentlich der Wald? 51 Albrecht Lehmann Mythos Deutscher Wald 4 Helmut Brandl Bäuerlicher Waldbesitz Hansjörg Küster in Baden-Württemberg 59 Auch der Wald hat seine Geschichte 10 Gerd Wegener/Bernhard Zimmer Uwe Eduard Schmidt Holz als Rohstoff 67 Waldfrevel contra staatliche Interessen 17 Dietrich Burger/Barbara von Kruedener Klaus Schriewer Der Wald weltweit – Waldbewusstsein und Waldnutzung: ein Zustandsbericht 73 eine ökologische Wende 24 Das politische Buch 81 Peter Weidenbach Waldbauliche Ziele im Wandel 30 Einzelbestellungen und Abonnements bei der Anke Höltermann/Gerhard Oesten Landeszentrale (bitte schriftlich) Forstliche Nachhaltigkeit 39 Impressum: Seite 72 Ernst E. Hildebrand Bitte geben Sie bei jedem Schriftwechsel Neuartige Waldschäden: mit dem Verlag Ihre auf der Adresse aufgedruckte Legende oder Realität? 46 Kunden-Nr. an.
Der deutsche Wald Deutschland ist ein waldreiches Land. Nahezu forstlicher Nutzung, zwischen Wald und Weide. ein Drittel der Fläche ist waldbestanden. Vor In Konkurrenz zur materiellen, wirtschaftlichen allem aber besteht hier eine besondere Bezie- Nutzung der Wälder in Form von Holz für die hung zum Wald: Wald in Deutschland wird als verschiedensten Zwecke blieb im Wesentlichen deutscher Wald wahrgenommen, als Teil der die Jagd übrig, als herrschaftliches Privileg. deutschen Identität. So hat seinerzeit das prog- Bahnbrechend für die Holzwirtschaft war vor nostizierte „Waldsterben“ uns betroffener ge- allem die Einführung des Prinzips der Nachhal- macht als jedes andere Land: Waldsterben war tigkeit in die Forstpolitik, demzufolge nicht ein deutsches Thema. mehr an Holz eingeschlagen werden darf als Die Wahrnehmung unserer Umwelt, so auch nachwächst. Das Konzept war außerordentlich die Wahrnehmung des Waldes ist kulturell erfolgreich. Das Prinzip der Nachhaltigkeit hat vermittelt. Von besonderer Bedeutung war inzwischen längst über den Forstbereich hinaus hier sicherlich die deutsche Romantik. In zahl- Karriere gemacht: als Prinzip für den Umgang losen Märchen und Sagen spielt der Wald eine mit der Natur überhaupt, verbunden mit dem Rolle. Das 19. Jahrhundert griff auf den römi- Postulat, verstärkt solche Rohstoffe zu nutzen, schen Schriftsteller Tacitus zurück, um den die nachwachsen können. Wald als deutsches Identitätssymbol zu legiti- Doch der Wald ist mehr als ein Reservoir von mieren. Holz für die Energiegewinnung und als Roh- In unseren Köpfen – oder sollten wir besser stoff. Der Wald hat eine ökologische Ausgleichs- sagen: in unseren Herzen? – haben wir ausge- funktion, reguliert den Wasserhaushalt, dient prägte Wald-Bilder, von Kindheit an uns vermit- dem Boden- und Klimaschutz. Diese ökologi- telt. Im Wald suchen wir uns selbst wieder zu schen Funktionen sind in den letzten Jahrzehn- finden, mit unseren Vorstellungen davon, was ten immer stärker in den Vordergrund gerückt, als schön und richtig anzusehen ist. Mit uns angesichts der Gefährdungen unserer Umwelt zusammen hat unsere Wald-Wahrnehmung und unseres Bewusstseins davon. So hat denn Geschichte, ist dem Wandel unterworfen, schon auch innerhalb des Naturschutzes selbst ein zwischen den Generationen. Paradigmenwechsel stattgefunden: weg vom Selbstverständlich hat auch der Wald in Deutsch- Schutz einzelner Arten zum Systemschutz, des land selbst seine Geschichte: bestimmt einmal Ökosystems als Ganzem. Nicht zuletzt die gewal- durch die geomorphologischen, mehr noch tigen Sturmschäden der letzten Jahre, aber auch durch die klimatischen Bedingungen, die über die Gefährdungen des Waldes durch Schadstoff- lange Zeiträume hinweg sich geändert haben. einträge, die unter dem Namen „Waldsterben“ Markantes Ereignis stellt dabei die Eiszeit dar, bekannt geworden sind, haben ein Umdenken innerhalb derer nur bestimmte Pflanzen in be- gefördert. Stärker in den Vordergrund getreten günstigten Inseln überleben konnten. Danach ist inzwischen auch die soziale Bedeutung des wanderten neue Pflanzenarten ein, allerdings Waldes. Wald dient der Erholung, mit einem mussten sie den Sperr-Riegel der Alpen überwin- Zugangsrecht für alle. den, was der Artenvielfalt Grenzen setzte. Die Forstpolitik hat entsprechend reagiert. Als In massiver Weise griffen zudem die Menschen Leitbild der Forstpolitik gilt nunmehr der natur- in den Wald ein und bestimmten damit sein nahe Wald. Zudem gilt Nachhaltigkeit nicht nur Erscheinungsbild, gesamthaft und in seiner ökonomisch, sondern auch für die ökologischen Zusammensetzung im Einzelnen – durch Roden, und sozialen Funktionen des Waldes. Ackerbau, Weidenutzung, Holzgewinnung. Das beinhaltet für die Waldbesitzer wirtschaftli- Insofern ist die Geschichte des Waldes zugleich che Nutzungsbeschränkungen, die für den Staat auch die Geschichte der Nutzung des Waldes oder die Kommunen leichter zu tragen sind als durch die Menschen, mithin Teil der menschli- für die vielen privaten Waldbesitzer, in deren chen Geschichte. Händen sich immerhin fast die Hälfte des Waldes Seit der Aufklärung wurde von Staats wegen in Deutschland befindet. Darunter sind nicht gezielt Forstpolitik betrieben: zur Sicherstellung zuletzt viele landwirtschaftliche Betriebe, für des Rohstoff- und Energiebedarfs angesichts die der Wald eine wichtige wirtschaftliche Aus- zunehmend schwindender Wälder. Zum Nutzen gleichsfunktion besitzt. Das gilt beispielsweise des Waldes wurden klare Abgrenzungen vorge- für den Schwarzwald, in dem viele Betriebe nur nommen, zwischen landwirtschaftlicher und deshalb überleben können, weil sie auch über 2
Waldbesitz verfügen. Diese Betriebe brauchen delt, in Holz. Folglich ist die Verwendung von eine Überlebenschance, auch wenn ihr unmittel- Holz ökologisch nützlich, ferner ist Holz ein barer Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt nicht hervorragender Grundstoff über die unmittel- allzu hoch ist. Hinzu kommt im Schwarzwald bare Nutzung hinaus, für die Papier- und Textil- eine Fülle Holz verarbeitender Betriebe in industrie, selbst für die chemische Industrie. unmittelbarer Nähe. Vor allem aber lebt der Zudem erfüllt Holz in idealer Weise ökologische Fremdenverkehr davon, dass der Schwarzwald Anforderungen an die Produktion: Zur Gewin- eben ein Waldgebiet ist, mit dem charakteristi- nung von Materialien aus Holz sowie für die schen Wechsel von Wiesen, Weiden und Wald Beseitigung von Produkten, die aus dem Roh- sowie behäbigen Schwarzwaldhöfen. Diese wie- stoff Holz gewonnen sind, wird nur ein Mindest- derum können ihre landschaftspflegerische und maß an fossilen, nicht erneuerbaren Energieträ- ökologische Aufgabe nur erfüllen, wenn sie gern gebraucht. Vor allem ist Holz ein Rohstoff, wirtschaftlich lebensfähig sind. der nachwächst – und dabei gleichzeitig die Nimmt man alles zusammen, dann ist der Bei- Umweltqualität erhöht. trag des Waldes zum Bruttoinlandsprodukt also Die Wälder unserer Erde dienen dem Boden- wesentlich höher als es auf den ersten Blick und Gewässerschutz sowie der Stabilisierung erschienen ist. Kaum zu bemessen, kaum zu des Klimas. Darüber hinaus bewahren sie überschätzen ist vor allem der Beitrag des Wal- die Artenvielfalt, stellen ein genetisches Re- des für das Ökosystem. Das gleiche gilt für den servoir ungeheuren Ausmaßes dar. Doch die Erholungs- und Erlebniswert, den der Wald dar- Wälder sind weltweit bedroht – durch den stellt. Auch er ist nicht in Geld zu messen. Menschen. Weltweit ökologisch aufgewertet ist der Wald So gesehen ist Forstpolitik nicht nur ein Thema durch die globale Bedrohung unserer natürli- für Forstleute und Waldbesitzer. Forstpolitik ist chen Lebenswelt. So vermag der Wald CO2 zu ein Thema für Politik ganz allgemein, wenn sie binden und leistet damit einen beträchtlichen über den Tag hinaus denkt, und sie ist mithin ein Beitrag zur Verminderung des Treibhauseffek- Thema für die politische Bildung. tes. Schadstoffe werden so in Rohstoffe verwan- Hans-Georg Wehling 3
Natur und Kultur begegnen sich im Wald Mythos Deutscher Wald Waldbewusstsein und Waldwissen in Deutschland Von Albrecht Lehmann Prof. Dr. Albrecht Lehmann ist Direktor te stadtrömische Leserschaft bestimmt. dig politisch gemeint. Doch sind sie seit des Instituts für Volkskunde der Univer- Von den Romantikern um Jacob Grimm der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sität Hamburg. wurde die Germania als historische Quelle und in der Zeit des Nationalsozialismus ernst genommen. Bis in die erste Hälfte sehr wirkungsvoll politisch instrumentali- Die Deutschen sind das „Waldvolk“ des 20. Jahrhunderts wurde sie von siert worden. Es ist nicht verwunderlich, schlechthin. Der Wald ist für sie Identitäts- Germanisten, Volkskundlern und beson- dass nach dem Ende des nationalsozialisti- symbol. Verständlich so, dass das „Wald- ders von Lehrern der unterschiedlichen schen Systems ein mythologisch begrün- sterben“ sie zutiefst treffen musste. Im Schularten als historische Tatsache vermit- deter Glaube an den Wald als Ursprungs- Kontrast dazu steht, dass das Waldwissen, telt. Sie war damit zum Ursprungsmythos mythos obsolet werden musste. Dabei aber auch die Waldnutzung in Deutsch- für die Deutschen geworden. werden „unsere Wälder“ immer noch land verhältnismäßig gering sind. Den In Ursprungsmythen wirken Geschichts- besungen und wegen ihrer Schönheit Wald nimmt man von den eigenen kultu- wünsche und Geschichtsvorstellungen in geliebt. Hier wird ein Zwiespalt erkenn- rellen Prägungen her wahr: als Landschafts- eine Gesellschaft hinein. Sie fungieren als bar: Infolge der Geschichte des 20. Jahr- kulisse, als harmonisches Zusammenleben Bilder, in denen Völker ihre Vergangen- hunderts ist der Wald als politisches Sym- altersverschiedener Bäume und Baum- heit deuten und gegenwärtig halten (Lan- bol, wie andere Optimismus und Stärke arten. Inzwischen ist ein Wandel zu einem gewiesche 1999, 614). Ursprungsmythen ausdrückende Nationalsymbole, fragwür- eher „französischen“ Waldverständnis zu sagen viel über den mentalen Zustand dig geworden. Aber seine Bedeutung als beobachten, das verstärkt den individuel- einer Gesellschaft oder Nation aus. Die Natursymbol hat der Wald behalten! Von len Baum wahrnimmt. Gleichzeitig aber fatale Voraussetzung bei der Verwendung diesem Zwiespalt handelt mein Artikel. gibt es in Frankreich und Italien eine Ten- des deutschen Waldmythos im 19. und Vor allem handelt er vom heutigen Wald- denz zum „deutschen“ Waldverständnis, 20. Jahrhundert lag in einer Kontinuitäts- bewusstsein, d. h. von den Waldgefühlen das den Wald als Ganzes sieht und liebt. vorstellung. Über alle historischen Ent- und dem Waldwissen in der gegenwärti- Red. wicklungen – Kriege, soziale Veränderun- gen Bevölkerung (Lehmann 2001); außer- gen und technische Revolutionen hinweg dem von der tatsächlichen Nutzung der Mythengeschichte: unsere Herkunft – wurde eine Identität der Deutschen des Wälder als Aufenthaltsort. Beim Waldbe- aus undurchdringlichen Wäldern Jahres 1900 oder 1920 mit den alten Ger- wusstsein geht es also nicht vordringlich manen unterstellt: „Wir erfahren von Taci- um biologische Tatbestände, nicht darum, Wer wissen will, wie der Wald zum Mythos tus, mit welch heiliger Scheu die Germa- ob die Forste tatsächlich gesund oder der Deutschen wurde, muss sich weit in die nen ihre Wälder betraten. Noch heute krank sind, wie die Tiere in ihnen leben Geschichte zurück denken. Am Anfang wirkt die Stille oder das Rauschen der etc. Für die Kulturwissenschaft geht es steht der altrömische Historiker und Eth- Bäume tief auf das Gefühl des Volkes ein“, stattdessen um Menschen mit ihren diver- nograf Tacitus; vor allem aber dessen hatte ein bekannter Germanist verkündet sen Wünschen, Kenntnissen, Interessen Interpretation durch die Mythenfor- (Mogk 1921, 31). und Erfahrungen. schung des 19. Jahrhunderts. Seine Ger- Im 19. Jahrhundert war dieser als un- Die wichtigste Grundlage des Artikels ist mania, um das Jahr 100 unserer Zeitrech- korrigierbare Tatsache genommene Ur- ein Hamburger volkskundliches For- nung verfasst, war im 15. Jahrhundert sprungsmythos sehr materialreich durch schungsprojekt (Lehmann 1999; Lehmann/ wieder aufgefunden worden. Als Jacob Forschungen „bewiesen“ worden, etwa Schriewer 2000). Etwa 130 Männer und Grimm und andere Romantiker aus von dem Germanisten und Mythologen Frauen – zu gleichen Teilen „waldfern“ in Mythen und Sagen eine verborgene Wilhelm Mannhardt in seinen Wald- und norddeutschen Großstädten und „wald- Geschichte der Deutschen rekonstruieren Feldkulten. In den aus Volkserzählungen nahe“ in ländlichen Gebieten lebend – wollten, erhoben sie dieses Werk zum rekonstruierten Glaubensvorstellungen wurden ausführlich in offenen Interviews ältesten deutschen Geschichtsbuch. Wie der Germanen und ihrer Nachbarstämme über ihre Ansichten und über ihr Waldwis- bei ethnografischen Berichten bis heute suchte und fand dieser hochgelehrte sen befragt. Außerdem wurden viele üblich, lag auch bei der Germania der Reiz Mann in Wald und Feld eine mythische andere Quellen in die Untersuchung ein- für die Leser nicht vornehmlich in der Welt voller Dämonen vor. Diese Geistwe- bezogen. Wir gingen von der Vorausset- Beschreibung fremdartiger Landschaften, sen beseelten Steine, hielten sich in Bäu- zung aus, dass sich das Waldbewusstsein sondern in den Erzählungen über die men und Flüssen auf. Besonders wohl aber nicht allein aus Waldspaziergängen, Wan- darin lebenden merkwürdigen Leute mit sollen sich die Geister in den deutschen derungen und Picknicks am Waldrand her- ihren exotischen Gebräuchen. Wäldern gefühlt haben: „Noch heute leitet, sondern außerdem aus der Hoch- Tacitus hatte seinen römischen Lesern von guckt fast aus jeder Ecke und aus jedem und Unterhaltungsliteratur, aus Gedich- den riesigen Urwäldern im germanischen Baumstumpf ein Spukgesicht heraus und ten, Märchen und Romanen, aus Malerei, Norden erzählt und vor allem von der erschreckt die armen Leute, die dort Lese- Musik und Massenmedien: vom vertonten Furcht der Bewohner „Germaniens“ vor holz suchen“ (Mannhardt 1875, 43). Wer Eichendorff-Gedicht über die Bilder eines dem Betreten bestimmter Waldbezirke. im Jahre 2001 über solche Vorstellungen Caspar David Friedrich und seiner Epigo- Vom Standpunkt der Mythenkunde des heidnisch-germanischer Kulturüberliefe- nen; von Walt Disneys Bambi-Film bis zum 19. Jahrhunderts aber war der Hinweis auf rung lächelt, sollte an das gegenwärtige jährlichen deutschen „Waldschadensbe- den mutmaßlichen Glauben der Germa- Esoterikangebot denken, etwa an die richt“. Es kam uns in unserem Projekt da- nen an den Ursprung ihrer Stämme wich- Neuen Heiden. Die Wirklichkeitsbilder der rauf an, „soziale Kulturerscheinungen aus tig, auf ihre geheimnisvolle Herkunft aus Mythologen des 19. Jahrhunderts haben den Bedingungen ihres Entstehens“ zu undurchdringlichen dunklen Wäldern. in diesen Milieus gerade wieder Konjunk- erklären (Weber 1968, 600). Diese Erzählung war von Tacitus und viel- tur (Lehmann 1999, 181ff.). leicht sogar von seinen germanischen Romantische Seelenlandschaften Informanten als ein Ursprungsmythos Natursymbol und politisches Symbol gedacht. Sie war als der Mythos eines Wie die politische Waldmythologie, so wilden, unzivilisierten Volkes von ihm auf- Die Mythenbilder der romantischen Ger- entstammen auch die kulturellen Muster gezeichnet worden und für eine zivilisier- manenforscher waren nicht vordergrün- des heutigen Waldbewusstseins, welche 4
die Medien der Hochkultur vermitteln, der Epoche der Romantik. Auch diese kulturel- len Bilder waren ein Ergebnis der städti- schen Intellektuellenkultur. Zur Lebens- weise der Intellektuellen des frühen 19. Jahrhunderts gehörte die räumliche und geistige Distanzierung von den Unbilden der Natur (Elias 1986). Es bedurfte erst der Sicherheit der Städte, um das Gefühl romantischer Natursehnsucht zu empfin- den. Dazu gehörte von Anfang an die Erfahrung des Verlustes: des persönlichen lebensgeschichtlichen Verlustes eines Erfahrungsraumes, aber auch des Verlus- tes eines Teils der natürlichen Umwelt. Die Wälder der romantischen Dichter und Maler waren Seelenlandschaften, Erinne- rungswälder, die diesen städtischen Intel- lektuellen bereits als Wohnort verloren gegangen waren. Als der Maler und Schriftsteller Adalbert Stifter seine berühmte Erzählung Hochwald (1842) schrieb, lebte er in Wien. Jahrelang blieb er den böhmischen Wäldern seiner Erzäh- lungen fern. Die meisterhaften Naturbe- schreibungen schildern eine geträumte Landschaft aus der Kindheit. Wie es sein Biograf Wolfgang Matz (1995, 152) aus- drückt, war der Hochwald „die Natur- fantasmagorie eines Städters“. Dabei waren die Wälder in Mitteleuropa damals längst keine unberührten Naturlandschaf- ten mehr, sondern wirtschaftlich intensiv genutzte Flächen. Infolge wirtschaftlicher Übernutzung befand sich der Wald an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in einer erbärmlichen ökologischen Situati- on. Die heutigen Waldzustände nehmen sich im Vergleich dazu idyllisch aus. Der Wald der Bauern war nicht „romantisch“ Das romantische Landschafts- und Wald- gefühl war in den intellektuellen Eliten entstanden. „Natur als Landschaft ist Frucht und Erzeugnis des theoretischen Geistes“ (Ritter 1974, 146). Die waldnahe lebende Bevölkerung auf den Dörfern konnte mit den forstgeschichtlichen und waldästhetischen Vorstellungen der Gebildeten zunächst nicht viel anfangen. Der Wald war für die bäuerliche Wirt- schaft primär ein Nutzungsraum für Die Deutschen als Waldvolk Brenn- und Bauholz. Hinzu kamen diverse Das Volk aus den Wäldern besiegte die römischen Feinde: Hermann der Cherusker und bäuerliche „Nebennutzungen“. Sie reich- sein Denkmal im Teutoburger Wald, nicht zufällig im 19. Jahrhundert errichtet und in ten von der Imkerei und der Weide bis zum Beisein von Kaiser Wilhelm I. im Jahre 1875 eingeweiht. Beerenpflücken und Harzzapfen (Radkau Foto: Landesverband Lippe 2000). Volkskundler „wissen“ es heute nicht mehr so genau wie vor 100 Jahren: Gegend überhaupt nur dann besuchten, Maler in die Realität des forstlichen Wald- Aber vielleicht glaubten viele auf den Dör- wenn dort gerade wieder einmal Nutzholz baus übertragen. Wie auf den Ölgemälden, fern, wie es Wilhelm Mannhardt be- „ausgeteilt oder ausgewiesen“ wurde sollten Steine, Bäche, stattliche Bäume zum schrieb, damals wirklich daran, dass in den (Stifter 1990, 26). „Schmuck der Waldungen“ werden. Hein- Bäumen des Waldes, in Felsen und Hügeln rich von Salisch, einer der Gründer der Forst- Geister und Dämonen hausen. – Die Naturgenuss dem Kunstgenuss ästhetik, sah den Naturgenuss als gleich- „Waldeinsamkeit“, die Ludwig Tieck zum gleichgestellt: die Verbreitung des wertig neben dem Kunstgenuss an. Der „Schlagwort“ der Romantik gemacht romantischen Waldbewusstseins Besuch eines Waldes sollte für ihn zum hatte, wurde zunächst in den unteren Äquivalent eines Museumsbesuchs wer- Schichten keineswegs als heimelig und Die Schönheitsvorstellungen der malen- den. Der schlesische Forstbesitzer von Sa- erholsam empfunden. Darauf weisen viele den und schreibenden Romantiker breite- lisch entwickelte am Beispiel des Waldes regionale Sagen hin, die z.B. von der Angst ten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts rasch eine „Farbenlehre der Landschaft“ (von Sa- der Waldarbeiter in den Mittags- und in der Bevölkerung aus. Zunächst erreich- lisch 1902, 39, 51, 116f.) mit feinen Abstu- Abendstunden erzählen. Für die Schön- ten sie das Forstwesen. Dafür ist die wissen- fungen der Laub- und Grüntöne, des Was- heit eines Waldes oder eines Flusses hat- schaftliche Forstästhetik ein Beispiel. Die sers, Laubes und Mooses. Doch auch der ten die Bewohner der Dörfer vermutlich Exponenten dieser angewandten Kultur- Waldgeruch und die „Stimmen des Wal- keinen Sinn. Adalbert Stifter erzählt wissenschaft wollten die Landschaftsvor- des“ – Windgeräusche und der Vogelgesang davon, dass die Bauern die Wälder ihrer stellungen der romantischen Dichter und – gehörten zu seiner Ästhetik des Waldes. 5
Eine bemerkenswerte Kontinuität romantischen Bewegung, also in der Mitte „Kulturfrau“ – tatsächlich die damalige des Waldbewusstseins, schicht- des 19. Jahrhunderts, eingesetzt. In der Bezeichnung für Waldarbeiterinnen – übergreifend Zeit des aufkommenden Nationalismus gerade damit beschäftigt, einen Eichen- wurde der deutsche Wald zunehmend zu schössling als Symbol einer verheißungs- Dieses romantische Bild bestimmt bis heu- einem politischen Symbol. Die Liebe zu vollen Zukunft einzupflanzen. Immerhin: te das Waldverständnis der Bevölkerung. den schönen, wilden Wäldern wurde von Die Deutsche Mark ist schließlich zu einer Über alle sozialen Konflikte und Klassen- nationalistischen Publizisten zu etwas unbezweifelbaren Erfolgsstory und ver- gegensätze der Industrialisierungsepoche exklusiv Deutschem, zu einer wesentli- mutlich zum eigentlichen politischen hinaus breitete es sich im 19. Jahrhundert chen Dimension ihres Nationalcharakters Nationalsymbol – zumindest der West- aus. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte erklärt. Durch diesen intellektuellen deutschen – geworden. die Vorstellung vom Wald als Ort der Muße Kunstgriff wurden die Deutschen zu dem und als Symbol der menschlichen Eintracht Waldvolk Europas. Mochten die anderen Das „Waldsterben“ wurde mit der Natur durch Schule und Journalis- Völker, vor allem die Engländer und Fran- zur Metapher einer weltweiten mus – nicht zuletzt auch durch die Insti- zosen, doch ihre Parks und Ziergärten lie- Umweltkatastrophe tutionen der Arbeiterbildung – die Schicht ben, das taten ja auch die Deutschen. Sie der Industriearbeiter erreicht. Adolf Le- hatten aber außerdem den „deutschen Sind die Deutschen immer noch das Wald- venstein veröffentlichte 1912 seine Arbei- Wald“, etwas Einmaliges. volk, das sie im 19. und in der ersten Hälfte terfrage, ein Werk, das auf eine empirische Dieser politischen Waldideologie lag die des 20. Jahrhunderts im eigenen Selbstbild Erhebung unter 8.000 Arbeitern zurück- Vorstellung zugrunde, dass sich National- und auch im Fremdbild ihrer Nachbarn ging. „Was denken Sie, wenn Sie auf dem charaktere als kollektive Identitäten von sein sollten? – Verhalten sie sich tatsäch- Waldboden liegen, ringsum tiefe Einsam- Stämmen und Völkern nicht allein aus der lich so, wie es Elias Canetti 1960 über sie keit?“, wollte er wissen. Die schriftlichen gemeinsamen Geschichte, sondern auch schrieb? „Das Rigide und Parallele der auf- Antworten lassen erkennen, wie der Wald aus der Bodenbeschaffenheit ableiten. recht stehenden Bäume, ihre Dichte und in der Bevölkerung bereits zum Gesamt- Darauf bezog sich Wilhelm Heinrich Riehl ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen symbol für Natur geworden war. Ein Berli- (1894, 50–57), der einflussreichste Wald- mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er ner Textilarbeiter versuchte, seine Gefühle ideologe des 19. Jahrhunderts. In Deutsch- sucht den Wald, in dem seine Vorfahren im Stil romantischer Dichtung auszudrü- land bestimme der Wald immer noch das gelebt haben, noch heute gern auf und cken: „Ja. Ich liege im Moos und blicke em- Bild der Landschaft. Dichte Wälder symbo- fühlt sich eins mit den Bäumen“ (Canetti por zum reinen Firmament, nichts regt sich, lisierten für ihn die Wildnis der Natur. Bei 1960, 195). nichts stört mich, ein unendlich wohliges anderen Völkern, speziell in den Konkur- Wer nach den Gründen für die Karriere des Gefühl durchzieht die Brust, ich fühle es, renznationen Frankreich und England, wo Themas „Waldsterben“ in den Massenme- wie ich langsam wieder Mensch werde, wie die Wälder schon früh gerodet worden dien und im Bewusstsein der Bevölkerung ich zur Natur zurückkehre, wie ich wieder waren, bestimme nicht die natürliche in den 1980er-Jahren fragt, wird kaum eins werde mit dem großen, unendlichen Kraft rohen Volkstums den Kulturstil, son- daran vorbeikommen, den Waldmythos in All“ (Levenstein 1912, 370). dern die Ordnung der Zivilisation. Die Betracht zu ziehen und die romantischen Diese Schilderung eines subjektiven Ge- Nachbarvölker des Westens seien mithin Angebote unseres Waldbewusstseins un- fühls ist inzwischen fast einhundert Jahre in ihre kulturelle Endphase eingetreten, ter die Ursachen dieser kollektiven Erre- alt. Unsere Hamburger Untersuchungen ins Stadium eines „halbwegs ausgelebten gung zu zählen. Der Untergangsmythos lassen keinen Zweifel: Bis in die Sprach- Volkstums“. Sein Fazit: In der Wildnis der vom „Waldsterben“ erreichte offenbar muster hinein artikuliert sich das heutige deutschen Wälder ruhe nicht nur ihre völ- wirklich verborgene seelische Schichten. Waldbewusstsein auf so romantische Wei- kische Vergangenheit, dort liege auch die Die Angst vor dem Verlust kultureller Tra- se. Was hier Klischee ist und was erlebtes Verjüngungskraft ihrer Zukunft verbor- ditionen gehört ohnehin zu den Motiven Gefühl, ist eine rein akademische Frage, gen. der Romantik. Wie schon die romantische denn die Vorgaben des Bewusstseins wir- Bewegung und ihre Waldliebe, so war ken stets in unsere Wahrnehmungen und Ein Waldvolk ist auch rassisch dann auch die Angst vor dem Waldsterben Gefühle hinein. Wenn man allerdings die überlegen: der Nationalsozialismus zunächst ein Phänomen der Städte (Holz- politischen und sozialen Entwicklungen in berger 1995; Lehmann 1999, 263ff.). Je na- Deutschland in den vergangenen neunzig Solch eine politische Waldsymbolik des turferner die Bevölkerung lebte, desto ge- Jahren in Betracht zieht, ist diese Konti- 19. Jahrhunderts passte ausgezeichnet ins wisser war sie sich des Verlustes der Wälder nuität des Waldbewusstseins ein bemer- völkisch-politische Konzept der National- und gelegentlich des daraus resultieren- kenswerter Tatbestand. Die Frage nach den sozialisten. Die von den Waldideologen den Untergangs der ganzen Menschheit. Funktionen dieser und anderer romanti- verkündete Kraft und Ursprünglichkeit Wohl kaum in deutschen Dörfern, aber scher Bewusstseinsvorgaben in der Gegen- eines Waldvolkes ließ sich als rassisch überall in den Großstädten fand sich der wart bedarf weiterer Untersuchungen. bedingte Überlegenheit innerhalb der populäre Wandspruch „Erst stirbt der Zum damaligen Naturbewusstsein zählte europäischen Völker interpretieren (Hel- Baum, dann stirbt der Mensch“. Dem deut- außerdem eine quasi moralische Dimen- bok 1937, 680–691). Gelegentlich gingen schen Wald wurde in den 1980er-Jahren sion. Levenstein fand im Waldgefühl seiner wissenschaftliche Publizisten noch weiter. von vielen Journalisten nur noch eine kurze Arbeiter, dass sie dem Zusammenspiel der Sie wollten eine Parallele zwischen dem Zeit des Überlebens verheißen. „Schauen unterschiedlichen Lebensformen in der deutschen Volk und seinen Wäldern krei- Sie sich ihn noch einmal an. Bald gibt es den Natur vielfach eine höhere Moral zuspra- ieren, der Bevölkerung den Wald als sozia- deutschen Wald nicht mehr“, galt als eine chen als den Sozialbeziehungen in der les Vorbild anbieten. Der Wald als Erzieher wissenschaftlich gesicherte journalistische menschlichen Gesellschaft: Natur als lautete der Titel eines Buches, welches Aussage. Rudi Holzberger (1995) hat in Wunschtraum und Modell für eine glückli- eine Parallele zwischen Baum und Mensch seiner Untersuchung des journalistischen chere Zukunft. Auch dieser Gegensatz Na- und zwischen Wald und Volk entwickelte Diskurses über das „Waldsterben“ die Me- tur-Kultur-Gesellschaft wirkt bis heute. Die (Mammen 1934). Kaum zu glauben: Das dienkarriere des Themas minutiös analy- harmonische, wie von Künstlerhand ge- Werk war ernst gemeint. siert. Als Forstwissenschaftler und Umwelt- ordnete Natur des Waldes, seine Ein- Die politische Bewirtschaftung deutscher schützer im Jahre 1978 aufgrund ihrer samkeit und Stille fungieren noch immer Mythen, also auch des Mythos vom deut- ökologischen Untersuchungen zum ersten als Gegenentwurf zur unübersichtlichen schen Wald, ist nach dem Zweiten Welt- Mal Hinweise auf den bedrohlichen Zu- Groß stadt und zur Welt der Technik. krieg bald an ihr Ende gekommen. Freilich stand vieler Wälder gaben, reagierten die mochte selbst die symbolängstliche Bun- Presse und das Fernsehen ungewöhnlich Die Liebe zum Wald wurde zu etwas desrepublik am Anfang noch nicht völlig schnell. Zwei bis drei Jahre später be- exklusiv Deutschem auf die Symbolkraft des Waldes und des stimmte das Thema die gesamte Diskussion deutschen Eichbaums verzichten. Das über Natur. Wer als Wissenschaftler zur Die politische Instrumentalisierung der Eichblatt ziert bis heute jede Münze vom Vorsicht vor einem ungebremsten Alarmis- romantischen Idylle aus Malerei und Dich- 1-Pfennig- bis zum Markstück. Und auf der mus warnte, hatte keine Chance, in den tung hatte bereits kurz nach dem Ende der Rückseite der 50-Pfennig-Münze ist eine Medien überhaupt zur Kenntnis genom- 6
Bäume, Wald und Hochgebirge: deutsche Seelenlandschaften. Foto: Helga Wöstheinrich men zu werden. Der „sterbende“ Wald war Krankheiten erfüllen uns mit Sorge. Aber die Ränder der Waldwege. Wer die Schön- zur Metapher für eine weltweite Umwelt- trotz allem: Ein „durchschnittlicher“ Groß- heit eines Waldes beschreibt, mag kaum katastrophe geworden. städter stellt allenfalls ein- bis zweimal im auf die Schilderung ihrer frischen Farben Inwieweit damals erwachsene Leute Jahr sein Auto für einen Spaziergang am verzichten und auch nicht auf die Atmo- ernsthaft an die minutiös aufgelisteten Waldrand ab (Ammer und Pröbstl 1991). sphäre, die sie verbreiten. Vor allem inte- Schreckensszenarien dieses Todesmythos Das Waldwissen kann bei derartig redu- ressiert das – als eine Art wahrgenomme- glaubten, ist eine offene Frage. Auch bei zierten Formen des „Waldkonsums“ kaum ne – Moos aber in seiner Funktion als Kis- anderen Mythen ist die Frage der individu- von Naturbeobachtungen stammen, sen. Fast jedem fällt unverzüglich das ellen Glaubensbereitschaft schwer zu be- zumal auch der Biologieunterricht in den Wort „Moospolster“ ein. antworten. Doch die Tatsache, dass im My- letzten Jahrzehnten nur sehr selten in frei- thos vom „Waldsterben“ der alte Mythos er Natur gehalten wird. Tatsächlich wissen … genau so pauschal wie von den Deutschen und den ihre Kultur nur wenige etwas Genaues über die das Tierwissen und das Leben spendenden Wäldern nach- Lebensverhältnisse in den Wäldern (Stein- hallte, ist kaum zu bestreiten. In den lin 1985). Sieht man von den „Waldpro- Ähnlich pauschal ist das Tierwissen. In Nachbarländern, vor allem in Frankreich, fis“, also von Forstleuten, Biologielehrern deutschen Wäldern leben etwa 100 Vogel- staunten die Journalisten über diesen neu- usw. ab, finden sich die meisten Kenner arten. Davon „singen“ fünfzig bis sechzig. erlichen Ausbruch deutscher Angst. Inzwi- des Waldes unter Pilzsammlern, Fotogra- Das sind die Singvögel. „Irgendwie ist be- schen ist die Gewissheit über das Sterben fen, Vogelkundlern. Unsere Untersuchun- kannt“, dass es davon verschiedene Arten der Wälder selbst in den Publikationsorga- gen zeigen: Außerhalb der Gruppen die- gibt. Einen einzelnen Singvogel zu bestim- nen, die damals dem Wald nur noch einige ser Hobby-Waldkenner kann nur eine men, fällt aber bereits unter das Speziali- Überlebensjahre geben wollten, einer Minderheit mehr als vier oder fünf Baum- stenwissen der Ornithologen. Doch jeder nüchternen Beobachtung gewichen: „Ge- arten bestimmen. Für viele ist jeder Nadel- liebt die fleißigen Sänger. Ihre Stimmen nerelle Urteile über die Auswirkungen der baum eine „Tanne“. Dass Bäume über- gehören unverzichtbar zum Naturgenuss. Eingriffe der Menschen in das neben den haupt unter die Pflanzen fallen, ist in der Das war zur Zeit des Tiervaters Alfred Ozeanen wichtigste Ökosystem der Erde verbreiteten Alltagsbotanik nur selten Brehm nicht anders: „Die Singvögel sind es, sind nicht möglich“ (Paper news 1996; bekannt (Stachow 2000, 218ff.). Denn als die der Waldesdichtung das rechte Wort Küster 1998, 220ff.). Pflanze gilt hier zunächst etwas Krautiges, leihen und zum Wort den rechten Klang zu d. h. Gewächse, die kein Holz bilden. Auf finden wissen; ihnen zumeist dankt der Pauschal ist das Waldwissen … der Basis dieses populären Klassifikations- Wald die Liebe, mit der wir an ihm hängen“ musters setzt sich die Waldflora aus Bäu- (Brehm 1947, 3). Wenn die Singvögel in je- Wer sich an einem beliebigen Wochentag men, Pflanzen, Pilzen und Moosen zusam- dem Winter fast völlig verstummen, stei- und selbst am Wochenende tiefer als 500 men. Jeder weiß natürlich, dass es essbare gert sich die melancholisch-depressive Meter in einen Wald abseits der großen und giftige Pilze gibt. Und den Fliegenpilz Stimmung, die ohnehin zum Besuch eines Städte hineinbegibt, stellt fest, dass er sich kennt auch jeder – aus den Illustrationen schneefreien, wolkenverhangenen Win- dort in einer fast menschenfreien Zone des Kinderbuchs. Aufgrund dieser frühen terwaldes gehört. Die Waldvögel gelten im bewegt. Wir können also in den Wäldern literarischen Erfahrung ist dieser Pilz selbst populären Waldbewusstsein vielfach in ih- immer noch die Waldeinsamkeit genie- ein Symbol des „deutschen Waldes“ rer Gesamtheit als gefährdete, vom Aus- ßen, von der die romantischen Dichter so geworden. Zu den Favoriten zählt neben sterben bedrohte Lebewesen. eindrucksvoll geschwärmt haben. Der Steinpilz und Marone der Pfifferling. Alle Nicht nur die Vögel, sondern auch die at- Wald wird immer noch wegen seiner drei – Pilze des Wochenmarktes. traktiven Säugetierarten sind in diesem Schönheit geliebt und besungen. Seine Moose schmücken in großer Artenvielfalt Waldverständnis gefährdet. Man muss sol- 7
che seltenen Tiere von Staats wegen schüt- zen. Andernfalls sterben sie in bestimm- ten Regionen aus und müssen danach, wie es bei Luchs und Auerhahn inzwischen praktiziert wird, wieder mühevoll angesie- delt werden. Eine Auffassung wie diese lässt sich aus den in der Bevölkerung übli- chen Umständen des Waldbesuches ablei- ten, z. B. aus der Wahl der Tageszeit beim Spaziergang. Denn bei einem der üblichen mittäglichen Waldbesuche lassen sich fast nie attraktive Tiere, z. B. Wildschweine, Hir- sche, Dachse beobachten. Das führt viel- fach zu der Überzeugung, diese Arten seien nicht mehr ausreichend zwischen den Tan- nen und Buchen vorhanden. Dabei liegt die Ursache des „Fehlens“ dieser Tiere in der unterschiedlichen Tageseinteilung bei Wildtieren und Menschen: Frühmorgens oder in der Dämmerung, wenn Hirsche und Dachse unterwegs sind, ist der menschliche „Normalnutzer“ des Waldes zu Hause. Die verbreitete Vorstellung von der existen- ziellen Bedrohung der Waldtiere ergibt sich also aus der Tatsache, dass das heutige Waldbewusstsein weitgehend nicht auf alltäglicher Naturerfahrung beruht, son- dern auf selektiv wahrgenommenen Infor- mationen aus den Massenmedien. Die Ökologie fungiert als Arzt Weidebäume In freier Lage konnten sie sich zu vollendeter Schönheit entwickeln. Sie boten den Tieren Die Vorstellung von der „essentiellen Güte Schutz, manchmal auch noch Nahrung. der Natur“ (Elias1986, 476) bestimmt heute Foto: Archiv Landesforstverwaltung Baden-Württemberg das gesamte Naturbewusstsein, also auch das populäre Waldbewusstsein. Das Wort Wald nach dem Bild der Familie: Am Boden modernde Stämme und Äste Natur wird primär als „Lobwort“ verwen- wo Vater, Mutter, Kinder einträchtig drücken in Gemälden bis in die Gegenwart det. Ökologie firmiert im Alltag nicht als zusammen leben hinein nicht die Harmonie in der Natur Bezeichnung einer Forschungsrichtung aus, sondern eher das Chaos und den Nie- (Stachow 2000, 230), sondern fast aus- Die Monokulturen der Fichte, die heute dergang. Hier zeigt sich wiederum, wie schließlich als Synonym für Schadenskun- immer noch etwa die Hälfte der Wälder in tradierte kulturelle Muster das gegenwär- de. Sie ist ein Teilbereich des Umweltschut- Deutschland bestimmen, werden von der tige Naturgefühl vorprägen. Es sind Vor- zes. Die häufigste Aussage, in der sich ein Bevölkerung kritisch gesehen. Forstwis- gaben einer Ikonologie des Alltags, die populäres Naturbewusstsein ausdrückt, senschaftler haben herausgefunden, dass uns über die bildende Kunst, Literatur, lautet: Die Natur des Waldes, der Flüsse der Wald von der Bevölkerung als Arten- Zeitschriften und Sachbücher, Wandbilder und Gebirge ist durch menschliche Ein- mischwald und zugleich als Altersklassen- des Schulunterrichts und natürlich durch wirkungen krank geworden. Der Ökologe wald unterschiedlicher Baumgeneratio- Fernsehsendungen vermittelt werden. fungiert als Arzt. nen gewünscht wird (Ammer und Pröbstl Andererseits gerät das Bewusstsein auch 1991, 37, 148; Lehmann 1999, 58ff.). In ver- Kindheitswälder oder das bei der Frage nach dem Waldzustand in schiedenen gemeinsam sichtbaren Pflan- Heimatliche einer Landschaft einen Zwiespalt: Der Wald bleibt die wich- zenarten und Wachstumsstufen – großen tigste Metapher für Natur, aber zu viel und kleinen Bäumen, Sträuchern und Dieses Muster der Vermittlung des Natur- Natur ist unerwünscht. Denn in der Forst- Kräutern – soll der Wald dem Muster einer bewusstseins ist gegenwärtig maßge- ästhetik der Waldlaien wird – anders als im funktionierenden Familie gerecht wer- bend. Es ist ein Naturbewusstsein aus Umweltschützermilieu – keineswegs der den, wo Vater, Mutter, Kinder einträchtig zweiter Hand. Wenn das Naturgefühl im dichte, schwer durchdringliche Urwald zusammmenleben. Das heißt: Ein Waldge- Gegensatz dazu auf eigenen Lebenserfah- favorisiert, wie er etwa auch als Märchen- biet soll natürlich aussehen und zugleich rungen beruht, sind nicht allein die Kennt- und Sagenwald in der Volksliteratur prä- so weit wie möglich die Werte unserer Kul- nisse konkreter, auch die Vorliebe für die sent ist. Das populäre Waldverständnis tur präsentieren. – Also keine militärisch in Wälder ist dann größer. Kindheitserfah- favorisiert stattdessen die offene Land- Reih und Glied formierten Fichten, nicht rungen lassen den Wald manchmal gera- schaft eines Mischwaldes. Eine ideale die „Stangengärtnerei“ Heideggers (Hei- dezu „zum Lebensstichwort“ werden. Waldlandschaft soll möglichst überall degger 1980). Davon hat Thomas Bernhard (1988, 302ff.) einen freien Blick auf ein harmonisches Aber ein Waldstück soll auch keine unauf- in dem von ihm als „Erregung“ bezeichne- Panoramabild gestatten. Die Wege sind geräumte Wildnis sein, mit kreuz und quer ten Roman Holzfällen, gesprochen. Das dabei wichtig, denn von ihnen aus am Boden herumliegenden Stämmen und Wort Wald zähle zu den „Lebensstichwör- schweift das Auge des „Normalnutzers“ Ästen. Offensichtlich spielen die Vorstel- tern“ von Millionen von Menschen. – über die Fläche. Nur eine Minderheit, spe- lungen vom städtischen Park und viel- Einen berühmten, unter dem Einfluss von ziell die engagierten Tierbeobachter oder leicht auch die vom wohl organisierten, Alkohol gerade sentimental werdenden Pilzsammler, verlässt diese Waldstraßen sauberen Garten hinter dem Eigenheim Wiener Schauspieler lässt er Folgendes regelmäßig. Denn das Waldesinnere ist für ins populäre Waldverständnis hinein. Ein sagen: „In den Wald gehen, tief in den viele von uns immer noch etwas „Unheim- Begriff wie „Totholz“ wird außerhalb von Wald hinein ... sich gänzlich dem Wald liches“ oder „Geheimnisvolles“ geblieben. Umweltschützer-Gruppen nur ungern überlassen, das ist es immer gewesen, der Jedenfalls etwas, worin wir uns leicht ver- akzeptiert. Das hat auch seine quasi kunst- Gedanke, nichts anderes, als selbst Natur laufen können. – Wer wird diese reduzier- historischen Gründe. Totes Holz, positiv als zu sein. Wald, Hochwald, Holzfällen, das te Nutzung der Wälder beklagen wollen, Teil natürlicher Prozesse bewertet, findet ist es immer gewesen.“ wenn er sich als „Bürger im Staat“ eine ja kaum eine Entsprechung in den Darstel- Unsere Untersuchungen zeigen: Es sind gesunde Natur wünscht? lungen des Waldes in der bildenden Kunst. speziell die Erinnerungen an dieses „In- 8
den-Wald-Hineingehen“, es sind Erinne- wusstsein vieler Jugendlicher und junger Kontext einer die Ländergrenzen überwin- rungen an Familienwanderungen und Erwachsenen zwei der „typisch deut- denden europäischen Symbolik zu sehen. Geländespiele der Kindheit, an die Beob- schen“ Leidenschaften als Unarten des Ver- Als Baum Europas (Johler 2000, 96) wurde achtung von Tieren und Bächen, in denen haltens und vielleicht auch des Geschmacks in Wien aus Anlass des 40. Jahrestages der sich die lebensgeschichtliche Bedeutung gemeinsam auf den Punkt. Fast niemand Unterzeichnung der Römischen Verträge des Naturerlebnisses konkretisiert. Wenn wollte sich gern „den Wanderern“ zurech- zwischen all die „Landesbäume“, zwi- von Erinnerungen an eine Kindheit und nen lassen, diesen älteren kniebundbe- schen deutsche Eiche, italienischen Esche Jugend in der Natur die Rede war, fehlte hosten Leuten mit ihren gewürfelten Hem- usw. eine Eibe gepflanzt. Der Wahl der selten der Hinweis auf vorbildhafte den. Viel lieber sahen sie sich in ihren Eibe zum Symbolbaum Europas ist eine ge- Erwachsene, die damals den Naturaufent- Erzählungen Beachvolleyball spielend am wisse Logik nicht abzusprechen. Denn die- halt inszenierten und dabei den Kindern Strand oder auf der eleganten Skipiste. ser Baum ist alles andere als prächtig. Die ihr Wissen vermittelten – Eltern, Groß- Was so „typisch deutsch“ ist wie der Wald, Eibe wächst nur langsam. Für lange Zeit ve- eltern und Lehrer als Vorbilder. „Meine kann schwerlich die Zustimmung junger in- getiert sie unscheinbar im Unterholz. Aber Eltern haben mich schon im Kinderwagen ternational denkender Leute finden. ist sie erst einmal aus dem Gröbsten he- in den Wald gescho-ben. Deshalb liebe ich Manchmal stoßen die dichten Massen der raus, erweist sie sich als so widerstands- bis heute die Wälder.“ – Wenn die Wald- Wälder geradezu auf Abneigung. Statt fähig wie sonst kaum ein Baum. liebe auf kindlichen Erfahrungen beruht, dessen gilt die Vorliebe eher einem allein Zum Schluss deshalb ein konkretes Beispiel gilt sie meistens nicht „allen Wäldern“, für sich wachsenden stattlichen Baum, zum neu ernannten Europabaum: Das Al- sondern bestimmten Waldformen, etwa etwa der Individualistin unter den Bäu- ter der Eibe in Hennersdorf in Schlesien dem Fichtenwald des Harzes, den Buchen- men, der Kastanie, oder der weiblichen wurde auf über 1.400 Jahre geschätzt. Der wäldern im niedersächsischen Solling. Auf hellzarten Birke. Diese Abneigung gegen Baum war buchstäblich nicht kaputt zu diese Weise entsteht ein bleibendes den Wald bei gleichzeitiger Vorliebe für kriegen. Die Hühner brüteten darin, und Gefühl für das Heimatliche einer Land- solitär wachsende Bäume entspricht fran- auch die Schulkinder hatten im Stamm ihre schaft. Wenn sich Gefühle beim Einzelnen zösischer Tradition (Tournier 1987). Nester. Älter als Methusalem: Mindestens an eine bestimmte Landschaft als Erfah- bis ins Jahr 1945 galt die Hennersdorfer rungsraum binden, ist es nicht erstaunlich, Eine Symbolverschiebung zum allein Eibe als ältestes Lebewesen Deutschlands. dass von Menschen bewirkte Veränderun- wachsenden Baum gen an solchen „Kindheitswäldern“ wie ein Eingriff in die persönliche Biografie Die Symbolverschiebung vom Massensym- Literaturhinweise empfunden werden. – „Da war ein Wald- bol Wald zum allein wachsenden Baum als Ammer, U. und U. Pröbstl (1991): Freizeit und Natur, stück. Das war unser Spielplatz. Wunder- Zeichen des Individualismus lässt sich als Hamburg/Berlin. schön. Und im letzten Jahr ist es gefällt Teil des allgemeinen Internationalisie- Bernhard, T. (1988): Holzfällen. Eine Erregung, Frank- worden. Das fehlt mir heute sehr.“ rungsprozesses in der Gesellschaft der furt/M. Brehm, A. (1947): Die Singvögel des deutschen Waldes, Gegenwart und als ein Teilaspekt eines Frankfurt/M. Unterschiede nach Generationen europäischen Internationalisierungspro- Canetti, E. (1960): Masse und Macht, Hamburg. Elias, N. (1986): Über die Natur, in: Merkur 40 (1986), zesses deuten. Die Internationalisierung 469–481. Beim Naturverständnis fallen die Unter- der Jugendkultur betrifft also nicht nur Heidegger, M. (1980): Holzwege, Frankfurt/M. schiede zwischen den heute zusammenle- die Musikszene und die Mode, sondern Helbok, A. (1937): Grundlagen der Volksgeschichte Deutschlands und Frankreichs, 2 Bde. Berlin/Leipzig. benden Generationen ins Auge. Die Nach- offensichtlich auch das Naturgefühl. – Es Holzberger, R. (1995): Das sogenannte Waldsterben, kriegsjahre des Zweiten Weltkriegs waren ist eine Internationalisierung, die nicht Bergatreute. Johler, R. (2000): Wald, Kultur, Nation. Ein deutsch-ita- Zeiten der Not oder doch wenigstens der allein in eine Richtung verläuft, sondern lienischer Vergleich, in: Lehmann und Schriewer (2000), kollektiven materiellen Einschränkung. ein Austauschprozess. Denn kulturelle 83–96. Küster, H. (1998): Geschichte des Waldes, München. Wer diese Jahre noch bewusst erlebt hat, Muster, die in Deutschland ihre Tradition Langewiesche, D. (1999): 1848 – ein Epochenjahr in der die Zeit des Pilze- und Bucheckernsam- haben, wirken ebenfalls in die Kulturen deutschen Geschichte? in: Geschichte und Gesellschaft melns (für die Speiseölgewinnung), die anderer Länder hinein. Das gilt gerade 25 (1999), S. 613–625. Lehmann, A. (1999): Von Menschen und Bäumen. Die Zeit der Wandertage in die Wälder und der auch für das Waldbewusstsein. Das Wort Deutschen und ihr Wald, Reinbek. Geländespiele, der sieht den Wald anders Waldsterben war bekanntlich unverzüg- Lehmann, A. und K. Schriewer (Hg.) (2000): Der Wald – Ein deutscher Mythos? Berlin/Hamburg (Lebensformen als die Generation der heutigen Jugend. lich in die französische und englische Spra- Bd. 16). Dieses Waldbewusstsein beruht auf eige- che übernommen worden. Lehmann, A. (2001): Waldbewusstsein. Zur Analyse ei- ner Erfahrung. Es unterscheidet sich in nes Kulturthemas in der Gegenwart, in: Forstwissen- schaftliches Centralblatt 120 (2001), S. 1–12. seiner Anschaulichkeit vom Waldbewusst- Deutsche Waldvorstellungen Levenstein, A. (1912): Die Arbeiterfrage, München. sein aus zweiter Hand, welches heute das verbreiten sich nach Frankreich und Mammen, F. von (1934): Der Wald als Erzieher. Eine volkswirtschaftlich-ethische Parallele zwischen Baum Thema bei den „jungen Leuten“ bestimmt. Italien und Mensch und zwischen Wald und Volk, Dresden/ Auf der Grundlage interessengeleiteter Leipzig. Mannhardt, W. (1875): Wald- und Feldkulte. 1. Teil: Der Tätigkeiten in der Familie und unter Freun- Jüngst hat nun der Volkskundler Reinhard Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme. den haben sich in der „älteren Generation“ Johler (2000, 83–96) gezeigt, wie in den Mythologische Untersuchungen, Berlin. also wesentlich intimere Kenntnisse über letzten Jahrzehnten das „deutsche Wald- Matz, W. (1995): Adalbert Stifter oder Diese fürchterli- che Wendung der Dinge, München/Wien. die Zusammenhänge der Natur entwickelt. bewusstsein“ und auch die deutschen Vor- Mogk, E. (1921): Germanische Religionsgeschichte und Das Beispiel zeigt, wie die große Ge- stellungen von der Jagd zunehmend Ein- Mythologie, 2. Aufl. Berlin/Leipzig. Paper news (1996): Nachrichten und Meinungen zum schichte der Wirtschaft und der Politik ins gang ins italienische Naturbewusstsein Thema Papier (Magazin von „Bunte”, „Der Spiegel“, Naturbewusstsein hineinwirkt. finden. Johler stellt fest: Das „mediterran- „Hör zu“, „stern“, „TV Hören und Sehen“. lateinisch-hedonistische Muster“ – „land- Radkau, J. (2000): Natur und Macht. Eine Weltge- schichte der Umwelt, München. Ein Wandel zeigt sich hin zur Euro- wirtschaftlich und waldfeindlich“ – hat es Riehl, W. H. (1896): Land und Leute, 9. Aufl. Stuttgart päisierung des Naturbewusstseins zunehmend schwer, sich gegenüber den (zuerst 1854). Ritter, J. (1974): Landschaft. Zur Funktion des Ästheti- „asketischen“ deutschen Vorstellungen schen in der modernen Gesellschaft, in: ders.: Subjekti- Das Natur- und Waldbewusstsein der Be- von Wald- und Umweltschutz in den Mas- vität, Frankfurt/M., 141–163. Salisch, H. von (1902): Forstästhetik, Berlin (zuerst 1885). völkerung ist stets im Wandel. Das gilt für senmedien Italiens zu behaupten. Fast Stachow, H. (2000): Botanik, Ökologie und Esoterik. Zu alle Generationen, d. h. auch für die An- wirkt es auf den Beobachter erheiternd, drei Erfahrungsformen von Wald, in: Lehmann und gehörigen der Nachkriegsgenerationen. wenn italienische und französische Kultur- Schriewer (2000), 215–232. Steinlin, H. (1985): Wald und Mensch heute, in: Bun- Viele der „jüngeren Leute“, die wir befrag- anthropologen peu à peu die Übernahme desanstalt für Arbeitsschutz (Hg.): Humanisierung des ten, sprachen mit deutlichen Vorbehalten einer logica „germanica“ ins eigene Natur- Arbeitslebens in der Forstwirtschaft, Dortmund. Stifter, A. (1990): Der Waldgänger, Berlin (zuerst 1847). über den Wald; nicht nur über den Wald als bewusstsein bestaunen: gewissermaßen Tournier, M. (1987): Der Baum und der Wald, in: Aka- politisches Symbol, sondern auch über den eine „Ver-Protestantisierung“ der Mensch- demie der Künste (Hg.): Waldungen, Berlin 1987. Wald als Aufenthaltsort. Das lässt sich am Natur-Beziehungen. Die Überlegungen Weber, M. (1968): Wissenschaft als Beruf, in: ders.: Ge- sammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen Beispiel der Tätigkeit „Wandern“ veran- Johlers unterstreichen, dass es notwendig 1968 (zuerst 1919), 582–613. schaulichen. Die beiden Wörter „Wan- ist, nicht nur Politik, Wirtschaft und Sport, dern“ und „Wald“ bringen heute im Be- sondern auch die Naturvorstellungen im 9
Das folgenreiche Missverständnis des Tacitus Auch der Wald hat seine Geschichte Natürliche und kulturelle Bedingungen der Bewaldung Mitteleuropas Von Hansjörg Küster Prof. Dr. Hansjörg Küster ist Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobo- tanik der Universität Hannover Eine einzige Art der „natürlichen“ Bewal- dung gibt es nicht. Denn Natur ist einem ständigen Wandel unterworfen, durch Klimaveränderungen, durch Wande- rungsbewegungen von Pflanzen und Tie- ren, durch Eingriffe der Menschen. So haben sich die Waldbilder Mitteleuropas über Jahrtausende hinweg verändert, bis in unsere Gegenwart hinein. Pollenanaly- sen erlauben es, diesen Wandel zu verfol- gen. So kann es auch nicht darum gehen, „naturnahen“ Wald (wieder)herzustellen, sondern allenfals Wald- und Landschafts- bilder, die uns vertraut sind und in denen wir uns wiederfinden können. Red. Wie untersucht man die Geschichte des Waldes? Geschichte im engeren Sinne befasst sich ausschließlich mit schriftlichen Quellen, also mit gedruckten Texten, handschriftli- chen Urkunden und mit Landkarten. Diese Quellen sind aber nur aus solchen Zeital- tern überliefert, in denen Menschen etwas aufschrieben über den Gegenstand, des- sen Geschichte man untersuchen möchte. Über den Wald, in dem und mit dem sie lebten, schrieben sie lange Zeit nichts auf. Überhaupt keine Schriftzeugnisse sind aus vorgeschichtlicher Zeit bekannt; daher ist diese Periode ja „vor-geschichtlich“. Weni- ges über den Wald Mitteleuropas erfah- ren wir aus römerzeitlichen Schriftquel- len; was damals aufgeschrieben wurde, gab später Anlass zu mancherlei Fehldeu- tungen, wovon in diesem Artikel noch die Rede sein soll. Häufiger wurde etwas über den Wald erst in den letzten Jahrhunder- ten aufgeschrieben, als die wirtschaftli- chen Interessen am Wald immer vielfälti- ger wurden (vgl. Beitrag Schmidt in die- sem Heft). Waldweide Interessiert man sich für die Geschichte des Vielfältig wurde der Wald seit jeher von den Menschen genutzt, so auch als Weide, Waldes und des Verhältnisses zwischen insbesondere für die Schweinemast. Mensch und Wald in älteren Perioden, Foto: Archiv Landesforstverwaltung Baden-Württemberg muss man völlig andersartige Geschichts- zeugnisse auswerten. Man kann sich mit möglichst Eibenholz zur Herstellung von bung einer Siedlung, weil dabei die Aus- den Holzresten befassen, die sich bei Pfeil und Bogen verwenden sollte und wahl gewisser Holzarten weniger eine archäologischen Ausgrabungen finden Kohle aus Buchenholz die höchsten Tem- Rolle spielte. lassen; wenn die Reste gut erhalten sind, peraturen erzeugte, die man zur Schmelze kann man die Holzarten mit Hilfe des von Erz benötigte. Aus den Mengenantei- Ablagerungen von Pollen in Mikroskops gut bestimmen (Schweingru- len bestimmter Holzarten kann man also Mooren und Seen ber 1976). Dabei muss beachtet werden, nur mit Einschränkungen darauf zurück- dass die gefundenen Reste möglicherwei- schließen, wie ein Wald insgesamt zusam- Noch umfassendere Rückschlüsse über die se von Hölzern stammen, die vom prähis- mengesetzt war, besonders dann, wenn Entwicklung der Wälder erlaubt die Un- torischen Menschen für einen bestimm- lediglich das für bestimmte Zwecke ausge- tersuchung von Ablagerungen, in denen ten Zweck ausgewählt wurden; denn die wählte Bau- und Werkholz einer Analyse Pollenkörner erhalten geblieben sind. In Menschen wussten auch vor Jahrtausen- unterzogen wurde. Bestimmt man das den mikroskopisch kleinen Pollen- oder den schon genau, dass Hütten aus Eichen- Brenn- und Leseholz, kommt man zu Blütenstaubkörnern ist die männliche Erb- holz wegen seines Gehaltes an Gerbstof- direkteren Rückschlüssen auf die Zusam- substanz von Blütenpflanzen enthalten. In fen besonders haltbar waren, dass man mensetzung von Wäldern in der Umge- den Körnern wird das genetische Material 10
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