Der Dschihad Christen - Muslime: Was tun? - Kommission für den Dialog mit den Muslimen

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Der Dschihad Christen - Muslime: Was tun? - Kommission für den Dialog mit den Muslimen
Christen – Muslime: Was tun?

Der Dschihad
           Seelsorgehilfe 10

            Kommission für den Dialog
                   mit den Muslimen
VORBEMERKUNG
                        Wie bei anderen Religionen auch sind die heiligen
                        Schriften und die Grundtexte des Islams unter-
                        schiedlichen und bisweilen sogar widersprüchlichen
                        Lesarten und Interpretationen unterworfen. Der Be-
                        griff «Dschihad» und seine Auslegung in der Politik
                        und der Lehre des Islams im Verlauf der Geschichte
                        stellen keine Ausnahme dar.

1                       Das Thema «Dschihad» ist in politischen und gesell-
Vgl. zum Beispiel die
Studien der Zürcher
                        schaftlichen Debatten allgegenwärtig. Verschiedene
Hochschule für          in den letzten fünf Jahren veröffentlichte Studien
Angewandte
                        belegen, dass das Phänomen der Radikalisierung
Wissenschaften
(ZHAW) von Juli         des Dschihad auch in der Schweiz1 anzutreffen ist,
2015 mit dem Titel      auch wenn es nur eine kleine Minderheit von Musli-
«Hintergründe
dschihadistischer       men und Musliminnen betrifft. Doch was genau ver-
Radikalisierung in      stehen sie darunter, wenn sie von Dschihad reden?
der Schweiz» und
von Juni 2019
«Aktualisierte          In dieser Broschüre werden vier Punkte aufgegriffen:
Bestandes-
aufnahme und            1. Die verschiedenen Verwendungen des Konzepts
Entwicklungen              «Dschihad» in der Prophetenzeit und gemäss
dschihadistischer
Radikalisierung            den heiligen Schriften des Islams.
in der Schweiz –        2. Der Dschihad bzw. das Konzept des Krieges in
Aufdatierung einer
explorativen Studie
                           den Schriften der Rechtsgelehrten und der Rechts-
zu Prävention und          schulen des Mittelalters.
Intervention», sowie
                        3. Der intermuslimische Dialog über den Dschihad
von November
2018: «Verbreitung         unter dem Druck der europäischen Moderne.
extremistischer         4. Der Dschihad oder die Rechtfertigung der Gewalt
Einstellungen und
Verhaltensweisen           im Rahmen des interreligiösen Dialogs und des
unter Jugendlichen         Zusammenlebens in demokratischen und plura-
in der Schweiz».
                           listischen Gesellschaften.

  2
DER DSCHIHAD
1.   Ambivalenz des Konzepts:
     Die Bedeutungen des Konzepts in der Propheten-
     zeit und gemäss den heiligen Schriften

EIm Arabischen steht die Wortwurzel «dsch-h-d»
etymologisch für «sich anstrengen, bemühen»,
«Anstrengung in Richtung auf ein bestimmtes Ziel».
Die Silbe kommt im Koran 41-mal vor, davon 33-mal
im Zusammenhang mit der Bedeutung von Streit und
von Kampf.

Im Bestreben, seine monotheistische Botschaft zu
verbreiten, war Mohammeds einzige Erfolgschance
gegen seine Gegner in Mekka während der Grün-
derphase der bewaffnete Kampf, denn er musste
nach dem Aufenthalt beim christlichen Negus von
Äthiopien im 7. Jahrhundert sich und seine Anhänger
verteidigen und einen sicheren Zufluchtsort finden.

Der Begriff «Dschihad» hat im Koran je nach Zeit-
punkt der Offenbarung der jeweiligen Suren eine
andere Nuance. Die Suren werden – zumindest
formal – unterteilt in mekkanische Suren (86
Suren, offenbart zwischen 610 und 622 n. Chr.)
und in medinensische Suren (28 Suren, offenbart
zwischen 622 und 632 n. Chr.). Daraus schliessen die
muslimischen Rechtsgelehrten, dass die Bedeutung
des Dschihad gestützt auf die verschiedenen histo-
risch bedingten Auslegungen verschiedene Phasen
durchlaufen hat. Allerdings scheint keine der welt-
weit akzeptierten Definitionen bei allen Gelehrten
der Scharia einstimmigen Zuspruch zu finden.
                                                       3
Mithilfe der Hadithe haben muslimische Exegeten
    und Historiker versucht, den Bedeutungsinhalt des
    Konzepts des Dschihad zu präzisieren. Wie bereits
    angedeutet, besteht teilweise Konsens darüber,
    dass zwischen dem «kleinen Dschihad» (dem Kampf
    gegen den Feind) und dem «grossen Dschihad»
    (dem Kampf gegen die eigenen Verfehlungen) un-
    terschieden werden muss.

    Der grosse sunnitische Rechtsgelehrte Abu Hamid
    al-Ghazali (1058–1111 n. Chr.) zitierte eine Tradition,
    die auf die Zeit des Propheten zurückgeht: «Als der
    Prophet gefragt wurde, welcher Dschihad der beste
    sei, antwortete der Gottesgesandte: der Kampf ge-
    gen die eigenen schlechten Eigenschaften.» (Zitiert
    nach: A. H. al-Ghazali, La mesure des Actes, Verlag
    Albouraq, 2005.)
    Averroes (auch bekannt unter dem arabischen
    Namen Ibn Ruschd, geboren 1126 in Córdoba,
    Spanien, gestorben 1198 in Marrakesch, Marokko),
    ist eine wichtige Figur in der Geschichte des Islams.
    Für ihn umfasst der Dschihad vier Arten von
    Anstrengungen: mit der Zunge, der Hand, dem
    Schwert und dem Herzen. Mit dem Herzen soll
    «gekämpft werden», um sich selbst oder die Gesell-
    schaft zu verbessern.
    Viele Sufis (Mitglieder religiös-mystischer Bruder-
    schaften) sahen den Dschihad sowohl als «grossen
    inneren Kampf» gegen die eigenen Leidenschaften
    als auch als «kleinen Dschihad», also als kriege-
    rischen Kraftakt. Diese Unterscheidung wird
    begründet durch eine Äusserung des Propheten
    Mohammed, der sagte, der kriegerische Dschihad
    müsse der spirituellen Anstrengung vorausgehen
4   (siehe Anmerkung 4).
Der bewaffnete Kampf wurde gemäss den Gepflo-           2
                                                      Konnten die
genheiten der jeweiligen Zeit geführt: verwendet      Christen zur Zeit
wurden Bogen, Lanze, Säbel; man kämpfte zu Fuss       der muslimischen
                                                      Eroberungszüge in
oder zu Ross (das Dromedar diente nur als Last-       Europa von diesem
tier). Man erklärte dem Gegner den Krieg und for-     Status profitieren? Es
                                                      darf nicht vergessen
derte ihn auf, sich entweder zu unterwerfen oder
                                                      werden, dass der
den Kampf aufzunehmen. Mit anderen Worten:            Kalif während der
entweder man konvertierte zum Islam oder man          gesamten euro-
                                                      päischen Kolonialzeit
wurde getötet oder gefangen genommen. Die so-         nie zum Dschihad
genannten «Leute des Buches» (Juden, Christen,        gegen sie aufgerufen
                                                      hat.
Zoroastrier) mussten eine Kopfsteuer (Dschizya)
entrichten und wurden als «Untertanen» oder als
«Schutzbefohlene» (Dhimmis)2 betrachtet. Ziel des
bewaffneten Kampfes war die Herrschaft des Ge-
biets des Islams (Dar al-Islam) über das Gebiet der
Ungläubigen (Dar al-Kufr).

Das Wort «Dschihad» kann nicht nur auf seine
Bedeutung als «Krieg oder bewaffneter Kampf»
(für den das Wort «Qital noch geläufig ist) redu-
ziert werden. Im Laufe der Geschichte des Islams
scheint diese kämpferische Komponente – man
denke beispielsweise an die Intrigen und Kämpfe
zwischen den verschiedenen muslimischen Dynas-
tien (Sunniten und Schiiten) sowohl in Damaskus
als auch in Bagdad – an Bedeutung verloren zu
haben. Die Mitglieder von Bruderschaften (die
«Sufis»), unterstützt von Korankommentatoren,
haben die Bedeutung von Dschihad verinnerlicht.

                                                                      5
3                       Schon in der Sira und der Sunna (= die Biographie
Hadithe sind über-
lieferte Aussprüche
                        des Propheten Mohammed und die Hadithe3) wird
oder Handlungen         ein bewaffneter Kampf als untergeordneter Dschi-
des Propheten           had (oder «kleiner Dschihad») und der Kampf ge-
Mohammed, die in
einer Textsammlung      gen sich selbst als übergeordneter Dschihad («gros-
erwähnt werden, die     ser Dschihad»)4 bezeichnet: Man ist vom «kleinen
sämtliche Tradi-
tionen im Zusam-        Dschihad» (offensiv oder defensiv mit dem Ziel,
menhang mit den         den Islam zu verteidigen oder dessen geografische
Handlungen und
Worten Mohammeds        Ausweitung zu erzielen) zum «grossen Dschihad»
und seiner Anhänger     übergegangen (dem Kampf gegen sein eigenes Ich
umfasst. Die Kette
der Überlieferer        oder seine eigenen Leidenschaften). Dennoch blieb
dieser Texte reicht     das Konzept des Kriegs während der durch den be-
bis zu Mohammed
zurück.
                        waffneten Kampf zahlreicher Sufis zur Verteidigung
                        ihrer «Ribat» (Sufikonvents) geprägten islamischen
4
                        Geschichte weiter bestehen.
Mohammed soll
nach der Rückkehr
aus einer Schlacht      Der Dschihad wird also als Kampf gegen die Un-
gesagt haben: «Wir
sind vom kleinen        gläubigen / die «Kuffar» verstanden. Aber – und in
Dschihad (Kampf         vermehrtem Masse – auch gegen die Apostaten.
gegen den Feind)
zurückgekehrt           Das würde demnach eher einem «juristischen» Krieg
für den grossen         als einem «heiligen Krieg» ähneln. «Euch ist vorge-
Dschihad» (den
Kampf gegen die         schrieben, (gegen die Ungläubigen) zu kämpfen,
eigenen schlechten      obwohl es euch zuwider ist. Aber vielleicht ist euch
Eigenschaften).
Allerdings hat
                        etwas zuwider, während es gut für euch ist, und viel-
dieser Hadith eine      leicht liebt ihr etwas, während es schlecht für euch
schwache Überlie-
ferungskette; gemäss
                        ist. Gott weiss Bescheid, ihr aber nicht.» (Koran 2,
einer saudischen        216; zitiert nach der Übersetzung von Rudi Paret.)
Fatwa entbehrt er gar
jeglicher Grundlage
(Abu Sahlieh, Der       Gemäss traditioneller Auffassung der islamischen
Dschihad im Islam,      Normenlehre (Fiqh) darf man den Dschihad nicht
S. 7).
                        gegen Muslime führen; ausserdem muss das recht-
                        mässige Oberhaupt einer Gemeinschaft – der Kalif
                        oder einer seiner Vertreter, ein Emir oder – in der
                        jüngsten Geschichte – ein Sultan – darüber ent-
  6                     scheiden. Ein Krieg unter Muslimen wird «Fitna»
oder Zwietracht genannt. Feindseligkeiten unter
Muslimen werden als Kämpfe um Macht und Ge-
genmacht ausgelegt. Oder aber um Rivalitäten mit
dem Ziel, sich als legitimes Sprachrohr des wahren
Islams zu etablieren.

Der bewaffnete Dschihad hat als Argument gedient,
um kriegerisch gegen die «Ungläubigen», manch-
mal auch gegen andere muslimische Gruppierun-
gen, die als Gegner, Rebellen, Ketzer oder Nicht-
orthodoxe, also als sogenannte Kuffar, angesehen
wurden, vorzugehen.

Der Ausdruck «fî sabîl Allâh» oder «auf dem Weg
Gottes», der im Koran mehr als sechzigmal vor-
kommt, wird meist mit dem bewaffneten Dschihad
verbunden. Die in westlichen Sprachen häufig ver-
wendete Übersetzung «heiliger Krieg» ist unzuläng-
lich. Im Islam sind Kriege entweder rechtmässig
oder unrechtmässig, aber nicht heilig.

                                                     7
2.   Der Dschihad bzw. das Konzept
         des Krieges in den Schriften der
         Rechtsgelehrten und den Rechts-
         schulen des Mittelalters
    Für die Rechtsgelehrten und traditionellen Exegeten
    ist der Dschihad nicht Bestandteil der fünf Säulen des
    Islams (das Bekenntnis des Glaubens an Allah als al-
    leinigen Gott und an den Propheten Mohammed, das
    Pflichtgebet, die Gabe von Almosen, das Fasten und
    die Wallfahrt nach Mekka). Diese fünf Säulen gelten
    als persönliche Pflichten, während der Dschihad allge-
    mein als kollektive Aufgabe für die gesamte muslimi-
    sche Gemeinschaft oder die Umma gilt, zu dem ein
    rechtmässiges Oberhaupt gestützt auf eine einstimmi-
    ge Auslegung aufrufen muss. Diese kollektive Pflicht
    kann mittels eines Waffenstillstands aufgehoben wer-
    den, wobei nicht vergessen werden sollte, dass es zwi-
    schen Muslimen und Nichtmuslimen keinen dauerhaf-
    ten Frieden geben kann.

    Hierbei sei noch erwähnt, dass für eine radikale oder
    streng ideologische Gruppe innerhalb der sunni-
    tischen Gemeinschaft der Dschihad als sechste Säule
    bzw. als eine abwesende Pflicht («al-farida al-gha'iba»)
    gilt. Bei der Zwölfer-Schia ist er Teil der zehn religiösen
    Kulthandlungen.

    Die Pflicht, «den Dschihad zu machen», wird in zahl-
    reichen Passagen des Korans erwähnt, insbesondere
    in den Suren 8, 39 und 59–60 sowie in den Suren 9/5
    und 47/4. Der Dschihad muss eine Aussicht auf Erfolg
    haben.

8
3.   Der intermuslimische Dialog über
     den Dschihad unter dem Druck
     der europäischen Moderne
Zu erwähnen sind hier die einflussreichen Schrift-
steller, Philosophen und Theologen, die insbeson-
dere in Ägypten grossen Einfluss hatten: Sie recht-
fertigten den Dschihad vorab mithilfe der Botschaf-
ten des Korans und sahen ihn als blosse kriegerische
Tätigkeit. Ihre Korankommentare dienen einigen der
Dschihadisten der Neuzeit als Grundlage.

Taqi ad-Din Ahmad ibn Taymiyya (*1263 in Harran,
der heutigen Türkei, †1328 im Gefängnis in Damas-
kus, dem heutigen Syrien), war ein eher traditionalis-
tischer Theologe und Rechtsgelehrter (faqih) der han-
balitischen Rechtsschule. Die Zeit seines Lebens war
geprägt von Konflikten um politischen Einfluss und
der Verteidigung von Gebieten gegen die Mongolen.
Letztere galten als Ungläubige, weil sie sich nicht zum
Islam bekannt hatten. Ibn Taymiyya zeichnete sich ins-
besondere durch seine Ablehnung von allem, was er
im Vergleich zu den religiösen Praktiken der Frühzeit
des Islams als Neuerung betrachtete aus. Und so lehn-
te er das ab, was sowohl Al-Ghazali als auch andere
(z. B. Ibn Arabi: *1165 in Murcia, Spanien; †1240 in
Damaskus) als Korankommentare vorgeschlagen hat-
ten. Seine Ablehnung richtete sich auch gegen die
Lehren der muslimischen Philosophen (die «Falasifa»).
Seine Meinung, die sich stark von jener der religiösen
Elite unterschied, führte dazu, dass er mehr als einmal
im Gefängnis endete. Heute berufen sich mehrere
dschihadistische Gruppierungen auf ihn und argu-
mentieren, man müsse das, was in der Vergangenheit
Tradition war, vor «Neuerungen» (al-Bida’a) schützen.
                                                          9
Mohammed Ibn ‘Abd al-Wahhâb, dit «Ibn Abdel Mu-
     hammad Ibn Abd al-Wahhab, auch Ibn Abdelwah-
     hab genannt (*1703, †1792), lebte in der Region des
     Nadschd (auf der Arabischen Halbinsel), wo er in sei-
     nen Predigten eine puritanische Reform des Islams for-
     derte. Sein Ziel war die Rückkehr zu den «Salaf», den
     frommen Vorvätern, beziehungsweise den engsten Ge-
     fährten des Propheten, welche die Anfänge des Islams
     miterlebt hatten. Mohammed ben Abdelwahhab hatte
     sich insbesondere von Ibn Taymiyya inspirieren lassen,
     und er stützte sich auf das Verständnis des Korans und
     der Sunna, das er in der hanbalitischen Rechtsschule
     erworben hatte.

     Nachdem er aus seinem Geburtsort vertrieben worden
     war, fand Ibn Abdelwahhab Zuflucht in der von Mo-
     hammed Ibn Saud regierten Oase von Dariya. 1744
     schlossen Mohammed Ibn Abdelwahhab und Moham-
     med Ibn Saud einen Pakt und gründeten das Emirat
     von Dariya, den ersten saudischen Staat. Dies war der
     Beginn eines Bündnisses, einer Vereinbarung zwischen
     den beiden Familien mit dem Zweck, die Macht zu tei-
     len, die noch heute im saudi-arabischen Königreich Be-
     stand hat. Die «Al al-Scheich», eine Familie religiöser
     Prediger und Nachkommen von Mohammed ben Ab-
     delwahhab, herrscht über die religiösen Institutionen
     des Staates und legitimiert so die politische und militä-
     rische Autorität der Familie der «al-Saud».

     Die Bewegung, die Mohammed ben Abdelwahhab
     auslöste, hat zwei Namen: Der Begriff des «Salafismus»
     gilt für mehrere Formen islamischer Reformen in ver-
     schiedenen Gegenden der Welt, während der «Wah-
     habismus» sich spezifischer auf seine saudische Aus-
10   prägung, eine strengere Form des Salafismus, bezieht.
Man darf auch nicht vergessen, dass der «Salafismus»     5
                                                        Für die Salafisten ist
per se nicht von einer spezifischen politischen oder     die Gründung eines
militärischen Autorität5 abhängt, während der «Wahha-   islamischen Staates
                                                        normalerweise nicht
bismus» untrennbar mit Saudi-Arabien verbunden ist
                                                        an ein bestimmtes
                                                        Territorium geknüpft.

3.1 Der Dschihadismus in den
    islamistischen Parteien
                                                        6
Im Jahre 1928 rief Hasan al-Banna in Ismailia, im       Zit. nach Scheich
Nordosten Ägyptens, eine transnationale, sunni-         Youssef El-Qara-
                                                        daoui, al-ikhwan
tisch-islamische Organisation – die «Muslimbrüder»      al-mouslimoun,
– ins Leben. Al-Banna erklärte: «Der Islam ist eine     Maktabet Wahba,
                                                        1999, S. 209.
Religion und ein Staat, Koran und Säbel, Anbetung
und Leadership.»6 Diese «Bruderschaft» besteht
aus einem militärischen Apparat und einer Organi-
sation, deren offizielles Ziel die islamische Wieder-
geburt und der gewaltlose Kampf gegen «den be-
herrschenden Einfluss des Westens» und «die blinde
Nachahmung des europäischen Modells» auf dem
Gebiet des Islams ist. Diese panislamische Organi-
sation gilt offiziell bei mehreren Regierungen der
arabischen Welt als eine Organisation mit terroris-
tischem Charakter. Einige Anhänger haben unab-
hängige Bewegungen gegründet, wie beispielswei-
se die «Dschama'a al-islamiya» oder die «Hamas».

Aufgrund der fundamentalen und bisweilen gewalttä-
tigen Opposition der Muslimbrüder gegenüber laizi-
stischen arabischen Staaten wurden die Muslimbrü-
der in manchen Ländern verboten bzw. ihre Aktivi-
täten eingeschränkt. Hauptzweck der Bewegung der
Muslimbrüder bleibt der Kampf gegen den Staat Is-
rael, so dass verschiedene Untergruppen seither die
Gewaltanwendung ausserhalb Palästinas verurteilt                      11
haben. Die Bewegung unterhält Beziehungen zu
     Institutionen, die den saudischen Wahhabismus för-
     dern. Sayyid Qutb (*9. 10. 1906 in Süd-Ägypten,
     †29. 8. 1966) war Dichter, Essayist und Literaturkri-
     tiker. Er stand den Kreisen rund um die nationalis-
     tischen ägyptischen Schriftsteller (politische Partei
     «Wafd») nahe und war Beamter im Bildungsministe-
     rium. 1948 wurde Qutb in die USA entsandt, offen-
     bar aufgrund seiner scharfen Kritik am ägyptischen
     Premierminister und an König Faruk. Nach seiner
     Rückkehr 1950 wandte er sich den Muslimbrüdern
     zu und übernahm die Leitung ihrer Publikationen,
     hielt aber von ihren politischen Aktivitäten Ab-
     stand. Allerdings übte er in seinen Schriften im Zu-
     sammenhang mit den Unabhängigkeitskämpfen in
     den arabischen Staaten harsche Kritik an der euro-
     päischen Kolonisierung, beklagte das Schicksal der
     muslimischen Minderheiten in den Ländern des Os-
     tens, der Philosophie des Islams und prangerte die
     ideologische Unterwanderung der arabischen Welt
     an. 1952 wurde die Monarchie gestürzt; der neu
     gewählte Gamal Abdel Nasser wurde im Oktober
     1954 offenbar Ziel eines Attentats. Mitglieder der
     Muslimbrüder wurden ins Gefängnis gesperrt, und
     Sayyid Qutb wurde zu fünfzehn Jahren Arbeitslager
     verurteilt. Nachdem er 1964 freigelassen worden
     war, kam er erneut in Haft und wurde schliesslich
     am 29. August 1966 gehängt.

     Während der sowjetischen Besetzung Afghanistans
     im Jahre 1979 gewinnt der Dschihadismus ideolo-
     gisch an Grösse und erhält eine antikommunistische
     Färbung. In diesem Zusammenhang taucht nament-
     lich Abdallah Azzam auf, der als Ikone einer poli-
12   tischen und religiösen Ideologie – des dschihadis-
tischen Salafismus – gilt und die Anwendung von
Gewalt zur Errichtung eines islamischen Staats mit-
tels Wiederherstellung des Kalifats befürwortet.

Das Wort «Dschihadismus» wird vom Begriff
«Dschihad» abgeleitet, daher der häufige Gebrauch
des Ausdrucks «terroristischer Dschihad». Das Wort
selbst ist ein Neologismus aus der Zeit der Wende
zum 21. Jahrhunderts. Nach den Terroranschlägen
vom 11. September 2001 erlebte der Begriff einen
Aufschwung. Es waren insbesondere die radikalen
muslimischen Denker, die ihn als «salafistischen
Dschihad» verstanden, so etwa Abu Qatada (al-
Filistini, *1959 in Bethlehem), Abu Mussab al-
Suri (*1958 in Aleppo, Syrien,) oder Abu Moham-
mad al-Maqdisi (*1959 in Barqa, Nablus). Die
Bewegung weitete sich auf die Gesamtheit der
islamischen Welt aus und wurde zur Hauptströmung
des Dschihadismus. Zu Beginn des 21. Jahrhun-
derts berufen sich terroristische Organisationen wie
al-Kaida, der Islamische Staat (IS) oder Boko Haram
auf den dschihadistischen Salafismus.

Allerdings definiert jeder Experte den modernen
Dschihadismus anders: Für einige bezieht sich
dieser Begriff einzig und allein auf den dschihadi-
stischen Salafismus, während andere ihn für nicht-
salafistische Bewegungen verwenden.

                                                       13
3.2 Ansichten der liberalen Muslime
         über den Dschihad
     Wie bereits erwähnt, gibt es keine einheitliche De-
     finition des Begriffs Dschihad. Philosophen und is-
     lamische Theologen haben die Tradition der Refle-
     xion früherer Gelehrter fortgeführt. Darüber hinaus
     hat es ausschliesslich kriegerische Auslegungen des
     Dschihad gegeben, die nicht mehr dem «traditionel-
     len» Begriffsinhalt entsprechen. So haben beispiels-
     weise ein Krieg gegen andere Muslime im Rahmen
     terroristischer Akte, die wahllose Tötung selbst von
     Menschen, die als «Leute des Buches» sicher sein
     müssten, eine Interpretation der Worte des Koran
     ohne Konsens der anerkannten Gelehrten und das
     Abdriften in den Terrorismus unter dem Vorwand,
     einen «islamischen Staat» zu gründen, zu einer
     politreligiösen Situation geführt, die nicht gera-
     de dazu beigetragen hat, den Dschihad als eine in
     erster Linie geistliche Anstrengung zu betrachten.

     Einige Intellektuelle, Islamwissenschaftler und mo-
     derne Denker wollten eine auf die demokratischen
     Ideale der Neuzeit gestützte Auslegung des Islams
     vorantreiben. Hamadi Redissi, (*1952, Universi-
     tätsprofessor in Tunis) schrieb in seinem Werk «La
     tragédie de l’Islam moderne», Seuil-Verlag, 2011)
     auf Seite 144: «Es stimmt, dass die Sufis den Dschi-
     had gegen sich selbst sublimieren, aber meiner be-
     scheidenen Meinung nach gibt es niemanden, der
     den «kleinen (bewaffneten) Dschihad» für obsolet
     erklärt hätte. Derselbe Schriftsteller weist darauf hin,
     dass es in den Handbüchern des islamischen Rechts
     ein Kapitel mit dem Titel «Buch des Dschihad» gibt,
     das ausschliesslich dem «heiligen Krieg» gewidmet
14
ist, ohne dass ein Wort über den spirituellen
Dschihad verloren würde. In einem anderen Buch
(«L’exception islamique», Seite 87, Seuil-Verlag,
2004) macht Hamadi Redissi die Leser darauf auf-
merksam, dass es drei Nutzen gibt, nämlich einen
proselytischen, einen finanziellen und einen staatli-
chen Nutzen, wobei ausschliesslich die ersten beiden
zum Konzept des Heiligen Krieges gehören und alle
drei auf einem System gründen, das Feinde erfindet.»

Andere «moderne Denker des Islams» (Rachid Ben-
zine [*1971, Kenitra, Marokko], Islam und Moderne.
Die neuen Denker, Verlag der Weltreligionen 2012)
versuchen, ihren muslimischen Glauben dem Ein-
fluss derjenigen zu entziehen, die ihn entstellen. Sie
versuchen, für die islamische Lehre eine Form zu fin-
den, die «im Einklang steht mit der modernen Welt,
einer offenen Gesellschaft, in der Theologie und
Politik endlich voneinander getrennt sind».

So schrieb Abdelwahab Meddeb (*1946 in Tunis,
†2018) 2004 in seinem Buch «Face à l’Islam» (Verlag
Textuel): «Angesichts der gegenwärtigen Misere des
Islams unter dem Einfluss des Islamismus müsste
man zusammenzucken, aufwachen und wach blei-
ben.» Und er fügte hinzu: «Es ist an der Zeit, den
Islam von seinen islamistischen Dämonen zu be-
freien.» Andere Theologen, Philosophen und zeit-
genössische Schriftsteller haben dieselbe Besorgnis
zum Ausdruck gebracht. Erwähnt seien Mohammed
Arkoun (†2010), Hichem Djaït (*1935 : «La crise de
la culture islamique» Fayard, 2003), Malek Chebel
(†2016 : «Manifeste pour un islam des Lumières»,
Hachette Littérature, 2004), Abdennour Bidar (*1971:
«L’islam sans soumission», Verlag Albin Michel,         15
«2012), Fethi Benslama (*1951: «Déclaration
     d’insoumission à l’usage des musulmans et de ceux
     qui ne le sont pas», Verlag Flammarion, 2005).

     Sie sind bemüht, der Lehre des Korans betreffend
     den Dschihad ihren in erster Linie spirituellen und
     religiösen Charakter zurückzugeben.

     Vor einiger Zeit ist ein sogenannter «sexueller
     Dschihad» (Dschihad al-Nikah) entstanden: Junge
     Frauen, Musliminnen oder Nichtmusliminnen,
     begeben sich in das Gebiet der «Dschihadisten»,
     insbesondere in den Irak oder nach Syrien, um den
     Kämpfern vor Ort als Konkubinen oder Ehefrauen zu
     dienen. Hier sei darauf hingewiesen, dass islamische
     Ehen polygam sind und Lustvereinbarungen
     oder Zweckheiraten umfassen. Auch einige
     Europäerinnen begeben sich in dieser Funktion zu
     den Kämpfern. Sie riskieren bei einer Gefangen-
     nahme durch die rechtmässigen politischen
     Behörden des Aufenthalts- oder Herkunftslandes
     ein Gerichtsverfahren, bisweilen sogar eine lebens-
     längliche Haftstrafe. Die Kämpfer vor Ort scheinen
     sich keine grossen Gedanken um die Kinder, die
     aus diesen Beziehungen hervorgehen, zu machen:
     Gemäss Zeugenberichten von Personen, die nach
     Europa zurückgekehrt sind, gibt es Grund für
     Zweifel daran, dass die grundlegenden Rechte
     dieser Kinder gewahrt werden.

16
4.   Der Dschihad oder die Recht-                       7
     fertigung der Gewalt im Rahmen des                 Aldeeb Abu Sahlieh,
                                                        «Der Dschihad im
     interreligiösen Dialogs und des                    Islam», S. 8.
     Zusammenlebens in demokratischen
     und pluralistischen Gesellschaften
Es ist manchmal schwierig, sich von den Taten der
muslimischen Kämpfer, ob sie nun mit dem Islam
konform sind oder nicht, nicht provozieren zu lassen
und nicht wütend zu werden. Darüber hinaus ist es
auch schwierig, sich nicht dazu verleiten zu lassen,
sie mit dem Islam in einen Topf zu werfen. Zu be-
haupten, die dschihadistischen Attentate hätten mit
dem Islam nichts zu tun, würde nicht nur bedeuten,
dass man davon ausgeht, die muslimische «Welt»
sei nicht betroffen von ihren fanatischen Mitglie-
dern, sondern würde den spirituellen Islam dem
politischen Islam entgegensetzen.

Wie kann man aber die islamische Lehre von ihrer
gewalttätigen islamistischen Instrumentalisierung
trennen? Diesbezüglich sind zwei Ansätze möglich:
Jene, die der Meinung sind, dass der Islam eine Frie-
densreligion ist, stützen sich in der Regel auf die
Rechtsnormen zur Regelung der Beziehungen zwi-
schen Muslimen und Nichtmuslimen, die galten, be-
vor die muslimische Gemeinschaft an militärischer
Stärke gewann.7

Kann man die Wut derjenigen, die den Extremisten
zum Opfer gefallen sind, «verzeihen» oder zumin-
dest verstehen? Sie haben alles andere im Sinn als
den spirituellen Elan (den Kampf gegen die Leiden-
schaften). Sollte man nicht vielmehr, allem Gegen-
wind zum Trotz, das Vertrauen in den Menschen
                                                                     17
8                       (Muslim oder Nichtmuslim) aufrechterhalten und
Le livre des pénétra-
                        sich bewusst werden, dass er sich selbst und sei-
tions métaphysiques,
1964, Neudruck:         nen Lebensraum zerstört? Wie kann man den auf-
Verlag Verdier, 1988.   richtigen Muslimen dabei helfen, zuzugeben, dass
                        «der Islam sich selbst bekriegt und dabei noch kein
                        Gleichgewicht gefunden hat zwischen dogmatischer
                        Lähmung und spiritueller Berufung, zwischen politi-
                        schem Joch und der Suche nach Weisheit?» (Jean
                        Birnbaum, Le Monde, 11. 2. 2015). Wie kann man
                        den Menschen helfen, die sich für einen spirituellen
                        Islam einsetzen? So, wie es die Dichter und Mystiker
                        getan haben: Ibn ‘Arabi (andalusischer Philosoph,
                        1165–1240) oder Molla Sadra Shirazi (iranischer
                        Philosoph, 1572–1640), der sagte: «Religion ist eine
                        persönliche Angelegenheit, und Gott darf nicht in
                        Ketten gelegt werden.»8

  18
Schlussfolgerung

Konkret muss es darum gehen, «allen Muslimen
und Musliminnen, die sich Tag für Tag dafür ein-
setzen, ihre Religion zurückzugewinnen und den
Islam von seinen islamistischen Ketten zu befreien,
zu helfen und ihnen beizustehen» (Jean Birnbaum,
idem). Das ist Grundvoraussetzung für ein gemein-
sames, friedliches Zusammenleben in einem bürger-
schaftlichen Raum, basierend auf Gewissensfreiheit
und Gleichheit.

Freiburg, im August 2020

Originalfassung: Französisch, erschien im Januar 2020
Deutsche Übersetzung: Cristina Jensen und Thomas Hayoz

                                                         19
Weiterführende Literatur:
                                                                    1. Sami A. Aldeeb Abu-Sahlieh, Der Dschihad im Islam.
                                                                       Interpretation der Koranverse zum Dschihad durch
                                                                       die Jahrhunderte, 2017.
                                                                    2. Mohamed El Bachiri, Mein Dschihad der Liebe. Ein bewegen
                                                                       der Aufruf eines Moslems zur Versöhnung, 2017.
                                                                    3. Michael Bonner, Jihad in Islamic History. Doctrines and
                                                                       Practice, Princeton 2006.
                                                                    4. Abu Hamid Al-Ghazali, Le jihâd contre soi-même. Comment
                                                                       dompter les passions de la nafs, améliorer le caractère et
                                                                       traiter les maladies du cœur ?, 2016.
                                                                    5. Oliver Roy, «Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod.»
                                                                       Der Dschihad und die Wurzeln des Terrors, 2017.
                                                                    6. Séga Seckou Sagna, «Qu’est-ce que le jihad?», 2018.
Arabische Friese, Marrakesch, Marokko, © ABC photos / Fotalia.com
Herausgeber und ©: Kommission für den Dialog mit den Muslimen,

Fassadendetail, Kathedrale Saint-Trophime, Arles, Frankreich
Internet: http://www.gruppe-islam.bischoefe.ch
Für den pastoralen Einsatz frei kopierbar
SBK, Postfach, 1701 Fribourg

Titelbild: CES/SBK

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