Der Dschihad Christen - Muslime: Was tun? - Kommission für den Dialog mit den Muslimen
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Christen – Muslime: Was tun? Der Dschihad Seelsorgehilfe 10 Kommission für den Dialog mit den Muslimen
VORBEMERKUNG Wie bei anderen Religionen auch sind die heiligen Schriften und die Grundtexte des Islams unter- schiedlichen und bisweilen sogar widersprüchlichen Lesarten und Interpretationen unterworfen. Der Be- griff «Dschihad» und seine Auslegung in der Politik und der Lehre des Islams im Verlauf der Geschichte stellen keine Ausnahme dar. 1 Das Thema «Dschihad» ist in politischen und gesell- Vgl. zum Beispiel die Studien der Zürcher schaftlichen Debatten allgegenwärtig. Verschiedene Hochschule für in den letzten fünf Jahren veröffentlichte Studien Angewandte belegen, dass das Phänomen der Radikalisierung Wissenschaften (ZHAW) von Juli des Dschihad auch in der Schweiz1 anzutreffen ist, 2015 mit dem Titel auch wenn es nur eine kleine Minderheit von Musli- «Hintergründe dschihadistischer men und Musliminnen betrifft. Doch was genau ver- Radikalisierung in stehen sie darunter, wenn sie von Dschihad reden? der Schweiz» und von Juni 2019 «Aktualisierte In dieser Broschüre werden vier Punkte aufgegriffen: Bestandes- aufnahme und 1. Die verschiedenen Verwendungen des Konzepts Entwicklungen «Dschihad» in der Prophetenzeit und gemäss dschihadistischer Radikalisierung den heiligen Schriften des Islams. in der Schweiz – 2. Der Dschihad bzw. das Konzept des Krieges in Aufdatierung einer explorativen Studie den Schriften der Rechtsgelehrten und der Rechts- zu Prävention und schulen des Mittelalters. Intervention», sowie 3. Der intermuslimische Dialog über den Dschihad von November 2018: «Verbreitung unter dem Druck der europäischen Moderne. extremistischer 4. Der Dschihad oder die Rechtfertigung der Gewalt Einstellungen und Verhaltensweisen im Rahmen des interreligiösen Dialogs und des unter Jugendlichen Zusammenlebens in demokratischen und plura- in der Schweiz». listischen Gesellschaften. 2
DER DSCHIHAD 1. Ambivalenz des Konzepts: Die Bedeutungen des Konzepts in der Propheten- zeit und gemäss den heiligen Schriften EIm Arabischen steht die Wortwurzel «dsch-h-d» etymologisch für «sich anstrengen, bemühen», «Anstrengung in Richtung auf ein bestimmtes Ziel». Die Silbe kommt im Koran 41-mal vor, davon 33-mal im Zusammenhang mit der Bedeutung von Streit und von Kampf. Im Bestreben, seine monotheistische Botschaft zu verbreiten, war Mohammeds einzige Erfolgschance gegen seine Gegner in Mekka während der Grün- derphase der bewaffnete Kampf, denn er musste nach dem Aufenthalt beim christlichen Negus von Äthiopien im 7. Jahrhundert sich und seine Anhänger verteidigen und einen sicheren Zufluchtsort finden. Der Begriff «Dschihad» hat im Koran je nach Zeit- punkt der Offenbarung der jeweiligen Suren eine andere Nuance. Die Suren werden – zumindest formal – unterteilt in mekkanische Suren (86 Suren, offenbart zwischen 610 und 622 n. Chr.) und in medinensische Suren (28 Suren, offenbart zwischen 622 und 632 n. Chr.). Daraus schliessen die muslimischen Rechtsgelehrten, dass die Bedeutung des Dschihad gestützt auf die verschiedenen histo- risch bedingten Auslegungen verschiedene Phasen durchlaufen hat. Allerdings scheint keine der welt- weit akzeptierten Definitionen bei allen Gelehrten der Scharia einstimmigen Zuspruch zu finden. 3
Mithilfe der Hadithe haben muslimische Exegeten und Historiker versucht, den Bedeutungsinhalt des Konzepts des Dschihad zu präzisieren. Wie bereits angedeutet, besteht teilweise Konsens darüber, dass zwischen dem «kleinen Dschihad» (dem Kampf gegen den Feind) und dem «grossen Dschihad» (dem Kampf gegen die eigenen Verfehlungen) un- terschieden werden muss. Der grosse sunnitische Rechtsgelehrte Abu Hamid al-Ghazali (1058–1111 n. Chr.) zitierte eine Tradition, die auf die Zeit des Propheten zurückgeht: «Als der Prophet gefragt wurde, welcher Dschihad der beste sei, antwortete der Gottesgesandte: der Kampf ge- gen die eigenen schlechten Eigenschaften.» (Zitiert nach: A. H. al-Ghazali, La mesure des Actes, Verlag Albouraq, 2005.) Averroes (auch bekannt unter dem arabischen Namen Ibn Ruschd, geboren 1126 in Córdoba, Spanien, gestorben 1198 in Marrakesch, Marokko), ist eine wichtige Figur in der Geschichte des Islams. Für ihn umfasst der Dschihad vier Arten von Anstrengungen: mit der Zunge, der Hand, dem Schwert und dem Herzen. Mit dem Herzen soll «gekämpft werden», um sich selbst oder die Gesell- schaft zu verbessern. Viele Sufis (Mitglieder religiös-mystischer Bruder- schaften) sahen den Dschihad sowohl als «grossen inneren Kampf» gegen die eigenen Leidenschaften als auch als «kleinen Dschihad», also als kriege- rischen Kraftakt. Diese Unterscheidung wird begründet durch eine Äusserung des Propheten Mohammed, der sagte, der kriegerische Dschihad müsse der spirituellen Anstrengung vorausgehen 4 (siehe Anmerkung 4).
Der bewaffnete Kampf wurde gemäss den Gepflo- 2 Konnten die genheiten der jeweiligen Zeit geführt: verwendet Christen zur Zeit wurden Bogen, Lanze, Säbel; man kämpfte zu Fuss der muslimischen Eroberungszüge in oder zu Ross (das Dromedar diente nur als Last- Europa von diesem tier). Man erklärte dem Gegner den Krieg und for- Status profitieren? Es darf nicht vergessen derte ihn auf, sich entweder zu unterwerfen oder werden, dass der den Kampf aufzunehmen. Mit anderen Worten: Kalif während der entweder man konvertierte zum Islam oder man gesamten euro- päischen Kolonialzeit wurde getötet oder gefangen genommen. Die so- nie zum Dschihad genannten «Leute des Buches» (Juden, Christen, gegen sie aufgerufen hat. Zoroastrier) mussten eine Kopfsteuer (Dschizya) entrichten und wurden als «Untertanen» oder als «Schutzbefohlene» (Dhimmis)2 betrachtet. Ziel des bewaffneten Kampfes war die Herrschaft des Ge- biets des Islams (Dar al-Islam) über das Gebiet der Ungläubigen (Dar al-Kufr). Das Wort «Dschihad» kann nicht nur auf seine Bedeutung als «Krieg oder bewaffneter Kampf» (für den das Wort «Qital noch geläufig ist) redu- ziert werden. Im Laufe der Geschichte des Islams scheint diese kämpferische Komponente – man denke beispielsweise an die Intrigen und Kämpfe zwischen den verschiedenen muslimischen Dynas- tien (Sunniten und Schiiten) sowohl in Damaskus als auch in Bagdad – an Bedeutung verloren zu haben. Die Mitglieder von Bruderschaften (die «Sufis»), unterstützt von Korankommentatoren, haben die Bedeutung von Dschihad verinnerlicht. 5
3 Schon in der Sira und der Sunna (= die Biographie Hadithe sind über- lieferte Aussprüche des Propheten Mohammed und die Hadithe3) wird oder Handlungen ein bewaffneter Kampf als untergeordneter Dschi- des Propheten had (oder «kleiner Dschihad») und der Kampf ge- Mohammed, die in einer Textsammlung gen sich selbst als übergeordneter Dschihad («gros- erwähnt werden, die ser Dschihad»)4 bezeichnet: Man ist vom «kleinen sämtliche Tradi- tionen im Zusam- Dschihad» (offensiv oder defensiv mit dem Ziel, menhang mit den den Islam zu verteidigen oder dessen geografische Handlungen und Worten Mohammeds Ausweitung zu erzielen) zum «grossen Dschihad» und seiner Anhänger übergegangen (dem Kampf gegen sein eigenes Ich umfasst. Die Kette der Überlieferer oder seine eigenen Leidenschaften). Dennoch blieb dieser Texte reicht das Konzept des Kriegs während der durch den be- bis zu Mohammed zurück. waffneten Kampf zahlreicher Sufis zur Verteidigung ihrer «Ribat» (Sufikonvents) geprägten islamischen 4 Geschichte weiter bestehen. Mohammed soll nach der Rückkehr aus einer Schlacht Der Dschihad wird also als Kampf gegen die Un- gesagt haben: «Wir sind vom kleinen gläubigen / die «Kuffar» verstanden. Aber – und in Dschihad (Kampf vermehrtem Masse – auch gegen die Apostaten. gegen den Feind) zurückgekehrt Das würde demnach eher einem «juristischen» Krieg für den grossen als einem «heiligen Krieg» ähneln. «Euch ist vorge- Dschihad» (den Kampf gegen die schrieben, (gegen die Ungläubigen) zu kämpfen, eigenen schlechten obwohl es euch zuwider ist. Aber vielleicht ist euch Eigenschaften). Allerdings hat etwas zuwider, während es gut für euch ist, und viel- dieser Hadith eine leicht liebt ihr etwas, während es schlecht für euch schwache Überlie- ferungskette; gemäss ist. Gott weiss Bescheid, ihr aber nicht.» (Koran 2, einer saudischen 216; zitiert nach der Übersetzung von Rudi Paret.) Fatwa entbehrt er gar jeglicher Grundlage (Abu Sahlieh, Der Gemäss traditioneller Auffassung der islamischen Dschihad im Islam, Normenlehre (Fiqh) darf man den Dschihad nicht S. 7). gegen Muslime führen; ausserdem muss das recht- mässige Oberhaupt einer Gemeinschaft – der Kalif oder einer seiner Vertreter, ein Emir oder – in der jüngsten Geschichte – ein Sultan – darüber ent- 6 scheiden. Ein Krieg unter Muslimen wird «Fitna»
oder Zwietracht genannt. Feindseligkeiten unter Muslimen werden als Kämpfe um Macht und Ge- genmacht ausgelegt. Oder aber um Rivalitäten mit dem Ziel, sich als legitimes Sprachrohr des wahren Islams zu etablieren. Der bewaffnete Dschihad hat als Argument gedient, um kriegerisch gegen die «Ungläubigen», manch- mal auch gegen andere muslimische Gruppierun- gen, die als Gegner, Rebellen, Ketzer oder Nicht- orthodoxe, also als sogenannte Kuffar, angesehen wurden, vorzugehen. Der Ausdruck «fî sabîl Allâh» oder «auf dem Weg Gottes», der im Koran mehr als sechzigmal vor- kommt, wird meist mit dem bewaffneten Dschihad verbunden. Die in westlichen Sprachen häufig ver- wendete Übersetzung «heiliger Krieg» ist unzuläng- lich. Im Islam sind Kriege entweder rechtmässig oder unrechtmässig, aber nicht heilig. 7
2. Der Dschihad bzw. das Konzept des Krieges in den Schriften der Rechtsgelehrten und den Rechts- schulen des Mittelalters Für die Rechtsgelehrten und traditionellen Exegeten ist der Dschihad nicht Bestandteil der fünf Säulen des Islams (das Bekenntnis des Glaubens an Allah als al- leinigen Gott und an den Propheten Mohammed, das Pflichtgebet, die Gabe von Almosen, das Fasten und die Wallfahrt nach Mekka). Diese fünf Säulen gelten als persönliche Pflichten, während der Dschihad allge- mein als kollektive Aufgabe für die gesamte muslimi- sche Gemeinschaft oder die Umma gilt, zu dem ein rechtmässiges Oberhaupt gestützt auf eine einstimmi- ge Auslegung aufrufen muss. Diese kollektive Pflicht kann mittels eines Waffenstillstands aufgehoben wer- den, wobei nicht vergessen werden sollte, dass es zwi- schen Muslimen und Nichtmuslimen keinen dauerhaf- ten Frieden geben kann. Hierbei sei noch erwähnt, dass für eine radikale oder streng ideologische Gruppe innerhalb der sunni- tischen Gemeinschaft der Dschihad als sechste Säule bzw. als eine abwesende Pflicht («al-farida al-gha'iba») gilt. Bei der Zwölfer-Schia ist er Teil der zehn religiösen Kulthandlungen. Die Pflicht, «den Dschihad zu machen», wird in zahl- reichen Passagen des Korans erwähnt, insbesondere in den Suren 8, 39 und 59–60 sowie in den Suren 9/5 und 47/4. Der Dschihad muss eine Aussicht auf Erfolg haben. 8
3. Der intermuslimische Dialog über den Dschihad unter dem Druck der europäischen Moderne Zu erwähnen sind hier die einflussreichen Schrift- steller, Philosophen und Theologen, die insbeson- dere in Ägypten grossen Einfluss hatten: Sie recht- fertigten den Dschihad vorab mithilfe der Botschaf- ten des Korans und sahen ihn als blosse kriegerische Tätigkeit. Ihre Korankommentare dienen einigen der Dschihadisten der Neuzeit als Grundlage. Taqi ad-Din Ahmad ibn Taymiyya (*1263 in Harran, der heutigen Türkei, †1328 im Gefängnis in Damas- kus, dem heutigen Syrien), war ein eher traditionalis- tischer Theologe und Rechtsgelehrter (faqih) der han- balitischen Rechtsschule. Die Zeit seines Lebens war geprägt von Konflikten um politischen Einfluss und der Verteidigung von Gebieten gegen die Mongolen. Letztere galten als Ungläubige, weil sie sich nicht zum Islam bekannt hatten. Ibn Taymiyya zeichnete sich ins- besondere durch seine Ablehnung von allem, was er im Vergleich zu den religiösen Praktiken der Frühzeit des Islams als Neuerung betrachtete aus. Und so lehn- te er das ab, was sowohl Al-Ghazali als auch andere (z. B. Ibn Arabi: *1165 in Murcia, Spanien; †1240 in Damaskus) als Korankommentare vorgeschlagen hat- ten. Seine Ablehnung richtete sich auch gegen die Lehren der muslimischen Philosophen (die «Falasifa»). Seine Meinung, die sich stark von jener der religiösen Elite unterschied, führte dazu, dass er mehr als einmal im Gefängnis endete. Heute berufen sich mehrere dschihadistische Gruppierungen auf ihn und argu- mentieren, man müsse das, was in der Vergangenheit Tradition war, vor «Neuerungen» (al-Bida’a) schützen. 9
Mohammed Ibn ‘Abd al-Wahhâb, dit «Ibn Abdel Mu- hammad Ibn Abd al-Wahhab, auch Ibn Abdelwah- hab genannt (*1703, †1792), lebte in der Region des Nadschd (auf der Arabischen Halbinsel), wo er in sei- nen Predigten eine puritanische Reform des Islams for- derte. Sein Ziel war die Rückkehr zu den «Salaf», den frommen Vorvätern, beziehungsweise den engsten Ge- fährten des Propheten, welche die Anfänge des Islams miterlebt hatten. Mohammed ben Abdelwahhab hatte sich insbesondere von Ibn Taymiyya inspirieren lassen, und er stützte sich auf das Verständnis des Korans und der Sunna, das er in der hanbalitischen Rechtsschule erworben hatte. Nachdem er aus seinem Geburtsort vertrieben worden war, fand Ibn Abdelwahhab Zuflucht in der von Mo- hammed Ibn Saud regierten Oase von Dariya. 1744 schlossen Mohammed Ibn Abdelwahhab und Moham- med Ibn Saud einen Pakt und gründeten das Emirat von Dariya, den ersten saudischen Staat. Dies war der Beginn eines Bündnisses, einer Vereinbarung zwischen den beiden Familien mit dem Zweck, die Macht zu tei- len, die noch heute im saudi-arabischen Königreich Be- stand hat. Die «Al al-Scheich», eine Familie religiöser Prediger und Nachkommen von Mohammed ben Ab- delwahhab, herrscht über die religiösen Institutionen des Staates und legitimiert so die politische und militä- rische Autorität der Familie der «al-Saud». Die Bewegung, die Mohammed ben Abdelwahhab auslöste, hat zwei Namen: Der Begriff des «Salafismus» gilt für mehrere Formen islamischer Reformen in ver- schiedenen Gegenden der Welt, während der «Wah- habismus» sich spezifischer auf seine saudische Aus- 10 prägung, eine strengere Form des Salafismus, bezieht.
Man darf auch nicht vergessen, dass der «Salafismus» 5 Für die Salafisten ist per se nicht von einer spezifischen politischen oder die Gründung eines militärischen Autorität5 abhängt, während der «Wahha- islamischen Staates normalerweise nicht bismus» untrennbar mit Saudi-Arabien verbunden ist an ein bestimmtes Territorium geknüpft. 3.1 Der Dschihadismus in den islamistischen Parteien 6 Im Jahre 1928 rief Hasan al-Banna in Ismailia, im Zit. nach Scheich Nordosten Ägyptens, eine transnationale, sunni- Youssef El-Qara- daoui, al-ikhwan tisch-islamische Organisation – die «Muslimbrüder» al-mouslimoun, – ins Leben. Al-Banna erklärte: «Der Islam ist eine Maktabet Wahba, 1999, S. 209. Religion und ein Staat, Koran und Säbel, Anbetung und Leadership.»6 Diese «Bruderschaft» besteht aus einem militärischen Apparat und einer Organi- sation, deren offizielles Ziel die islamische Wieder- geburt und der gewaltlose Kampf gegen «den be- herrschenden Einfluss des Westens» und «die blinde Nachahmung des europäischen Modells» auf dem Gebiet des Islams ist. Diese panislamische Organi- sation gilt offiziell bei mehreren Regierungen der arabischen Welt als eine Organisation mit terroris- tischem Charakter. Einige Anhänger haben unab- hängige Bewegungen gegründet, wie beispielswei- se die «Dschama'a al-islamiya» oder die «Hamas». Aufgrund der fundamentalen und bisweilen gewalttä- tigen Opposition der Muslimbrüder gegenüber laizi- stischen arabischen Staaten wurden die Muslimbrü- der in manchen Ländern verboten bzw. ihre Aktivi- täten eingeschränkt. Hauptzweck der Bewegung der Muslimbrüder bleibt der Kampf gegen den Staat Is- rael, so dass verschiedene Untergruppen seither die Gewaltanwendung ausserhalb Palästinas verurteilt 11
haben. Die Bewegung unterhält Beziehungen zu Institutionen, die den saudischen Wahhabismus för- dern. Sayyid Qutb (*9. 10. 1906 in Süd-Ägypten, †29. 8. 1966) war Dichter, Essayist und Literaturkri- tiker. Er stand den Kreisen rund um die nationalis- tischen ägyptischen Schriftsteller (politische Partei «Wafd») nahe und war Beamter im Bildungsministe- rium. 1948 wurde Qutb in die USA entsandt, offen- bar aufgrund seiner scharfen Kritik am ägyptischen Premierminister und an König Faruk. Nach seiner Rückkehr 1950 wandte er sich den Muslimbrüdern zu und übernahm die Leitung ihrer Publikationen, hielt aber von ihren politischen Aktivitäten Ab- stand. Allerdings übte er in seinen Schriften im Zu- sammenhang mit den Unabhängigkeitskämpfen in den arabischen Staaten harsche Kritik an der euro- päischen Kolonisierung, beklagte das Schicksal der muslimischen Minderheiten in den Ländern des Os- tens, der Philosophie des Islams und prangerte die ideologische Unterwanderung der arabischen Welt an. 1952 wurde die Monarchie gestürzt; der neu gewählte Gamal Abdel Nasser wurde im Oktober 1954 offenbar Ziel eines Attentats. Mitglieder der Muslimbrüder wurden ins Gefängnis gesperrt, und Sayyid Qutb wurde zu fünfzehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Nachdem er 1964 freigelassen worden war, kam er erneut in Haft und wurde schliesslich am 29. August 1966 gehängt. Während der sowjetischen Besetzung Afghanistans im Jahre 1979 gewinnt der Dschihadismus ideolo- gisch an Grösse und erhält eine antikommunistische Färbung. In diesem Zusammenhang taucht nament- lich Abdallah Azzam auf, der als Ikone einer poli- 12 tischen und religiösen Ideologie – des dschihadis-
tischen Salafismus – gilt und die Anwendung von Gewalt zur Errichtung eines islamischen Staats mit- tels Wiederherstellung des Kalifats befürwortet. Das Wort «Dschihadismus» wird vom Begriff «Dschihad» abgeleitet, daher der häufige Gebrauch des Ausdrucks «terroristischer Dschihad». Das Wort selbst ist ein Neologismus aus der Zeit der Wende zum 21. Jahrhunderts. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 erlebte der Begriff einen Aufschwung. Es waren insbesondere die radikalen muslimischen Denker, die ihn als «salafistischen Dschihad» verstanden, so etwa Abu Qatada (al- Filistini, *1959 in Bethlehem), Abu Mussab al- Suri (*1958 in Aleppo, Syrien,) oder Abu Moham- mad al-Maqdisi (*1959 in Barqa, Nablus). Die Bewegung weitete sich auf die Gesamtheit der islamischen Welt aus und wurde zur Hauptströmung des Dschihadismus. Zu Beginn des 21. Jahrhun- derts berufen sich terroristische Organisationen wie al-Kaida, der Islamische Staat (IS) oder Boko Haram auf den dschihadistischen Salafismus. Allerdings definiert jeder Experte den modernen Dschihadismus anders: Für einige bezieht sich dieser Begriff einzig und allein auf den dschihadi- stischen Salafismus, während andere ihn für nicht- salafistische Bewegungen verwenden. 13
3.2 Ansichten der liberalen Muslime über den Dschihad Wie bereits erwähnt, gibt es keine einheitliche De- finition des Begriffs Dschihad. Philosophen und is- lamische Theologen haben die Tradition der Refle- xion früherer Gelehrter fortgeführt. Darüber hinaus hat es ausschliesslich kriegerische Auslegungen des Dschihad gegeben, die nicht mehr dem «traditionel- len» Begriffsinhalt entsprechen. So haben beispiels- weise ein Krieg gegen andere Muslime im Rahmen terroristischer Akte, die wahllose Tötung selbst von Menschen, die als «Leute des Buches» sicher sein müssten, eine Interpretation der Worte des Koran ohne Konsens der anerkannten Gelehrten und das Abdriften in den Terrorismus unter dem Vorwand, einen «islamischen Staat» zu gründen, zu einer politreligiösen Situation geführt, die nicht gera- de dazu beigetragen hat, den Dschihad als eine in erster Linie geistliche Anstrengung zu betrachten. Einige Intellektuelle, Islamwissenschaftler und mo- derne Denker wollten eine auf die demokratischen Ideale der Neuzeit gestützte Auslegung des Islams vorantreiben. Hamadi Redissi, (*1952, Universi- tätsprofessor in Tunis) schrieb in seinem Werk «La tragédie de l’Islam moderne», Seuil-Verlag, 2011) auf Seite 144: «Es stimmt, dass die Sufis den Dschi- had gegen sich selbst sublimieren, aber meiner be- scheidenen Meinung nach gibt es niemanden, der den «kleinen (bewaffneten) Dschihad» für obsolet erklärt hätte. Derselbe Schriftsteller weist darauf hin, dass es in den Handbüchern des islamischen Rechts ein Kapitel mit dem Titel «Buch des Dschihad» gibt, das ausschliesslich dem «heiligen Krieg» gewidmet 14
ist, ohne dass ein Wort über den spirituellen Dschihad verloren würde. In einem anderen Buch («L’exception islamique», Seite 87, Seuil-Verlag, 2004) macht Hamadi Redissi die Leser darauf auf- merksam, dass es drei Nutzen gibt, nämlich einen proselytischen, einen finanziellen und einen staatli- chen Nutzen, wobei ausschliesslich die ersten beiden zum Konzept des Heiligen Krieges gehören und alle drei auf einem System gründen, das Feinde erfindet.» Andere «moderne Denker des Islams» (Rachid Ben- zine [*1971, Kenitra, Marokko], Islam und Moderne. Die neuen Denker, Verlag der Weltreligionen 2012) versuchen, ihren muslimischen Glauben dem Ein- fluss derjenigen zu entziehen, die ihn entstellen. Sie versuchen, für die islamische Lehre eine Form zu fin- den, die «im Einklang steht mit der modernen Welt, einer offenen Gesellschaft, in der Theologie und Politik endlich voneinander getrennt sind». So schrieb Abdelwahab Meddeb (*1946 in Tunis, †2018) 2004 in seinem Buch «Face à l’Islam» (Verlag Textuel): «Angesichts der gegenwärtigen Misere des Islams unter dem Einfluss des Islamismus müsste man zusammenzucken, aufwachen und wach blei- ben.» Und er fügte hinzu: «Es ist an der Zeit, den Islam von seinen islamistischen Dämonen zu be- freien.» Andere Theologen, Philosophen und zeit- genössische Schriftsteller haben dieselbe Besorgnis zum Ausdruck gebracht. Erwähnt seien Mohammed Arkoun (†2010), Hichem Djaït (*1935 : «La crise de la culture islamique» Fayard, 2003), Malek Chebel (†2016 : «Manifeste pour un islam des Lumières», Hachette Littérature, 2004), Abdennour Bidar (*1971: «L’islam sans soumission», Verlag Albin Michel, 15
«2012), Fethi Benslama (*1951: «Déclaration d’insoumission à l’usage des musulmans et de ceux qui ne le sont pas», Verlag Flammarion, 2005). Sie sind bemüht, der Lehre des Korans betreffend den Dschihad ihren in erster Linie spirituellen und religiösen Charakter zurückzugeben. Vor einiger Zeit ist ein sogenannter «sexueller Dschihad» (Dschihad al-Nikah) entstanden: Junge Frauen, Musliminnen oder Nichtmusliminnen, begeben sich in das Gebiet der «Dschihadisten», insbesondere in den Irak oder nach Syrien, um den Kämpfern vor Ort als Konkubinen oder Ehefrauen zu dienen. Hier sei darauf hingewiesen, dass islamische Ehen polygam sind und Lustvereinbarungen oder Zweckheiraten umfassen. Auch einige Europäerinnen begeben sich in dieser Funktion zu den Kämpfern. Sie riskieren bei einer Gefangen- nahme durch die rechtmässigen politischen Behörden des Aufenthalts- oder Herkunftslandes ein Gerichtsverfahren, bisweilen sogar eine lebens- längliche Haftstrafe. Die Kämpfer vor Ort scheinen sich keine grossen Gedanken um die Kinder, die aus diesen Beziehungen hervorgehen, zu machen: Gemäss Zeugenberichten von Personen, die nach Europa zurückgekehrt sind, gibt es Grund für Zweifel daran, dass die grundlegenden Rechte dieser Kinder gewahrt werden. 16
4. Der Dschihad oder die Recht- 7 fertigung der Gewalt im Rahmen des Aldeeb Abu Sahlieh, «Der Dschihad im interreligiösen Dialogs und des Islam», S. 8. Zusammenlebens in demokratischen und pluralistischen Gesellschaften Es ist manchmal schwierig, sich von den Taten der muslimischen Kämpfer, ob sie nun mit dem Islam konform sind oder nicht, nicht provozieren zu lassen und nicht wütend zu werden. Darüber hinaus ist es auch schwierig, sich nicht dazu verleiten zu lassen, sie mit dem Islam in einen Topf zu werfen. Zu be- haupten, die dschihadistischen Attentate hätten mit dem Islam nichts zu tun, würde nicht nur bedeuten, dass man davon ausgeht, die muslimische «Welt» sei nicht betroffen von ihren fanatischen Mitglie- dern, sondern würde den spirituellen Islam dem politischen Islam entgegensetzen. Wie kann man aber die islamische Lehre von ihrer gewalttätigen islamistischen Instrumentalisierung trennen? Diesbezüglich sind zwei Ansätze möglich: Jene, die der Meinung sind, dass der Islam eine Frie- densreligion ist, stützen sich in der Regel auf die Rechtsnormen zur Regelung der Beziehungen zwi- schen Muslimen und Nichtmuslimen, die galten, be- vor die muslimische Gemeinschaft an militärischer Stärke gewann.7 Kann man die Wut derjenigen, die den Extremisten zum Opfer gefallen sind, «verzeihen» oder zumin- dest verstehen? Sie haben alles andere im Sinn als den spirituellen Elan (den Kampf gegen die Leiden- schaften). Sollte man nicht vielmehr, allem Gegen- wind zum Trotz, das Vertrauen in den Menschen 17
8 (Muslim oder Nichtmuslim) aufrechterhalten und Le livre des pénétra- sich bewusst werden, dass er sich selbst und sei- tions métaphysiques, 1964, Neudruck: nen Lebensraum zerstört? Wie kann man den auf- Verlag Verdier, 1988. richtigen Muslimen dabei helfen, zuzugeben, dass «der Islam sich selbst bekriegt und dabei noch kein Gleichgewicht gefunden hat zwischen dogmatischer Lähmung und spiritueller Berufung, zwischen politi- schem Joch und der Suche nach Weisheit?» (Jean Birnbaum, Le Monde, 11. 2. 2015). Wie kann man den Menschen helfen, die sich für einen spirituellen Islam einsetzen? So, wie es die Dichter und Mystiker getan haben: Ibn ‘Arabi (andalusischer Philosoph, 1165–1240) oder Molla Sadra Shirazi (iranischer Philosoph, 1572–1640), der sagte: «Religion ist eine persönliche Angelegenheit, und Gott darf nicht in Ketten gelegt werden.»8 18
Schlussfolgerung Konkret muss es darum gehen, «allen Muslimen und Musliminnen, die sich Tag für Tag dafür ein- setzen, ihre Religion zurückzugewinnen und den Islam von seinen islamistischen Ketten zu befreien, zu helfen und ihnen beizustehen» (Jean Birnbaum, idem). Das ist Grundvoraussetzung für ein gemein- sames, friedliches Zusammenleben in einem bürger- schaftlichen Raum, basierend auf Gewissensfreiheit und Gleichheit. Freiburg, im August 2020 Originalfassung: Französisch, erschien im Januar 2020 Deutsche Übersetzung: Cristina Jensen und Thomas Hayoz 19
Weiterführende Literatur: 1. Sami A. Aldeeb Abu-Sahlieh, Der Dschihad im Islam. Interpretation der Koranverse zum Dschihad durch die Jahrhunderte, 2017. 2. Mohamed El Bachiri, Mein Dschihad der Liebe. Ein bewegen der Aufruf eines Moslems zur Versöhnung, 2017. 3. Michael Bonner, Jihad in Islamic History. Doctrines and Practice, Princeton 2006. 4. Abu Hamid Al-Ghazali, Le jihâd contre soi-même. Comment dompter les passions de la nafs, améliorer le caractère et traiter les maladies du cœur ?, 2016. 5. Oliver Roy, «Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod.» Der Dschihad und die Wurzeln des Terrors, 2017. 6. Séga Seckou Sagna, «Qu’est-ce que le jihad?», 2018. Arabische Friese, Marrakesch, Marokko, © ABC photos / Fotalia.com Herausgeber und ©: Kommission für den Dialog mit den Muslimen, Fassadendetail, Kathedrale Saint-Trophime, Arles, Frankreich Internet: http://www.gruppe-islam.bischoefe.ch Für den pastoralen Einsatz frei kopierbar SBK, Postfach, 1701 Fribourg Titelbild: CES/SBK 20
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