Whistleblower in der Wissenschaft - SWR2 Wissen

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SWR2 Wissen
Whistleblower in der Wissenschaft
Von Christine Westerhaus

Sendung: Donnerstag, 19. August 2021, 8:30 Uhr
(Erstsendung: Montag, 08. Juni 2020)
Redaktion: Sonja Striegl
Regie: Autorenproduktion
Produktion: SWR 2020/2021

Daten fälschen, Experimente erfinden – Betrüger gibt es auch in der Forschung. Wer
sie entlarvt, gilt gern als Nestbeschmutzer. Einen Schutz der Whistleblower kennt die
Wissenschaft nicht.

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MANUSKRIPT

Ausschnitt Dokumentation

„This study by Prof. Birbaumer is an important advance because it shows that people
who are totally locked in are able to communicate.“

Sprecherin:
Es ist das Jahr 2017. Professor Nils Birbaumer, Hirnforscher an der Universität
Tübingen, macht mit einer wissenschaftlichen Studie Schlagzeilen. Er habe eine
Methode entwickelt, mit der man mit so genannten „Lock-in“-Patienten
kommunizieren könne. Also mit Menschen, die vollständig gelähmt sind, nicht
sprechen, nicht mit den Wimpern schlagen können. Es ist eine medizinische
Sensation, über die Medien auf der ganzen Welt berichten. Doch der damals 33-
jährige Informatiker Martin Spüler weist nach, dass der renommierte Birbaumer und
sein Team die Studie manipuliert haben.

O-Ton 1 Spüler:
Dass da wirklich Daten gefälscht wurden, das wurde mir erst im Laufe des ganzen
Verfahrens klar. Quasi auch, weil nicht auf meine Kritik eingegangen wurde, sondern
es einfach nur darum ging, einen Kritiker zum Schweigen zu bringen.

Ansage: Whistleblower in der Forschung – Von Christine Westerhaus.

Sprecherin:
Seit Edward Snowden im Sommer 2013 die Abhörpraktiken des US-amerikanischen
Geheimdienstes NSA publik gemacht und damit seinen Arbeitgeber in eine Krise
gestürzt hat, kennen wir den Wert von Whistleblowern für die Gesellschaft. Um
Skandale aufzudecken und Unrecht anzuprangern, riskieren sie ihre Karriere und
manchmal ihre persönliche Sicherheit. Snowden erklärten die USA sogar zum
Staatsfeind. Das passiert mit Wissenschaftlern, die Missstände und Betrug in der
Forschung aufdecken, zwar nicht. Doch auch sie erzählen von Mobbing,
Einschüchterungsversuchen und Nachteilen für die Karriere. Die Mechanismen sind
erschreckend ähnlich. Ihre Kritik wird abgeschmettert:

O-Ton 2 Spüler:
Als ich die Sache angefangen habe, da habe ich auch noch gedacht, dass es sich
dabei um ehrliche Fehler handelt und ich bin eigentlich davon ausgegangen, was im
Nachhinein vielleicht ein bisschen naiv war, dass dann auch einfach gesagt wird:
O.k. da ist uns ein Fehler unterlaufen, und wir korrigieren den und Punkt.

Sprecherin:
Martin Spüler wurde 2018 zum Whistleblower. Er arbeitet damals an derselben
Universität wie Nils Birbaumer und dessen Kollege Dr. Ujwal Chaudhary. Die beiden
wollen in einem Experiment gezeigt haben, dass sie mit vollständig gelähmten
Menschen über eine spezielle Hirnkappe kommunizieren können. Damit hätten sie
die Hirnströme der Patienten abgelesen und erkennen können, dass die Gelähmten
einfache Fragen mit „Ja“ oder „Nein“ beantworteten. So schreiben es die Hirnforscher
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im renommierten Fachjournal „PLOS Biology“. Spüler hatte eine Methode entwickelt
zur Verbesserung von Brain-Computer Interfaces und wollte sein Programm auf den
Daten der Kollegen testen. Doch als Spüler die Daten in der Publikation nachrechnet,
ergeben sie für ihn keinen Sinn. Zunächst glaubt der Informatiker an ein Versehen.

O-Ton 3 Spüler:
Ich habe mir die Daten erst noch ein paarmal nachgerechnet, weil ich sichergehen
wollte, dass es nicht ein Fehler von mir ist. Und als nächstes habe ich Herrn
Chaudhary und Herrn Birbaumer angeschrieben und denen gesagt: Ich glaube, euch
ist da ein Fehler unterlaufen, irgendwas stimmt da nicht.

Sprecherin:
Doch die beiden Forscher wimmeln Martin Spüler mehrfach ab. Als er ankündigt,
eine Gegendarstellung in dem Fachmagazin zu veröffentlichen, in dem der
ursprüngliche Artikel publiziert wurde, versucht Birbaumer, den jungen Informatiker
einzuschüchtern. So erzählt es zumindest Martin Spüler.

O-Ton 4 Spüler:
Ich hätte keine Chance, irgendwie das zu veröffentlichen, er würde den Editor
kennen. Und im Endeffekt war es dann auch so. Und durch diesen ganzen Prozess
wurde mir auch klar, dass da viele Sachen nicht mit rechten Dingen zugehen.

Sprecherin:
Spüler wendet sich nun an den Ombudsmann der Universität Tübingen. Solche
Ombudsgremien haben an Hochschulen die Aufgabe, Fällen nachzugehen, in denen
sich Forscher nicht an die „gute wissenschaftliche Praxis“ halten. Also zum Beispiel,
wenn Daten manipuliert werden. Die Ombudsperson der naturwissenschaftlichen
Fakultät rät Martin Spüler, sich zunächst an den Dekan zu wenden. Dieser war
damals Spülers Vorgesetzter.

O-Ton 5 Spüler:
Ich bin zu meinem Chef hin, und der hat mir dann relativ klar gesagt, dass, wenn ich
die Sache weiterverfolge, wird das sehr negative Konsequenzen für meine Karriere
haben, und ich werde in der Wissenschaft keinen Fuß auf den Boden kriegen, wenn
ich das weiter mache.

Sprecherin:
Martin Spülers Geschichte ist kein Einzelfall. Wie ihm geht es den meisten
Whistleblowern in der Forschung. Sie wollen auf Missstände aufmerksam machen
und werden eingeschüchtert. Nicht selten wenden sich auch Kollegen gegen sie.
Whistleblower berichten von Mobbing und dem Gefühl, als Nestbeschmutzer zu
gelten. Einen wirksamen Schutz vor negativen Folgen gibt es für Whistleblower in
Deutschland nicht. Dabei haben sie eine wichtige Funktion in der Wissenschaft,
betont Professor Joachim Heberle von der Freien Universität Berlin.

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O-Ton 6 Joachim Heberle:
Das ganze wissenschaftliche System basiert auf Vertrauen, das muss man immer
noch sagen. Wir haben kein Wissenschaftsgesetz – aus guten Gründen gibt es das
nicht, aber es gibt eben kein Gesetz und es gibt auch kein Gericht für uns.

Sprecherin:
Joachim Heberle ist seit 2014 Mitglied im vierköpfigen Gremium „Ombudsman für die
Wissenschaft“. An diese nationale Anlaufstelle können sich Forscherinnen und
Forscher wenden, wenn sie auf Betrug und Mauscheleien aufmerksam machen
wollen. 2020 gab es beim Ombudsman für die Wissenschaft 196 Anfragen zu
wissenschaftlichem Fehlverhalten. 1998 hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft
DFG dieses Gremium etabliert, nachdem einer der größten Forschungsskandale in
der Krebsforschung aufgedeckt worden war. Professor Eberhardt Hildt, der heute am
Paul Ehrlich Institut in Langen arbeitet, hat damals die entscheidenden Hinweise
gegeben. So wie Martin Spüler stieß auch er auf große Widerstände, als er
Ungereimtheiten in den Publikationen seiner Vorgesetzten bemerkte. Der damals
renommierte Krebsforscher Friedhelm Herrmann und seine Kollegin Marion Brach
hatten systematisch Studien gefälscht oder Daten gleich ganz erfunden. Eberhard
Hildt kam Mitte der 1990er Jahre als junger Postdoc an die Abteilung für Hämatologie
und Onkologie des Universitätsklinikums in Ulm. Als er seine Vorgesetzten auf die
Ungereimtheiten anspricht, wird er von ihnen massiv unter Druck gesetzt. Sie
drohen, ihn Zitat „platt zu machen“, erinnert sich Eberhardt Hildt:

O-Ton 7 Eberhardt Hildt:
Natürlich hat man einerseits Angst – es wäre albern das irgendwie weg zu
diskutieren, weil man ist in einem materiellen Abhängigkeitsverhältnis. Aber macht
man nichts, ist man Teil des Systems geworden und das wäre ja viel schlimmer
gewesen. Das ist langfristig nicht tragbar.

Sprecherin:
Doch Hildt wird nicht nur von seinen Vorgesetzten unter Druck gesetzt. Auch
Kollegen wollen den unbequemen Mitarbeiter am liebsten loswerden. Diese
Reaktionen setzen dem Whistleblower besonders zu.

O-Ton 8 Hildt:
Wenn Sie von einem Beschuldigten unter Druck gesetzt werden, dann ist das, denke
ich, normal. Wenn Ihnen von anderer Seite da viel Ablehnung entgegenschlägt, dann
frustriert das schon.

Sprecherin:
Erst als Hildt Unterstützung von seinem ehemaligen Doktorvater bekommt, gerät das
ganze Ausmaß des Forschungsbetrugs ans Tageslicht. Zehn Jahre lang haben
Herrmann und seine Kollegin Marion Brach ihr System von gefälschten
Studienergebnisse aufrechterhalten. Zahlreiche Mitarbeiter wussten, was vor sich
ging. Doch sie schwiegen oder machten mit. Sogar die Tagesschau berichtete über
den Fall.

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O-Ton 9 Tagesschau-Clip:
Im Skandal um die Fälschungen von Ergebnissen in der Krebsforschung hat eine
Untersuchungskommission der Universität Ulm die Vorwürfe gegen den
renommierten Genmediziner Hermann erhärtet.

O-Ton 10 Eberhardt Hildt:
Mir war natürlich nicht klar, weil ich da ja auch natürlich auch völlig unvorbelastet
reingegangen bin, was das nach sich ziehen wird, wie lange sich das hinziehen wird
und was für verschiedene Konsequenzen das auch haben wird. Das war mir nicht
klar. Muss ich aber sagen, war mir letztlich auch egal.

Sprecherin:
Für manche Whistleblower ist es eine Gewissensfrage, andere wollen Gerechtigkeit,
oder handeln aus Pflichtbewusstsein. Nicht selten steht auch der eigene Ruf auf dem
Spiel. Denn manchmal wird Whistleblowern Neid oder Missgunst unterstellt. Zwar
gebe es vereinzelt Hinweisgeber, die Kollegen anschwärzen, um ihnen zu schaden.
Doch das sei eher die Ausnahme, berichtet Joachim Heberle aus seiner Erfahrung im
Ombudsgremium der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

O-Ton 11 Joachim Heberle:
Für mich sind Whistleblower eigentlich immer schützenswerte Personen, die ein
Anliegen haben, dass sie an uns herantragen, weil sie selber das nicht lösen können.
Das sind für mich Whistleblower. Das sind nicht irgendwelche Denunzianten, also
das nun überhaupt nicht, genau das Gegenteil.

Sprecherin:
Wenn sie nur geschützt würden… Martin Spüler weiß rückblickend nicht, ob er noch
einmal so hartnäckig wäre.

O-Ton 12 Martin Spüler:
Also die Augen verschließen wäre für mich auf jeden Fall nicht möglich. … Ob ich der
Sache nachgehen würde, weiß ich nicht es ist halt schon eine extrem heftige Sache
und ob ich mir das noch mal antun würde, glaube ich eher nicht. Insofern wäre die
einzige Option, die bleibt, dass man gleich sagt: Ich verschwinde hier und versuche
woanders mein Glück.

Sprecherin:
Möglicherweise bleiben viele Fälle von Forschungsbetrug unentdeckt, weil
Wissenschaftler in gehobenen Positionen ihre Macht gegen Whistleblower
ausspielen. Nils Birbaumer, dem Martin Spüler Datenmanipulation nachgewiesen
hat, ist ein weltbekannter Hirnforscher, der der Universität Tübingen viel Prestige
eingebracht hat. Auch international. Martin Spüler hingegen arbeitete als
unbekannter Informatiker am Institut für Computerwissenschaften der Hochschule,
als er die Datenmanipulationen aufdeckt. Seine Postdoc-Stelle war befristet. Gerade
am Anfang ihrer Karriere arbeiten die meisten Forschenden auf befristeten
Verträgen, die ohne Begründung beendet werden können.

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O-Ton 13 Martin Spüler:
Würde das ein bisschen anders laufen, dass man da zumindest die Sicherheit hat: O.
k. ich weiß auch, dass ich einen Job habe, selbst wenn ich das mache und dass ich
den Job dann behalte, das würde einem natürlich Sicherheit geben. Von daher wäre
das ein Ansatz.

Sprecherin:
Denn die oftmals jungen Whistleblower stehen unter enormem psychischen Stress,
sagt der Jurist Hans-Heinrich Trute, der viele Jahre an der Universität Hamburg
Ombudsman für die Wissenschaft war.

O-Ton 14 Trute:
Manche kommen an den Rand ihrer Kräfte, das muss man so konstatieren. Sie sind
häufig Verdächtigungen ausgesetzt, die ganz gezielt auch in die Öffentlichkeit
platziert werden, und das ist ganz gezielt, um sie sozusagen für die Zwecke der
Untersuchung im Grunde unmöglich zu machen.

Sprecherin:
Schlechte Bewertungen, Ausschluss von Fördergeldern und andere Nachteile sind
Mittel, mit denen Institutschefs unbequeme Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unter
Druck setzen können. Hans-Heinrich Trute kennt ein paar solcher Fälle aus seiner
Zeit als Ombudsmann, darf darüber aber nicht öffentlich erzählen. Er beklagt den
mangelnden Schutz von Menschen, die sich mit einem Verdacht an ihre
Vorgesetzten und die Ombudsgremien wenden. Weil Universitäten unterschiedlich
bereit seien, auf die Whistleblower einzugehen, griffen die zu anderen Mitteln:

O-Ton 15 Hans-Heinrich Trute:
Die versuchen es über andere zu machen oder über die Presse zu spielen, was
meines Erachtens eine Folge des fehlenden Schutzes ist.

Sprecherin:
Weil seiner Meinung nach von Seiten der Uni und der Deutschen
Forschungsgemeinschaft nicht viel passierte, informierte Martin Spüler schließlich die
Süddeutsche Zeitung, die den Fall recherchierte und darüber berichtete. Plötzlich
kam Bewegung in die Dinge.

Ein Problem in Deutschland ist – anders als in anderen Ländern, dass es keine
konkreten Regelungen gibt, die Whistleblower vor Nachteilen schützen, beklagt
Hans-Heinrich Trute.

O-Ton 16 Trute:
Und das wirft einfach die Frage auf, jenseits der Sonn- und Feiertagsreden, dass wir
alle dafür sind und so weiter: Welche konkreten Maßnahmen sind denn eigentlich
angedacht und dann kommen wir zu einem Problem, dass dieses nur ein
Gesetzgeber machen kann. Das geht nicht im Wege der Selbstorganisation, man
muss ein Gesetz schaffen, dass dann tatsächlich die Whistleblower auch freistellt.

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Sprecherin:
Dabei seien es inzwischen nicht mehr nur Nachteile für die Karriere, die
Whistleblower in Kauf nehmen.

O-Ton 17 Trute:
Was wir jetzt beobachten, ist eine viel größere Kampffähigkeit von Kolleginnen und
Kollegen, die sofort mit Anwälten anrücken, schon bei der ersten Anhörung. Die
werden praktisch schon gar nicht mehr selbstständig formuliert, die Stellungnahmen,
sondern das geht alles über den Anwalt und da wird dann auch sehr gezielt versucht,
Einfluss auf die Whistleblower zu nehmen, ihnen Schadensersatzklagen angedroht
und dann sagen die: Aber nicht mit uns. Es sei denn, man hätte eine Regelung bei
der zum Beispiel die Beweislast umgekehrt werden müsste zugunsten der
Whistleblower.

Sprecherin:
Viel zu oft kämen Missstände an den Forschungseinrichtungen nicht ans Tageslicht.
Zum einen, weil Forschende die betreffenden Institute einfach lautlos verlassen,
wenn sie den Druck nicht mehr aushalten. Zum anderen, weil
Forschungseinrichtungen Berichte über Mobbing oder Schikane nicht ernst genug
nehmen. Oder aus Angst vor Skandalen oder Prestigeverlust einfach ignorieren.
Doch das sollte Konsequenzen haben, meint Hans-Heinrich Trute.

OT 18 Trute:
„Wer so etwas macht und zulässt, der lässt zu, dass Leute verheizt werden und das
kann nicht sein. Und da müssen auch organisationsbezogene Maßnahmen getroffen
werden. Zum Beispiel, dass dann eben jemand für eine bestimmte Periode von der
Förderung ausgeschlossen werden. Das trifft sie sehr, da bin ich mir ziemlich sicher,
da wird dann viel härter durchgegriffen. Und das ist ja auch Reputations-schädigend.
(…) Das kann man sich sicherlich vorstellen und dann müssten sich Förderer, wie die
Volkswagenstiftung, die DFG und ähnliche, müssten sich da einfach bewegen.“

Sprecherin:
Dazu kommt der Konkurrenzkampf und ein Klima der Angst an Universitäten,
weshalb sich Forscher nicht trauen, eigenes wissenschaftliches Fehlverhalten zu
melden oder eigene Irrtümer einzugestehen. In den Niederlanden wurde 2018 ein
neuer Verhaltenskodex für gute wissenschaftliche Praxis eingeführt. Darin wird
ausdrücklich ein so genanntes „Blame-free-reporting“ gefordert: Forscher sollen
eigene Fehler offen diskutieren dürfen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.
Professor Lex Bouter von den Amsterdam University Medical Centers in den
Niederlanden hält das für ein wichtiges Instrument, um die gute wissenschaftliche
Praxis zu sichern.

O-Ton 19 Lex Bouter:
And the most important thing.. lot to do with power balances as well.

Übersetzung:
Das wichtigste ist eine offene Forschungsatmosphäre, in der Zweifel und eigene
Fehler diskutiert werden können. Mach niemanden Vorwürfe für Fehler, die er selbst

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zugibt, sondern analysiere sie mit ihm und hilf ihm oder ihr, diese in Zukunft zu
vermeiden. Und das hat auch viel mit den Machtverhältnissen zu tun.

Sprecherin:
Denn wer seine Mitarbeiter zu Höchstleistungen antreibe und schnelle Ergebnisse
und Publikationen erwarte, dulde meist keine Fehler. Und das könne begünstigen,
dass Forschende Abkürzungen nehmen, sagt Lex Bouter: Zum Beispiel, indem sie
ihre Daten frisieren, um sie publizieren zu können.

O-Ton 20 Lex Bouter:
So there is nothing wrong with some.... to cut a few corners at least.

Übersetzung:
Es gibt nichts gegen eine gewisse Konkurrenz unter Forschern einzuwenden. Doch
wenn diese zu groß wird und große Aggressionen entstehen, weil alle um wenige
Forschungsstipendien kämpfen müssen, dann ist Konkurrenz kontraproduktiv. Denn
dann wird es für die eigene Karriere günstig, mindestens ein paar Abkürzungen zu
nehmen.

Sprecherin:
Klar ist:
Der Druck auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist in den vergangenen
Jahren stark gewachsen. Wer keine publizierbaren Daten produziert, kann seine
Karriere schnell an den Nagel hängen. „Publish or perish“, „publiziere oder
verschwinde“, wie es im Forscherjargon heißt. Desto größer der Druck, umso größer
ist die Versuchung „Abkürzungen“ zu nehmen, sagt Joachim Heberle, Mitglied des
Gremiums Ombudsman für die Wissenschaft.

O-Ton 21 Joachim Heberle:
Das kann man auch korrelieren, dass dort, wo ein stärkerer Druck, also „publish or
perish“-Druck herrscht, dass dort auch die Gefahr des wissenschaftlichen
Fehlverhaltens größer ist. Also ich glaube, das kann man schon feststellen. Also das
hat was mit diesem Druck zu tun.

Sprecherin:
Vielleicht ist auch Oona Lönnstedt der Versuchung erlegen, ihrer Karriere einen Kick
zu verschaffen. Ende 2015 reicht die schwedische Biologin beim renommierten
Fachmagazin „Science“ die Ergebnisse einer Studie ein. Sie habe nachgewiesen,
dass Fische unter Mikroplastik leiden und kleine Kunststoffteilchen sogar lieber
fressen als echtes Futter. Doch den beiden Biologen Fredrik Jutfelt und Josefin
Sundin kommen schnell Zweifel, als sie die Publikation lesen. Sie hatten auf
derselben schwedischen Meeresforschungsstation gearbeitet wie ihre Kollegin und
deren Experimente gesehen.

Atmo (3) Treppen steigen runter in den Keller (unterlegen)

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Sprecherin:
In einem ganz ähnlichen Labor – auf der Meeresforschungsstation Kristineberg an
der schwedischen Westküste – erinnert sich Josefin Sundin an den Versuchsaufbau
der Kollegin.

Atmo (4) Labor

O-Ton 22 Sundin: Här låter det iaf så som det gjorde, med vattnet och så...

Übersetzung:
Hier drin hört es sich genauso an, wie damals. Mit dem Wasser und so!

Sprecherin:
Die Biologin deutet auf einige Aquarien mit kleinen Fischen. Im Regal daneben ein
paar Bechergläser, etwa so groß wie ein Bierkrug.

O-Ton 23 Josefin:
Det var ju mer som om man … Så såg det ut.

Übersetzung:
Es war fast so, als hätte jemand einfach ein paar solcher Bechergläser hier auf den
Tisch gestellt. Hier, solche! Nur ein paar Stück. Mit Wasser und ein paar Fischen
darin. In manchen viel Plastikpartikel, in anderen weniger. So sah das Experiment
aus.

Sprecherin:
Normalerweise messen Forscher bei solchen Experimenten eine Reihe von Daten.
Beispielsweise die Temperatur und den Sauerstoffgehalt des Wassers.

O-Ton 24 Sundin:
Det var lite oklart...

Übersetzung:
Es war nicht klar, was in dem Experiment untersucht wurde. Es gab es auch keine
Kontrolle.

Sprecherin:
Schon wenig später erscheint Lönnstedts Fachartikel in „Science“. Medien auf der
ganzen Welt berichten 2016 darüber: Junge Fische essen Plastik statt Plankton.

O-Ton 25 Nachrichten-Clip I:
„Instead of eating plancton, young fish are now eating plastic“

Sprecherin:
Als Josefin Sundin und Fredrik Jutfelt das Paper lesen, können sie es kaum fassen.
Die beiden entdecken viele Ungereimtheiten und wenden sich an die Uppsala
Universität, an der ihre Kollegin forscht. Unter anderem können sie beweisen, dass
die Kollegin kürzer auf der Forschungsstation gearbeitet hat, als das vermeintliche
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Experiment gedauert haben soll. Doch ein eingeleitetes Untersuchungsverfahren
wird schon nach kurzer Zeit eingestellt.

O-Ton 27 Jutfelt:
Det var ju en katastrof. …. Så vi var chockade.

Übersetzung:
Das war eine Katastrophe. Es war für uns völlig undenkbar, dass der Fall nicht weiter
untersucht wird, wo wir doch so viele Beweise hatten. Wir waren schockiert!

Sprecherin:
So wie den beiden Biologen erging es auch dem schwedischen Mediziner Karl-
Henrik Grinnemo. Als das renommierte Karolinska-Institut in Stockholm den
italienischen Starchirurgen Paolo Macchiarini rekrutiert, operieren die beiden dort
gemeinsam. Paolo Macchiarini hatte angeblich nachwachsende synthetische
Luftröhren entwickelt, die er kranken Patienten einpflanzte.

O-Ton 28 Grinnemo:
Det som gjorde att vi drog... Och det var ju svåra komplikationer hon fick.

Übersetzung:
Der Grund, warum wir die Operationen anzeigten, war die dritte Patientin, die damals
eine synthetische Luftröhre eingepflanzt bekommen hatte. Wir betreuten sie damals
auf der Intensivstation und sie bekam sehr schwere Komplikationen.

Sprecherin:
Paolo Macchiarini galt damals als genialer Pionier der Stammzellforschung. Seine
angeblich nachwachsenden Luftröhren sollen dem Karolinska-Institut zu Weltruhm
verhelfen. Doch fast alle Patienten, denen Macchiarini eine künstliche Luftröhre
einsetzt, sterben später. Als Karl-Henrik Grinnemo und drei weitere Kollegen die
Leitung des Karolinska-Instituts alarmieren, unternimmt diese nichts gegen den
italienischen Chirurgen. Im Gegenteil. Grinnemo und seine Kollegen sind
anschließend diejenigen, die kräftigen Gegenwind spürten.

O-Ton 29 Grinnemo:
Det är ju fruktansvärt...Där man kämpar bara för att krossar en.

Übersetzung:
Es war furchtbar, plötzlich wurde klar, wer meine wirklichen Freunde sind – und es
blieben nicht viele übrig, kann ich sagen. Es war wirklich eine deutliche
Mobbingkultur bei der Arbeit, als kämpften alle darum, uns fertig zu machen.

Sprecherin:
Sogar als später ein externer Gutachter eklatante Fehler in Macchiarinis
wissenschaftlichen Veröffentlichungen nachweist, stellt sich die Leitung des
Karolinska-Instituts hinter den italienischen Chirurgen. Grinnemo und seine Kollegen
können es nicht fassen.

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O-Ton 30 Grinnemo:
Det var en fruktansvärd tillvaro … Så jag funderar verkligen på att byta bana.

Übersetzung:
Das war hoffnungslos. In diesem Moment waren wir verloren, denn wir wurden
faktisch als Lügner abgestempelt, die falschen Alarm gegeben hatten. Und das war
ein Freifahrtschein, uns noch mehr zu schikanieren. Plötzlich wurden wir wegen
wissenschaftlichen Fehlerhaltens und allem Möglichen angezeigt. Es war wirklich
eine furchtbare Zeit und ich habe damals darüber nachgedacht, meinen Job komplett
an den Nagel zu hängen.

Sprecherin:
Trotz vieler Beweise gelingt es Grinnemo und seinen Kollegen nicht, Macchiarini zu
stoppen. Der italienische Chirurg setzt seine Operationen in Russland fort. Und
schmückt sich dort mit seinem berühmten Arbeitgeber, dem Karolinska-Institut. Diese
Forschungseinrichtung ist weltbekannt, weil sie alljährlich die Nobelpreise für Medizin
vergibt. In Russland sterben weitere Menschen an den Folgen einer Luftröhren-
Operation. Am Ende kann erst eine Dokumentation im schwedischen Fernsehsender
SVT Paolo Macchiarini stoppen. Nach der Ausstrahlung reagiert die Leitung des
Karolinska-Instituts auf Druck der Öffentlichkeit: Der italienische Chirurg und sein
Forschungsteam werden entlassen, auch der Chef des Instituts und weitere
Führungsmitglieder räumen ihren Posten. Inzwischen ist klar: Sämtliche
Publikationen über den Erfolg der Luftröhren-Transplantationen waren manipuliert.
Beruflich hat Karl-Henrik Grinnemo das Nachsehen. 2016 wechselt der Mediziner an
das Universitätskrankenhaus in Uppsala. Er hält den psychischen Druck am
Karolinska-Institut nicht mehr aus.

O-Ton 31, Grinnemo:
Det var en enorm stress. … jag kommer tillbaka till mitt normala jag igen.

Übersetzung:
Es war ein enormer Stress. Seit Herbst 2013 habe ich schlecht geschlafen und hatte
die ganze Zeit das Gefühl, dass mir meine Chefs in den Rücken fallen wollen.
Darunter hat auch meine Familie gelitten, weil ich die ganze Zeit sehr schlecht drauf
und labil war. So lief das die ganzen Jahre – erst jetzt habe ich das Gefühl,
allmählich wieder ich selbst zu sein.

Sprecherin:
Auch Fredrik Jutfelt empfand die Zeit, in der er Beweise gegen seine Kollegin Oona
Lönnstedt sammelte, als extrem belastend.

O-Ton 32, Jutfelt:
jag har ju drömt.. med runt i 10 månader tills vi fick rätt.

Übersetzung:
Ich hatte richtige Albträume in dieser Zeit. Und in gewisser Weise war das alles ein
Albtraum. Wir haben in diesen zehn Monaten ständig darüber diskutiert, uns rund um
die Uhr damit beschäftigt. Bis wir Recht bekommen haben.

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Sprecherin:
Die Studie über Mikroplastik wird später von einer Untersuchungskommission als
gefälscht entlarvt. Kurze Zeit später zieht das Fachmagazin „Science“ das Paper
zurück. Offiziell bedankt hat sich niemand bei ihnen. Transparency International
Sweden zeichnet Grinnemo und seine Mitstreiter 2016 als Whistleblower des Jahres
aus.

O-Ton 34, Jutfelt:
Nu känns det som … fusk så känns det bättre.

Übersetzung:
Jetzt habe ich das Gefühl, dass es die Sache Wert war. Zwischendurch fühlte es sich
hoffnungslos an. Aber jetzt wo bewiesen ist, dass wir Recht hatten und der Artikel
zurückgezogen wurde, fühlt es sich besser an.

Sprecherin:
Auch die beiden deutschen Whistleblower Eberhardt Hildt und Martin Spüler bereuen
es nicht, viel Zeit und Energie investiert zu haben, um die Wahrheit ans Licht zu
bringen. Eberhardt Hildt hat trotz der Widerstände Karriere gemacht. Er ist Professor
und leitet am Paul-Ehrlich-Institut in Langen eine eigene Arbeitsgruppe. Ob er dieses
Ziel schneller erreicht hätte, wenn er seinen Chefs damals nicht auf die Füße
getreten wäre?

O-Ton 35, Hildt:
Das ist eine hypothetische Frage. Natürlich, in dem Moment, in dem man irgendeinen
Misserfolg hat, neigt man natürlich schon dazu spontan zu sagen: „Ach das liegt jetzt
daran“. Ich denke, objektivierbar nur in einem Fall mal, wo ich eine Bewerbung auf
eine Professur zurückgekriegt habe – weitestgehend ungelesen, aber wo drinnen ein
Zettel gelegen hat: „Wir wollen hier keine Schnüffler“. Das war ein bitterer Moment,
das muss ich wirklich sagen. Das hat mich ein, zwei Tage schon ziemlich
umgehauen.

Sprecherin:
Martin Spülers Karriere an der Universität Tübingen wurde beendet. Sein
Vorgesetzter am Institut für Computerwissenschaften hat den befristeten
Arbeitsvertrag des Informatikers nicht verlängert. Ganz so wie er es Spüler
prophezeit hatte.

O-Ton 36 Spüler:
Eine offizielle Begründung gab es da nicht, er wurde halt nicht verlängert. Mit der
Vorgeschichte war mir klar, warum das nicht verlängert wurde, aber eine offizielle
Begründung gab es nicht. Und ist ja auch nicht nötig, muss man ja auch nicht
begründen. Im Vorfeld wurde mir ja ziemlich klar gesagt, wie die Sache steht, von
daher waren auch weitere Gespräche überflüssig.

Sprecherin:
Eine Untersuchungskommission der Universität Tübingen bestätigte 2019, dass Niels
Birbaumer und sein Kollege, Dr. Ujwal Chaudhary, Daten manipuliert haben.

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Dafür bekamen beide Forscher eine Rüge von der Uni. Die Deutsche
Forschungsgemeinschaft DFG, die Birbaumers Studien gefördert hatte, hat
Birbaumer und seinen Kollegen für fünf Jahre von der Förderung ausgeschlossen.
Sie müssen einen Teil der Forschungsgelder zurückzahlen. Zudem hat die Deutsche
Gesellschaft für Psychologie Niels Birbaumer die Ehrenmitgliedschaft entzogen.
Genauso wie die Deutsche Gesellschaft für Psychophysiologie und ihre Anwendung.
Strafrechtlich verfolgt – etwa wegen Betrugs – wurden Birbaumer und Chaudhary
nicht. Die Forscher weisen die Vorwürfe zurück, über einen Rechtsanwalt haben sie
Klage gegen die Urteile eingereicht. Auf einer Internetseite haben sie zudem die
Namen von Unterstützern gesammelt.

Schutzmechanismen oder finanzielle Unterstützung für Whistleblower gibt es bei der
DFG nicht. Auf Anfrage hieß es, man könne Hinweisgebern nur Anonymität
zusichern. Spülers Arbeitsvertrag sei Sache der Universität Tübingen. Martin Spüler
arbeitet inzwischen in der Industrie. Seine Karriere als Forscher an der Universität
Tübingen hätte er gerne fortgesetzt. Dennoch ist er nicht verbittert.

O-Ton 37 Martin Spüler:
Ich hatte einfach auch gemerkt, dass meine Vorstellungen von dem
Wissenschaftssystem und wie Wissenschaft laufen sollte, dass die Realität damit
eigentlich sehr wenig zu tun hat. Und ich glaube, das war das, was mir am meisten
zugesetzt hat. Weltbild zusammenbrechen ist vielleicht zu viel gesagt, aber im
Kleinen, dass die Vorstellung, die man von der Wissenschaft so hat, einfach
zusammenbricht und man merkt: Das funktioniert absolut nicht so, wie es
funktionieren sollte.

Sprecherin:
Welchen Wert Whistleblower für die Gesellschaft haben, ist seit Edward Snowden
und Julian Assange, dem Gründer der Online Plattform Wikileaks, bekannt. Viele
Menschen setzen sich dafür ein, sie besser vor Nachteilen zu schützen. Doch
während sie in manchen Ländern umfassenden Schutz genießen, gibt es in
Deutschland noch immer kein Whistleblower-Gesetz. Auf EU-Ebene wurde zwar
Ende 2019 beschlossen, Whistleblower besser zu schützen. Doch deutsche
Unternehmen mit weniger als 250 Beschäftigten haben noch bis Ende 2023 Zeit,
diese Richtlinien umzusetzen. In weiten Teilen Europas verlässt sich die Gesellschaft
noch immer darauf, dass Menschen ihrem Gewissen folgen und viele Nachteile dafür
riskieren.

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