Der organisierte Kinder- und Jugendsport - Partner in Bildungsnetzwerken?

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Der organisierte Kinder- und Jugendsport - Partner in Bildungsnetzwerken?
Neuber, N. (2014). Der organisierte Kinder- und Jugendsport – Partner in Bildungsnetzwerken? In Evangelische
Kirche Deutschlands, Katholische Bischofskonferenz & Deutsche Sportjugend (Hrsg.), Bildung ist mehr als
Schule (Dokumentation der Tagung vom 19.-20.4.2012 in Berlin). Frankfurt: Selbstverlag (i. Dr.).

Nils Neuber

Der organisierte Kinder- und Jugendsport –
Partner in Bildungsnetzwerken?

1      Einleitung
Das Bildungsthema gehört nach wie vor zu den großen Herausforderungen moderner Ge-
sellschaften: Bildungsstandards, Bildungsnetzwerke, Bildungsmonitoring und vieles mehr
sollen zur Qualitätssteigerung des Bildungswesens beitragen. Dabei geht es um mehr als
nur eine erneute Bildungsreform; sichtbar werden vielmehr „die Konturen eines umfassenden
und grundlegenden Strukturwandels des Erziehungs- und Bildungssystems, wie es sich in
seiner vorliegenden Gestalt in Deutschland seit etwa dem frühen 19. Jahrhundert herausge-
bildet hat“ (Grunert & Wensierski, 2008, S. 9, Hervorhebung N.N.). Dieser Strukturwandel
umfasst sowohl die Ausweitung des öffentlichen Bildungsauftrags von der frühen Kindheit bis
hinein ins Erwachsenenalter („Lebenslanges Lernen“) als auch die zunehmende Verzahnung
bislang getrennter Bildungsinstitutionen wie Familie, Schule, Jugendhilfe, Berufsausbildung
und Hochschule („Bildungsnetzwerk“).

Auch der gemeinwohlorientierte Kinder- und Jugendsport bleibt davon nicht unberührt. Als
der mit Abstand größte Anbieter außerschulischer Jugendbildung treffen der Ausbau der
Ganztagsschule und die Schulzeitverkürzung im Gymnasium (G 8) den Sport besonders
hart. Nicht nur, dass Kinder und Jugendliche erst später am Tag Zeit für Sportangebote ha-
ben, auch Sportstätten und Übungsleiter stehen erst später zur Verfügung. Letztlich hat das
bereits jetzt zu einem massiven Wandel der Angebotsstruktur von Sportvereinen geführt. Die
neuen Rahmenbedingungen bieten aber auch Chancen für eine zeitgemäße Neuausrichtung
des Kinder- und Jugendsports. Ausgehend von der außerschulischen Bildungsdebatte wer-
den Möglichkeiten des Sports in kommunalen Bildungslandschaften skizziert.

2       Außerschulische Bildungsdebatte
Während die schulische Bildungsdebatte von der Frage nach dem Ertrag des deutschen
Schulsystems dominiert wird, kreist die außerschulische Bildungsdebatte um das Zusam-
menspiel unterschiedlicher Bildungsmodalitäten und -orte. Vor dem Hintergrund des 12. Kin-
der- und Jugendberichts der Bundesregierung wird davon ausgegangen, dass Bildung heut-
zutage „nur angemessen erfasst werden [kann], wenn die Vielfalt der Bildungsorte und
Lernwelten, deren Zusammenspiel, deren wechselseitige Interferenz und Interdependenz,
aber auch deren wechselseitige Abschottungen wahrgenommen werden“ (BMFSFJ, 2005, S.
104). Entsprechend sind neben der Schule auch die Bildungspotenziale anderer Lernorte
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und -arrangements, wie z.B. Familien, Gleichaltrigengruppen, Vereine, Verbände, Medien
oder kommerzielle Anbieter, zu berücksichtigen. Damit geht die Frage einher, wie die unter-
schiedlichen Bildungsmöglichkeiten sinnvoll aufeinander bezogen werden können.

Grundlage der Bildungsdiskussion ist ein differenziertes Lernverständnis, das je nach Lern-
ort, Lerninhalt und Inszenierung des Lernens verschiedene Arten des Lernens („Lernmodali-
täten“) unterscheidet (vgl. Rauschenbach, Düx & Sass, 2006):

       Schulisches Lernen folgt danach vorrangig einem formellen Lernbegriff, der in der
        Regel auf zielgerichteten, strukturierten und verpflichtenden Erziehungs- und Unter-
        richtsprozessen beruht, die zertifiziert werden (z.B. durch die Sportnote).
       Demgegenüber steht ein informeller Lernbegriff, der mehr oder weniger ungeplant,
        unorganisiert und freiwillig in der Freizeit, aber z.B. auch auf dem Schulhof geschieht,
        dennoch aber wichtige Impulse für die Entwicklung Heranwachsender gibt.
       Angebote der Kinder- und Jugendhilfe basieren auf einem non-formalen Lernbegriff,
        der durchaus zielgerichtet und geplant, allerdings prinzipiell freiwillig und nicht zertifi-
        ziert abläuft; das betrifft z.B. auch die Ganztagsangebote außerschulischer Partner.

Die analytisch getrennten Lernmodalitäten lassen sich im Lebensalltag allerdings oft nur
schwer auseinanderhalten, weshalb sich zunehmend ein vernetztes Denken durchsetzt. Ei-
nen Vorschlag für den Sport hat Heim (2008) in Anlehnung an den 12. Kinder- und Jugend-
bericht der Bundesregierung vorgelegt. Er unterscheidet einerseits formale und non-formale
Rahmenbedingungen, z.B. in Schule und Sportverein. Anderseits differenziert er zwischen
formellen und informellen Bildungsprozessen, die sowohl unter formalen als auch unter non-
formalen Bedingungen auftreten (vgl. Abb. 1). So kann der Sportunterricht in der Schule als
formeller Bildungsprozess in einem formalen Setting verstanden werden, das freie Spiel auf
dem Schulhof dagegen als informeller Bildungsprozess unter formalen Bedingungen. Eine
Gruppenhelferausbildung im Sportverband ist ein weitgehend formalisierter Bildungsprozess
in einem non-formalen Setting, während das Gespräch unter Jugendlichen in einer Wett-
kampfpause informellen Charakter hat und unter non-formalen Bedingungen stattfindet. Ins-
gesamt greifen die verschiedenen Bildungsformen unter den jeweils spezifischen Bedingun-
gen ineinander (vgl. Neuber, 2011). Diese Sichtweise ist auch für die Kooperation in Bil-
dungsnetzwerken leitend.

3       Sport in kommunalen Bildungsnetzwerken
Die Idee des Bildungsnetzwerks bzw. der Bildungslandschaft geht davon aus, dass jeder
Mensch nach seinen Fähigkeiten und Begabungen gefördert werden soll. Der Bildungserfolg

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soll vom individuellen Potenzial und nicht von der sozialen Herkunft abhängig sein. Bildungs-
landschaften setzen darum bei der Bildungsbiografie jedes einzelnen Menschen an. Komun-

Abb. 1: Sportbezogene Bildungsorte und Bildungsmodalitäten (Heim, 2008, S. 38).

ale Bildungsanbieter, wie Kindertagesstätten, Schulen, Jugendhilfeeinrichtungen, Kirchen
und Sportvereine, kooperieren, um das einzelne Kind, den einzelnen Jugendlichen möglichst
optimal zu fördern. Dafür bedarf es eines öffentlichen Gesamtkonzepts von Erziehung, Bil-
dung und Betreuung in einer Kommune. Zusammenfassend können Bildungslandschaften
damit verstanden werden als „langfristige, professionell gestaltete, auf gemeinsames, plan-
volles Handeln abzielende, kommunalpolitisch gewollte Netzwerke zum Thema Bildung, die
ausgehend von der Perspektive des lernenden Subjekts formale Bildungsorte und informelle
Lernwelten umfassen und sich auf einen definierten lokalen Raum beziehen“ (Bleckmann &
Durdel, 2009, S.12).
Die Ausgestaltung von Bildungslandschaften kann gleichwohl sehr unterschiedlich erfolgen.
Auf einer strukturellen Ebene unterscheidet Eisnach (2011) bspw. vier Modelltypen: Eine
schulzentrierte Variante, in der die Schule im Zentrum der Entwicklung steht, eine kooperati-
onszentrierte Variante, in der die gleichberechtigte Kooperation unterschiedlicher Bildungs-
anbieter leitend ist, Qualifizierungslandschaften, in denen die berufliche Aus- und Weiterbil-
dung im Fokus steht, sowie multidimensionale Bildungslandschaften, in denen alle Bildungs-
anbieter und Bildungsorte integriert werden. Zur weiteren Analyse schlägt eine Forschungs-
gruppe des Deutschen Jugendinstituts (DJI) vor, Bildungslandschaft anhand von vier zentra-
len Dimensionen zu beschreiben (vgl. Täubig, 2009, S. 305; Schalkhaußer & Thomas, 2011,
S. 42):

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   Bei der Planungsdimension geht es auf der Ebene von Politik und Verwaltung darum,
    dass sich Stadtplanung, Schulentwicklungs-, Jugendhilfeentwicklungs- und letztlich auch
    Sportentwicklungsplanung aufeinander beziehen. Die früher getrennten Verwaltungs-
    apparate werden in einer gemeinsamen Verwaltungseinheit zusammengefasst.
   Die zivilgesellschaftliche Dimension verweist auf den partizipativen Charakter der Bil-
    dungslandschaften und knüpft damit an ein „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“
    (BMFSFJ, 2002) an. Die Akteure der jeweiligen Netzwerke und vor allem die Heran-
    wachsenden und ihre Eltern sollen an der Planung beteiligt werden.
   Die Aneignungsdimension bezieht sich auf die Subjektperspektive und soll anregende
    Lern- und Lebensumgebungen ermöglichen, um „Aneignungs- und Gelegenheitsstruktu-
    ren im lokalen Raum zur Anregung des informellen, selbstorganisierten Lernens außer-
    halb von pädagogisch vorarrangierten Bildungssettings“ zu schaffen (Schalkhaußer &
    Thomas, 2011, S. 42).
   Mit der Professionsdimension ist das Selbstverständnis der pädagogischen Professio-
    nen angesprochen, „die sich mit den sich ändernden Rahmenbedingungen wandeln
    (sollten)“ (Täubig, 2009, S. 305). Darüber hinaus wird auf die Notwendigkeit der Arbeit
    und Fortbildung in multiprofessionellen Teams hingewiesen.

Die vier Dimensionen einer Bildungslandschaft stehen in Wechselbeziehung zueinander. Der
Diskurs um Bildungslandschaften dreht sich derzeit allerdings „noch sehr stark um institutio-
nelle Planungs- und Vernetzungsfragen, die bildungstheoretischen Grundlagen der Zusam-
menarbeit bleiben häufig unterbestimmt“ (Stolz, 2009, S. 88). Das gilt auch für die Rolle des
Sports in Bildungsnetzwerken. Erste Ansätze befassen sich vor allem mit der Bestimmung
des Verhältnisses von Schule und organisiertem Sport (vgl. Pack & Ackermann, 2011). Tat-
sächlich bietet die Ganztagsschuldebatte zahlreiche Anknüpfungspunkte, z.B. auf der Pro-
fessionsebene. Allerdings wird die sportbezogene Diskussion entsprechend stark schul-
zentriert geführt, kooperationszentrierte Ansätze sind noch Mangelware. Das mag auch da-
mit zu tun haben, dass es der gemeinwohlorientierte Kinder- und Jugendsport - obwohl er
anerkannter freier Träger der Jugendhilfe ist - oft schwer hat, als pädagogisch bedeutsamer
Partner anerkannt zu werden. Häufig wird noch zwischen Jugendhilfe- und Sportangeboten
unterschieden. Dahinter steht die normative Unterscheidung zwischen unverbindlichem
‚Sporttreiben’ einerseits und pädagogisch gehaltvoller ‚Jugendarbeit’ anderseits, die in Zeiten
informeller Lernprozesse allerdings so nicht mehr haltbar ist (vgl. Golenia & Neuber, 2010).

5      Fazit
Der gesellschaftliche Strukturwandel macht vor dem Erziehungs- und Bildungssystem nicht
halt. Die Ausweitung des Bildungsauftrags auf die gesamte Lebensspanne sowie die zu-

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nehmende Vernetzung von Bildungsanbietern stellt auch den organisierten Kinder- und Ju-
gendsport vor neue Herausforderungen. Allerdings gilt es, seine Rolle in kommunalen Bil-
dungslandschaften zu schärfen. Die zentralen Entwicklungsaufgaben, in die jeweils auch der
Sport integriert sein sollte, lassen sich in sechs Punkten zusammenfassen (vgl. Neuber,
2009; Schulz-Algie, Derecik & Stoll, 2009; Pack & Ackermann, 2011):

    (1) Auf der Grundlage eines parteien- und institutionenübergreifenden Konsenses soll-
         ten gemeinsame Konzepte von Bildungslandschaften vor Ort entwickelt werden.
    (2) Durch die Entwicklung einer Aushandlungs- und Partizipationskultur sollte eine Ko-
         operation unterschiedlicher Bildungsanbieter auf Augenhöhe entstehen.
    (3) Eine lokale Sozial- und Bildungsberichterstattung sollte Indikatoren für das Gelingen
         von Bildungsbiografien erfassen.
    (4) Auch im Rahmen der Ganztagsschulentwicklung sollte eher auf Kooperation als auf
         Addition von Angeboten gesetzt werden.
    (5) Durch eine koordinierte Fortbildungsplanung sollten Qualifizierungsangebote über
         die Institutionsgrenzen hinweg möglich werden.
    (6) Die Finanzierung der Zusammenarbeit sollte über eine Sicherstellung der nötigen
         Ressourcen langfristig garantiert werden.

6      Literatur
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Pack, R.-P. & Ackermann, S. (2011). Sport als Netzwerkpartner in kommunalen Bildungslandschaften.
    In M. Krüger & N. Neuber (Hrsg.), Bildung im Sport – Beiträge zu einer zeitgemäßen Bildungsde-
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