Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen: Symptome und Therapie - Lutz Goldbeck
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Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen: Symptome und Therapie Lutz Goldbeck KJP Vorlesung WS 2011/2012 10.01.2012
Polizeiliche Kriminalstatistik: Misshandlung (§ 225 StGB) und sexueller Missbrauch (§ 174 StGB) von Schutzbefohlenen Anzahl pro 100.000 40 Misshandlung Kinder < 35 14 Jahre 30 Misshandlung 25 Jugendliche 14-17 Jahre 20 sexueller Missbrauch 15 Kinder < 14 Jahre 10 sexueller Missbrauch 5 Jugendliche 14-17 Jahre 0 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 Pillhofer, M., Ziegenhain, U., Nandi, C., Fegert, J.M., Goldbeck, L. (2011) Kindheit und Entwicklung, 64-71.
Kinder- und Jugendhilfestatistik: Personensorgerechtsentzug (§§1666, 1666a BGB) Anzahl pro 100.000 120 110 100 90 80 Anzeigen 70 Gerichtsbeschlüsse 60 50 40 1995 2000 2005 2006 2009 Pillhofer, M., Ziegenhain, U., Nandi, C., Fegert, J.M., Goldbeck, L. (2011) Kindheit und Entwicklung, 64-71.
Schülerbefragung zu intrafamiliären Gewalterfahrungen (Pfeiffer, Wetzels & Enzmann,1999) 10% 7% keine 8% 17% Viktimisierung 43% leicht gezüchtigt schwer gezüchtigt 27% 58% körperlicher Missbrauch 30% Kindheit Jugendalter (letzten 12 Monate)
Misshandlungsprävalenz in D % % Misshandlungsform insges. schwer/ extrem Körperl. Missbrauch 12,0 2,7 Sex. Missbrauch 12,5 1,9 Emot. Missbrauch 14,9 1,6 Körperl. Vernachlässigung 48,4 10,8 Emot. Vernachlässigung 49,3 6,5 Häuser et al. (2011). Dtsch. Ärztebl. Int. 108:287-294
Merkmale traumatischer Ereignisse (DSM IV) Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden diagnostischen Kriterien vorhanden waren: die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten. Die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen.
Traumatischer Stress bei Kindern und Eltern “Ich dachte ich werde sterben. Ich glaubte dass ich wirklich schwer “Ich sah meinen Sohn verletzt war. Ich hatte auf der Straße liegen, solche Angst, weil meine blutend, schreiend, die Mutter nicht da war.” Rettungssanitäter, alle um ihn herum. Es war eine schreckliche Szene. Ich dachte es sei ein böser Traum.”
LeDoux, Scientific American, 1994
Akute psychische Reaktionen auf traumatischen Stress Akute Belastungsreaktion („Psychischer Schock“) außergewöhnliche psychische oder physische Belastung Beginn innerhalb von Minuten, meist innerhalb von Stunden/2-3 Tagen abklingend nicht länger als 4 Wochen initial „Betäubung“: Bewusstseinseinengung, reduzierte Aufmerksamkeit, Unfähigkeit zur Reizverarbeitung, Desorientiertheit dann soz. Rückzug (z.T. Regungslosigkeit) oder Unruhe/Agitiertheit (bis hin zu Flucht, Umherirren) meist vegetative Paniksymptome (Herzrasen, Schwitzen, Erröten) z.T. Erinnerungslücken Akute Belastungssymptome sind eine normale Reaktion!
Normale vs. pathologische Stressreaktion Wenn Belastungssymptome länger als einige Tage oder Wochen anhalten, sollte an eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) gedacht werden!
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) Traumatisches Ereignis Mind. 4 Wochen Autonome Wiedererleben Übererregung Vermeidung, emot. Abstumpfung Beeinträchtigung des psychosozialen Funktionsniveaus
Langfristige Folgen: Modell der Misshandlung über mehrere Generationen Frühe Transmissionsrate Elternschaft 23% Elterlicher Missbrauch Elterliche Elterliche der Kinder Missbrauchs- Psychopathologie vorgeschichte Elterliches inkonsequentes Erziehungsverhalten Frühe Entwicklungs- Probleme SÖS Pears & Capaldi 2001Child Abuse & Neglect, 25:1439-61
DSM5.0 Proposal Trauma- and Stressor-Related Disorders G 00 Reactive Attachment Disorder G 01 Disinhibited Social Engagement Disorder G 03 PTSD in Preschool Children G 04 Acute Stress Disorder G 05 PTSD G 06 Adjustment Disorders G 07 Other Specified TSRD G 08 Unspecified TSRD
Ausblick: PTSD DSM.5 www.dsm5.org/ProposedRevisions/Pages/proposedrevision.aspx?rid=165# Traumatisches Erlebnis Wiedererleben Kognitive/affektive (auch im (auch im Spiel) Spiel) Symptome Hyperarousal Vermeidung Hyperreaktivität > 4 Wo. psychosoziale Beeinträchtigung Neu: irritierbar, aggressiv, waghalsig, selbstbeschädigend
Neurobiologische Faktoren bei traumatischem Stress
PR 60 65 70 75 80 85 90 10:28:06 10:28:18 10:28:30 10:28:42 10:28:54 10:29:06 10:29:18 Reagibilität 10:29:30 10:29:42 10:29:54 10:30:06 10:30:18 Beginn Exposition 10:30:30 10:30:42 10:30:54 10:31:06 10:31:18 10:31:30 Herzfrequenz unter Exposition 10:31:42 Fall 76 Zeit 10:31:54 10:32:06 10:32:18 10:32:30 10:32:42 10:32:54 10:33:06 10:33:18 10:33:30 10:33:42 10:33:54 Beginn Erholungsphase 10:34:06 10:34:18 10:34:30 10:34:42 Normalisierung 10:34:54 10:35:06 10:35:18 10:35:30 Variabilität
Hintergrund Yehuda 2004
Misshandelte Kinder sehen Wut, wo andere Furcht sehen Graphic by: Seth Pollak , courtesy PNAS Pollak
Neurobiologisches Modell der Traumatisierung (De Bellis 2001, Developm Psychopathol 13:539-64)
Aber: Nicht jede Belastung macht krank! Auch schwere, existentiell bedrohliche Ereignisse können bewältigt werden! 70-80% aller eine Krebserkrankung überlebenden Kinder und Jugendlichen sind psychisch unauffällig 80-90% aller minderjährigen Unfallopfer haben keine längeren seelischen Probleme „unverwundbare“ Kinder können schwerste langjährige Misshandlungen und Vernachlässigung oder Kriegs- und Flüchtlingserfahrungen überstehen und psychisch gesund bleiben
Posttraumatischer Stress: Verlauf Duration of symptoms for PTSD treated and untreated 1 Usual onset of Many recover without treatment Proportion surviving without recovery symptoms a few within months/years of event 0.8 days after the (50% natural remission by 2 Treatment event years), but some may have significant impairment of social No treatment and occupational functioning 0.6 0.4 0.2 Treatment means Generally 33% remain that about 20% symptomatic for 3 years or more people with longer with greater risk of 0 PTSD recover secondary problems 0 0.5 1 1.5 2 2.5 3.25 4 4.5 5.25 6 6.5 7.5 Duration of symptoms (years) 5
Traumatyp und Risiko für PTBS bei Erwachsenen (Kessler et al. 1995) Typ Männer Frauen Vergewaltigung 65,0 % 45,9 % Sex. Belästigung 12,2 % 26,5 % Körperl. Angriff 1,8 % 21,3 % Kampfeinsatz 38,3 % Lebensbedrohlicher Unfall 6,3 % 8,8 % Körperl. Missbrauch i. Kindheit 22,3 % 48,5 % Schwere Vernachlässigung 23,3 % 19,7 % i. Kindheit Zeuge von gewaltsamem Tod 6,4 % 7,5 % oder schwerer Verletzung Angehöriger davon betroffen 4,4 % 10,4 %
Psych. Belastung Erwachsener nach Krebs im Survivors Jugendalter Kontrollgruppe 25,0% *** 20,0% *** 19,2% 18,0% Anzahl inProzent 15,0% *** n.s. 11,4% 10,5% 10,0% 10,0% n.s. * 6,5% 5,8% 5,4% 5,0% 5,0% 3,6% 2,9% 2,8% 0,0% männlich weiblich männlich weiblich männlich weiblich Posttraum. Depression Angst Stress Seitz, Besier, Debatin, Debling, Dieluweit, Hinz, Kaatsch, & Goldbeck, L. (2010). Eur J Cancer, 46, 1596-1606
Organisation von Hilfen für traumatisierte Kinder und Jugendliche
Vernetzung und Multiprofessionalität Koordinationsprobleme bei der Versorgung traumatisierter Kinder: Jugendhilfe Medizin Rollenkonfusion: Therapeuten ermitteln, Polizisten wollen Polizei Familien- Kinder schützen gericht (Fegert et al. 2001) Staatsanwalt „Fehlender Konsens ist lebensgefährlich“ (Macdonald 2001)
Studie zu institutionellen Reaktionen auf sex. Missbrauch (Fegert et al.2001) Der Weg eines sexuell missbrauchten Kindes durch die Institutionen: 70 % der Kinder hatten multiple (> 4) Institutionskontakte bis zur Aufdeckung der MH => Wdh.-Befragungen Koordinationsprobleme und Rollenkonfusion: Therapeuten ermitteln, Polizisten wollen Kinder schützen (Fegert et al. 2001)
Therapie für Traumaopfer: Wann? Wie?
Free download: http://www.uniklinik- ulm.de/struktur/kliniken/kin der-und- jugendpsychiatriepsychoth erapie/home/ forschung/traumafolgen- bei-pflegekindern.html
Traumatherapie ist … … indiziert bei: … kontra-indiziert bei: • positiver Trauma-Anamnese • anhaltender Kindeswohl- • klinisch relevanter Symptomatik Gefährdung (PTBS + X) • instabilen Lebensumständen • ausreichender Sicherheit (Aufenthaltswechsel) • Verfügbarkeit unterstützender • Abwesenheit klinisch relevanter Bezugsperson Symptome (Resilienz)
Traumatherapie ist … … indiziert bei: … kontra-indiziert bei: • positiver Trauma-Anamnese • anhaltender Kindeswohl- • klinisch relevanter Symptomatik Gefährdung (PTBS) • instabilen Lebensumständen • ausreichender Sicherheit (Aufenthaltswechsel) Kinderschutz • Verfügbarkeit unterstützender • Abwesenheit klinisch relevanter Bezugsperson geht vor Therapie! Symptome (Resilienz)
Leitlinie Traumadiagnostik und -therapie (AACAP Practice Parameter, Cohen et al. 2010, JAACAP 49:414-30) 1 Screening in Risikogruppen: Trauma-Anamnese, Symptome 2 klinische Traumadiagnostik (Interview) 3 erweiterte Diagnostik: Komorbide psych. Störungen? 4 Traumatherapie: - dem Entwicklungsstand und Traumatyp angepasst - umfassend (multimodal) - mit Einbeziehung von Bezugspersonen - traumafokussierte Psychotherapie 5 Medikation nur zusätzlich b.B. (Komorbidität, schwerste PTSD)
Grundsätze der Psychotherapie traumatisierter Patienten (Butollo 1998) INTEGRATION Annahme des Traumas, der Veränderung KONFRONTATION Erlebnisaktivierung: kognitive Verarbeitung und emotionale Bewältigung SICHERHEIT, STABILISIERUNG Symptomerkennung, Ressourcenaktivierung, Stressbewältigung, Vermeidungsverhalten reduzieren
Derzeitige evidenzbasierte Traumatherapien für Kinder und Jugendliche: • Child-Parent-Psychotherapy (Lieberman & van Horn 2008) • Cognitive Behavioral Interventions for Trauma in Schools CBITS (Jaycox 2003) • Cognitive Behavioral Therapy for PTSD (Smith et al. 2007) • Narrative Exposure Therapy KIDNET (Ruf et al. 2010) • Structured Psychotherapy for Adolescents Responding to Chronic Stress SPARCS (Kaplan et al. 2005) • Trauma-focused Cognitive Behavioral Therapy TF-CBT (Cohen, Mannarino & Deblinger 2006) • Support for Students Exposed to Trauma SSET (Jaycox et al. 2006) • UCLA Trauma Grief Component Treatment TGCT (Layne et al. 2008) • (Prolonged Exposure Therapy for Adolescents PE-A) (Gilboa-Schechtmann et al. 2010)
Gemeinsame Elemente evidenzbasierter Traumatherapie von Kindern und Jugendlichen Dorsey et al. (2011) Child Adolesc Psychiatr Clin N Am 20:255-269 • Psychoedukation • Graduierte Exposition • Entspannung • (Kognitive Umstrukturierung???)
PTBS: Psychologische Behandlung Sollte auf das Trauma ausgerichtet (trauma-fokussiert) und strukturiert sein! Der Trauma-Verhaltenstherapeut hilft dem Patienten dabei – traumatische Erinnerungen mit weniger Angst zu erleben, – irrtümliche und belastende Gedanken wie z.B. die Überschätzung aktueller oder künftiger Gefahren zu verändern, – Stress zu bewältigen. 12
Therapieprogramm Judy Cohen & Anthony Mannarino, Pittsburgh, PA http://tfcbt.musc.edu
TF-KVT Trauma-fokussierte kognitive Verhaltenstherapie (Cohen, Deblinger & Mannarino 2006, dtsch. 2009) • Wöchentlich eine Doppelstunde unter Einbezug einer nicht misshandelnden Bezugsperson Komponenten: 1. Psychoedukation & Elternfertigkeiten 2. Entspannung 3. Ausdruck und Modulation von Affekten 4. Kognitive Verarbeitung und Bewältigung 5. Trauma Narrativ 6. Kognitive Verarbeitung und Bewältigung II 7. In vivo Bewältigung von traumatischen Erinnerungen 8. Gemeinsame Eltern-Kind Sitzungen 9. Förderung künftiger Sicherheit und Entwicklung
Psychoedukation: Hilfsmittel
Beispiel: Traumanarrativ, E., 5 Jahre
Beispiel: Traumanarrativ „…Es hat an der Tür geklingelt. Mein S., 8 Jahre Vater ist gekommen. Er hat nach Alkohol gerochen. Ich habe gedacht, jetzt kommt er nach Hause und will schlafen. Aber er wurde ohne Grund wütend auf meine Mutter. Ich bin darüber erschrocken und wurde traurig. Seine Augen waren rot. Er hat alles herum geschmissen, Flaschen und Bücher. Er hat auch geschrieen. Dann hat mein Vater meine beiden Schwestern, S. und S., und meine Mutter gehauen, mit der flachen Hand und mit der Faust. Ich glaube er hat sie an der Schulter getroffen, ich habe es aber nicht so genau gesehen. Ich war traurig. Alle haben geweint und hatten Angst vor meinem Vater. Ich habe gedacht, vielleicht nimmt er ein Messer und tötet meine Mutter oder meine beiden Schwestern…“
Beispiel: Traumanarrativ S., 8 Jahre „…Jetzt gibt es bei uns keine Gewalt mehr ... Ich habe noch ein bisschen Angst, dass es wieder passiert. Aber gegen die Angst helfen mir die Entspannungsübungen, und dass ich an etwas Schönes denke oder daran, dass uns die Polizei hilft. … Ich wünsche mir, dass ich auch mal Polizist werde und dass ich nicht so Alkohol trinke wie mein Vater und nicht rauche. „
Homepage: www.onko-STEP.de
Fazit für die Praxis MEHR AUFDECKUNG/DIAGNOSTIK und THERAPIE! • Höhere Sensibilität der Gesellschaft für Traumatisierung von Kindern und Jugendlichen • bessere Zusammenarbeit zwischen Hilfesystemen • Systematische Erhebung der Traumaanamnese und der Symptomatik per Screeningverfahren in Risikogruppen, z.B. bei jeder (stationären) Unterbringung in KJP/KJH • Implementierung von evidenzbasierter traumafokussierter Psychotherapie Jedes betroffene Kind sollte Zugang zu evidenzbasierter Traumatherapie bekommen!
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