Der Osten DER HAUPTSTADTBRIEF

 
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Der Osten DER HAUPTSTADTBRIEF
IKONE                                                  WUNDERWUMMSIS
Günter Bannas über Leben                                               Inge Kloepfer über
 und Sterben Petra Kellys                                              politische Neologismen
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DER HAUPTSTADTBRIEF
                      Herausgegeben von Ulrich Deppendorf und Ursula Münch

                                      Der
                                     Osten
                             Über eine politische Himmelsrichtung
                                    Von Gabriel Kords Seite 2

                               15. Oktober 2022 | #41
Der Osten DER HAUPTSTADTBRIEF
15. Oktober 2022

                                                        Eckige Tische: Olaf Scholz beim Bürgerinnengespräch zum Tag der Deutschen Einheit in Erfurt

                   Die Ostdeutschen
                    als Avantgarde
       Die politische Grundstimmung in Westdeutschland nähert sich der in Ostdeutschland an.
                                   Darin liegt auch eine Chance
                                                          Von Gabriel Kords

W
             enn politische Nachrichten aus         Auch in den vergangenen Wochen war             chen auf diese Weise nur als kurzes Stroh-
             dem Osten Deutschlands in den       dieser reflexhafte Umgang mit „Ost“-Nach-         feuer die Runde.
             bundesweiten Medien eine Rol-       richten zu erleben. Etwa, als die Nachricht          Dabei hätte das, was Schneider in sei-
le spielen, geschieht das meist mit einem seit   die Runde machte, dass die AfD laut ak-           nem Bericht mitzuteilen hatte, durchaus
drei Jahrzehnten erprobten Dreiklang: Am         tuellen Meinungsumfragen bei Wahlen               eine nähere Betrachtung verdient. So
ersten Tag macht die bloße Nachricht die         in Brandenburg gegenwärtig die stärkste           enthält das Papier alljährlich eine reprä-
                                                                                                                                                      Titel: Shutterstock/dmnkandsk, S.2: picture alliance / Martin Schutt

Runde, meistens garniert mit der ein oder        Kraft würde. Oder als am Einheitsfeiertag         sentative Umfrage unter Ost- und West-
anderen Empörungswelle auf Twitter und           über #100000 Menschen in ostdeutschen             deutschen, die jenseits aller politischen
Co. Am zweiten Tag folgen einige Leitartikel     Städten auf die Straße gingen, um gegen die       Beschönigungslyrik (Schneider: „Ost-
und Kommentare zum Thema. Und wenn es            deutsche Ukraine- und Energiepolitik zu           deutschland ist im Aufwind!“) regelmäßig
gut läuft, äußern sich am dritten Tag noch       demonstrieren. Und auch der Bericht zum           Auskunft darüber gibt, wie weit die poli-
zwei oder drei Experten mit weiterführen-        Stand der deutschen Einheit, dieses Jahr          tischen Ansichten in Ost und West noch
den Einordnungen. Spätestens danach ver-         erstmals vorgetragen vom neuen Ost-Be-            immer voneinander abweichen. Daran hat
schwindet das Thema wieder in der Ver-           auftragten der Bundesregierung, Carsten           sich im Grundsatz zwar auch dieses Mal
senkung.                                         Schneider (SPD), machte vor wenigen Wo-           nichts geändert: Im Osten haben die Men-

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DER HAUPTSTADTBRIEF                                                           Ausgabe #41

schen relativ gesehen weniger Zutrauen in      1. Es gibt im Osten keine                         2. Viele Medien hadern mit ihrer Rolle
Demokratie und Meinungsfreiheit, auch              „Meinungsführer“-Medien                           in Ostdeutschland
die Zufriedenheit mit der Politik im Allge-    Massenmedien haben in Ostdeutschland              Und genau das führt zum zweiten, weitaus
meinen ist dort weniger ausgeprägt. Oben-      traditionell einen schwereren Stand als im        größeren Problem: Die Massenmedien – sei-
drein sind die Werte seit der Umfrage vor      Westen, weil jenseits regionaler Titel eta-       en es solche mit bundesweitem Anspruch
zwei Jahren weiter gesunken.                   blierte Medienmarken fehlen und sich die          oder ostdeutsche Regionalmedien – sind in
   Doch in diesem Jahr war den Zahlen          großen, bundesweiten Titel dort nicht in          den vergangenen Jahrzehnten in Ostdeutsch-
auch eine andere Entwicklung zu entneh-        derselben Weise etablieren konnten wie im         land häufig daran gescheitert, ihre Rolle in
men, die nicht so sehr den Osten, sondern      Westen. Die einstmals westdeutschen „Leit-        diesem weitaus komplexeren Prozess ost-
vielmehr den Westen betraf. Denn die           medien“ haben im Osten nie den Einfluss er-       deutscher Meinungsbildung zu finden. Zu
Studie ergab, dass die westdeutschen Zu-       reicht, den sie im Westen (noch) haben – was      oft, geradezu regelmäßig, sind Medien mit
friedenheitswerte schneller sinken als die     dazu führt, dass die politische Meinungs-         bundesweitem Sendungsanspruch der Ver-
im Osten. Mit anderen Worten: Die west-        bildung im Osten polyphoner, kleinteiliger        suchung erlegen, ihre Beiträge gar nicht für
deutsche Politikwahrnehmung nähert sich        und weniger strukturiert vor sich geht. Das       ein bundesweites, sondern bloß für ein west-
der des Ostens an. Die Auffassung, dass        ist für sich genommen keine schlechte Nach-       deutsch sozialisiertes Publikum zu verfas-
die freie Meinungsäußerung erodiert, und       richt, außer vielleicht für die Vertreter jener   sen. Heraus kamen dann Beiträge, die zwar
die Unzufriedenheit mit der bundesrepu-        „Leitmedien“. Denn eine vielseitige und           dem Westen erklären wollten, was im Osten
blikanischen Ausprägung unserer Demo-          kleinteilige Informationskultur kann durch-       passiert – aber dabei billigend in Kauf nah-
kratie – solche Standpunkte galten in West-    aus ihren Beitrag leisten zu einem lebendi-       men, dass diese Beiträge für das ostdeutsche
deutschland lange als nicht salonfähig,        gen demokratischen Gemeinwohl.                    Publikum, das man eigentlich so gern er-
werden inzwischen aber von einem großen           Im Osten ist deshalb schon lange klar:         reicht hätte, ungenießbar wurden.
und immer größer werdenden Teil der Be-        Politische Meinungsbildung muss nicht in             Auch hierin liegt, genau wie beim ersten
völkerung vertreten.                           erster Linie durch Massenmedien betrieben         Problemkreis, eine Analogie zum Umgang
   Natürlich ist das zunächst alles andere     werden. Seit gut einem Jahrzehnt zeigt sich       mit Nutzergruppen, die sich heute bereitwil-
als eine gute Nachricht – ganz besonders       das auch im globalen Zusammenhang, näm-           liger in Social Media informieren als in den
nicht für all jene, die in diesem Land aktiv
daran mitwirken, das demokratische Ge-
meinwesen mit Leben zu füllen, seien es        Massenmedien haben in Ostdeutschland traditionell
nun Politiker, Verbandsvertreter oder Jour-
nalisten. Doch wer dem Reflex widersteht,      einen schwereren Stand als im Westen, weil jenseits
die in diesem Stimmungsbild zum Aus-           regionaler Titel etablierte Medienmarken fehlen und
druck kommenden Meinungen eines gro-
ßen Teils der Bevölkerung als dumm und         sich die großen, bundesweiten Titel dort nicht in der-
unpassend zu verdammen (was leider nach
Bekanntgabe der Werte in vielen Gazetten
                                               selben Weise etablieren konnten wie im Westen.
und natürlich auch auf Twitter umgehend
geschah), dem ermöglicht die Entwicklung
einen neuen Blick auf bisher speziell ost-     lich am weltweit rapide steigenden Einfluss       althergebrachten Massenmedien: Anstatt zu
deutsche Besonderheiten der Politikwahr-       von Meinungsbildung auf Social Media im           versuchen, mit diesen Nutzergruppen im Di-
nehmung, die jetzt offenbar auch im Westen     Internet. Nach und nach vollzieht sich in         alog zu bleiben, ziehen sich viele Beiträge in
um sich greift.                                allen westlichen Demokratien eine Entwick-        Massenmedien zu leichtfertig darauf zurück,
   Denn für die ostdeutsche Politik-Skepsis    lung, die man in Ostdeutschland (und übri-        mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf diese
und mitunter auch -Verdrossenheit gibt es      gens auch in Osteuropa) in gewisser Weise         Menschen zu zeigen – und nicht einmal zu
gute Gründe, die sich nicht bloß am Um-        schon vor dem Aufkommen der großen On-            versuchen, herauszufinden, warum sie nach
gang mit Politik und Politikern erklären       line-Netzwerke wie Facebook, Twitter oder         Alternativen zu den althergebrachten Mas-
lassen – sondern auch am Umgang mit Jour-      Instagram kannte – hierzulande durch die          senmedien suchen.
nalismus und Journalisten. Es folgen des-      Zugehörigkeit zu einer Art analogem so-              Anstatt beispielsweise mit Formaten wie
halb drei Schlaglichter auf die ostdeutsche    zialen Netzwerk namens „ostdeutsche Her-          „Faktenchecks“ oberlehrerhaft auf all jene
Journalismus-Wahrnehmung – und eine            kunft“. Die Gesprächsräume, die sich aus          zu zeigen, die im Internet einer (mitunter nur
Analogie auf ein übergeordnetes Phäno-         dieser Zugehörigkeit ergaben, waren den           vermeintlichen) Falschinformation auf den
men, mit dem sich erklären lässt, weshalb      großen Massenmedien nicht immer zugäng-           Leim gegangen sind, müsste es also darum
derselbe Trend nun auch in Westdeutsch-        lich, mitunter nicht einmal bekannt, zum          gehen, herauszufinden, wie Massenmedien
land stattfindet.                              Teil sind sie es sogar bis heute nicht.           mit dem Anspruch, die ganze Wirklichkeit
15. Oktober 2022

GÜNTER
BANNAS                                                     AUS DEM BANNASKREIS
      ist Kolumnist des Hauptstadtbriefs. Bis März 2018 war er Leiter der Berliner Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

                                   Grüne Avantgarde
                                               Zum 30. Todestag Petra Kellys

I hr Tod liegt im Dunkel. Vor dreißig Jah-
  ren, am 19. Oktober 1992, wurde Petra
Kelly in ihrem Wohnhaus im Bonner Stadt-
                                                viel mehr, auch mehr als bloß Ikone oder
                                                Galionsfigur. Sie war – auch weltweit –
                                                das bekannteste Gesicht der Grünen. Sie
                                                                                               des damals bedeutenden „Bundes-
                                                                                               verbands Bürgerinitiativen Umwelt-
                                                                                               schutz“ (BBU) und kandidierte 1979
teil Tannenbusch tot aufgefunden – er-          mobilisierte gegen die Kernenergie und         für die Vorläuferorganisation der Grü-
schossen, neben dem ebenfalls toten Gert        sprach auf den Anti-Raketen-Großkund-          nen fürs Europa-Parlament.
Bastian liegend, ihrem Lebensgefährten.         gebungen in Bonn. Sie setzte sich für die         Die Popularisierung von Zielen, das
Nachbarn wurden aufmerksam, weil der            Belange der Aborigines in Australien ein,      Wahlkämpfen also auch, hatte sie in
Briefkasten der beiden früheren Bundes-         demonstrierte in Ost-Berlin mit einem          Amerika gelernt. Viele Grüne bezeich-
tagsabgeordneten überquoll. Nur der Her-        dort verbotenen T-Shirt („Schwerter zu         neten sie deshalb als „sozialisierte
gang scheint geklärt. Umstände, Motive          Pflugscharen“), forderte von Erich Ho-         Amerikanerin“. 1983 Wahl in den Bun-
und selbst der Zeitpunkt aber sind es nicht.    necker die Einhaltung demokratischer           destag. Mit den Bonner Männerdomä-
Laut Staatsanwaltschaft und Polizei töte-       Rechte, unterstützte die Solidarność-          nen aber – damals auch bei den Grünen
te Bastian erst Kelly und dann sich selbst.     Gewerkschaft in Polen und thematisierte        – kam sie nicht zurecht. Ihr Arbeits-
Dritte seien nicht beteiligt gewesen, wes-      in Gesprächen mit dem Dalai Lama die           stil war selbstausbeuterisch. Frei von
halb auch von „Doppelselbstmord“ ge-            Unterdrückung Tibets durch China. Al-          Zynismus wirkte ihre von Erregung
sprochen wurde, einer These, der hernach        les öffentlich, alles medienwirksam. Die       und Empörung geprägte Rhetorik als
widersprochen wurde. Petra Kelly sei nicht      Einhaltung der Menschenrechte war ihr          Fremdkörper. Kelly hielt Distanz zu
lebensmüde gewesen, sie habe viele Pläne        wichtiger als bedingungsloser Pazifis-         „Realos“ und „Fundis“ – vernachlässig-
gehabt und Reisen vorbereitet. Abschieds-       mus. So gesehen ist die Außenpolitik An-       te also Grundprinzipien von Macht und
briefe gab es auch nicht. Manche hängen         nalena Baerbocks (Stichworte: Russland,        Politik: das Klüngeln und das Knüpfen
gar – unbewiesen – der Spekulation von          China) eine verpuppte Wiederkehr des           von Netzwerken. Ihre Bekanntheit lief
der Beteiligung fremder Geheimdienste an.       Engagements ihrer Vorfahrin.                   dem antiautoritären Impetus der Grü-
Also Mord und Selbsttötung?                        Kelly, 1947 im schwäbischen Günz-           nen zuwider und weckte auch den ganz
   „Eine tödliche Liebe“ lautet der Titel       burg geboren, wuchs familienbedingt in         gewöhnlichen Neid innerparteilicher
einer Schrift, die Alice Schwarzer ein Jahr     den Vereinigten Staaten auf. Schule und        Konkurrenten. Für die Europawahl
später veröffentlichte. Höchst umstritten       Hochschule schloss sie mit besten Zeug-        1989 und die Bundestagswahl 1990
war es damals, dass beider, der grün-femi-      nissen ab. In Washington wurde sie als         wurde sie nicht wieder aufgestellt.
nistischen Umwelt- und Friedensaktivistin       Studentensprecherin bekannt, auch in           Ein Versuch, nochmals Parteispreche-
und dem zum Friedensfreund gewordenen           dortigen Zeitungen wie der *Washington         rin zu werden, scheiterte. Die Partei-
Ex-General, gleichermaßen gedacht wurde.        Post*. Sie engagierte sich im Wahlkampf-       gründerin wurde nicht mehr gelitten.
Kellys Tod wurde auf den 1. Oktober 1992        team des Präsidentschaftskandidaten Ro-        Ihre Bedeutung für das Entstehen der
datiert. Sie war 44 Jahre alt.                  bert Kennedy. Zurück in Europa war sie         Grünen, mithin für die politische Ent-
   Petra Kelly war Gründungsmitglied            bis 1982 als Verwaltungsrätin der Euro-        wicklung und die Zeitgeschichte der
der Grünen. Doch davon gab es viele. Sie        päischen Kommission in Brüssel. Wegen          Bundesrepublik Deutschland, wurde
war auch nicht nur – neben zwei anderen         Willy Brandt trat sie in die SPD ein und       unterschätzt – und wird sie bis heute.
– erste „Sprecherin“ (heute: Vorsitzende)       wegen Helmut Schmidt öffentlichkeits-          Im November wäre sie 75 Jahre alt ge-
der neu entstandenen Partei. Kelly war          wirksam wieder aus. Sie war Sprecherin         worden.

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DER HAUPTSTADTBRIEF                                                           Ausgabe #41

    INGE
    KLOEPFER                                                    AUF DEN ZWEITEN BLICK
              ist freie Journalistin sowie Buch- und Filmautorin. Sie schreibt u.a. für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
                                         und veröffentlichte bisher zahlreiche Bücher und mehrere Filme.

                              Gute-Rouladen-Gesetze
   W       ummern findet man und Wumme
           (feminin), nur Wumms steht defi-
    nitiv nicht im Duden. Nun ist aber genau
                                                gekleckert, sondern geklotzt, versprach er
                                                kraftmeierisch. Inzwischen hat er den Dop-
                                                pel-Wumms verkündet und meint damit einen
                                                                                                 fisch wie das oder der Wumms ist die politi-
                                                                                                 sche Maßnahme: Begünstigt wird nicht etwa
                                                                                                 nach Einkommens- und Vermögensverhält-
    dieses Wumms-Wort in aller Munde, seit      200 Milliarden Euro teuren Schutzschild für      nissen, sondern so wie in früheren Wumms-
    es – dank der Wortfindungskünste des        Bevölkerung und Wirtschaft vor den explo-        Phasen jeder und jede, auch jene, die es nicht
    Bundeskanzlers – zum Inbegriff gera-        dierenden Gaspreisen. Im ersten Durchgang        nötig haben. Emotion schlägt Präzision.
    dezu ausufernder sozialdemokratischer       sollte Wumms eigentlich nur den durch staat-        Zurück zum Begriff: Im europäischen
    Entlastungspolitik geworden ist.            liche Ausgabenfreude befeuerten Energie-         Ausland wurde das Wort – glücklicherwei-
       Politikführung mit kurzen, kräftigen     level einer wirtschaftlichen Erholung nach       se – bisher nicht übernommen. Man hatte
    Ausdrücken, die Emotionen wecken            der Pandemie beschreiben, hatte aber auch        bei der Hartnäckigkeit, mit der der Kanzler
    und darüber etwas bewirken sollen, hat      schon ein Preisschild: 170 Milliarden Euro.      sich dieses Onomatopoetikums bedient,
    es immer gegeben. Der frühere Bundes-          Fangen wir aber noch einmal von vorne         fast befürchten müssen, dass sich analog
    präsident Roman Herzog hoffte, dass         an: Wumms ist zunächst einmal ein Onoma-         zur German Angst alsbald schon ein German
    ein Ruck durchs Land gehen werde, und       topoetikum, ein lautmalerisches Wort der         Wumms seinen Weg in den angelsächsischen
    hat dem in seiner Ruck-Rede Ausdruck        Comic-Diktion, das verwendet wird, wenn          Sprachraum bahnt. Dass dem bisher nicht so
    verliehen. Bundeskanzler Gerhard            etwas explodiert oder eine Person zu Boden       ist, mag damit zusammenhängen, dass Angst
    Schröder ging als Basta-Kanzler in die      geht. Scholz also scheint an Emotionen ge-       ein fest definierter Begriff, Wumms dagegen
    Geschichte ein, weil er mit dem italieni-   legen, weniger dagegen an Genauigkeit. Das       erstens einer so ernsten Situation wie der
    schen Zweisilber im Jahr 2000 eine De-      zeigt sich jetzt wieder: Für die Verteilung      energiepolitischen Lage vor allem Deutsch-
    batte über die Einführung der Riester-      der mit dem Doppel-Wumms in Aussicht ge-         lands nicht angemessen ist und zweitens in
    Rente beenden wollte.                       stellten Milliarden hat er noch kein präzises    das Repertoire eines an der Sache und nicht
       Scholz aber übertrifft sie alle. Schon   Konzept. Ein Vorgehen übrigens, das jedes        an Effekten orientierten Bundeskanzlers ga-
    als Finanzminister versuchte mit dem        verantwortliche Politikhandeln auf den           rantiert nicht gehört.
    Wort Wumms in Verbindung mit üppigen        Kopf stellt. Inzwischen wissen wir immer-           Während die Politik mit ihrer Gaskom-
    Entlastungsmaßnahmen in der Pande-          hin, dass zunächst einmal der Staat alle Gas-    mission noch am Konkreten bastelt, machen
    mie bei der Bevölkerung zu punkten. Zu-     abschlagszahlungen des Monats Dezember           sich die ersten Händler das politische Neu-
    vor hatte er die Bazooka ausgepackt, um     übernimmt, bis dann im Frühjahr ein Me-          deutsch bereits zunutze. Bei Möbel Höffner
    der Wirtschaft vor den Folgen des ersten    chanismus erarbeitet ist, nach dem das Geld      geht es – ähnlich pauschal wie in der Politik
    Corona-Jahres mit Krediten in unbe-         verteilt werden soll, ob es nun im Einzelfall    – mit Wumms in die Herbstsaison: „30 Pro-
    grenzter Höhe zu helfen. Es werde nicht     gebraucht wird oder nicht. Denn so unspezi-      zent auf alles!“

abzubilden, in die Lage geraten konnten, dass   in den bundesweiten Massenmedien oft nur         in den Massenmedien stattfinden zu lassen,
in den Internet-Netzwerken mitunter alter-      am Rande eine Rolle. Heute müssen sich die       wurden derartige Fragestellen dort mitunter
native Wirklichkeiten und Wahrheiten auf-       Verantwortlichen mitunter schon fragen,          recht schnell in die Ecke der „Querdenker“
tauchen, die eben nicht schon allein deshalb    ob man die Diskussionen in den Medien da-        abgeschoben. Völlig unabhängig von den in-
falsch sind, weil sie nicht in den Massenme-    mals wirklich breit genug geführt hat, denn      haltlichen Fragestellungen: Diese partielle
dien auftauchen. Die Berichterstattung über     die weitere Entwicklung hat oftmals gezeigt,     Diskursverweigerung hat der Reputation der
das Coronavirus war hierfür ein Lehrbei-        dass die Dinge längst nicht so klar waren, wie   Massenmedien geschadet. Ganz besonders
spiel: Ob über Sinnhaftigkeit von Lockdowns,    sie damals von vielen dargestellt wurden. Auf    in Ostdeutschland, wo diese Medien nie die
mögliche Folgen der Corona-Impfung oder         Social Media gab es diese Diskussionen aber.     Wirkmacht entfalten konnten, die sie in West-
den Nutzen einer Impfpflicht –all das spielte   Doch anstatt zu versuchen, die Debatten auch     deutschland (noch) haben.

                                                                                                                                             5
15. Oktober 2022

                                                                      «Nicht mit uns! - Wir frieren nicht für Profite!», gehen durch Erfurt im September.
                          Zu der Protest-Veranstaltung hatte ein Bündnis von Gewerkschaften, Sozialverbänden und anderen Organisationen aufgerufen.

3. Im Osten ist die Bereitschaft größer,          Zwischentöne zu achten und im Zweifel                    Auch dieser dritte Aspekt lässt sich auf
    Nachrichten und (vermeintliche)               nicht alles für bare Münze zu nehmen, was             den Umgang mit den neuen Formen di-
    Wahrheiten zu hinterfragen                    dort zu lesen, zu hören und zu sehen war.             gitaler Meinungsbildung in Social Media
Was wiederum nahtlos zum dritten, ver-            Es ist nur naheliegend, dass man damit im             übertragen: Die Skepsis gegenüber „etab-
mutlich größten Problem führt: Die Medien-        Jahr 1990 nicht plötzlich aufhörte; zumal die         lierter“ Berichterstattung ist eine glückli-
wahrnehmung in Ostdeutschland ist gene-           Wiedervereinigung von Anfang an geprägt               che Chance, diese Berichterstattung besser,
rell skeptischer; die Bereitschaft, nicht nur     war von so manchen Merkwürdigkeiten                   präziser und wahrhaftiger zu machen. Ja,
journalistische Meinungsbeiträge, sondern         und Unerklärlichkeiten, die dem Publikum              es hält mitunter auf, sogar die Sachverhal-
sogar Nachrichten zu hinterfragen, ist deut-      in Westdeutschland vielleicht einleuchten             te, die man selbst gern als allgemeingül-
lich größer. Man kann das sonderbar finden,       mochten – in Ostdeutschland aber nicht.               tig betrachten würde, immer wieder aufs
wenn man – wie im Westen – lange gewohnt             Dennoch empfinden viele journalistische            Neue zu begründen und zu validieren. Und
war, dass das Publikum zumindest das jour-        Kollegen die Skepsis, die ihnen bis heute im          es nervt, dass man berechtigte kritische
nalistische Grundrauschen weitgehend un-          Osten entgegenschlägt, als kränkend oder              Rückfragen zunächst einmal aufwendig
hinterfragt als „wahr“ akzeptiert. Man kann       ehrverletzend. Dafür besteht jedoch eigent-           von echtem Unfug und Dummfug, den es
es aber auch genießen, dass das Publikum          lich kein Anlass: Die Skepsis des ostdeut-            im Internet zweifellos ebenfalls in Massen
kritische Fragen stellt und immer wieder          schen Publikums ist vielmehr eine große               gibt, trennen muss. Aber all das dient letzt-
einfordert, dass vermeintliche Wahrheiten         Bereicherung für die eigene Arbeit; hilft sie         lich vor allem der Qualitätssicherung der
auch als solche belegt werden. Dass diese         doch dabei, den eigenen Blick zu schärfen             eigenen Arbeit.
Bereitschaft im Osten höher ist, liegt in der     und kritische Fragen auch dort zu stellen,               Was für den Journalismus gilt, gilt ge-
                                                                                                                                                            Photo: picture alliance/dpa | Bodo Schackow

Natur der Sache: Dort gab es bis 1989 eine        wo man einen Zusammenhang vielleicht gar              nauso auch für die Politik: Wer dort nicht
uniforme, staatlich gelenkte Medienland-          nicht mehr von sich aus hinterfragt hätte.            dazu bereit ist, die eigenen Grundsätze zu
schaft, in der veröffentlichte und öffentlich                                                           erklären, transparent zu machen und zuzu-
wahrgenommene Fakten einander mitunter                                                                  lassen, dass sie hinterfragt werden, muss
diametral widersprachen. Die Bevölkerung                   Gabriel Kords ist Chefredakteur des          stärker als im Westen mit der Missgunst
war es gewohnt, auch bei Nachrichten auf               in Neubrandenburg ercheinenden Nordkuriers.      seiner Wähler rechnen. So erklärt sich die

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DER HAUPTSTADTBRIEF                                                                                     Ausgabe #41

höhere ostdeutsche Wechselbereitschaft
bei politischen Wahlen, keineswegs nur         Was für den Journalismus gilt, gilt genauso
zu beobachten beim immer wieder auf-           auch für die Politik: Wer dort nicht dazu bereit ist,
brandenden Zuspruch für Parteien wie die
AfD, sondern zuletzt etwa beim beinahe         die eigenen Grundsätze zu erklären, transparent zu
flächendeckenden Wahlerfolg der SPD
in den ostdeutschen Bundesländern bei
                                               machen und zuzulassen, dass sie hinterfragt werden,
der Bundestagswahl 2021. So erklärt sich       muss stärker als im Westen mit der Missgunst
aber auch, weshalb in den vergangenen
Jahren vor allem die Grünen im Osten ihre
                                               seiner Wähler rechnen.
Schwierigkeiten hatten: Weil Vertreter
dieser Partei es lange gewohnt waren, dass
sie ihre wichtigsten politischen Ziele (wie                                                                   IMPRESSUM
Klimaschutz, Nachhaltigkeit und Inter-         liche Allgemeingültigkeiten zu postulieren                     Der Hauptstadtbrief ist eine wöchentliche
                                                                                                              Publikation von PrinzMedien
nationalität) in den Massenmedien kaum         und unhinterfragt stehen zu lassen, mag                        Verleger:         Detlef Prinz
erklären oder gar rechtfertigen mussten,       den demokratischen Meinungsbildungs-                           Herausgegeben von Ulrich Deppendorf und
                                                                                                                                Prof. Dr. Ursula Münch
weil sie bei den dortigen Autoren und Mo-      prozess zwar komplizierter und langsamer                       Chefredakteur:    Lutz Lichtenberger, V.i.S.d.P.
deratoren als allgemein anerkannt und ak-      machen. Es kann aber dazu beitragen, ihn                       Kolumnen:         Günter Bannas, Inge Kloepfer,
                                                                                                                                Anne Wizorek
zeptiert galten.                               gründlicher und wahrhaftiger zu machen                         Layout:           Gordon Martin
   In Ostdeutschland mit seiner histori-       – und es kann dabei helfen, die politischen                    HSB-Icon [Quadriga]: Shutterstock.de/AVA Bitter
schen Prägung verfing so etwas schon frü-      Unterschiede zwischen Ost und West zu                          Hauptstadtbrief Berlin Verlagsgesellschaft mbH
                                                                                                              Tempelhofer Ufer 23-24 • 10963 Berlin
her nicht. Dass es dank der Diversifizierung   überwinden, die im Jahr 34 nach der Wie-                       Tel. 030/21 50 54 00
der politischen Meinungsbildung durch          dervereinigung eigentlich schon viel wei-                      info@derhauptstadtbrief.de www.derhauptstadtbrief.de
                                                                                                              Redaktionsschluss 13. Oktober 2022
Social Media und Co. zunehmend auch in         ter abgebaut sein müssten, als sie es tat-                     © Der Hauptstadtbrief 2022
Westdeutschland schwer wird, vermeint-         sächlich sind.

 Schützen Sie Journalistinnen
 und Journalisten in der Ukraine

                                                           K E I N E F R E I H E I T O H N E P R ES S E F R E I H E I T
                                                                                                                                                                        © Mikhail Palinchak, n-ost

                                                         Russlands Angriff auf die Ukraine ist auch ein Angriff auf die Pressefreiheit.
                                                         Die Kämpfe bringen Kriegsreporterinnen und Journalisten in der Ukraine in Lebensgefahr.

                                                         Reporter ohne Grenzen unternimmt alles, um bedrohten Medienschaffenden zu helfen.

                                                         Spenden Sie jetzt für unsere Hilfsaktion:
                                                         reporter-ohne-grenzen.de/hilfe-fuer-die-ukraine

                                                         Spendenkonto: Reporter ohne Grenzen e.V. / IBAN: DE26100900005667777080 / BIC: BEVODEBB / Stichwort: Ukraine
15. Oktober 2022                                                                                                                    Ausgabe #41

                                                           POSTSKRIPTUM
                                                           Von Lutz Lichtenberger

                                                    Außer Kontrolle
W      ir leben in einer gespalteten Gesellschaft
       – mit dieser Aussage liegt der Zeit-
geistbeobachter, die Volkswirtin oder De-
                                                    kernig geben wollte in CDU und CSU, warnte
                                                    vor der „Sozialdemokratisierung der Union“
                                                    – und betrieb doch genauso, dass auch bei
                                                                                                       Ist wieder mal das Internet schuld? Soziale
                                                                                                    Medien duzen jeden User schneller weg, als
                                                                                                    Kanye West seine Tweets löschen kann. Wo
monstrierende (dafür, dagegen oder beides           den Bürgerlichen das Du ungeschützt um          alle alle zu kennen glauben, „die da oben“
zugleich) selten ganz falsch. Die Politik muss      sich griff. Dereinst glaubte die zweite Reihe   mal nicht so tun sollen, als ob sie etwas
vor der Spaltung warnen – es darf nicht sein,       der Partei, sie sei oben angekommen, wenn       Besseres seien, und man den Sinn „flacher
dass– und schafft ganze Schichten ab (Mit-          sie der Kanzlerin die Kumpelanrede ab-          Hierarchien“ missversteht – gehen der
telstand für alle), erfindet diverse Deckel,        gerungen hatte, dabei hatte Angela Merkel       Sicherheitsabstand, Rücksicht und Nach-
die auch mal atmen können oder zitiert Lied-        doch gerade dafür nicht viel übrig. Dass in     sicht verloren, und es herrscht das Gefühl,
zeilen englischer Fußballclubs: You’ll never        der Union, im vorigen Jahrtausend, das Sie      von allem betroffen zu sein. Dabei findet ge-
walk alone!                                         noch die Fülle des Wohllauts ausmachte,         sellschaftliche Entfaltung in der Tiefe des
   Dabei liegt doch just dort der Dackel ver-       nannte Merkel selbst einmal als einen der       Raumes statt, in der man nicht fortwährend
graben. Die sich bemüht antispießig dün-            wichtigen Gründe, sich nach der Wende für       danach fahnden muss, ob man möglicher-
kenden Spießer des Anti-Wokismus, die               die Partei entschieden zu haben. Zu ihrer       weise beleidigt wurde. Einem Raum, in dem
alles, was ihnen nicht passt, als übergriffig       wichtigsten Mitarbeiterin Beate Baumann         Menschen im besten Sinne eine Rolle ein-
abtun, befördern mit der Durchsetzung des           sagt sie bis heute Sie. Als Horst (Seehofer)    nehmen können, damit sie nicht mit ihrer
denglischen Duzertums in Deutschland                und Guido (Westerwelle) sich 2013 zum Ab-       ganzen Persönlichkeit auf dem Spiel stehen.
doch erst die eigentliche Spaltung. Oder, wie       schluss der schwarz-gelben Koalitionsver-       Sie werden entlastet, indem sie sich gegen-
die Historikerin Andrea Löw es während              handlungen zum Du bekannten, markierte          seitig auf – freundliche – Distanz halten
ihres Forschungsaufenthalts in den USA er-          dies wohl die Vollendung der einst von Hel-     dürfen.
fuhr: „Duzing is out of control in Germany.“        mut Kohl angekündigten „geistig-morali-            Man könnte es altmodisch Bürgerlichkeit,
   Einst war es ein Spontispruch: „Bei so viel      schen Wende“, die offensichtlich auf Privat-    Respekt oder, wenn Sie wollen, auch Freiheit
Sympathie sag ich nicht gerne Sie!“ Wer sich        fernsehen und Formverlust gemünzt war.          nennen.

              WERDEN SIE
              ZUKUNFTSSTIFTER!
              Junge Menschen wollen ihren eigenen Weg gehen.
              Helfen Sie ihnen dabei, die ersten Stufen zu erklimmen
              und werden Sie Teil der SOS-Stiftungsfamilie!

              Mehr Infos unter www.sos-kinderdorf-stiftung.de
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