Der Papst und das Meer - Josefa Bissels
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Josefa Bissels Der Papst und das Meer Märchenhafte Erzählung über eine unkonventionelle Form der Flüchtlingshilfe
Ein alter Mann im schwarzen Pullover war zur besten Sende- zeit auf den Bildschirmen zu sehen. Die Menschen vor den Fernsehern wunderten sich, als der Moderator ihn mit ausgesuchter Höflichkeit begrüßte und als Papst Paul VII. vorstellte, der aus aktuellem Anlass um Redezeit gebeten habe. So sah der Papst aus, wenn er normal ge- kleidet war?! Wie irgendein Südländer auf der Straße. Braune Augen, gesunde Gesichtsfarbe, für sein Alter noch viele Haare. Als er „Guten Abend!“ sagte, wirkte sein Gesicht angespannt. Nur ein kleines Lächeln lag um Mund und Augen, das wieder ver- schwand, als er fortfuhr: „Heute nehme ich ihre Zeit in Anspruch, um in eigener Sache zu sprechen.“ Er hatte geradeaus in die Kamera gese- hen, senkte aber jetzt den Blick auf den Tisch vor sich, wo nur ein Glas mit Wasser stand. „Es ist so“, sagte er, während er sich mit der rechten Hand über Stirn und Wange strich, „ich ertrage dieses Meer nicht mehr! Mein Mittelmeer, ich ertrage es nicht. Dass es so schön aussieht wie immer, obwohl tausende Ertrunkene darin liegen. Dass die Kreuzfahrtschiffe ihre Routen fahren, als wäre nichts geschehen, die Yachten ihre Anker auswerfen. Ich kann das alles nicht sehen, ohne an die Toten zu denken, die da unten liegen. Menschen. Hoffen- de. Geliebte. Ich muss etwas tun. Das Meer ist meine Heimat, müssen Sie wissen.“ Und vor den Augen der Zuschauer entstanden Bilder von Kindheit und Jugend dieses erst vor wenigen Wochen gewählten Papstes aus Katalonien. Wie er schwimmen gelernt hatte, surfen, se- geln mit Geschwistern und Freunden. „Ich habe nachgedacht, mich umgehört“, sprach der Papst weiter. „In- zwischen habe ich zwei alte Schiffe gekauft, die überholt, mit neuen Motoren und der nötigen Technik ausgestattet wurden. Zwei pensio- nierte Kapitäne mit Besatzung stehen ehrenamtlich bereit. Es sollen mehr Boote werden.“ Er hielt einen Moment inne und fuhr fort: „Ich möchte Ihnen vor allem einen Gedanken anvertrauen, den ich ohne Sie kaum zu Ende denken, geschweige denn verwirklichen kann. Er 2
ist der Grund, weshalb ich um Sendezeit gebeten habe.“ Der Papst griff nach dem Glas und trank einen Schluck, sah dann wieder in die Kamera. Die Leute saßen inzwischen überall in Europa gespannt vor den Bildschirmen. „Wenn es uns gelingt, Menschen aus Seenot zu retten, würde ich sie am liebsten in unseren Pfarrgemeinden wohnen lassen. Ihnen dort ein vorläufiges Zuhause geben, wo sie sich ausruhen und ihre Pa- piere in Ordnung bringen könnten. Später würden sie in andere Pfar- reien unterschiedlicher Nationalität umsiedeln und sich dort auf Dauer integrieren. Ihre Religionszugehörigkeit würde dabei natürlich keine Rolle spielen. Sehen Sie“, sagte er, schloss einen Moment die Augen und sprach dann schneller, „Ich denke an die Pfarrheime, die heute fast überall zu den Gemeinden gehören. Sie haben üblicherweise au- ßer unterschiedlich großen Räumen sanitäre Anlagen, die um trans- portable Duschen erweitert werden müssten, und Küchen. Man könnte sicher bis zu zehn Flüchtlinge dort unterbringen. Stellen Sie sich vor, welch ein Austausch zwischen den Ankömmlingen und den in den Pfarreien beheimateten Menschen stattfinden könnte. Denken Sie nur an Kochrezepte oder Lieder.“ An dieser Stelle lachte der Papst, als stellte er sich ein Essen vor oder höre ein Lied. „Es gäbe so viele Berührungspunkte! Der Umgang mit den Einheimischen würde auch das Erlernen der Sprache leichter ma- chen. Und die Kirche hat ja überall Gemeinden!“ Der alte Mann war lebhaft geworden, sein Gesicht sah jünger aus. „Aber das ist Zukunftsmusik“, sagte er dann. „Und es geht nicht ohne Sie. Denn es muss natürlich von jeder Pfarrgemeinde ent- schieden werden, ob sie mitmachen möchte bei diesem Projekt, das eine Menge Engagement erfordert und Schwierigkeiten mit sich brin- gen wird. Deshalb bitte ich Sie jetzt: Setzen sie sich zusammen und entscheiden Sie. Und teilen Sie mir ihre Entscheidung mit. Am Ende 3
dieser Sendung wird eine Internetadresse eingeblendet, auf der Sie ein vorbereitetes Formular ausfüllen können.“ Der Papst lächelte. Alle dachten, er habe zu Ende gesprochen, aber er nahm wie- der einen Schluck Wasser und sagte langsamer: „Zum Schluss möchte ich Ihnen noch erzählen, dass ich an einigen Küstenabschnitten zu- sammen mit den dort ansässigen Pfarrgemeinden Trauerfeiern für die Ertrunkenen abhalten möchte.“ Der alte Mann im schwarzen Pullover sah müde aus. Aber er lächelte freundlich, bedankte sich für die Sprechzeit sowohl beim Fernsehen als auch bei den Menschen zu Hause und verabschiedete sich. Als er an der Seite seines Sekretärs ins Taxi stieg, war er er- leichtert. Er hatte getan, was er tun musste. Jetzt war es nicht mehr seine Sache allein. Den Anstoß hatte er gegeben mit der Macht seines Amtes. Vielleicht war er dafür zum Papst gewählt worden? Ein ver- rückter Gedanke. Es ging um Leben und Tod, um Menschlichkeit und Habgier. Aber es ging letztlich überall um den uralten Kampf zwi- schen Licht und Finsternis, der sich in neuen Zeiten in neue Gewänder kleidete. Er schloss die Augen und suchte die Verbindung mit Gott, während sie durch das Verkehrschaos des abendlichen Roms gefahren wurden. Am nächsten Morgen berichteten alle europäischen Zeitungen vom Auftritt des Papstes im Fernsehen. Allgemein wurde seine Initia- tive begrüßt, von manchen Zeitungen beinahe gefeiert. Die konservati- ven Blätter reagierten zurückhaltend. In der Vatikanzeitung erschien nur eine knappe Notiz des Vorfalls. Dagegen schrieb eine linke Zei- tung von der Menschwerdung des Papstes. Alle rechneten ihm hoch an, dass er in die Öffentlichkeit gegangen war mit seiner Trauer und seinem Entsetzen über die vielen Toten auf dem Grund des Meeres. Diese Gefühle wurden offenbar verstanden und geteilt. Die Menschen waren schon länger verstört von den Nachrichten über die vielen To- 4
ten im Mittelmeer, hatten bisher aber keine Möglichkeit gesehen, wie sie helfen konnten. Nun war der Damm gebrochen. Schon bald trafen auf der eingeblendeten Adresse hunderte Bereitschaftserklärungen von Pfarrgemeinden aus allen Teilen Europas ein, und es wurden immer mehr. Auch die Evangelische Kirche bot ihre Hilfe an, die freudig an- genommen wurde. In der allgemeinen Euphorie kümmerte es niemanden, dass der Vatikan kritisierte, der Papst habe mit seinem legeren Auftreten der Würde seines Amtes geschadet. Unterdessen begann Paul VII. mit den Vorbereitungen für die Trauerfeiern. Am festgesetzten Tag fuhren die Boote des Papstes in der Abenddämmerung mit brennenden Fackeln aus dem Hafen von Syrakus, und viele kleinere Boote folgten ihnen, ebenfalls mit Lich- tern versehen. Auf der Mole standen Menschen und schwiegen, viele mit Fackeln in den Händen. Von den Booten klang eine Trompete her- über, später waren Trommeln zu hören. So nah wie möglich am Ufer vorbei fuhr die Bootsprozession zum nächsten Fischerhafen, wo sich in der Dunkelheit nochmals Boote mit brennenden Fackeln anschlos- sen. Am Ufer leuchteten Feuer von felsigen Landzungen und Sand- buchten. Die Berichte, die am nächsten Tag in den Zeitungen erschie- nen, schilderten das beeindruckende Ereignis ausführlich und anerken- nend. Zur großen Freude des Papstes meldete sich der Patriarch der orthodoxen Kirche und bot seine Mitwirkung bei einer Bootsprozessi- on vor der griechischen Küste an. Der Vorsitzende des Zentralrates der Muslime in Italien bedankte sich beim Papst für die würdige Feier, durch die den muslimischen Ertrunkenen ehrendes Gedenken zuteil geworden sei. Paul VII. war glücklich. Es war gelungen! Die Feier hatte die Menschen berührt! Vielleicht war er doch kein so schlechter Papst? 5
Obwohl die Institution Kirche, der er vorstand, ihm von Jahr zu Jahr weniger wichtig wurde? Er hätte die Wahl nicht annehmen dürfen! Immer, wenn er in seinen Gedanken diesen Punkt erreichte, brach ihm der Schweiß aus. Er wollte da sein für die Menschen, die einen Papst brauchten, aber was hieß das? Half er ihnen mit Lehrschreiben, Audi- enzen, Segnungen und Heiligenernennungen? Das alles kam ihm so unwichtig vor. Es war ihm egal, ob noch ein paar Menschen mehr zur Ehre der Ältäre erhoben wurden. Er wusste nur, dass jetzt diese Arbeit die wichtigste war. Und immerhin gab es dabei ja bemerkenswerte Er- folge in der Ökumene, ganz ohne Enzyklika, dachte er und lachte vor sich hin. In den nächsten Wochen folgten Trauerfeiern an den Küsten des Mittelmeeres, die viel Zustimmung bei den Menschen fanden. Vor zwei griechischen Inseln führte er zusammen mit dem Oberhaupt der orthodoxen Kirche die Bootsprozession an, aber auch in Südspanien, Lampedusa, Malta und Brindisi war er immer dabei. Es gab ihm Kraft, an die Toten zu denken, denen auf diese Weise etwas von ihrer Würde zurückgegeben wurde, und gleichzeitig die Betroffenheit der Mitfei- ernden zu erleben. In diese Zeit fiel seine Bitte um einen Redetermin vor der EU. Hatte er bei den Bootsprozessionen einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd getragen, so stand er dort in seinem weißen Ornat am Rednerpult. Und er erklärte den Abgeordneten, was er vorhatte. Inzwi- schen sei seine Flotte auf vier Schiffe angewachsen, weil ein griechi- scher und ein spanischer Reeder ihm geeignete Boote geschenkt hät- ten. Mehrere Tankstellen hätten ihm obendrein bis zu 70 % Rabatt für Kraftstoff angeboten. Es seien grob gerechnet über 250.000 Pfarrge- meinden bereit, Flüchtlinge aufzunehmen. Das bedeute, dass weit über 2.000000 Menschen in den christlichen Kirchengemeinden Aufnahme finden könnten. Während der jeweils betroffene europäische Staat die notwendigen Papiere ausstellen müsste, übernähmen die Kirchen die 6
gesamten Kosten für Unterbringung und Verpflegung. „Auch für Kul- tur und Bildung, wie Sprache oder Musik“, fügte der Papst hinzu. Als er mit dem Hinweis, dass Menschen aller Religionen willkommen sei- en und niemand, der mit ihnen zu tun habe, sie missionieren dürfe, seine Rede beendete, erhob sich überraschend viel Beifall. Seinen Plänen stand nichts im Wege. Von Rom aus blieb er in Verbindung mit den Pfarreien auf Sizilien, wohin die ersten der geret- teten Flüchtlinge gebracht werden sollten. Überall auf der Insel waren die Vorbereitungen für deren Aufnahme im Gange. Die Schiffe lagen bereit und die Verantwortlichen hatten sich mit der Rechtslage auf dem Meer vertraut gemacht. Paul VII. konnte in Rom bleiben und versuchen, ein guter Papst zu sein. Mit seiner Flüchtlingsaktion hatte er sich in der Kurie keine Freunde gemacht. Man begegnete ihm mit geschmeidiger Di- stanz. Aber die kurialen Intrigen- und Machtspiele interessierten ihn nicht. Zum Glück hatte er seinen Sekretär aus Barcelona bei sich, mit dem er seit vielen Jahren vertraut war. Und vielleicht entpuppte sich ja auch der eine oder andere Römer als Seelenverwandter. Da kam ein Hilferuf aus dem Senegal. Das westafrikanische Land war zu über 90% muslimisch, aber die Katholische Kirche ge- noss hohes Ansehen wegen ihres Engagements in der Gesundheits- und Bildungsarbeit. Auch gegen die Beschneidung der Mädchen setz- te sie sich ein und war um konstruktiven Dialog mit den Muslimen be- müht. In diesem speziellen Fall waren katholische Priester von musli- mischen Fischern um Hilfe gebeten worden. Zwar hatte der Senegal das Fischereiabkommen mit der EU gekündigt, weil die Ausgleichs- zahlungen nicht hoch genug waren, um den ökologischen und wirt- schaftlichen Schaden auszugleichen, den die EU-Flotte anrichtete. Doch europäische Fischerei-Großunternehmen führten den Fang auf Booten unter senegalesischer Flagge fort. Kriminelle Machenschaften, gegen die im Senegal keine Polizei vorging. Der Papst habe doch vor 7
der EU gesprochen. Seine Initiative sei erfolgreich im Mittelmeer. Ob er sich nicht auch für sie einsetzen könne? Inzwischen habe die Ver- sorgung mit Fisch für die senegalesische Bevölkerung drastisch abge- nommen und es drohe Unterernährung. Was sollte er tun? Er wusste vom Leerfischen der afrikani- schen Westküste durch europäische Riesenschiffe. Er wusste vom Zu- sammenbruch der afrikanischen Produktion auf vielen Gebieten durch subventionierte Ware aus Europa. Er wusste, dass dies zum wachsen- den Flüchtlingsstrom beitrug. Wäre gewaltfreier Widerstand die richti- ge Gegenmaßnahme? Hunderte kleiner Boote vor dem kriminellen Riesen? Sollte er sie dazu ermuntern? Eine Rede vor der EU allein würde kein Umdenken herbeiführen. Er müsste den Europäern etwas anbieten können. Das Glück zum Beispiel. Kehrt um, dann werdet ihr glücklich sein! Aber das war vor 2000 Jahren schon schief gegangen, obwohl es die Lösung wäre. Er würde inkognito hinfahren, um an Ort und Stelle zu entscheiden! Und er machte sich auf nach Afrika. Dort lebt er noch heute, wenn er nicht gestorben ist. 8
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