Der Schweizer Arbeitsmarkt seit 1920: Langfristige Tendenzen

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Der Schweizer Arbeitsmarkt seit 1920: Langfristige Tendenzen
Monatsthema

Der Schweizer Arbeitsmarkt seit 1920: Langfristige Tendenzen
Die Entwicklung des Schweizer
Arbeits­marktes seit 1920 kann in
Bezug auf die Arbeitslosigkeit in
drei Phasen unterteilt werden:
Die Jahre 1920–1945 sind geprägt
durch zwei grosse Wirtschafts­
krisen, welche jeweils die Arbeits­
losigkeit in die Höhe schnellen
liessen. In den Boom-Jahren
1946–1973 verschwand die
Arbeits­losigkeit in der Schweiz
praktisch vollständig; die herr­
schende Knappheit an Arbeits­
kräften wurde im Ausland kom­
pensiert. Die Jahre 1974–2010
sind gekennzeichnet durch einen
strukturellen Umbruch und einen
tendenziellen Anstieg der Sockel­
arbeitslosigkeit. Der folgende                   Im Jahr 1997 kletterte die Arbeitslosigkeit auf 4,7% und damit auf ein höheres Niveau als während der grossen
                                                 ­Depression. Die Phase von 1974 bis heute ist von strukturellem Wandel und wiederholten Beschäftigungseinbrüchen
Beitrag zeichnet diese Entwick­                   gekennzeichnet. Im Bild: Schuhproduktion bei der Firma Bally im Jahr 1997.                               Bild: Keystone

lungen nach und beleuchtet die
Hintergründe.
                                                                                                                      lisierung der Schweiz erfolgte. Nach Aus­
                                                 Die Krisenjahre 1920–1945
                                                                                                                      bruch des Ersten Weltkriegs fand die Periode
                                                    Die Periode 1920–1945 ist durch zwei                              der wachsenden Prosperität ein abruptes
                                                 grosse Krisen gekennzeichnet, die zu starken                         Ende. Durch die Aufgabe des Goldstandards
                                                 Anstiegen der Arbeitslosenquote führten                              zur «Finanzierung» der kriegsbedingten
                                                 (vgl. Grafik 1).1 Die erste Krise begann mit                         Knappheit und die damit verbundene starke
                                                 dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914.                             Ausweitung der Geldmenge stieg der Konsu­
                                                 Zu diesem Zeitpunkt blickte die Schweiz auf                          mentenpreisindex von 100 im Jahre 1914 auf
                                                 rund 70 Jahre fast ununterbrochenen Wirt­                            229 im Jahre 1918. Im Gegenzug fielen die
                                                 schaftswachstums zurück, in denen ein                                Reallöhne um 25% bis 30%. Hinzu kam die
                                                 Eisen­bahnnetz entstand und die Industri­a­                          mehr schlecht als recht administrierte
                                                                                                                      Kriegswirtschaft, im Rahmen derer Grund­
                                                                                                                      nahrungsmittel rationiert wurden. Die
                                                                                                                      wachsende Unzufriedenheit der Bevölke­
                                                                                                                      rung gipfelte im November 1918 in einem
                                                                                                                      landesweiten Generalstreik.
                                                                                                                          In diesen Zeiten des Aufruhrs entschied
                                                                                                                      die Schweizerische Nationalbank (SNB) der
                                                 Prof. Dr. George Sheldon                                             steigenden Inflation endlich die Spitze zu
                                                 Extraordinarius für                                                  brechen und beschloss folglich, das Preisni­
                                                 ­Nationalökonomie, Leiter
                                                  der Forschungsstelle für
                                                                                                                      veau radikal zu senken und zum alten Gold­
                                                  Arbeits­markt- und Indus-                                           standard zurückzukehren. In der Folge sank
                                                  trieökonomik (FAI) am                                               die Jahresinflationsrate von rund +25% im
                                                  Wirtschaftswissenschaft-                                            Jahre 1918 auf das heute kaum vorstellbare
                                                  lichen Zentrum (WWZ)
                                                  der Universität Basel
                                                                                                                      Niveau von –20% im Jahre 1922. Als Folge
1 Dieser Abschnitt stützt sich auf ESO (2009).                                                                        brach die Wirtschaft zusammen, und die

                                                 15 Die Volkswirtschaft Das Magazin für Wirtschaftspolitik 1/2-2010
Monatsthema

         Grafik 1                                                                                                                                        Arbeits­losenquote schnellte bis 1922 auf
         Arbeitslosenquote der Schweiz, 1914–2009                                                                                                        3,4% hoch.
                                                                                                                                                             Danach folgten Jahre der relativen Pros­
   5%                                     Grosse Depression                                                                   Immobilienkrise            perität, bevor die Schweiz 1931 von der zwei­
  4.5%                                                                                                                                                   ten grossen Krise dieser Epoche erfasst wur­
                                                                                                                                                         de: der weltweiten Depression. Sie liess 1936
   4%
                     Starke                                                                                                                              die durchschnittliche Arbeitslosenquote auf
                     Deflation                                                                                                                           4,5% ansteigen. Vor allem die Frankenabwer­
  3.5%
                                                                                                                                                         tung durch die SNB und die militärische
   3%                                                                                                                                                    Aufrüstung, welche die Wehranleihe 1936 er­
  2.5%
                                                                                                                                                         möglichte, brachte die Arbeitslosenquote je­
                                                                                                                                                         doch rasch wieder zum Sinken.
   2%                                                                                                                                                        Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg wa­
  1.5%
                                                                                                    Erdölpreis-Schocks                                   ren auch von einem sektoralen Wandel in der
                                                                                                                                   Platzen der           Wirtschaft gekennzeichnet. Die Heimarbeit,
                                                                                                                                 Dotcom-Blase
   1%                                                                                                                                                    die in der Weberei Ende des 19. Jahrhunderts
                                                                                                                                                         noch ein beträchtliches Ausmass gehabt hat­
  0.5%
                                                                                                                                                         te, verschwand vollständig. Zudem verlagerte
   0%                                                                                                                                                    sich die Beschäftigung zunehmend von der
         1914 1920 1925 1930 1935 1940 1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010                                             Textilindustrie zum Maschinenbau. Wäh­
         Anmerkung: Die Arbeitslosenquote misst den Anteil der Erwerbs-                            Quellen: Historische Statistik der Schweiz (1996),   rend um 1910 noch über 56% aller industri­
          personen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt arbeitslos sind:                               Degen (2009), BFS, Sheldon / Die Volkswirtschaft
          Arbeitslose/(Arbeitslose + Erwerbstätige). Im Unterschied zur                                                                                  ell-gewerblichen Arbeitskräfte in der Tex­til­
          amtlichen Arbeitslosenstatistik, welche den Nenner der Arbeits-                                                                                industrie tätig waren, sank dieser Anteil bis
          losenquote lediglich am Anfang jedes Jahrzehnts aktualisiert,
          bezieht sich die Arbeitslosenquote in der Grafik auf die jeweils                                                                               1950 auf knapp 30%. Im Gegenzug wuchs
          aktuelle Erwerbspersonenzahl. Da die Beschäftigung in der                                                                                      die relative Zahl der Beschäftigten in der Ma­
          Schweiz im betrachteten Zeitraum trendmässig zunahm, liegen
          die Arbeitslosenquoten in den Grafiken meistens unter den                                                                                      schinen- und Metallindustrie bis 1950 auf
          zeitgleichen amtlichen Quoten, die das Ausmass der Arbeitslosig-­                                                                              40%. Auch der Bankensektor gewann an
          keit aus dem gleichen Grund zu überzeichnen neigen.
                                                                                                                                                         Bedeu­tung, stieg doch dort die Zahl der Be­
                                                                                                                                                         schäftigten von 1910 bis 1930 um 125%.

         Grafik 2
                                                                                                                                                         Die Boomjahre 1946–1973
         Erwerbstätige und Arbeitslose in der Schweiz, 1915–2009                                                                                             Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten Jahre
                                                                                                                                                         des starken Breitenwachstums, in denen die
              Erwerbstätige                                    Arbeitslose                                                                               Arbeitslosigkeit fast verschwand. Die beste­
                                                                                                                                                         hende allgemeine Arbeitskräfteknappheit
         Personen in Mio.
                                                                                                                                                         war nur durch den Zuzug ausländischer Ar­
   5.0
                                                                                                                                                         beitskräfte zu überwinden. So stieg der Aus­
   4.5
                                                                                                                                                         länderanteil, der in der Zwischenkriegszeit
   4.0                                                                                                                                                   von 15,4% (1914) auf 5,2% (1941) stark ge­
                                                                                                                                                         sunken war, bis 1970 wieder auf 17,2% an.
   3.5
                                                                                                                                                         Interessanterweise war damit lediglich der
   3.0
                                                                                                                                                         Stand vor dem Ersten Weltkrieg leicht über­
                                                                                                                                                         schritten. Allerdings dauerte es zuvor fast
   2.5                                                                                                                                                   65 Jahre (1850-1914), den Ausländeranteil
   2.0
                                                                                                                                                         von 4,6% auf 15,4% zu verdreifachen. Nach
                                                                                                                                                         dem Zweiten Weltkrieg geschah dies inner­
   1.5                                                                                                                                                   halb von nur 20 Jahren, was die damals auf­
   1.0
                                                                                                                                                         kommenden Überfremdungsängste verständ­
                                                                                                                                                         lich macht.
   0.5                                                                                                                                                       Auch die Zahl der Erwerbstätigen nahm
                                                                                                                                                         während der Boomjahre rapide zu (vgl. Gra-
   0.0
                                                                                                                                                         fik 2). Wuchs die Zahl der Beschäftigten in
     15

                20

                       25

                              30

                                     35

                                            40

                                                   45

                                                          50

                                                                 55

                                                                        60

                                                                                 65

                                                                                        70

                                                                                               75

                                                                                                       80

                                                                                                              85

                                                                                                                     90

                                                                                                                            95

                                                                                                                                   00

                                                                                                                                          05

                                                                                                                                                         der Zwischenkriegszeit lediglich um 0,4%
                                                                                             19
   19

                                                                                      19
                                          19

                                                 19
             19

                     19

                            19

                                   19

                                                        19

                                                               19

                                                                      19

                                                                               19

                                                                                                     19

                                                                                                            19

                                                                                                                   19

                                                                                                                          19

                                                                                                                                 20

                                                                                                                                        20

                                                                                                   Quellen: Historische Statistik der Schweiz (1996),   pro Jahr, stieg sie zwischen 1946 und 1973
                                                                                                    Degen (2009), BFS, Sheldon / Die Volkswirtschaft
                                                                                                                                                         mit einer Jahresrate von 1,7%, d.h. mit der
                                                                                                                                                         vierfachen Geschwindigkeit.

                                                                                                                                                         Die Jahre des Umbruchs 1974–2010
                                                                                                                                                            Im Zeitraum nach den Boomjahren kam
                                                                                                                                                         es zu wiederholten Beschäftigungseinbrü­

                                                                              16 Die Volkswirtschaft Das Magazin für Wirtschaftspolitik 1/2-2010
Monatsthema

      Grafik 3                                                                                                                                       der Schweizer Arbeitsmarkt seit Anfang der
      Taggeldbezugsfrist und Arbeitslose in der Schweiz, 1970–2010                                                                                   1970er-Jahre wesentlich geschlossener ge­
                                                                                                                                                     worden ist. Mitte der 1970er-Jahre war die
            Arbeitslose (linke Skala)                                    Taggeldmaximum (rechte Skala)                                               Arbeitslosenversicherung (ALV) hierzulande
                                                                                                                                                     noch nicht obligatorisch. Lediglich ein Fünf­
      in 1000                                                                                                                          in Wochen
250
                                                                                                                                                     tel der Erwerbsbevölkerung war gegen Ar­
                                                                                                            104                                  100 beitslosigkeit versichert. Zudem war ein
                                                                                   Januar 1997
225                                                                                                                                                  Grossteil der ausländischen Arbeitskräfte in
                                                                                                                                                     der Schweiz nicht sesshaft und besass keinen
200
                                                                                           34-50-80
                                                                                                                                                     Anspruch auf Niederlassung. Ohne einen
                                                                      April 1993                                                                 80
                                                                                                                                                     Anspruch auf Versicherungsleistungen bzw.
175                                                                                                                                                  ohne das Recht, auch stellenlos in der Schweiz
                                                                                                                  Juli 2003 (80–104)
                                                                                                                                                     zu verweilen, meldete sich die Mehrzahl der
150
                                                                               34-50-60                                                          60
                                                                                                                                                     Erwerbspersonen beim Verlust ihres Arbeits­
                                 Januar 1984
                                                                 Januar 1993                                                                         platzes nicht beim Arbeitsamt. Somit wurden
125                                                               17-34-50                                                                           die Betroffenen von der Arbeitsmarktstatistik
                                                                                                                                                     nicht erfasst.
                                                                      März 1992
100
                                                                                                                                                 40     Inzwischen ist der Anteil der sesshaften
                                August 1983
                                                    35                                                                                               Ausländer jedoch gestiegen, und die Zahl der
 75       November 1975
                                                                                                                                                     Stellenlosen, die einen Anspruch auf Tag­
                                    25
                                                         AVIG: 1.84                                                                                  geldzahlungen geltend machen können, hat
50         Juni 1975    20
                                                                                                                                                 20 zugenommen. Ein gegebener Stellenabbau
              15               Obligatorium: 4.77
                                                                                                                                                     schlägt sich heute wesentlich stärker in der
25                                                                                                                                                   Arbeitslosenstatistik nieder als früher.

 0                                                                                                                                                 0   Ansteigende Sockelarbeitslosigkeit
      1970             1975             1980              1985              1990             1995          2000             2005           2010
                                                                                                                                                           Seit 1973 ist ferner zu erkennen, dass die
                                                                                                         Quellen: Sheldon / Die Volkswirtschaft
                                                                                                                                                       Arbeitslosigkeit – im Unterschied zu den
                                                                                                                                                       früheren Epochen – trendmässig zunimmt.
                                                                                                                                                       Am Ende jeder konjunkturellen Erholung
                                                                           chen, welche die Arbeitslosigkeit fünfmal                                   kommt die Arbeitslosigkeit auf einem hö­
                                                                           deutlich ansteigen liessen. Der erste Einbruch                              heren Niveau zum Stehen als vor dem vorhe­
                                                                           ereignet sich im Anschluss an die erste Erdöl­                              rigen Beschäftigungseinbruch. Dies ist am
                                                                           preiskrise 1973/74 und der zweite im Gefolge                                Anstieg der Tiefswerte – der sogenannten
                                                                           des zweiten Erdölpreisschocks 1982. Der                                     Sockelarbeitslosigkeit – zu erkennen.
                                                                           dritte war gewissermassen selbst induziert,                                     Ein Grund für den trendmässigen Anstieg
                                                                           da er aus der restriktiven Geldmengenpolitik                                der Sockelarbeitslosigkeit liegt am kontinu­
                                                                           der Nationalbank Anfang der 1990er-Jahre                                    ierlichen Ausbau der ALV. Wie Grafik 3 zeigt,
                                                                           resultierte. Die letzten zwei Einbrüche rüh­                                ist die maximale Frist für den Bezug von Ar­
                                                                           ren von Entwicklungen auf den Finanzmärk­                                   beitslosenentschädigung oder Taggeld bei
                                                                           ten her: dem Platzen der Dotcom-Blase An­                                   jedem erneuten Anstieg der Arbeitslosigkeit
                                                                           fang der 2000er-Jahre und der Bankenkrise,                                  verlängert worden. Dass der Versicherungs­
                                                                           die 2007 einsetzte.                                                         schutz bei wachsender Arbeitslosigkeit aus­
                                                                                                                                                       gedehnt wird, ist im Grundsatz zu begrüs­
                                                                           Zunehmende Geschlossenheit                                                  sen. Auf diese Weise bleibt die Kaufkraft der
                                                                           des Schweizer Arbeitsmarktes                                                Stellenlosen länger erhalten, was die Kon­
                                                                               Merkwürdigerweise stieg die Arbeitslosig­                               junktur stärkt und allen letztendlich zugute
                                                                           keit in den Krisenjahren im umgekehrten                                     kommt.
                                                                           Verhältnis zur Stärke der Beschäftigungs­                                       Problematisch wird eine solche Erweite­
                                                                           einbrüche. So nahm die Beschäftigung zwi­                                   rung jedoch dann, wenn sie – wie in der
                                                                           schen 1973 und 1978 um knapp 8% ab; das                                     Schweiz – auch dann bestehend bleibt, wenn
                                                                           ist der grösste Beschäftigungsrückgang, den                                 die schlechte Konjunkturlage, die zu ihr
                                                                           ein OECD-Land im Gefolge der ersten Öl­                                     führte, nicht mehr vorherrscht. Empirische
                                                                           preiskrise zu verzeichnen hatte. Dennoch                                    Untersuchungen zeigen auch für die Schweiz,
                                                                           überschritt die Arbeitslosenquote nicht ein­                                dass eine Verlängerung der Taggeldbezugs­
                                                                           mal die 1%-Marke. Dagegen fiel die Beschäf­                                 frist von einem gegebenen Umfang die ­Dauer
                                                                           tigung zwischen 1991 und 1997 «lediglich»                                   der Stellensuche – unabhängig von der Kon­
                                                                           um 3%; trotzdem stieg die Arbeitslosenquote                                 junkturlage – um rund 20% dieses Betrags
                                                                           auf 4,7% an – und damit auf ein höheres                                     erhöht.2 Übertragen auf die Schweiz heisst
                                                                           ­Niveau als während der grossen Depression.                                 das, dass die Erhöhung der Bezugsfrist von
                                                                               Wie ist diese überraschende Entwicklung                                 50 Wochen 1984 auf 104 Wochen 1997 eine
      2 Vgl. die Übersicht in Sheldon (1997).                               zu erklären? Ein Hauptgrund liegt darin, dass                              versicherungsinduzierte Verlängerung der

                                                                           17 Die Volkswirtschaft Das Magazin für Wirtschaftspolitik 1/2-2010
Monatsthema

        Grafik 4                                                                                                                                    Arbeitssuche um fast 11 Wochen zur Folge
        Bildungsstand der in den jeweils vorausgegangenen fünf Jahren zugewanderten ausländischen                                                   hatte. Ein solcher Effekt resultiert daraus,
        ­Vollzeiterwerbstätigen über 29 Jahre, 1970–2000						                                                                                      dass Stellenlose am Anfang ihrer Arbeits­
                                                                                                                                                    losigkeit in der Regel weniger intensiv nach
            1970                          1980                        1990                           2000                                           Arbeit suchen, wenn sie notfalls auf lang­
                                                                                                                                                    fristige Bezugsmöglichkeiten zurückgreifen
  70%                                                                                                                                               können. Das war mit ein Grund für die Ver­
                                                                                                                                                    kürzung der Regelbezugsfrist im Juli 2003
  60%                                                                                                                                               auf 80 Wochen.

                                                                                                                                                    Wandel der Arbeitskräftenachfrage
  50%
                                                                                                                                                        Eine weitere Eigenart der jüngsten Arbeits­
                                                                                                                                                    marktepoche besteht darin, dass die Beschäf­
  40%
                                                                                                                                                    tigung mit einer Rate von mehr als 1,3% pro
                                                                                                                                                    Jahr – d.h. fast so schnell wie während der
  30%
                                                                                                                                                    Boomjahre 1946–1973 – zunahm, während
                                                                                                                                                    die Sockelarbeitslosigkeit kontinuierlich an­
  20%                                                                                                                                               stieg. Dies deutet auf eine wachsende Dis­
                                                                                                                                                    krepanz zwischen den nachgefragten und
  10%                                                                                                                                               angebotenen Qualifikationsprofilen der Stel­
                                                                                                                                                    lensuchenden hin. Verantwortlich dafür sind
   0%                                                                                                                                               drei Trendentwicklungen, die gegenwärtig
                    Keine                           Betriebliche                       Schulische                        Universität,               die Arbeitsmärkte sämtlicher moderner In­
               Berufsausbildung                   Berufsausbildung                  Berufsausbildung                     Hochschule
                                                                                                                                                    dustriestaaten tangieren:
        Anmerkung: Keine Berufsausbildung bedeutet höchstens einen                                        Quellen: Sheldon / Die Volkswirtschaft
         Abschluss des Schulobligatoriums. Betriebliche Berufsausbildung                                                                            – die wachsende Internationalisierung der
         heisst einen Lehrabschluss. Schulische Berufsausbildung                                                                                        Arbeitsteilung, die dafür sorgt, dass im­
         beinhaltet eine Matura oder den Abschluss eines Lehrerseminars,
         einer höheren Berufsausbildung oder einer höheren Fachschule.                                                                                  mer mehr einfache, repetitive Tätigkeiten
         Universität bzw. Hochschule meint einen Fachhochschulabschluss                                                                                 ins Ausland abwandern und einen wach­
         oder höher.
                                                                                                                                                        senden Anteil an anspruchsvolleren Be­
                                                                                                                                                        schäftigungen zurücklassen, die höhere
        Grafik 5
                                                                                                                                                        Qualifikationen erfordern;
                                                                                                                                                    – der bildungsintensive («skill-biased»)
        Verhältnis der Löhne und Arbeitslosenquoten (ALQ) nach Bildungsstand, 1991–2007
                                                                                                                                                        technische Fortschritt, der eine steigende
                                                                                                                                                        Nachfrage nach Höherqualifizierten zu
            Lohn HQ:NQ                           Lohn MQ:NQ                         Lohn HQ:MQ
                                                                                                                                                        Lasten von Un- und Angelernten auslöst;
            ALQ NQ:HQ                            ALQ NQ:MQ                          ALQ MQ:NQ                                                       – die Tertiarisierung der Berufswelt, d.h.
                                                                                                                                                        ­eine kontinuierliche Verlagerung der
    4                                                                                                                                                    ­Be­schäftigung von den gewerblich-indus­
                                                                                                                                                          triellen Tätigkeiten hin zu den Dienstleis­
                                                                                                                                                          tungsberufen, die verstärkt von quali­fi­
                                                                                                                                                          zier­ten Arbeitskräften ausgeübt werden.
    3

                                                                                                                                                       Die Folgen dieser Veränderungen lassen
                                                                                                                                                    sich besonders deutlich am Wandel des
                                                                                                                                                    Qualifikationsmix der im Ausland rekru­
    2
                                                                                                                                                    tierten Arbeitskräfte ablesen (vgl. Grafik 4).
                                                                                                                                                    Waren über Jahrzehnte mehr als 50% der
                                                                                                                                                    neu einwandernden ausländischen Vollzeit­
    1
                                                                                                                                                    erwerbstätigen ohne Berufsausbildung und
                                                                                                                                                    hatten weniger als 20% einen Hochschulab­
                                                                                                                                                    schluss, hat sich dieses Verhältnis seit Mitte
                                                                                                                                                    der 1990er-Jahre diametral gekehrt: 50%
    0                                                                                                                                               weisen seitdem einen Hochschulabschluss
        1991       1992   1993     1994     1995       1996   1997     1998       1999     2000     2001     2002     2003     2004     2005        auf und nur noch rund 20% sind ungelernt.
        HQ:
           Hochqualifizierte bzw. Akademiker                                                Quellen: Wyss (2008), Sheldon / Die Volkswirtschaft    Der gegenwärtige Anteil an Akademikern
        MQ: Mittelqualifizierte bzw. Lehrabsolventen
        NQ: Niedrigqualifizierte bzw. Ungelernte
                                                                                                                                                    unter den neu einreisenden ausländischen
                                                                                                                                                    Arbeitskräften übertrifft den entspre­
                                                                                                                                                    chenden Anteil in der heimischen Erwerbs­
                                                                                                                                                    bevölkerung um das Zweifache. Ein Fehlbe­
                                                                                                                                                    darf an Lehrabsolventen hingegen zeichnet
                                                                                                                                                    sich in dieser Hinsicht derzeit nicht ab, was
                                                                                                                                                    auch an ihrer wachsenden Arbeitslosigkeit

                                                                           18 Die Volkswirtschaft Das Magazin für Wirtschaftspolitik 1/2-2010
Monatsthema

     Grafik 6                                                                                                                              dafür ist allerdings nicht – wie manche ver­
     Anteil der Ausländer an der Erwerbsbevölkerung und dem Arbeitslosenbestand, 1975–2008                                                 muten – die Personenfreizügigkeit, sondern
                                                                                                                                           die verfehlte Ausländerpolitik der Vergan­
         An Erwerbsbevölkerung                                  An Arbeitslosenzahl                                                        genheit.
     Ausländeranteil in %
50                                                                                                                                         Ausblick
                                                                                                                                               Vom erhöhten Bildungsstand der auslän­
40                                                                                                                                         dischen Wohnbevölkerung dürfte die Schweiz
                                                                                                                                           in Zukunft stark profitieren. Auf der Basis
                                                                                                                                           ausländischer Untersuchungen ist unter an­
30                                                                                                                                         derem zu erwarten, dass der verbesserte Qua­
                                                                                                                                           lifikationsstand zu weniger Arbeitslosigkeit,
                                                                                                                                           mehr Wirtschaftswachstum und einer ver­
20                                                                                                                                         besserten Fiskalbilanz der Migration führt.
                                                                                                                                           Demnach steht der Schweiz eine neue Ära
                                                                                                                                           wachsender Prosperität bevor.              
10

 0
       1975               1980                  1985             1990                 1995                   2000               2005

     Anmerkung: Die Arbeitslosenstatistik unterscheidet erst                                Quellen: BFS, Sheldon / Die Volkswirtschaft
      seit 1975 nach der Nationalität der Betroffenen.

                                                                 gegenüber Akademikern zu sehen ist (vgl.
                                                                 Grafik 5).

                                                                 Steigende Arbeitslosigkeit niedrig
                                                                 qualifizierter Arbeitskräfte
                                                                     Die abnehmende Nachfrage der Firmen
                                                                 nach niedrig qualifizierten Arbeitskräften
                                                                 hat auch Folgen für die bereits in der Schweiz
                                                                 befindlichen Arbeitnehmenden. Grundsätz­
                                                                 lich ist zu erwarten, dass eine nachlassende
                                                                 Nachfrage nach Ungelernten deren Löhne
                                                                 gegenüber anderen Arbeitskräften senkt
                                                                 und/oder deren Arbeitslosigkeit erhöht. In
                                                                 angelsächsischen Ländern trifft vor allem
                                                                 Ersteres zu, während im Kontinentaleuropa
                                                                 eher Letzteres gilt – so auch in der Schweiz.
                                                                 Das Verhältnis der Arbeitslosenquote von
                                                                 Niedrigqualifizierten zu jener von Hochqua­
                                                                 lifizierten ist seit 1991 von knapp unter 2 auf                           Kasten 1
                                                                 über 3 angestiegen, während sich das ent­
                                                                 sprechende Lohnverhältnis überhaupt nicht                                  Literatur
                                                                 bewegt hat.
                                                                                                                                            – Degen, B. (2009): Arbeitslosigkeit, Historisches
                                                                     Da aufgrund der langjährigen Rekrutie­                                   Lexi­kon der Schweiz, www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/
                                                                 rung ungelernter Arbeitskräfte die Mehrheit                                  D13924.php, 26. November.
                                                                 der ausländischen Arbeitskräfte hierzulande                                – ESO (2009): Entwicklung der Schweiz 1850–2000,
                                                                 niedrig qualifiziert sind, sind Ausländer von                                Economic and Social History Online,
                                                                                                                                              www.eso.uzh.ch, Themen.
                                                                 der abnehmenden Nachfrage nach Niedrig­                                    – Sheldon, G. (1997): Unemployment and Unemploy-
                                                                 qualifizierten besonders stark betroffen (vgl.                               ment Insurance in Switzerland, in: P. Bacchetta,
                                                                 Grafik 6). Wie zu erkennen ist, nimmt der                                    W. Wasserfallen (Hrsg.): Economic Policy in Switzer-
                                                                                                                                              land, London: Macmillan, S. 62–92.
                                                                 Anteil der Ausländer im Arbeitslosenbestand
                                                                                                                                            – Wyss, S. (2008): Ist die relative Schlechterstellung
                                                                 wesentlich stärker zu als deren Anteil an der                                niedrig qualifizierter Arbeitskräfte Mythos oder
                                                                 Erwerbsbevölkerung. Die Ausländer sind al­                                   ­Realität? Eine Analyse der Schweizer Disparität von
                                                                 so im Arbeitslosenbestand zunehmend über­                                     Lohn und Arbeitslosenquote nach Qualifikation,
                                                                                                                                               WWZ-Studie, Universität Basel, August.
                                                                 vertreten, derzeit um das Zweifache. Ursache

                                                                 19 Die Volkswirtschaft Das Magazin für Wirtschaftspolitik 1/2-2010
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