Der Winterthurer Otto Lüscher erinnert sich: Jan Sawka: Vom Hochschullager Winterthur zum D-Day in die Normandie - Von Dominik Landwehr
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Der Winterthurer Otto Lüscher erinnert sich: Jan Sawka: Vom Hochschullager Winterthur zum D-Day in die Normandie. Von Dominik Landwehr 7.April 2021 ______________________________________________________________________________________________ Dominik Landwehr: Vom Hochschullager Winterthur zum D-Day in die Normandie: Jan Sawka. April 2020 1/11
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Eine fast unglaubliche Geschichte: Der polni- Mutter geraten haben, den Sohn aufs Gymna- sche Architekt Jan Sawka war seit 1940 in Win- sium zu schicken und nicht ihn eine Lehre ma- terthur interniert. 1944 verschwand er über chen zu lassen. Nacht um mit den Alliierten am D-Day zu kämpfen. Otto Lüscher, er ist 1928 geboren. Er ist schon eine geraume Zeit im Ruhestand. Er arbeitete 1954 bis 1988 als Ingenieur für Sulzer und war Konstruktionschef in der Abteilung Kernenergie. Als die Internierten 1940 nach Winterthur ka- men, war er 12jährig – und hellwach, wie wir im Gespräch feststellen durften. Die Familie lebte damals im gleichen Haus wie das Ehepaar Lüscher heute – an der St. Gallerstrasse. Das Hochschullager Winterthur Winterthur war im Zweiten Weltkrieg ein wichti- ges Zentrum für die internierten polnischen Sol- daten. 12 500 von ihnen waren Mitte 1940 in die Schweiz gekommen, sie blieben während des ganzen Krieges hier. In Winterthur befand sich eines von drei Hochschullagern: Rund 500 Studenten besuchten in den Kriegsjahren die Kurse in verschiedenen Fachrichtungen, sie wur- Abb. 1 Oberstleutnant Reder, einer der polnischen Kom- mandanten des Winterthurer Hochschullagers. Auch er war den zuerst in den Räumen der Stadt angeboten, im Hause der Familie Lüscher untergebracht. später konnten dann alle nach Zürich und an der Foto Sammlung Winterthur winbib Uni und ETH studieren und ein Diplom erwer- ben. Der Landbote hat am 19.Februar 2021 dar- über berichtet. Der Vater war vor dem Krieg gestorben; Freunde rieten der Mutter, den Bub auf ein In- ternat zu schicken. Die Familie war relativ wohl- habend und hatte Platz für Gäste zuhause. Als zu Beginn des Krieges das Rote Kreuz nach Wohnraum für Internierte und Flüchtlinge suchte, meldete man sich – drei Zimmer konnte man anbieten. Einer der ersten Gsäte war Oberstleutnant Reder, der zu den Kommandan- ten des Winterthur Lagers gehörte. Er soll der ______________________________________________________________________________________________ Dominik Landwehr: Vom Hochschullager Winterthur zum D-Day in die Normandie: Jan Sawka. April 2020 3/11
Bald schon meldete sich ein weiterer Pole, er war Lehrer für Architektur und unterrichtete im Hochschullager: Jan Sawka. Wenn Otto Lüscher vom Internat jeweils heimkam, verbrachte er viel Zeit mit ihm. Otto Lüscher hatte einen Foto- apparat der Marke Robot erhalten und so war es naheliegend, ein Foto des Zimmerherrn zu machen. Abb. 3 Otto Lüscher zeigt die Zeichnung, die ihm Jan Sawka zu Weihnachten 1941 schenkte. Das Foto entstand im März 2021. Foto Dominik Landwehr Eines Tages – es war im Frühjahr 1944 – war Jan Sawka weg. Keiner wusste etwas Näheres, der Gast hatte sich nicht verabschiedet. Es war bald klar, dass er sich seinen Landsleuten angeschlos- sen hatte, die an verschiedenen Fronten mit den Alliierten kämpften. So etwas kam auch in Win- terthur öfters vor. Eine Flucht im eigentlichen Sinne war es nicht, denn eigentlich hat sie nie- mand daran gehindert. Einer, der sich auch aus dem Staub gemacht hat, war der jüdische Inter- Abb. 2 Jan Sawka im Haus der Familie Lüscher in Win- nierte Bernhard Giberstein (1916 – 1976), der terthur. Der damals etwa 13jährige Otto Lüscher machte es mit einer Frau aus der Region ein Verhältnis mit einem Fotoapparat der Marke Robot. Foto Privatarchiv hatte und ein Kind zeugte. Seine Tochter, Ma- Otto Lüscher. deleine Schadegg-Rück hat ihn nie getroffen und Jan Sawka seinerseits hatte eine zeichnerische 2014 über ihren unbekannten Vater unter dem Begabung: er fertigte Karikaturen an und nahm Titel „Spuren. Von einer Vatersuche und Millio- gerne die Menschen in seiner Umgebung aufs nen nahtloser Strümpfe“ ein Buch geschrieben. Korn. So auch Otto Lüscher. Weihnachten 1941 schenkte Jan Sawka ihm ein Portrait mit einer rührenden Widmung „Lach nur so herzlich lieber Otti – dein ganzes Leben lang.“ Wir arrangieren ein Foto mit Otto Lüscher mit dem Bild von 1942 und plötzlich ist dieses Lachen auf seinem Ge- sicht wieder da. ______________________________________________________________________________________________ Dominik Landwehr: Vom Hochschullager Winterthur zum D-Day in die Normandie: Jan Sawka. April 2020 4/11
Abb. 5 Die Wandmalerei in einer Winterthurer Soldaten- stube stammt mit grosser Wahrscheinlichkeit von Jan Sawka. Bild Sammlung Winterthur winbib. Übers Internet hat die Familie von Otto Lüscher erst kürzlich Nachfahren von Jan Sawka aufge- spürt. Das ging relativ einfach, weil es einen Sohn gleichen Namens in den USA gibt, der ein Abb. 4„Lach nur so herzlich, dein ganzes leben, lieber otti“ bekannter Künstler war und eine umfangreiche Die Zeichnung von Jan Sawka aus dem Jahr 1941. Bild Pri- Website für ihn unterhält. Dahin schicken wir vatarchiv Otto Lüscher. jetzt auch das Bild aus der Sammlung Win- Otto Lüscher berichtet weiter, dass Jan Sawka terthur. Wenige Tage später meldet sich eine bei seiner Abreise einige dieser Karikaturen im Hanna Sawka aus dem Staat New York mit der Haus gelassen hat. Nach dem Krieg hat er sich freudigen Mitteilung: Das sei genau der Stil ihres nie mehr gemeldet und so waren diese Karikatu- Grossvater Jan Sawka. Ihr Vater war der Sohn ren bis auf den heutigen Tag auf dem Estrich. dieses Mannes und trug denselben Namen: Jan Sawka. Er wurde nach dem Krieg 1946 in Polen Der Begriff der Karikaturen macht uns hellhörig: geboren und verstarb 2012 in den USA. Jan Die Sammlung Winterthur hat ein kostbares Al- Sawka Junior übte den gleichen Beruf wie der bum mit erstklassigen Fotos aus jenen Jahren, Vater aus – er war Künstler und Architekt. Er hat die der polnische Student Leszek Bialy gemacht ein umfangreiches Werk hinterlassen, berühmt und Clary Schöllhorn geschenkt hat. Sie war die geworden ist er auch als Gestalter eines von Frau des Haldengut Direktors Kurt Schöllhorn Bühnenbildern für Theater, 1989 schuf er ein 52 und engagierte sich sehr für die internierten Po- teiliges Bühnenset für die Tournee der US Rock- len, in einem Nachruf wurde sie deshalb später gruppe Grateful Dead, es erstrecke sich über 10 auch „Soldatenmutter“ genannt. In dieser Stockwerke. Sammlung befindet ein Foto einer Karikatur, die offenbar an eine Wand in einer Soldatenstube in Winterthur gemalt war. Im Videochat verglei- chen wir die Bilder und tatsächlich, es gibt eine Ähnlichkeit. ______________________________________________________________________________________________ Dominik Landwehr: Vom Hochschullager Winterthur zum D-Day in die Normandie: Jan Sawka. April 2020 5/11
Abb. 7 Diese Postkarte schrieb Jan Sawka im Jahr 1942 in Winterthur an seine Familie in Polen. Bild Jan Sawka Estate. Darin ist auch eine Postkarte, die sein Vater im Jahr 1942 an seine Familie in Polen schrieb. Die Karte trägt den Poststempel von Winterthur vom 14.November 1942 und ist an seine erst 1939 geborene Tochter gerichtet. Jan Sawka be- richtet darin vom Schnee in Winterthur und da- von, dass er sich neue Schuhe kaufen musste. Er ermahnt seine Tochter brav zu sein und versi- chert ihr, wie sehr sie im fehle. Hanna Sawka ge- staltete im Jahr 2020 unter dem Titel „The Place of Memory (The Memory of Place)“ im Samuel Abb. 6 Grossformatige Grafiken aus der Serie „Postcard“, die Jan Sawka Junior (1946-2012) geschaffen hat. Foto Jan Dorsky Museum of Art in New Paltz im US Bun- Sawka Estate. Bild Jan Sawka Estate. destaat New York eine Ausstellung mit Werken ihres Vaters, die genau diesen Aspekt themati- Jan Sawka Junior beschäftigte sich in seinen sierte. Im Katalog der Ausstellung ist auch die Werken immer wieder mit dem Thema Erinne- Postkarte von Jan Sawka Senior aus Winterthur rung. So auch in einer Serie von grossformatigen abgebildet. Grafiken. Die Anregung dazu hatte er aus Post- karten, die er im Nachlass seines Vaters fand. ______________________________________________________________________________________________ Dominik Landwehr: Vom Hochschullager Winterthur zum D-Day in die Normandie: Jan Sawka. April 2020 6/11
Er hätte in die USA oder England gehen können aber er wollte zurück nach Polen und sich am Wiederaufbau seiner Heimat beteiligen. Ein mu- tige Entscheidung, die er wohl später bereuen sollte: Kurz nach dem Krieg steckte ihn das stali- nistische Regime ins Gefängnis, nach dem Tod von Stalin im Jahr 1953 kam er frei. Der kommu- nistische Staat liess ihn zuerst schwere körperli- che Arbeiten wie Kohleschaufeln machen – spä- ter nahm man beim Bau von öffentlichen Ge- bäuden seine Kenntnisse als Architekt in An- spruch. Der Sohn von Jan Sawka machte sich in den 60er Jahren als Künstler einen Namen und wurde weit über Polen bekannt, viele seiner Ar- beiten hatten auch politische Botschaften. 1976 zwang man ihn mit seiner Familie auszureisen. Wenige Monate später verstarb Vater Jan Sawka in Polen. Das ist in groben Zügen die Geschichte welche wir ihm Gespräch mit Hanna Sawka und ihrer Mutter rekonstruieren konnten. Aber stimmt sie Abb. 8 Vorderseite der Postkarte, die Jan Sawka an seine Familie in Polen schrieb. auch? Sie tönt fast zu gut um wahr zu sein. Die Familie besitzt keine Dokumente, welche die mi- Jan Sawka, so berichten die beiden, sei in Win- litärische Karriere von Jan Sawka bestätigen terthur vom britischen Geheimdienst kontak- können. Allerdings wäre es möglich, in den Nati- tiert worden. onal Archives in Washington oder London eine Sie erzählten von einer grossen Operation gegen Recherche zu starten. Das ist offenbar geplant. Nazi-Deutschland für die sie noch Freiwillige Die Erinnerung kann trügerisch sein, gerade suchten. Jan Sawka verpflichtete sich zur voll- auch dann, wenn sie über mehrere Generatio- ständigen Geheimhaltung und machte sich im nen weitergegeben wird. Für die kritische Wür- Frühjahr 1944 auf den Weg. Via Italien gelangte digung sind wir deshalb auf allgemein zugängli- er nach Gibraltar und von dort mit dem Schiff che Daten über diese Zeit angewiesen. nach England. In England wurde er den US-Trup- Haben britische Agenten in Winterthur Soldaten pen zugeteilt und mit einem US-Truppenkontin- rekrutiert? – Das ist plausibel: Die Schweiz war im gent nahm Jan Sawka am 6.Juni 1944 am D-Day, Zweiten Weltkrieg Drehscheibe für viele Geheim- an der Invasion in der Normandie teil, ausge- dienste. Es liegt auf der Hand, dass ausländische rechnet am hart umkämpften Omaha Beach. Er Geheimdienste die Ausreise der Polen aus der habe als einziger in seinem Boot überlebt, mehr Schweiz unterstützt haben. Gemäss den Unterla- als 30 Kameraden seien beim Sturm auf den gen des Eidgenössischen Kommissariats für Inter- Strand ums Leben gekommen. Später soll er nierung und Hospitalisierung EKIH sind rund auch er auch am Rhein gekämpft haben. Sawka 2000 der insgesamt 12 500 in der Schweiz inter- nierten Polen auf diese Art verschwunden. wurde zum Major befördert und nach dem Krieg mit einem Orden ausgezeichnet. ______________________________________________________________________________________________ Dominik Landwehr: Vom Hochschullager Winterthur zum D-Day in die Normandie: Jan Sawka. April 2020 7/11
es nicht, vielleicht werden Dokumente aus ame- rikanischen und britischen Archiven weiterhel- fen. Abb. 11 Hanna Sawka, die Witwe von Jan Sawka Junior Abb. 9 Jan Sawka Junior und seine Frau Anna Mitte der 80er (rechts) Hanna Maria Sawka, die Enkelin von Jan Sawka Se- Jahre in den USA. Vorne rechts Hanna Maria Sawka. nior (links). Foto Joan Vos MacDonald Foto Krys Krawczyk Noch einmal: Stimmt diese Geschichte? Wir meinen: in groben Zügen ja. Der Aufenthalt von Jan Sawka in Winterthur ist belegt, auch die Rückkehr nach Polen. Wo und wann Jan Sawka im Krieg genau gekämpft hat, wissen wir nicht. Alles in allem ist es einfach ein exemplarisches, tragisches Schicksal eines Künstlers aus Osteu- ropa in diesem bewegten 20.Jahrhundert. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Hanna Maria Sawka ihrerseits würde Dokumente und Abb. 10 Hanna Sawka, die Witwe von Jan Sawka Junior Bilder von ihrem Grossvater und ihrem Vater Hanna Maria Sawka, die Enkelin von Jan Sawka Senior bei gerne in einer Ausstellung in Winterthur sehen. einer Zoom-Konferenz mit dem Autor im März 2021. Foto Dominik Landwehr Sie liesse sich gut mit den 40 Fotografien von Leszek Bialy zum Leben der Internierten in Win- Insgesamt kämpften im Zweiten Weltkrieg über terthur kombinieren. Wer weiss, vielleicht findet eine halbe Million polnischer Soldaten an der sich ja eine Institution, die daran Interesse hat. Seite der Alliierten an verschiedenen Fronten. Viele von ihnen nahmen auch an der Invasion in Dominik Landwehr der Normandie teil: Für diese Operation wurde eine eigene polnische Formation gebildet: die erste Polnische Panzerdivision. Diese Panzerdivi- Der Artikel wurde am 3.April 2021 in der Zeitung sion kam aber erst Anfang August 1944 in die Der Landbote unter dem Titel „Auf den Spuren Normandie. Polnische Soldaten waren am D-Day von Jan Sawka, der verschwand, um gegen die aber bei der Marine und bei der Luftwaffe ein- Nazis zu kämpfen“ in leicht gekürzter Form pu- gesetzt. Es wäre möglich, dass Jan Sawka Kom- bliziert. mandant eines Landungsbootes war. Wir wissen ______________________________________________________________________________________________ Dominik Landwehr: Vom Hochschullager Winterthur zum D-Day in die Normandie: Jan Sawka. April 2020 8/11
Websites Zum Autor Die offizielle Website des polnisch-amerikani- Dominik Landwehr (*1958) ist Kultur- und Me- schen Künstlers Jan Sawka (1946 -2014) dienwissenschafter und lebt in Winterthur. Er https://www.jansawka.com/ beschäftigt sich seit rund 20 Jahren mit Krypto- grafie und hat 2007 in Basel mit einer Arbeit über die deutsche Chiffriermaschine Enigma Literatur promoviert. 1998 bis 2019 betreute er den Be- Hanna Maria Sawka: The Place of Memory (The reich der Digitalen Kultur beim Migros-Kultur- Memory of Place). Ausstellungskatalog. Samuel prozent und war Herausgeber der 2014 bis 2019 Dorsky Museum of Art, State University of New erschienenen Reihe Edition Digital Culture, die York Press. 2020. beim Christoph Merian Verlag Basel erschienen ISBN No. 978-0-578-46474-9 ist. online unter https://www.newpaltz.edu/media/museum/ex- hibitions/Sawka.Catalogue.FINAL.pdf www.sternenjaeger.ch Anschrift Dr. phil. Dominik Landwehr – Weierstrasse 76 – CH-8405 Winterthur – Phone +41 79 411 59 17 Email: dlandwehr@bluewin.ch ______________________________________________________________________________________________ Dominik Landwehr: Vom Hochschullager Winterthur zum D-Day in die Normandie: Jan Sawka. April 2020 9/11
ANHANG Bilder, die Jan Jan Sawka bei seiner Abreise im Jahr 1944 in Winterthur zurückliess. Bilder: Privatarchiv Otto Lüscher ______________________________________________________________________________________________ Dominik Landwehr: Vom Hochschullager Winterthur zum D-Day in die Normandie: Jan Sawka. April 2020 10/11
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