DEUTSCHLAND & EUROPA - Politische Partizipation in Europa - Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft ...
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Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, ISSN 1864-2942 Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft DEUTSCHLAND & EUROPA Heft 62 – 2011 Politische Partizipation in Europa
Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft DEUTSCHLAND & EUROPA HEFT 62–2011 „Deutschland & Europa” wird von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegeben. DIREKTOR DER LANDESZENTRALE Lothar Frick REDAKTION Jürgen Kalb, juergen.kalb@lpb.bwl.de REDAKTIONSASSISTENZ Sylvia Rösch, sylvia.roesch@lpb.bwl.de BEIRAT Günter Gerstberger, Robert Bosch Stiftung GmbH, Stuttgart Renzo Costantino, Studiendirektor, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Prof. Dr. emer. Lothar Burchardt, Universität Konstanz Dietrich Rolbetzki, Oberstudienrat i. R., Filderstadt Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 demonstrierten am 8.08.2011 in Stuttgart gegen den Lothar Schaechterle, Professor am Staatlichen Semi- Bau von Stuttgart 21. Im Anschluss an die 86. Montagsdemonstration bildeten die Demonst- nar für Didaktik und Lehrerbildung Esslingen /Neckar ranten eine sitzende Menschenkette im Schlossgarten in Stuttgart. Dr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und © Franziska Kraufmann, picture alliance, dpa Studienhaus Wiesneck Dr. Georg Weinmann, Studiendirektor, Dietrich-Bon- hoeffer-Gymnasium Wertheim Lothar Frick, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Jürgen Kalb, Studiendirektor, Landeszentrale für politische Bildung ANSCHRIFT DER REDAKTION Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Telefon: 0711.16 40 99-45 oder -43; Fax: 0711.16 40 99-77 SATZ Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit Telefon: 0711.44 06-0, Fax: 0711.44 06-179 DRUCK Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm mbH 89079 Ulm Deutschland & Europa erscheint zweimal im Jahr. Preis der Einzelnummer: 3,– EUR Jahresbezugspreis: 6,– EUR Auflage 20.000 Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion. Mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für THEMA IM FOLGEHEFT 62 (APRIL 2012) Kultus, Jugend und Sport, der Robert Bosch Stiftung sowie der Heidehof Stiftung. Der Euro und die Schuldenkrise in Europa
Inhalt Inhalt Politische Partizipation in Europa Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Geleitwort des Ministeriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 I. POLITISCHE PARTIZIPATION IN EUROPA 1. Über Volksabstimmungen zu mehr Legitimation in Europa? Jürgen Kalb . . . . . . . . . . . . 3 2. Mehr Demokratie durch mehr Partizipation? – Aktuelle demokratietheoretische Debatten Beate Rosenzweig/Ulrich Eith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 3. Erfahrungen mit direkter Demokratie in Deutschland und der Schweiz Otmar Jung .... 18 4. Politische Partizipation und Parlamentarismus im EU-Mehrebenensystem Martin Große Hüttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 5. Neue Konturen der Parteienlandschaft in Europa Frank Decker . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 6. Politische Partizipation am Beispiel »Stuttgart 21« Andreas Brunold . . . . . . . . . . . . . . . 46 7. Die Schlichtung zu Stuttgart 21: Vorbild für eine neue Form des Dialogs? Lothar Frick .. 54 1 8. Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängste. Sozialer Wandel und politische Beteiligung in Europa Alexander Ruser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 9. Jugendproteste – ein Blick auf Frankreich im 21. Jahrhundert Judith Spaeth-Goes/ Frieder Spaeth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN »… mehr als nur Schlagzeilen« – LpB-Dossiers im Internet Wolfgang Herterich . . . . . . . . . . 78 »Heidelberger Didaktikforum« Wolfgang Berger, Sven Hauser, Birte Meske . . . . . . . . . . . . 79 D&E Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 D&E Heft 62 · 2011 Inhalt
Vorwort Begleitwort des Herausgebers des Ministeriums Politische Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger ist wesentli- In Europa gilt es sich bewusst zu machen, wie gegensätzlich und cher Bestandteil jeder funktionsfähigen Demokratie. Sinkende zerrissen die vergangenen 100 Jahre gewesen sind. In der ersten Wahlbeteiligungen, rückläufige Mitgliederzahlen bei Parteien Hälfte dieser 100 Jahre waren zwei Weltkriege, die Shoa, die Welt- und Gewerkschaften sowie alarmierende Meinungsumfragen wirtschaftskrise, die Trennung Europas und der Welt durch die über das Ansehen von Politikern zeugen für viele bereits seit län- Mauer und den Eisernen Vorhang im Kalten Krieg. In den zweiten gerem von einem immer tiefer sitzenden Vertrauensverlust in die 50 Jahren wurde viel Positives geschaffen, erst im Westen Euro- Politik, einer wachsenden Distanz vieler Bürgerinnen und Bürger pas, dann in ganz Europa: Frieden nach Jahrtausenden kriegeri- zum politischen System und zur politischen Klasse in unserer re- schen Auseinandersetzungen, ein gemeinsamer Binnenmarkt, präsentativen Demokratie. ein Raum der Freiheit, des Rechts und der Demokratie. Andererseits lassen sich nicht erst seit der aktuellen Finanz- und Schuldenkrise zunehmend Protestformen beobachten, die dem Demokratie in Deutschland und Europa ist also nicht selbstver- etwas vordergründigen Bild von der »Politikverdrossenheit« zu ständlich. Sie musste in einem langen historischen Prozess errun- widersprechen scheinen. Umweltverbände und Bürgerinitiativen gen werden. Angesichts aktueller Krisen ist es die Aufgabe der verzeichnen seit Jahren regen Zulauf. Soziologen sprechen in die- Menschen in Europa, die Demokratie und ihre Errungenschaften sem Zusammenhang nicht nur von einem nachhaltigen Werte- in der Zukunft fortzuschreiben. Anlässlich der 4. Tagung der Wirt- wandel hin zu »postmateriellen Werten«, sondern bezogen auf schaftsnobelpreisträger am 24. August 2011 in Lindau hat es Bun- das politische System von einem Wechsel »von Werten der Füg- despräsident Christian Wulff so formuliert: »Unser Europa muss und Folgsamkeit auf Werte der Selbstbestimmung und Gleichbe- uns alle Anstrengung wert sein. Nichts ist selbstverständlich. rechtigung« (Christian Welzel, 2009). Nicht selten werden in die- Nichts darf verspielt werden. Das Schicksal Europas ist letztlich sem Zusammenhang Forderungen laut, die im Grundgesetz das Schicksal aller seiner Völker.« verankerte repräsentative Demokratie vermehrt durch plebiszi- täre Formen der direkten Demokratie in Form von Volksabstim- Demokratie und demokratisches Handeln können und müssen mungen zu ergänzen. gelernt werden. Das ist eine zentrale Aufgabe für Schule und Ju- Die aktuelle Ausgabe von »Deutschland & Europa« geht deshalb gendbildung. Kinder und Jugendliche müssen bereits in jungen der Frage nach, welche Art der »Volksherrschaft« denn welche Jahren Vorzüge, Leistungen und Chancen der Demokratie erfah- Vorzüge böte bzw. welche Probleme mit sich brächte. Gleichzeitig ren und erkennen, dass demokratische Grundwerte niemals zur 2 wird untersucht, von wem denn die Forderungen nach größerer Disposition stehen dürfen – auch nicht in Zeiten eines tiefgreifen- und direkter politischer Beteiligung ausgehen. Sind es nicht zu- den gesellschaftlichen Wandels. meist Menschen mit überdurchschnittlichen sozialen, wirtschaft- lichen und kulturellen Ressourcen, die nach mehr direkter Demo- Dazu leistet die aktuelle Ausgabe von »Deutschland & Europa« kratie rufen? Und wie stellt sich die Jugend dazu? Wäre sie einen wertvollen Beitrag, indem sie Möglichkeiten und Grenzen eventuell über mehr Partizipationschancen wieder näher an das der politischen Partizipation in Europa differenziert in den Blick politische System heranzuführen? nimmt. Die Bandbreite der Themen reicht von einer Darstellung Ist dieses »Mehr an Demokratie« ein Modell, um verloren gegan- der aktuellen demokratietheoretischen Debatten über die Partei- genes Vertrauen wieder herzustellen? Sollte es auf die Bundes- enlandschaft in Europa bis zu den Jugendprotesten im Frankreich oder gar die Ebene der Europäischen Union übertragen werden? der Gegenwart. So kontrovers die Diskussionen dazu auch verlaufen mögen, grö- ßere Transparenz und rationale öffentliche Diskussionen sind an- gesagt. Die politische Bildung bietet die Grundvoraussetzung dazu. Lothar Frick Jürgen Kalb, LpB, Renzo Costantino Direktor Ministerium für der Landeszentrale Chefredakteur von Kultus, Jugend und Sport für politische Bildung »Deutschland & Europa« in Baden-Württemberg in Baden-Württemberg Vorwort & Geleit wort D&E Heft 62 · 2011
POLITISCHE PARTIZIPATION IN EUROPA 1. Über Volksabstimmungen zu mehr Legitimation in Europa? JÜRGEN KALB E uropa ist plötzlich in aller Munde, auch wenn der derzeitige Anlass, zumeist als »Euro- oder Schuldenkrise« diskutiert, überzeugten Europäern vor allem Sorgen- falten ins Gesicht treibt. »Fragt das Volk!« titelte aus diesem Anlass jüngst »Die ZEIT« (29.9.2011) in einem Kommentar von Hein- rich Wefing. Seine These (| M 2 |) lautet, nur Referenden, mithin also direkte Volksab- stimmungen, könnten das bestehende De- mokratie- und Legitimationsdefizit in der Europäischen Union beseitigen. Dabei muss all jenen, die diesen Vorschlag unter- breiten, bewusst sein, dass der Ausgang solcher Plebiszite in Europa beileibe nicht sicher wäre. In vielen Ländern haben sich inzwischen populistische, antieuropäische Parteien etabliert. Demoskopen beobach- ten eine zunehmende europakritische Hal- tung in großen Teilen der Bevölkerung der 27 Mitgliedstaaten. Und so vertreten die Forderung nach einer Volksabstimmung zur Europäischen Union in Deutschland häufig gerade auch Europaskeptiker wie Abb. 1 »Die Europäische Union heute … » © Gerhard Mester, 4.10.2011 z. B. der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler, um damit Prozesse der 3 sungsmäßig verbindlich vorgeschrieben (Art. 29, 2), so zeigen Renationalisierung zu befördern. Heinrich Wefing vertritt aktuelle Diskussionen auf nahezu allen Ebenen des demokrati- seine Forderung dennoch in seinem Leitartikel, denn nur so schen Meinungs- und Willensbildungsprozesses in Europa, dass könne die EU eine neue Legitimation gewinnen und ihre der- die Frage nach der Art und Weise der »Volksherrschaft« wieder zeitige »Unterdemokratisierung« überwinden. Auch der inter- breit diskutiert wird. Martin Große Hüttmann erläutert und ana- national renommierte Philosoph Jürgen Habermas plädierte lysiert in seinem Beitrag »Politische Partizipation und Parlamentaris- in diesem Jahr bereits in mehreren Aufsätzen und Zeitungsar- mus im EU-Mehrebenensystem« die derzeitigen Möglichkeiten und tikeln für eine breite öffentliche Diskussion in ganz Europa Grenzen der politischen Partizipation auf europäischer Ebene. über die demokratische Legitimierung der EU und die Notwen- Dabei gerät insbesondere das Instrument der »europäischen Bür- digkeit, eine »unvollendete und auf halbem Weg stecken ge- gerinitiative« ins Blickfeld, das im Lissaboner Vertrag nunmehr bliebene politische Union« (Habermas 2011) umzusetzen. auch rechtlich kodifiziert ist und somit die Möglichkeit von lände- Zudem äußerte Andreas Voßkule, Präsident des Bundesver- rübergreifenden Initiativen ermöglicht. Noch ist keine solche Ini- fassungsgerichts in Karlsruhe, in einem Interview mit der tiative erfolgreich durchgeführt geworden und sie bedeutet der- Frankfurter Allgemeinen Zeitung (| M 3 |) angesichts der Ur- zeit auch nicht mehr als eine Verpflichtung der Europäischen teile des BVerfG zum Lissaboner Vertrag und zum »Euro-Ret- Kommission, sich mit dem Anliegen einer solchen Initiative zu tungsschirm« (genauer EFSF bzw. »Europäischen Finanzstabi- beschäftigen. lisierungsfazilität«) öffentlich, dass es seiner Meinung nach Frank Decker wirft in seinem Beitrag »Neue Konturen der Parteien- bei weiteren wesentlichen Integrationsschritten in Richtung landschaft in Europa« einen Blick auf die Tendenzen der nationalen politische europäische Union der »direkten Zustimmung des und auch europäischen Parteienentwicklung. Dabei macht er Volkes« bedürfe (vgl. Art. 146), also einer Überwindung oder eine Tendenz zu einer stärker werdenden Fragmentierung, aber Erweiterung der in Deutschland geltenden Verfassung, dem auch der Zunahme insbesonderer antieuropäischer, rechtspopu- Grundgesetz, mithilfe eines Instruments der direkten Demo- listischer Parteien aus. Aktuell ist es noch schwierig zu beurtei- kratie, der Volksabstimmung. Dazu bedarf es allerdings einer len, ob der für viele überraschende Wahlsieg einer Partei wie der breiten sachlichen Diskussion in den 27 Mitgliedstaaten. »Piraten« in Berlin bei den Senatswahlen im September 2011 als singuläres Ereignis betrachtet werden muss oder sich gar als wei- teres Zeichen für die nachhaltige Krise des derzeitigen Parteien- Die Diskussion um die »repräsentative« sowie die systems in Europa herauskristallisieren kann. »direkte Demokratie« Otmar Jung betrachtet in seinem Beitrag »Erfahrungen mit direkter Demokratie in Deutschland und der Schweiz« dagegen, wie unter- Hatten die Väter und Mütter des Grundgesetzes noch 1949 äu- schiedliche Verfahrensregeln den politischen Willensbildungs- ßerst zurückhaltend auf die Möglichkeit von Volksabstimmungen prozess prägen und verändern können. Anhand von zahlreichen reagiert, sie zwar in Artikel 20, in dem von »Wahlen und Abstim- Beispielen aus den einzelnen Bundesländern und der Schweiz mungen« die Rede ist, nicht ganz ausgeschlossen, sie aber kon- entwickelt er schließlich ein Plädoyer für eine mutige Ergänzung kret lediglich für die Frage der Länderneugliederung verfas- des parlamentarischen Systems durch plebiszitäre Elemente, wie D&E Heft 62 · 2011 Über Volk sabs timmungen zu mehr Legitimation in Europa?
JÜRGEN KALB home/content/deu/aboutshell/our_commitment/ shell_youth_study). Aktuell weisen die zahlrei- che Kommentierungen in der internationa- len Press (www.eurotopics.net) darauf hin, wie besorgt sich die europäische Öffentlich- keit über eine mögliche Abkehr von Teilen der Jugend gegenüber dem »europäischen meh- rebenensystem« zeigt. Alexander Ruser ist in seinem Beitrag »Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängste. Sozialer Wandel und politische Beteiligung in Europa« diesen Prozessen analy- tisch nachgegangen. Nicht jeder Protest ist direkt politisch motiviert, hat aber doch möglicherweise tiefe ökonomische und poli- tische Ursachen. Anhand der Jugendproteste in Frankreich in den Jahren 2005 und 2010 sowie der enormen Wirkung eines kleinen Pamphlets von Stéphane Hessel »Empört Euch!« zeigen Judith Spaeth-Goes und Frie- der Spaeth auf, mit welcher Vehemenz »Ju- gendproteste – ein Blick auf Frankreich im Abb. 2 »Demo – Kratie = griechisch: Volks – Herrschaft« © Oliver Schopf, 14.10.2010 21. Jahrhundert« in unserem größten Nachbar- land ausgetragen werden, aber auch, nach Einschätzung der beiden Autoren, weitge- sie seit langem in der Schweiz, aber z. B. auch in Bayern, ausgeübt hend folgenlos verlaufen. Sowohl das Autorenteam als auch Alex- wird. ander Ruser betonen in ihren vor allem gesellschaftskritischen Beate Rosenzweig und Ulrich Eith dokumentieren und analysie- Analysen, vor welchen Herausforderungen heute junge Leute, ren gleich zu Beginn dieser Ausgabe von D&E in ihrem Beitrag auch wenn sie akademisch gebildet sind, stehen, um überhaupt »Mehr Demokratie durch mehr Partizipation? Aktuelle demokratietheo- eine berufliche Perspektive zu bekommen. Die »Generation P« retische Debatten« die Theoriediskussion zur Frage der Art der (für Praktikum) fand bereits ihren Einzug in eine SPIEGEL-Titelge- Volksherrschaft, wobei sie anhand von einigen aktuellen Ansät- schichte. zen anschaulich aufzeigen, welche Implikationen Forderungen Oder handelt es sich dabei nur um ein großes Missverständnis? nach mehr direkter Demokratie bedeuteten, welche Chancen, Fehlt es den jungen Menschen einfach an Einsicht in die komplexen aber auch Risiken plebiszitäre Ergänzungen der repräsentativen Verhandlungswege und notwendigen Kompromisse einer reprä- Demokratie bergen könnten. Geführt wird diese Diskussion auch, sentativen Demokratie? Sind es, wie z. B. Werner J. Patzelt bereits 4 weil verschiedene Untersuchungen in den letzten Jahren europa- 2001 in einem Beitrag für die Konrad-Adenauer-Stiftung zusam- weit eine anhaltende »Politikverdrossenheit« in großen Teilen der menfasste (| M 7 |), etwa überzogene Erwartungen in der Bevölke- Bevölkerungen festgestellt haben. Die Europäische Kommission beauftragt für solche Untersuchungen nicht nur die regelmäßig durchgeführten Eurobarometer-Umfragen (http://ec.europa.eu/ public_opinion/index_en.htm), sondern derzeit auch ein Team von Psychologen der Universität Jena, das dazu eine mehrjährige Be- fragung in 9 EU-Mitgliedstaaten mit Schwerpunkt auf junge Euro- päer durchführt: www.fahs.surrey.ac.uk/pidop/. Vertrauensverluste und Protestkulturen Eine im Jahr 2009 veröffentlichte, breit angelegte wissenschaftli- che Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung in Deutschland hatte erst jüngst belegt, wie sehr das Vertrauen weiter Teile unse- rer Gesellschaft bereits erodiert ist. Vor allem bei jungen Men- schen zeigte sich eine nachhaltige »Parteien- und Politikverdros- senheit«, was in der Folge insbesondere in den Medien immer wieder breit diskutiert wurde: Rückläufige Wahlbeteiligungen, ein extremer Mitgliederschwund bei Parteien und Gewerkschaf- ten, ein anhaltender Ansehensverlust von Politikern | Abb. 3 |) korrespondieren seit Jahren mit einer fundamentalen Parteien- kritik, denen Bundespräsident Richard von Weizsäcker bereits 1990 mit einer Rede zur »Machtvergessenheit und Machtbeses- senheit der Parteien« sehr zum Ärger des damaligen Bundeskanz- lers Helmut Kohl eine Stimme verliehen hatte. Allerdings ergaben die von der Shell-Stiftung in regelmäßigen Ab- ständen vorgelegten Jugendstudien immer wieder ein differen- ziertes Bild, dass es sich nämlich nicht um eine »Politikverdros- senheit« im Allgemeinen, sondern eher um eine Verlagerung des politischen Engagements weg von den Parteien hin zu gesell- Abb. 3 Umfrage des GFK-Marktforschungsinstituts zum Vertrauen in einzelne schaftlichen Initiativen, Umweltverbänden und ad-hoc entste- Berufsgruppen in Deutschland im Jahre 2011 (im Vergleich zu 2010) henden Bürgerinitiativen bei Jugendlichen handele (www.shell.de/ © dpa info-Grafik Über Volk sabs timmungen zu mehr Legitimation in Europa? D&E Heft 62 · 2011
rung oder ist es einfach der »Negativismus massenmedialer Politik- darstellung«: »Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten«? Läge es nur an diesen Ursachen, so könnte eine größere Anstren- gung im Bereich der politischen Bildung hier Abhalife schaffen. Fallbeispiel »Stuttgart 21« Als Beispiel für die Chancen und Risiken unterschiedlicher Demo- kratiekonzepte erscheinen in der aktuellen Ausgabe von D&E dabei zwei Beiträge zu »Stuttgart 21«. Es geht längst um mehr als die mögliche Tieferlegung eines Bahnhofs oder eine europäische Tangentiale von Paris bis Bratislava, die in Stuttgart von einem ehrgeizigen Bauprojekt begleitet werden sollte. Seit Mitte der Neunzigerjahre war das Projekt in Parlamenten (Bundestag, Landtag und Gemeinderat) beraten und beschlossen und von der Deutsche Bahn AG konzipiert worden, bis es dann im Jahre 2010 durch einen breiten Bürgerprotest nahezu weltweit Beachtung fand. Andreas Brunold stellt in seinem Beitrag insbesondere die »Politische Partizipation am Beispiel Stuttgart 21« vor und setzt sich Abb. 4 Stimmzettel zur Volksabstimmung am 27. November 2011 über das dabei engagiert für eine Volksabstimmung ein, die die am umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 vor dem Hauptbahnhof in Stuttgart. 27. März 2011 neu gewählte grün-rote Landesregierung am »Stimmen Sie der Gesetzesvorlage ›Gesetz über die Ausübung von Kündigungs- 27. November 2011 nun als Plebiszit in Baden-Württemberg rechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21‹ durchführen lässt (| Abb. 4 |). Der Landtag hatte es zwar abge- (S21-Kündigungsgesetz) zu?« – Nach Aussagen der grün-roten Landesregierung lehnt, das Quorum für die Annahme einer solchen Volksabstim- wurde die sperrige Formulierung aus juristischen Gründen so kompliziert formu- mung zu senken, die Oppositionsparteien hatten aber trotz juris- liert. Sprecher der CDU-Opposition halten die Formulierung dagegen für rechts- tischer Bedenken davon abgesehen, gegen die »Rechtmäßigkeit« widrig, da es laut Vertrag mit der Deutsche Bahn AG kein Kündigungsrecht des eines solchen Plebiszits zu beklagen. Alle im Landtag vertretenen Landes Baden-Württemberg zum Ausstieg aus dem Projekt gebe. Parteien versichern, sie wollten das Votum des Volkes akzeptie- © Bernd Weißbrod dpa/lsw, picture alliance, 30.9.2011 ren. Ob dies auch die Demonstranten, die inzwischen (Oktober 2011) nahezu 100 Montagsdemonstrationen mit jeweils mehreren solch eine – exemplarische – Versachlichung und Transparenz tausend Bürgerinnen und Bürgern auf die Straße gebracht haben, wiederholbar? auch tun werden, bleibt abzuwarten. Längst macht hier der vom Immer komplexer werdende Regierungsentscheidungen erfor- Spiegel-Autor Dirk Kurbjuweit (www.spiegel.de/spiegel/print/ dern bei einer plebiszitären Partizipation Methoden der Redu- d-74184564.html) geprägte Begriff des »Wutbürgers« international zierung von Komplexität. Gefahren lauern dabei etwa in der Schlagzeilen. Interessante Untersuchungen über die (Stuttgar- zunehmenden Verwendung scheinbar unpolitischer Werbungs- 5 ter) Demonstranten (| M 5 |), die in ihrer Mehrheit wohl zu den methoden sowie der unsachlichen Personifizierung der politi- eher Privilegierten in unserer Gesellschaft zählen, liefern hier ein schen Entscheidungen. Die Suche nach sympathischen oder differenziertes Bild jenseits jenes häufig bemühten Klischees von unsympathischen Gallionsfiguren (wie z. B. die Rufe von Demons- typischen »Berufsdemonstranten«. Der Direktor der LpB Baden- tranten gegen Stuttgart 21: »Lügenpack!«) könnten die Diskus- Württemberg, Lothar Frick, gibt schließlich in seinem Beitrag sion emotionalisieren. »Mehr Demokratie« bedeutet also nicht »Die Schlichtung zu »Stuttgart 21«: Vorbild für eine neue Form des Dia- nur mehr und andauernde Konflikte, die manche immer noch logs?« Einblick in seine, den Schlichter Heiner Geißler beratende schrecken, sondern könnte auch zu weniger Rationalität und Ef- und unterstützende Tätigkeit während der nach der Eskalation fektivität führen. Wäre sie jedoch mit sachlichen öffentlichen Dis- bei einer Demonstration am 30.9.2010 einberufenen Schlichtung kussionen verbunden, könnte sie nicht nur zu Stärkung einer rati- durch den ehemaligen CDU-Generalsekretär: Konsens herrscht onalen politischen Kultur führen, sondern auch zum Instrument darüber, dass mehr Transparenz bei politischen Entscheidungen werden, das wieder mehr Bürgerinnen und Bürger an politische in einem frühen Planungsstadium Not tue. Strittig bleibt jedoch Entscheidungen heranführt, nicht nur im lokalen, auch im euro- die Frage der (demokratischen) Legitimierung eines solchen »Ein- päischen Bereich. Nicht nur die Bertelsmann-Studie hat gezeigt, griffes von außen«, ob man ihn nun als Schlichtung, Moderation dass das die Mehrheit der Bevölkerung wünscht. oder anders bezeichnen mag. Literaturhinweise Mehr direkte Demokratie wagen? Bertelsmann Stiftung (2009): Vertrauen in Deutschland. Eine qualitative Von den Befürwortern der Parole »Mehr direkte Demokratie« Wertestudie der Bertelsmann Stiftung. Task Force »Perspektive 2020 – wird jede höhere Beteiligung der Bevölkerung an der politischen Deutschland nach der Krise«. www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/ Meinungs- und Willensbildung gerne rundum als ein Gewinn media/xcms_bst_dms_30530_30531_2.pdf ohne Einschränkung betrachtet. Und in der Tat scheint dieser Geißler, Heiner (2011): Das Experiment. Bürgeraufstand Zivilgesellschaft De- Vorgang den grundsätzlichen Vorgang der Identität von Herr- mokratie. Berlin. Ullstein-Verlag. schenden und Beherrschten in immer höherem Maße zu verwirk- lichen. Er scheint zunächst den Einfluss der Bevölkerung auf die Göttinger Institut für Demokratieforschung (Hrsg.) (2011): »Stuttgart 21«. Herrschaftsgewalt zu vergrößern. »Scheint« bedeutet, dass das Göttingen. www.demokratie-goettingen.de/content/uploads/2011/08/ nicht unbedingt geschehen muss. Die Schlichtung zu »Stuttgart Stuttgart21_II.pdf 21« und ihre massenmediale Beachtung sowie Direktübertragung Habermas, Jürgen (2011): Wie demokratisch ist die EU? Blätter für deutsche beim öffentlich-rechtlichen TV-Sender »Phoenix« sowie dem zivil- und internationale Politik. 8/2011 gesellschaftlichen Fluegel-tv-Sender (www.fluegel.tv) im Internet konnten in Baden-Württemberg Exemplarisches bewirken. Ist Heußner, Hermann K./Jung, Otmar (Hrsg.) (2/2009): Mehr direkte Demokra- das beständig möglich? Und unter welchen Bedingungen ist tie wagen. Volksentscheid und Bürgerentscheid, München, Olzog-Verlag. D&E Heft 62 · 2011 Über Volk sabs timmungen zu mehr Legitimation in Europa?
JÜRGEN KALB MATERIALIEN Das ist die juristische Seite. Aber es geht nicht nur um die geschriebene Verfassung. Mehr noch geht es um die innere Verfassung des Landes. Um das Unbehagen an der EU. Ein Unbehagen, das sich nicht gegen Eu- ropa insgesamt richtet, sondern gegen die Art und Weise, wie es ge- baut wird, wie es agiert. Was die Karlsruher Richter in fein ziselierten Sätzen sagen, spüren auch die Bür- ger: Es gibt ein Legitimationsdefizit in Europa – und ein Demokratiedefi- zit. Die EU ist nicht undemokratisch, bei- leibe nicht. Aber sie ist unterdemo- kratisiert. Und bislang sind eben doch die Nationalstaaten die Orte und die Gehäuse der Demokratie. Dort leben und erleben die Bürger die demokratische Politik, von dort leitet auch die EU ihre Legitimation ab. Kann sein, dass das in einer wirk- M 1 »Du schaffst das …« © Klaus Stuttmann, 27.10.2010 lich global organisierten Welt anders werden muss. Aber dann werden auch die Nationalstaaten absterben M 2 Heinrich Wefing: »Fragt das Volk!« (Die ZEIT) und mit ihnen die eingeübten Formen der Demokratie. Das geht nicht, ohne den Souverän dazu zu hören. Das Volk. Noch ist es nur ein ferner Gedanke. Hingemurmelt in Halbsätzen, Ja, eine solche Volksabstimmung würde enorme politische Kräfte verpackt in Konjunktive, eine Idee für die Zukunft. Aber der bei- binden, Kräfte, die in der permanenten Krise ohnehin wahnsinnig nahe revolutionäre Gedanke taucht immer öfter auf. Er geht so: angespannt sind. Wie die hypernervösen Märkte auf ein Referen- Wenn wir mehr Europa wollen, eine weitere deutliche Vertiefung dum reagieren würden, wie die Welt darauf schauen würde, ist 6 der Integration, dann funktioniert das nicht mehr wie bisher mit nicht schwer zu prognostizieren. Beunruhigt vermutlich. Ja, auch nächtlichen Regierungsbeschlüssen in Brüssel und einer Abstim- wahr, ein solches Referendum würde parteipolitisch verein- mung im Bundestag. Es genügt auch keine bloße Änderung des nahmt, es würde Protestwähler geben, taktische Spielereien, Ar- Grundgesetzes. Wir brauchen dann etwas, das es noch nie gege- gumente, die gar nichts mit Europa zu tun haben, sondern aus- ben hat in der Geschichte der Bundesrepublik: eine Volksabstim- schließlich mit Berliner Machtkämpfen. Daran lässt sich nichts mung im Bund. Wir brauchen ein Referendum über Europa. ändern, so ist Demokratie. Noch nicht für die erweiterte Griechenlandhilfe, über die gerade Und ja, das vor allem, der Ausgang eines Referendums wäre nicht der Bundestag entschieden hat. Wohl auch noch nicht für den sicher. Durchaus möglich, dass die Volksabstimmung gegen Eu- permanenten Rettungsmechanismus ESM, der 2013 installiert ropa ausfiele. Das ist ein Risiko, aber es ist auch die Vorausset- sein soll. Noch gibt es ein bisschen Spielraum, einen Puffer für zung, neue Legitimation für Europa zu gewinnen. Überall in Eu- bessere Koordination, für ein paar weitere Projekte, wahrschein- ropa ist schon über Europa abgestimmt worden. Nur nicht in lich sogar für die eine oder andere neue Institution, die die Regie- Deutschland. Das geht nun nicht mehr. Mag ein deutsches Nein rungschefs miteinander verabreden. (…) auch folgenreicher sein als ein niederländisches oder französi- Aber dann, beim nächsten großen Integrationsschritt, ist Schluss. sches, mag Deutschland auch immer noch international unter Nicht mit der Integration, keineswegs. Aber mit der Integration Verdacht stehen: Wer den Bürgern misstraut, wird sie auf Dauer ohne direkte Bürgerbeteiligung, so wie sie seit Gründung der EU verlieren. Wir müssen heraus aus der Heimlichkeit des schlei- betrieben wird. Seit Jahren, seit Jahrzehnten überträgt die Bun- chenden Souveränitätstransfers, hin zur Verantwortung. Wer die- desrepublik Souveränität an Brüssel, »doppelzentnerweise«, wie sen Schritt nicht geht, der gefährdet Europa. der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog gerade im ZEIT- Genau das wäre, jenseits aller verfassungsdogmatischen und de- Interview formuliert hat. Nur: Irgendwann geht Souveräni- mokratietheoretischen Erwägungen, die politische Funktion tätstransfer nicht mehr ohne den Souverän – das Volk. eines Referendums. Es müsste eine Debatte beginnen, eine Deshalb brauchen wir in absehbarer Zeit ein Referendum. Weil große, leidenschaftliche, vielleicht sogar emotionale Debatte. das Grundgesetz dazu zwingt. Weil die innere Verfassung der Re- Nicht über Details der Griechenlandhilfe oder die Feinheiten der publik danach verlangt. Und weil anders Europa nicht mehr zu Euro-Stabilisierung. Sondern über das große Ganze, über alles: legitimieren sein wird. (…) über Europa. Wie es sein soll, was es uns wert ist. Und was wir Mehrfach hat das Bundesverfassungsgericht zuletzt geurteilt, dafür aufzugeben bereit sind. dass die Integrationsreserven des Grundgesetzes nahezu aufge- Wenn wir diese Debatte endlich führen, dann können wir Souve- braucht seien. Wenn das Haushaltsrecht des Bundestages ausge- ränität gewinnen, selbst wenn wir darauf verzichten. Und Europa hebelt oder wenn sonst die »Verfassungsidentität« des Grundge- kann auf einen ganz neuen Sockel der Legitimation gestellt wer- setzes verändert werden solle, dann sei das mit der bestehenden den. Auf einen Sockel, der leicht die nächsten fünfundzwanzig Verfassung nicht zu machen. Dann muss eine neue her. Und das Jahre tragen könnte. Grundgesetz stellt dafür, in Artikel 146, ein Mittel zur Verfügung: © Heinrich Wefing: Fragt das Volk, Die Zeit, 29.9.2011, S. 1, http://pdf.zeit.de/2011/40/01- eine Volksabstimmung. Europa.pdf Über Volk sabs timmungen zu mehr Legitimation in Europa? D&E Heft 62 · 2011
M 3 Andreas Voßkuhle: »Mehr Europa lässt das Grundgesetz kaum zu« Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter Vorsitz von Andreas Voßkuhle verkündete am 7. September 2011 sein Urteil über die Gesetze zur Rettung des Euro. Andreas Voßkuhle ist der jüngste Präsident, den das Verfassungsgericht je hatte. FAZ: Herr Präsident Voßkuhle, das Bundesverfas- sungsgericht hat die Euro-Rettungspakete durch- gewunken. Hatten Sie Angst vor den Finanzmärk- ten? Voßkuhle: Nein, sicher nicht. Angst ist nie ein guter Ratgeber, und wovor sollten wir Angst haben? Alle Richter sind auf zwölf Jahre gewählt und danach ist Schluss. Verfassungs- M 4 Festakt zum 60-jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts am 28.09.2011 im Badischen Staatstheater Karlsruhe, von links: Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des Bundesverfassungs- richter schreckt deshalb wenig! gerichts, Bundestagspräsident Norbert Lammert, Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfas- FAZ: Man hätte Ihren Senat für einen Zusammen- sungsgerichts, Bundespräsident Christian Wulff, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und bruch der Märkte mit allen realwirtschaftlichen Winfried Kretschmann (Grüne), Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Das Bundesverfas- Folgen verantwortlich machen können. sungsgericht hat die Kompetenz, Bundesgesetze für nichtig zu erklären, wenn sie gegen das Voßkuhle: Damit hätten wir dann leben müs- Grundgesetz verstoßen. © Uli Deck dpa/lsw, picture alliance sen. Wir können unsere Entscheidungen nicht an Prognosen über die Reaktion der Fi- nanzmärkte ausrichten, von denen man im gesetz verankerten Ewigkeitsgarantie nicht aufgegeben werden. Übrigen nicht weiß, was sie tun, sonst wären alle Spekulanten Danach sind Änderungen des Grundgesetzes, die Strukturprinzi- reich. pien berühren – Demokratieprinzip, Rechtsstaatsprinzip, Sozial- FAZ: Wie macht man sich frei von dem politischen Druck, der in den staatsprinzip, Bundesstaatlichkeit –, unzulässig. Tagen vor dem Urteil auf Ihnen gelastet haben muss? FAZ: Könnte man die Budgethoheit des Bundestags teilweise europäi- Voßkuhle: Unser Entscheidungsmaßstab ist allein das Grundge- schen Institutionen übertragen? setz. Das Bundesverfassungsgericht steckt den verfassungs- Voßkuhle: Für eine Abgabe weiterer Kernkompetenzen an die Eu- rechtlichen Rahmen ab, innerhalb dessen die Politik Lösungen für ropäische Union dürfte nicht mehr viel Spielraum bestehen. Probleme entwickeln muss. Die Gesetze zur Griechenland-Hilfe Wollte man diese Grenze überschreiten, was politisch ja durchaus und zum Euro-Rettungsschirm haben diese Rahmenvorgaben be- richtig und gewollt sein kann, müsste Deutschland sich eine neue 7 achtet. (…) Verfassung geben. Dafür wäre ein Volksentscheid nötig. Ohne FAZ: Kein Mitglied Ihres Gerichts versteht viel von Finanzmärkten, die das Volk geht es nicht! wenigsten sind Experten für Wirtschaftsrecht. Ist das zeitgemäß? FAZ: Was bleibt von der Idee eines starken Parlaments, wenn der Verzicht Voßkuhle: Wir sind kein Fachgericht für Finanzrecht, sondern für auf Rettungsgesetze katastrophale wirtschaftliche Folgen hätte? Verfassungsfragen. Gleichwohl haben wir uns mit den zu prüfen- Voßkuhle: Politik hat immer mit faktischen Zwängen zu kämpfen. den Gesetzen sehr intensiv befasst. In den 60 Jahren seit Beste- Zur Verantwortungsübernahme durch das Parlament gibt es hen des Gerichts haben sich die Richter in alle erdenklichen Le- keine überzeugende Alternative. Der Bundestag ist und bleibt der bens- und Rechtsbereiche hineingedacht, vom Gentechnikrecht Ort, an dem die wesentlichen Entscheidungen für unser Gemein- über Fragen der Hühnerhaltung bis eben hin zum Euro-Rettungs- wesen getroffen werden müssen. schirm. Es hat Vorteile, mit einem gewissen Abstand aus unter- FAZ: Die Abgeordneten sind für Sie noch »Herren ihrer Entschlüsse«, wie schiedlichen Perspektiven auf die Dinge zu blicken. Das war einer es in Ihrem Urteil heißt? der Leitgedanken bei der Gründung des Gerichts. (…) Voßkuhle: Wir erleben doch gerade, wie intensiv die Abgeordne- FAZ: Wie kann das Grundgesetz verhindern, dass eine europäische Wirt- ten über die Rettungsmechanismen diskutieren. Sie pochen auf schaftsregierung uns regiert und nicht deutsche Staatsorgane? ihre Rechte und mischen sich ein. Das ist richtig und macht mich Voßkuhle: In der Informalisierung politisch weitreichender Ent- hoffnungsvoll. (…) scheidungen liegt in der Tat eine Gefahr. Deshalb betont das Ge- FAZ: Auch Ihr Gericht steht im Wettbewerb, nämlich zum Europäischen richt immer wieder die starke Stellung des Parlaments, im festen Gerichtshof und zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Wie wol- Vertrauen darauf, dass es diesen Bestrebungen entgegentritt. len Sie sich behaupten? Deutschland hat eine große Affinität zum Rechtsstaat, das Recht Voßkuhle: Unsere Aufgabe der nächsten Jahre wird es sein, uns besitzt hier eine hohe Verbindlichkeit. Die Menschen erwarten, im Verbund mit den europäischen Gerichten deutlich zu positio- dass sich auch die Politik an Regeln hält. Mit diesem Grundver- nieren und unser Zusammenspiel weiter zu verbessern. (…) ständnis sind wir in den letzten Jahrzehnten sehr gut gefahren. FAZ: Immer öfter gehen Kläger erst vergeblich nach Karlsruhe, um dann FAZ: Was bedeutet das für die Idee der Wirtschaftsregierung? in Luxemburg oder Straßburg zu siegen – schlecht für Ihr Image. Voßkuhle: Versuche, Recht und Regeln im Hinterzimmer oder Voßkuhle: Da die drei Gerichte auf unterschiedlicher normativer unter Hinweis auf konkrete Nöte zu umgehen, haben ungeahnte Grundlage entscheiden, kann es in Einzelfällen tatsächlich zu di- Langzeitwirkungen, vor denen ich nur warnen kann. Wir müssen vergierenden Entscheidungen kommen. Damit müssen alle Betei- aufpassen, dass wir da nicht in ein falsches Fahrwasser geraten. ligten leben. Wir sollten nur aufpassen, dass die Bürger nicht ins- FAZ: Erlaubt das Grundgesetzes eine weitere europäische Integration? gesamt das Vertrauen in die höchsten Gerichte verlieren. Deshalb Voßkuhle: Ich denke, der Rahmen ist wohl weitgehend ausge- muss die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten und die Ab- schöpft. stimmung ihrer Entscheidungstätigkeit weiter intensiviert wer- FAZ: Und wenn die Politik doch weitergehen will? den. Voßkuhle: Die souveräne Staatlichkeit Deutschlands wird durch das Grundgesetz unabänderbar garantiert. Sie darf auch durch © Im Gespräch: Andreas Voßkuhle, Mehr Europa lässt das Grundgesetz kaum zu, FAZ, den verfassungsändernden Gesetzgeber aufgrund der im Grund- 25.9.2011, www.faz.net/-027166 D&E Heft 62 · 2011 Über Volk sabs timmungen zu mehr Legitimation in Europa?
JÜRGEN KALB M 5 Ana Belle Becké: Welche Formen der politischen Beteiligung werden von den Bürgern praktiziert oder sind für sie inter- »Wutbürger?« essant? Derzeit gibt es kaum ein Form der Beteiligung Großprojekt, das nicht von Teilnahme an Wahlen 94 5 Protesten begleitet wird. Volksentscheide, Bürgerbegehren 78 21 Nicht nur »Stuttgart 21«, auch Abstimmung über Infrastrukturprojekte 68 29 andere infrastrukturelle Teilnahme an einer Bürgerversammlung 64 36 Maßnahmen wie die Feh- Mitgliedschaft in einem Interessenverband 55 44 marnbelt-Überquerung oder Schreiben eines Leserbriefes 55 45 die Olympiabewerbung Mün- Beschwerde/Eingabe bei Abgeordneten 54 45 chens riefen eine Protest- Online-Umfrage im Internet 51 48 welle des Bürgertums hervor, Beratungen über kommunalen Bürgerhaushalt 47 52 das aufbegehrt gegen ver- Teilnahme an einer Demonstration 47 53 krustete Entscheidungs- Abstimmung über bestimmte Fragen im Internet 45 54 strukturen in der Bundesre- Elektronische Petition 39 58 publik. Seit letztem Sommer Teilnahme an einem Bürgerforum/Zukunftswerkstatt 39 60 gibt es für dieses Phänomen Mitgliedschaft in einer Bürgerinitiative 34 65 auch einen handlichen Mitwirken in Partei ohne Mitgliedschaft 33 67 Namen: Als buhende und Verfassen von Beiträgen in Internet-Foren/Blogs 32 67 schreiende »Wutbürger« wer- Mitgliedschaft in einer Partei 30 69 den die protestierenden Mit- Einsatz als Sachkundiger Bürger in Rat 27 72 telschichtsangehörigen in Habe ich schon einmal gemacht oder käme für mich infrage Kommt für mich nicht infrage Weiß nicht, keine Angabe den Medien bezeichnet. Das Bild des empörten Besitz- standswahrers, der jegliche M 6 Bertelsmann-Studie: »Welche Formen der politischen Mitbestimmungen bevorzugen die Deutschen?« © nach Bertelsmann-Studie, 2009 Reformen und Bauprojekte aus Angst vor Veränderung und aus Egoismus ablehnt, wird seitdem häufig bemüht, egal um welche Form des Protests aktionen. Die Bürgerinitiativen sind bemüht, komplexe Themati- es sich handelt. Dabei zeigt das Beispiel der Bürgerinitiativen ken durch eine engagierte Pressearbeit für die breite gegen Windkraftanlagen und Stromtrassen, dass eine differen- Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Hierin zeigt sich ein weite- ziertere Sichtweise angebracht ist. res Charakteristikum der Bürgerinitiativen: Die Mitglieder sind Gegen den Ausbau der Windenergie, die spätestens seit der überdurchschnittlich gut mit dem Protestgegenstand vertraut. Atomkatastrophe von Japan einhellig von der Politik in Deutsch- Statt »Spaßprotest« geht es um »Protest mit Tiefgang«. 8 land gefordert und gefördert wird, formiert sich schon seit Jahren Glaubt man dem übereinstimmenden Bild der Medien, dann sind Protest. Hinzu kommt: Der Ausbau der Windenergie hat auch es vor allem piefige Hausbesitzer, die um die Lebensqualität im einen Ausbau der Leitungsnetze zur Folge. Dabei sollen die eigenen Garten fürchten – sei es durch den Schlagschatten der »Stromautobahnen« ausgebaut werden, um den Strom sicher in Rotorenblätter der Windkraftanlagen oder das unerträgliche Sur- die Netze einzuspeisen. Unter dem Synonym »Windkraftgegner« ren der Oberlandleitungen. Die Befragung der Bürgerinitiativen agieren ca. 70 Bürgerinitiativen, die gut vernetzt sind. Die EPAW zeigt hingegen, dass persönliche Anliegen und der Schutz des (»European Platform Against Windfarms«) ist die europäische persönlichen Eigentums im Hintergrund der Proteste stehen. Schaltstelle, die europaweit Initiativen vereint und auch in Den Initiativlern geht es vielmehr um eine neue Beteiligungskul- Deutschland eine erstaunliche Anzahl an Interessengruppen auf- tur in der Bundesrepublik. Etwa die Hälfte unter ihnen fordert, listet. Ähnliches zeigt sich im Bereich des Netzausbaus, auch hier dass der Umgang mit dem Bürger bei anstehenden Entschei- ist die Anzahl an Bürgerinitiativen beachtlich. dungsprozessen generell überdacht werden soll. Dabei soll die Eine Arbeitsgruppe des Göttinger Instituts für Demokratiefor- neue Partizipation direkt am und vor allem vor dem Gesetzge- schung hat nun herausgefunden: Der Protest gegen den Ausbau bungsprozess eingreifen und nicht nur nachträglich und über das von Windkraftanlagen und Stromtrassen passt nicht zum medial Mittel des Volksentscheides umgesetzt werden. verbreiteten Bild des grantelnden Wutbürgers, welches, geprägt Der gesellschaftliche Diskurs stilisiert den »Wutbürger« als Phä- durch den Spiegel-Autor Dirk Kurbjuweit, als Synonym für eine nomen unseres jungen Jahrzehnts. Kaum eine Protestform, die neue bürgerliche Protestbewegung steht. Zwar stammen die nicht postwendend mit dem Begriff des sich ereifernden Prota- »Protestler« zweifelsfrei aus der Mitte der Gesellschaft. Sie befin- gonisten Dirk Kurbjuweits assoziiert wird. Doch wie die Analyse den sich in einem gesetzten Alter zwischen 45 und 59 Jahren und der Bürgerinitiativen zeigt, hat die bürgerliche Mitte keineswegs zählen überwiegend zu der Berufsgruppe der »Besserverdienen- jedes Maß verloren. Im Gegenteil fordert sie, direkt an der Pla- den« – diese Daten ergeben sich aus einer Studie des Göttinger nung von Bauprojekten beteiligt zu werden. Ihre Ziele sind größ- Instituts für Demokratieforschung, in der zweiundfünfzig Bürger- tenteils konstruktiv und vor allem lokal begrenzt, und ihr Empö- initiativen befragt wurden. Allerdings zeigt sich auch, dass die rungspotential scheint eher gering. Zumindest in ihrer Hälfte der Initiativen gegen den Ausbau von Windenergie und Selbsteinschätzung sind sich die Bürgerinitiativen einig: Sie sch- Stromnetze sich bereits zwischen den Jahren 2007 und 2009 ge- reiben sich ein extrem hohes Bedeutungsmaß zu und sind über- gründet hat. Es handelt sich mithin nicht um ein neues Phäno- zeugt, als unabhängiger und objektiver Informationslieferant an men. einer wichtigen Schaltstelle zwischen Politik und Wirtschaft zu Außerdem agieren die Mitglieder der Initiativen äußerst maßvoll. sitzen. Je kleiner dabei die Initiative ist, desto höher wird auch der Wirft man einen Blick auf die Organisationsstruktur, so zeigen eigene Einfluss bewertet. Diese Selbstüberschätzung der eigenen sich ruhige Formen des Protestes. Eine Mehrzahl setzt auf eine Rolle ist vermutlich nicht zuletzt auf die hysterische »Wutbürger- produktive Vernetzung und Kontaktpflege mit Vertretern aus Po- debatte« zurückzuführen. litik und Wirtschaft. Im Rahmen dieser Kooperation kommt es © Ana Belle Becké (2011): Wutbürger?. www.demokratie-goettingen.de/blog/ zur Organisation gemeinsamer Veranstaltungen. Statt Demonst- «wutburger« rationen gibt es Mahnwachen, Lichterketten und Unterschriften- Über Volk sabs timmungen zu mehr Legitimation in Europa? D&E Heft 62 · 2011
M 7 Werner J. Patzelt: »Politikverdrossenheit entsteht durch Missverständnisse« System- und Politikverdrossenheit haben sicher auch politische Gründe. Es ist zu Ende gegangen mit der Überflussgesellschaft des europäischen Wirtschafts- wunders, die Wohlstand, soziale Sicherheit und das Gefühl bescherte, allein an Verbesserungen zu arbei- ten sei unsere Aufgabe. Jetzt steht der Rückbau des Erreichten, jetzt stehen an die Substanz gehende Verteilungskonflikte auf der Tagesordnung. Die Folge sind Unzufriedenheit und Murren. Hinzu kom- men die Reaktionsträgheit politischer Institutionen, so manche Politikblockade und die Neigung der poli- tischen Klasse, Probleme erst dann anzugehen, wenn sie sich gar nicht mehr verbergen lassen. Der inzwischen nachgewiesene und völlig plausible Ne- gativismus massenmedialer Politikdarstellung (»Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten«) tut ein Übriges. Außerdem stellen die Bürger an die Leis- tungen von Politik und Politikern höhere Ansprüche M 9 »Die Piraten kommen!« Bei der Senatswahl im September 2011 in Berlin hatte die Partei der »Piraten« überraschend 8,9 % der Stimmen bekommen und lag auch bei bundeswei- und werden ihrerseits immer selbstbewusster: Er- ten Umfragen im Oktober 2011 plötzlich bei 8 %. © Gerhard Mester, 4.10.2011 wartungen steigen, Folgebereitschaft lässt nach, Missmut resultiert. Der wird weiter angefacht durch immer wieder aufkommende Politikskandale. ter Verfassungskonflikt bezeichnen: ein Konflikt zwischen ver- Demonstrative Politikverdrossenheit, Wahlabstinenz und Partizi- muteter und gelebter Verfassung. pationsverweigerung können dann ihrerseits zu politischen Vor wenigen Jahren wurde er demoskopisch nachgewiesen (…). Es Akten werden. Noch mehr trägt zu Beteiligungsdefiziten aber zeigte sich, dass unser Regierungssystem von der Mehrheit der bei, dass die fortgeschrittene Auflösung lebenslang prägender Deutschen nicht nur schlecht gekannt, sondern überdies anhand Milieus, große Mobilität der Elitegruppen und die Individualisie- von Erwartungen beurteilt wird, die seine Eigentümlichkeiten rung von Lebensstilen den traditionellen Partizipationsformen in verfehlen. Es funktioniert einfach anders, als viele Bürger glau- Parteien und Kommunalpolitik die Wurzeln vertrocknen lässt. ben, und die politische Klasse folgt oft völlig systemadäquaten Leicht greift man da zum Argument, verdrossen und politikabsti- Regeln, wo das Volk Unrat wittert. (…) nent seien die Bürger, weil man sie von wirklicher, nämlich plebis- Selbst unbegründete Vorwürfe führen nämlich zu wirklicher Ver- zitärer Teilhabe ausschlösse. Indessen kennen so gut wie alle drossenheit, auch Missverständnisse wirken entlegitimierend. deutschen Kommunalverfassungen plebiszitäre Instrumente, be- Das gibt einesteils besten Humus für wuchernden Radikalismus, 9 sitzen alle deutschen Länder die Hebel des Volksbegehrens und für den immer wieder reale Politikdefizite zeugen. Andernteils Volksentscheides. Aber auch dies hat das bürgerschaftliche Enga- öffnet sich so das Tor für die Suche nach grundsätzlichen Alter- gement in Kommunen und Ländern nicht hochgetrieben. nativen. Statt evolutionär Bewährtes zu verbessern, werden dann Es hat aber den Anschein, als stamme ein Großteil politikverdros- riskante Veränderungsvorschläge populär. (…) senen Grummelns aus noch viel tieferen Schichten politischer Sollen wir also eher unser politisches System dem Vorstellungs- Kultur. Das sind die Tiefen überkommener Bilder vom Staat, die horizont der Bürger oder lieber deren politisches Wissen und Ver- Überholtes bewahren. Veraltetes politisches Denken wendet sich ständnis der Komplexität unseres Institutionensystems anpas- dann gegen moderne Institutionen, unkritisch in Geltung gehal- sen? Hätte unsere Demokratie vor allem Fehlleistungen tene Verfassungsideologie gegen eine durch Erfahrung belehrte produziert, läge die erste Antwort nahe. Unsere politischen Insti- Verfassungspraxis. Eine solche Lage der Dinge lässt sich als laten- tutionen haben sich im Wesentlichen aber bewährt. Darum ist anzuraten, zwar unser politisches System dort zu verbessern, wo es mangelhaft funktioniert. Noch dringender aber ist es, an den Schulen und in den Massenmedien immer Wünschen Sie sich mehr wieder solche politische Bildungsarbeit zu versu- politische Beteiligungs- 81 16 möglichkeiten für die Bürger? chen, welche die erreichbaren Bürger von ihren je- weils bedrohlichsten Kenntnislücken, Missverständ- nissen und Vorurteilen kuriert. (…) Verbessern wir also das Funktionieren des deutschen Föderalismus. Eröffnen wir über Bürgerforen und Wären Sie bereit, sich über Planungszellen viel mehr Bürgern die Möglichkeit, Wahlen hinaus an politischen 60 39 Prozessen zu beteiligen? auch ohne langfristiges Engagement an sie betref- fenden Entscheidungen mitzuwirken. Führen wir vielleicht auch umsichtig plebiszitäre Elemente auf Bundesebene ein. Stärken wir die Position des einzel- nen Abgeordneten durch zusätzliche Mitarbeiter. Glauben Sie, dass die Politiker Hüten wir uns aber davor, antiquierten oder inkon- grundsätzlich mehr Mitbestim- 22 76 mung durch die Bürger wollen? sistenten Systemvorstellungen nur deshalb zu fol- gen, weil sie populär sind. Ja Nein Weiß nicht, keine Angabe © Werner J. Patzelt (2001): Deutschlands latenter Verfassungskonflikt, (2001), www.kas.de/wf/doc/kas_1522–544–1-30.pdf?040415181013 M 8 Bürgerinnen und Bürger wünschen mehr Beteiligung an politischen Entscheidungen © nach Bertelsmann-Studie, 2009 D&E Heft 62 · 2011 Über Volk sabs timmungen zu mehr Legitimation in Europa?
POLITISCHE PARTIZIPATION IN EUROPA 2. Mehr Demokratie durch mehr Partizipation? – Aktuelle demokratietheoretische Debatten BEATE ROSENZWEIG / ULRICH EITH G laubt man den politischen Kommentatoren, dann markiert das Jahr 2010 den Beginn einer neuen demokra- tischen Protestkultur. Gegen »Stuttgart 21«, die Einführung der Hamburger Gemeinschaftsschule, gegen die Münchner Olympiabewerbung und für den Atomausstieg – an vielen Orten der Bundesrepublik gingen Bürger und Bürgerinnen in Deutschland auf die Straße, um ihrem Unmut über die politi- schen Entscheidungsträger und ihrem Recht auf demokrati- sche Mitsprache Ausdruck zu verleihen. Europaweit häufen sich Proteste gegen die Haushaltssanierungs- und sozialen Einsparpolitiken der Regierungen. Die Gesellschaft für deut- sche Sprache (GfdS) erklärte den Begriff »Wutbürger« zum Wort des Jahres 2010. Dieser Begriff stehe, so die Begrün- dung, für die Empörung in der Bevölkerung, »dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden« Abb. 1 »Stuttgarter Wutbürger« © Klaus Stuttmann, 15.6.2011 Nun liegt es bereits am Konstruktionsprinzip von repräsentati- ven Demokratien, dass die politischen Sachentscheidungen von den gewählten Repräsentanten und somit über die Köpfe der dem politischen Prozess der institutionellen Entscheidungsfin- Bürgerinnen und Bürger hinweg getroffen werden. Bei den auch dung liegt. überregional wahrzunehmenden Protestaktionen der letzten Monate wurde zudem nicht zweifelsfrei klar, ob es den Protestie- renden tatsächlich um mehr direkte Beteiligung oder schlicht Input- und Outputdimensionen der Demokratie um bessere bzw. andere politische Ergebnisse geht. Die demo- kratischen Erwartungshaltungen verschiedener Bevölkerungs- Schon mit der berühmten Lincoln’schen Bestimmung der Demo- 10 gruppen haben sich über die letzten beiden Jahrzehnte hinweg kratie als »government of the people – by the people, for the peo- deutlich ausdifferenziert. Eine bis zu 20 Prozent umfassende ple« werden unterschiedliche Perspektiven demokratietheoreti- Gruppe von »Aktivbürgern« fordert nachdrücklich und generell scher Ansätze deutlich. Legt man den Schwerpunkt auf die vermehrte Möglichkeiten der direkten Beteiligung im politi- Dimension »by the people«, steht die sogenannte »Input-Legiti- schen Entscheidungsprozess. Sie verfügen über die entspre- mation« des politischen Systems im Zentrum. Gefragt wird nach chenden Ressourcen, vor allem über Zeit und Fachkenntnisse, der demokratischen Inklusion und Beteiligung sowie nach dem um im politischen Prozess eine aktivere Rolle nicht nur einfor- Umfang demokratischer Teilhabe- und Entscheidungsrechte. In dern, sondern auch ausfüllen zu können. Demgegenüber be- idealtypischer Zuspitzung bezeichnet »government by the peo- schränkt sich etwa die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger vor- ple« die Selbstregierung der Bürgerinnen und Bürger und erfor- wiegend auf die kritische Beobachtung der Ergebnisse des dert somit deren Bereitschaft zum aktiven Engagement, zur in- Regierungshandelns. Eine aktive Beteiligung ist für sie vor allem formierten und reflektierten direkten Beteiligung im politischen dann geboten, wenn die politischen Ergebnisse offenkundig den Entscheidungsprozess. Die Dimension »for the people« hingegen individuellen Erwartungen entgegen laufen. Bis zu einem knap- verweist auf die »Output-Legitimation« des politischen Systems. pen Drittel der Bürgerinnen und Bürger schließlich verliert zu- Dies lenkt den Blick auf die Effizienz, die Angemessenheit und die nehmend den Bezug zur Politik. Eine unterdurchschnittliche for- Wirkung von politischen Entscheidungen. Idealtypisch beschreibt male Bildung, ein geringes politisches Interesse und lediglich »government for the people« die Herrschaft von (gewählten) Re- rudimentäre Kenntnisse über den politischen Prozess machen präsentanten im Namen der Bürgerinnen und Bürger, wobei ent- diese Bevölkerungsgruppe in Krisenzeiten anfällig für populisti- sprechende Demokratiemodelle zumeist auf die konkrete Ausge- sche Politikangebote. staltung von Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle – die Demokratietheoretische Diskussionen konzentrieren sich vor Verschränkung staatlicher Institutionen im politischen Entschei- allem auf den Stellenwert und das Ausmaß direkter politischer dungsprozess – und weniger auf die zu erwartende Qualität von Beteiligung. Eine einhellige Antwort darauf, in welchem Umfang politischen Ergebnisse abheben. Aus dieser Perspektive sind Bür- und in welchen Formen die politische Partizipation von Bürgerin- gerinnen und Bürger dann lediglich aufgerufen, ihre Repräsen- nen und Bürgern für das Gelingen einer Demokratie notwendig tanten durch regelmäßige Wahlen auszuwählen und zum Han- oder hinreichend ist, gibt es allerdings nicht. Das Spektrum der deln zu legitimieren. So führt bereits diese erste Unterscheidung Demokratiekonzeptionen reicht von minimalistisch-elitentheo- zweier grundsätzlicher Blickwinkel auf die Demokratie zu be- retischen über pluralistisch-repräsentative bis hin zu deliberati- trächtlichen Unterschieden hinsichtlich der Bedeutung und Rolle ven oder radikaldemokratischen Ansätzen. Trotz aller positiven von Bürgerinnen und Bürgern in der Demokratie (| M 1 |). Wertschätzung von Demokratien im Grundsätzlichen unterschei- den sich die Demokratiemodelle hinsichtlich der Beteiligungs- möglichkeiten und Entscheidungsstrukturen doch beträchtlich. Repräsentative Demokratie und Bürgerbeteiligung Im Folgenden werden repräsentative und partizipatorische An- sätze gegenüber gestellt, wobei der Schwerpunkt auf dem Bür- Aus der Sicht repräsentativer Demokratiemodelle ist die Beteili- gerbild, den jeweiligen Arenen demokratischer Beteiligung sowie gung der Bürgerinnen und Bürger durch Wahl und Abwahl der Mehr D em o k r at ie d urch mehr Pa r t i zipat i on? D&E Heft 62 · 2011
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