DEUTSCHLAND & EUROPA - Politische Partizipation in Europa - Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft ...

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DEUTSCHLAND & EUROPA - Politische Partizipation in Europa - Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft ...
Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte,   ISSN 1864-2942

Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft

DEUTSCHLAND & EUROPA
Heft 62 – 2011

                  Politische Partizipation
                  in Europa
DEUTSCHLAND & EUROPA - Politische Partizipation in Europa - Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft ...
Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch,
                                                           Geographie, Kunst und Wirtschaft

                                                           DEUTSCHLAND & EUROPA

HEFT 62–2011

„Deutschland & Europa” wird von der Landeszentrale
für politische Bildung Baden-Württemberg
herausgegeben.

DIREKTOR DER LANDESZENTRALE
Lothar Frick

REDAKTION
Jürgen Kalb, juergen.kalb@lpb.bwl.de

REDAKTIONSASSISTENZ
Sylvia Rösch, sylvia.roesch@lpb.bwl.de

BEIRAT
Günter Gerstberger, Robert Bosch Stiftung GmbH,
Stuttgart
Renzo Costantino, Studiendirektor, Ministerium für
Kultus, Jugend und Sport
Prof. Dr. emer. Lothar Burchardt, Universität Konstanz
Dietrich Rolbetzki, Oberstudienrat i. R., Filderstadt
                                                           Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 demonstrierten am 8.08.2011 in Stuttgart gegen den
Lothar Schaechterle, Professor am Staatlichen Semi-
                                                           Bau von Stuttgart 21. Im Anschluss an die 86. Montagsdemonstration bildeten die Demonst-
nar für Didaktik und Lehrerbildung Esslingen /Neckar
                                                           ranten eine sitzende Menschenkette im Schlossgarten in Stuttgart.
Dr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und
                                                                                                        © Franziska Kraufmann, picture alliance, dpa
Studienhaus Wiesneck
Dr. Georg Weinmann, Studiendirektor, Dietrich-Bon-
hoeffer-Gymnasium Wertheim
Lothar Frick, Direktor der Landeszentrale für politische
Bildung
Jürgen Kalb, Studiendirektor, Landeszentrale für
politische Bildung

ANSCHRIFT DER REDAKTION
Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart
Telefon: 0711.16 40 99-45 oder -43;
Fax: 0711.16 40 99-77

SATZ
Schwabenverlag Media der Schwabenverlag AG
Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit
Telefon: 0711.44 06-0, Fax: 0711.44 06-179

DRUCK
Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm mbH
89079 Ulm

Deutschland & Europa erscheint zweimal im Jahr.
Preis der Einzelnummer: 3,– EUR
Jahresbezugspreis: 6,– EUR
Auflage 20.000

Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht die
Meinung des Herausgebers und der Redaktion
wieder. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte
übernimmt die Redaktion keine Haftung.

Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen
Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit
Genehmigung der Redaktion.

Mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für        THEMA IM FOLGEHEFT 62 (APRIL 2012)
Kultus, Jugend und Sport, der Robert Bosch Stiftung
sowie der Heidehof Stiftung.

                                                            Der Euro und die Schuldenkrise in Europa
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Inhalt
                                       Inhalt

Politische Partizipation in Europa
Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .        2

Geleitwort des Ministeriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       2

I.     POLITISCHE PARTIZIPATION IN EUROPA

       1. Über Volksabstimmungen zu mehr Legitimation in Europa? Jürgen Kalb . . . . . . . . . . . .                                3

       2. Mehr Demokratie durch mehr Partizipation? – Aktuelle demokratietheoretische Debatten
          Beate Rosenzweig/Ulrich Eith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .         10

       3. Erfahrungen mit direkter Demokratie in Deutschland und der Schweiz Otmar Jung                                  ....      18

       4. Politische Partizipation und Parlamentarismus im EU-Mehrebenensystem
          Martin Große Hüttmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .        28

       5. Neue Konturen der Parteienlandschaft in Europa Frank Decker . . . . . . . . . . . . . . . . . .                          38

       6. Politische Partizipation am Beispiel »Stuttgart 21« Andreas Brunold . . . . . . . . . . . . . . .                        46

       7. Die Schlichtung zu Stuttgart 21: Vorbild für eine neue Form des Dialogs? Lothar Frick                              ..    54
                                                                                                                                        1
       8. Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängste. Sozialer Wandel und politische Beteiligung in
          Europa Alexander Ruser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .         62

       9. Jugendproteste – ein Blick auf Frankreich im 21. Jahrhundert Judith Spaeth-Goes/
          Frieder Spaeth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   70

       DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN

       »… mehr als nur Schlagzeilen« – LpB-Dossiers im Internet Wolfgang Herterich . . . . . . . . . .                             78

       »Heidelberger Didaktikforum« Wolfgang Berger, Sven Hauser, Birte Meske . . . . . . . . . . . .                              79

       D&E Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .        80

 D&E      Heft 62 · 2011                                                                                                      Inhalt
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Vorwort                                                              Begleitwort
    des Herausgebers                                                     des Ministeriums

    Politische Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger ist wesentli-      In Europa gilt es sich bewusst zu machen, wie gegensätzlich und
    cher Bestandteil jeder funktionsfähigen Demokratie. Sinkende         zerrissen die vergangenen 100 Jahre gewesen sind. In der ersten
    Wahlbeteiligungen, rückläufige Mitgliederzahlen bei Parteien         Hälfte dieser 100 Jahre waren zwei Weltkriege, die Shoa, die Welt-
    und Gewerkschaften sowie alarmierende Meinungsumfragen               wirtschaftskrise, die Trennung Europas und der Welt durch die
    über das Ansehen von Politikern zeugen für viele bereits seit län-   Mauer und den Eisernen Vorhang im Kalten Krieg. In den zweiten
    gerem von einem immer tiefer sitzenden Vertrauensverlust in die      50 Jahren wurde viel Positives geschaffen, erst im Westen Euro-
    Politik, einer wachsenden Distanz vieler Bürgerinnen und Bürger      pas, dann in ganz Europa: Frieden nach Jahrtausenden kriegeri-
    zum politischen System und zur politischen Klasse in unserer re-     schen Auseinandersetzungen, ein gemeinsamer Binnenmarkt,
    präsentativen Demokratie.                                            ein Raum der Freiheit, des Rechts und der Demokratie.
    Andererseits lassen sich nicht erst seit der aktuellen Finanz- und
    Schuldenkrise zunehmend Protestformen beobachten, die dem            Demokratie in Deutschland und Europa ist also nicht selbstver-
    etwas vordergründigen Bild von der »Politikverdrossenheit« zu        ständlich. Sie musste in einem langen historischen Prozess errun-
    widersprechen scheinen. Umweltverbände und Bürgerinitiativen         gen werden. Angesichts aktueller Krisen ist es die Aufgabe der
    verzeichnen seit Jahren regen Zulauf. Soziologen sprechen in die-    Menschen in Europa, die Demokratie und ihre Errungenschaften
    sem Zusammenhang nicht nur von einem nachhaltigen Werte-             in der Zukunft fortzuschreiben. Anlässlich der 4. Tagung der Wirt-
    wandel hin zu »postmateriellen Werten«, sondern bezogen auf          schaftsnobelpreisträger am 24. August 2011 in Lindau hat es Bun-
    das politische System von einem Wechsel »von Werten der Füg-         despräsident Christian Wulff so formuliert: »Unser Europa muss
    und Folgsamkeit auf Werte der Selbstbestimmung und Gleichbe-         uns alle Anstrengung wert sein. Nichts ist selbstverständlich.
    rechtigung« (Christian Welzel, 2009). Nicht selten werden in die-    Nichts darf verspielt werden. Das Schicksal Europas ist letztlich
    sem Zusammenhang Forderungen laut, die im Grundgesetz                das Schicksal aller seiner Völker.«
    verankerte repräsentative Demokratie vermehrt durch plebiszi-
    täre Formen der direkten Demokratie in Form von Volksabstim-         Demokratie und demokratisches Handeln können und müssen
    mungen zu ergänzen.                                                  gelernt werden. Das ist eine zentrale Aufgabe für Schule und Ju-
    Die aktuelle Ausgabe von »Deutschland & Europa« geht deshalb         gendbildung. Kinder und Jugendliche müssen bereits in jungen
    der Frage nach, welche Art der »Volksherrschaft« denn welche         Jahren Vorzüge, Leistungen und Chancen der Demokratie erfah-
    Vorzüge böte bzw. welche Probleme mit sich brächte. Gleichzeitig     ren und erkennen, dass demokratische Grundwerte niemals zur
2   wird untersucht, von wem denn die Forderungen nach größerer          Disposition stehen dürfen – auch nicht in Zeiten eines tiefgreifen-
    und direkter politischer Beteiligung ausgehen. Sind es nicht zu-     den gesellschaftlichen Wandels.
    meist Menschen mit überdurchschnittlichen sozialen, wirtschaft-
    lichen und kulturellen Ressourcen, die nach mehr direkter Demo-      Dazu leistet die aktuelle Ausgabe von »Deutschland & Europa«
    kratie rufen? Und wie stellt sich die Jugend dazu? Wäre sie          einen wertvollen Beitrag, indem sie Möglichkeiten und Grenzen
    eventuell über mehr Partizipationschancen wieder näher an das        der politischen Partizipation in Europa differenziert in den Blick
    politische System heranzuführen?                                     nimmt. Die Bandbreite der Themen reicht von einer Darstellung
    Ist dieses »Mehr an Demokratie« ein Modell, um verloren gegan-       der aktuellen demokratietheoretischen Debatten über die Partei-
    genes Vertrauen wieder herzustellen? Sollte es auf die Bundes-       enlandschaft in Europa bis zu den Jugendprotesten im Frankreich
    oder gar die Ebene der Europäischen Union übertragen werden?         der Gegenwart.
    So kontrovers die Diskussionen dazu auch verlaufen mögen, grö-
    ßere Transparenz und rationale öffentliche Diskussionen sind an-
    gesagt. Die politische Bildung bietet die Grundvoraussetzung
    dazu.

    Lothar Frick                              Jürgen Kalb, LpB,                               Renzo Costantino
    Direktor                                                                                  Ministerium für
    der Landeszentrale                        Chefredakteur von                               Kultus, Jugend und Sport
    für politische Bildung                    »Deutschland & Europa«                          in Baden-Württemberg
    in Baden-Württemberg

    Vorwort & Geleit wort                                                                                           D&E     Heft 62 · 2011
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POLITISCHE PARTIZIPATION IN EUROPA
1. Über Volksabstimmungen zu mehr
   Legitimation in Europa?
JÜRGEN KALB

E    uropa ist plötzlich in aller Munde, auch
     wenn der derzeitige Anlass, zumeist als
»Euro- oder Schuldenkrise« diskutiert,
überzeugten Europäern vor allem Sorgen-
falten ins Gesicht treibt. »Fragt das Volk!«
titelte aus diesem Anlass jüngst »Die ZEIT«
(29.9.2011) in einem Kommentar von Hein-
rich Wefing. Seine These (| M 2 |) lautet, nur
Referenden, mithin also direkte Volksab-
stimmungen, könnten das bestehende De-
mokratie- und Legitimationsdefizit in der
Europäischen Union beseitigen. Dabei
muss all jenen, die diesen Vorschlag unter-
breiten, bewusst sein, dass der Ausgang
solcher Plebiszite in Europa beileibe nicht
sicher wäre. In vielen Ländern haben sich
inzwischen populistische, antieuropäische
Parteien etabliert. Demoskopen beobach-
ten eine zunehmende europakritische Hal-
tung in großen Teilen der Bevölkerung der
27 Mitgliedstaaten. Und so vertreten die
Forderung nach einer Volksabstimmung
zur Europäischen Union in Deutschland
häufig gerade auch Europaskeptiker wie             Abb. 1 »Die Europäische Union heute … »                                © Gerhard Mester, 4.10.2011
z. B. der CSU-Bundestagsabgeordnete
Peter Gauweiler, um damit Prozesse der                                                                                                                  3
                                                                         sungsmäßig verbindlich vorgeschrieben (Art. 29, 2), so zeigen
Renationalisierung zu befördern. Heinrich Wefing vertritt
                                                                         aktuelle Diskussionen auf nahezu allen Ebenen des demokrati-
seine Forderung dennoch in seinem Leitartikel, denn nur so
                                                                         schen Meinungs- und Willensbildungsprozesses in Europa, dass
könne die EU eine neue Legitimation gewinnen und ihre der-
                                                                         die Frage nach der Art und Weise der »Volksherrschaft« wieder
zeitige »Unterdemokratisierung« überwinden. Auch der inter-
                                                                         breit diskutiert wird. Martin Große Hüttmann erläutert und ana-
national renommierte Philosoph Jürgen Habermas plädierte
                                                                         lysiert in seinem Beitrag »Politische Partizipation und Parlamentaris-
in diesem Jahr bereits in mehreren Aufsätzen und Zeitungsar-
                                                                         mus im EU-Mehrebenensystem« die derzeitigen Möglichkeiten und
tikeln für eine breite öffentliche Diskussion in ganz Europa
                                                                         Grenzen der politischen Partizipation auf europäischer Ebene.
über die demokratische Legitimierung der EU und die Notwen-
                                                                         Dabei gerät insbesondere das Instrument der »europäischen Bür-
digkeit, eine »unvollendete und auf halbem Weg stecken ge-
                                                                         gerinitiative« ins Blickfeld, das im Lissaboner Vertrag nunmehr
bliebene politische Union« (Habermas 2011) umzusetzen.
                                                                         auch rechtlich kodifiziert ist und somit die Möglichkeit von lände-
Zudem äußerte Andreas Voßkule, Präsident des Bundesver-
                                                                         rübergreifenden Initiativen ermöglicht. Noch ist keine solche Ini-
fassungsgerichts in Karlsruhe, in einem Interview mit der
                                                                         tiative erfolgreich durchgeführt geworden und sie bedeutet der-
Frankfurter Allgemeinen Zeitung (| M 3 |) angesichts der Ur-
                                                                         zeit auch nicht mehr als eine Verpflichtung der Europäischen
teile des BVerfG zum Lissaboner Vertrag und zum »Euro-Ret-
                                                                         Kommission, sich mit dem Anliegen einer solchen Initiative zu
tungsschirm« (genauer EFSF bzw. »Europäischen Finanzstabi-
                                                                         beschäftigen.
lisierungsfazilität«) öffentlich, dass es seiner Meinung nach
                                                                         Frank Decker wirft in seinem Beitrag »Neue Konturen der Parteien-
bei weiteren wesentlichen Integrationsschritten in Richtung
                                                                         landschaft in Europa« einen Blick auf die Tendenzen der nationalen
politische europäische Union der »direkten Zustimmung des
                                                                         und auch europäischen Parteienentwicklung. Dabei macht er
Volkes« bedürfe (vgl. Art. 146), also einer Überwindung oder
                                                                         eine Tendenz zu einer stärker werdenden Fragmentierung, aber
Erweiterung der in Deutschland geltenden Verfassung, dem
                                                                         auch der Zunahme insbesonderer antieuropäischer, rechtspopu-
Grundgesetz, mithilfe eines Instruments der direkten Demo-
                                                                         listischer Parteien aus. Aktuell ist es noch schwierig zu beurtei-
kratie, der Volksabstimmung. Dazu bedarf es allerdings einer
                                                                         len, ob der für viele überraschende Wahlsieg einer Partei wie der
breiten sachlichen Diskussion in den 27 Mitgliedstaaten.
                                                                         »Piraten« in Berlin bei den Senatswahlen im September 2011 als
                                                                         singuläres Ereignis betrachtet werden muss oder sich gar als wei-
                                                                         teres Zeichen für die nachhaltige Krise des derzeitigen Parteien-
Die Diskussion um die »repräsentative« sowie die                         systems in Europa herauskristallisieren kann.
»direkte Demokratie«                                                     Otmar Jung betrachtet in seinem Beitrag »Erfahrungen mit direkter
                                                                         Demokratie in Deutschland und der Schweiz« dagegen, wie unter-
Hatten die Väter und Mütter des Grundgesetzes noch 1949 äu-              schiedliche Verfahrensregeln den politischen Willensbildungs-
ßerst zurückhaltend auf die Möglichkeit von Volksabstimmungen            prozess prägen und verändern können. Anhand von zahlreichen
reagiert, sie zwar in Artikel 20, in dem von »Wahlen und Abstim-         Beispielen aus den einzelnen Bundesländern und der Schweiz
mungen« die Rede ist, nicht ganz ausgeschlossen, sie aber kon-           entwickelt er schließlich ein Plädoyer für eine mutige Ergänzung
kret lediglich für die Frage der Länderneugliederung verfas-             des parlamentarischen Systems durch plebiszitäre Elemente, wie

 D&E      Heft 62 · 2011                           Über Volk sabs timmungen zu mehr Legitimation in Europa?
DEUTSCHLAND & EUROPA - Politische Partizipation in Europa - Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft ...
JÜRGEN KALB

                                                                                                                    home/content/deu/aboutshell/our_commitment/
                                                                                                                    shell_youth_study). Aktuell weisen die zahlrei-
                                                                                                                    che Kommentierungen in der internationa-
                                                                                                                    len Press (www.eurotopics.net) darauf hin,
                                                                                                                    wie besorgt sich die europäische Öffentlich-
                                                                                                                    keit über eine mögliche Abkehr von Teilen der
                                                                                                                    Jugend gegenüber dem »europäischen meh-
                                                                                                                    rebenensystem« zeigt. Alexander Ruser ist
                                                                                                                    in seinem Beitrag »Aufstiegshoffnungen und
                                                                                                                    Abstiegsängste. Sozialer Wandel und politische
                                                                                                                    Beteiligung in Europa« diesen Prozessen analy-
                                                                                                                    tisch nachgegangen. Nicht jeder Protest ist
                                                                                                                    direkt politisch motiviert, hat aber doch
                                                                                                                    möglicherweise tiefe ökonomische und poli-
                                                                                                                    tische Ursachen. Anhand der Jugendproteste
                                                                                                                    in Frankreich in den Jahren 2005 und 2010
                                                                                                                    sowie der enormen Wirkung eines kleinen
                                                                                                                    Pamphlets von Stéphane Hessel »Empört
                                                                                                                    Euch!« zeigen Judith Spaeth-Goes und Frie-
                                                                                                                    der Spaeth auf, mit welcher Vehemenz »Ju-
                                                                                                                    gendproteste – ein Blick auf Frankreich im
                  Abb. 2 »Demo – Kratie = griechisch: Volks – Herrschaft«               © Oliver Schopf, 14.10.2010
                                                                                                                    21. Jahrhundert« in unserem größten Nachbar-
                                                                                                                    land ausgetragen werden, aber auch, nach
                                                                                                                    Einschätzung der beiden Autoren, weitge-
                  sie seit langem in der Schweiz, aber z. B. auch in Bayern, ausgeübt         hend folgenlos verlaufen. Sowohl das Autorenteam als auch Alex-
                  wird.                                                                       ander Ruser betonen in ihren vor allem gesellschaftskritischen
                  Beate Rosenzweig und Ulrich Eith dokumentieren und analysie-                Analysen, vor welchen Herausforderungen heute junge Leute,
                  ren gleich zu Beginn dieser Ausgabe von D&E in ihrem Beitrag                auch wenn sie akademisch gebildet sind, stehen, um überhaupt
                  »Mehr Demokratie durch mehr Partizipation? Aktuelle demokratietheo-         eine berufliche Perspektive zu bekommen. Die »Generation P«
                  retische Debatten« die Theoriediskussion zur Frage der Art der              (für Praktikum) fand bereits ihren Einzug in eine SPIEGEL-Titelge-
                  Volksherrschaft, wobei sie anhand von einigen aktuellen Ansät-              schichte.
                  zen anschaulich aufzeigen, welche Implikationen Forderungen                 Oder handelt es sich dabei nur um ein großes Missverständnis?
                  nach mehr direkter Demokratie bedeuteten, welche Chancen,                   Fehlt es den jungen Menschen einfach an Einsicht in die komplexen
                  aber auch Risiken plebiszitäre Ergänzungen der repräsentativen              Verhandlungswege und notwendigen Kompromisse einer reprä-
                  Demokratie bergen könnten. Geführt wird diese Diskussion auch,              sentativen Demokratie? Sind es, wie z. B. Werner J. Patzelt bereits
4                 weil verschiedene Untersuchungen in den letzten Jahren europa-              2001 in einem Beitrag für die Konrad-Adenauer-Stiftung zusam-
                  weit eine anhaltende »Politikverdrossenheit« in großen Teilen der           menfasste (| M 7 |), etwa überzogene Erwartungen in der Bevölke-
                  Bevölkerungen festgestellt haben. Die Europäische Kommission
                  beauftragt für solche Untersuchungen nicht nur die regelmäßig
                  durchgeführten Eurobarometer-Umfragen (http://ec.europa.eu/
                  public_opinion/index_en.htm), sondern derzeit auch ein Team von
                  Psychologen der Universität Jena, das dazu eine mehrjährige Be-
                  fragung in 9 EU-Mitgliedstaaten mit Schwerpunkt auf junge Euro-
                  päer durchführt: www.fahs.surrey.ac.uk/pidop/.

                  Vertrauensverluste und Protestkulturen
                  Eine im Jahr 2009 veröffentlichte, breit angelegte wissenschaftli-
                  che Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung in Deutschland
                  hatte erst jüngst belegt, wie sehr das Vertrauen weiter Teile unse-
                  rer Gesellschaft bereits erodiert ist. Vor allem bei jungen Men-
                  schen zeigte sich eine nachhaltige »Parteien- und Politikverdros-
                  senheit«, was in der Folge insbesondere in den Medien immer
                  wieder breit diskutiert wurde: Rückläufige Wahlbeteiligungen,
                  ein extremer Mitgliederschwund bei Parteien und Gewerkschaf-
                  ten, ein anhaltender Ansehensverlust von Politikern | Abb. 3 |)
                  korrespondieren seit Jahren mit einer fundamentalen Parteien-
                  kritik, denen Bundespräsident Richard von Weizsäcker bereits
                  1990 mit einer Rede zur »Machtvergessenheit und Machtbeses-
                  senheit der Parteien« sehr zum Ärger des damaligen Bundeskanz-
                  lers Helmut Kohl eine Stimme verliehen hatte.
                  Allerdings ergaben die von der Shell-Stiftung in regelmäßigen Ab-
                  ständen vorgelegten Jugendstudien immer wieder ein differen-
                  ziertes Bild, dass es sich nämlich nicht um eine »Politikverdros-
                  senheit« im Allgemeinen, sondern eher um eine Verlagerung des
                  politischen Engagements weg von den Parteien hin zu gesell-
                                                                                            Abb. 3 Umfrage des GFK-Marktforschungsinstituts zum Vertrauen in einzelne
                  schaftlichen Initiativen, Umweltverbänden und ad-hoc entste-
                                                                                            Berufsgruppen in Deutschland im Jahre 2011 (im Vergleich zu 2010)
                  henden Bürgerinitiativen bei Jugendlichen handele (www.shell.de/                                                                         © dpa info-Grafik

                  Über Volk sabs timmungen zu mehr Legitimation in Europa?                                                                     D&E      Heft 62 · 2011
DEUTSCHLAND & EUROPA - Politische Partizipation in Europa - Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft ...
rung oder ist es einfach der »Negativismus massenmedialer Politik-
darstellung«: »Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten«?
Läge es nur an diesen Ursachen, so könnte eine größere Anstren-
gung im Bereich der politischen Bildung hier Abhalife schaffen.

Fallbeispiel »Stuttgart 21«
Als Beispiel für die Chancen und Risiken unterschiedlicher Demo-
kratiekonzepte erscheinen in der aktuellen Ausgabe von D&E
dabei zwei Beiträge zu »Stuttgart 21«. Es geht längst um mehr als
die mögliche Tieferlegung eines Bahnhofs oder eine europäische
Tangentiale von Paris bis Bratislava, die in Stuttgart von einem
ehrgeizigen Bauprojekt begleitet werden sollte. Seit Mitte der
Neunzigerjahre war das Projekt in Parlamenten (Bundestag,
Landtag und Gemeinderat) beraten und beschlossen und von der
Deutsche Bahn AG konzipiert worden, bis es dann im Jahre 2010
durch einen breiten Bürgerprotest nahezu weltweit Beachtung
fand. Andreas Brunold stellt in seinem Beitrag insbesondere die
»Politische Partizipation am Beispiel Stuttgart 21« vor und setzt sich
                                                                          Abb. 4 Stimmzettel zur Volksabstimmung am 27. November 2011 über das
dabei engagiert für eine Volksabstimmung ein, die die am
                                                                          umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 vor dem Hauptbahnhof in Stuttgart.
27. März 2011 neu gewählte grün-rote Landesregierung am                   »Stimmen Sie der Gesetzesvorlage ›Gesetz über die Ausübung von Kündigungs-
27. November 2011 nun als Plebiszit in Baden-Württemberg                  rechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21‹
durchführen lässt (| Abb. 4 |). Der Landtag hatte es zwar abge-           (S21-Kündigungsgesetz) zu?« – Nach Aussagen der grün-roten Landesregierung
lehnt, das Quorum für die Annahme einer solchen Volksabstim-              wurde die sperrige Formulierung aus juristischen Gründen so kompliziert formu-
mung zu senken, die Oppositionsparteien hatten aber trotz juris-          liert. Sprecher der CDU-Opposition halten die Formulierung dagegen für rechts-
tischer Bedenken davon abgesehen, gegen die »Rechtmäßigkeit«              widrig, da es laut Vertrag mit der Deutsche Bahn AG kein Kündigungsrecht des
eines solchen Plebiszits zu beklagen. Alle im Landtag vertretenen         Landes Baden-Württemberg zum Ausstieg aus dem Projekt gebe.
Parteien versichern, sie wollten das Votum des Volkes akzeptie-                                             © Bernd Weißbrod dpa/lsw, picture alliance, 30.9.2011
ren. Ob dies auch die Demonstranten, die inzwischen (Oktober
2011) nahezu 100 Montagsdemonstrationen mit jeweils mehreren              solch eine – exemplarische – Versachlichung und Transparenz
tausend Bürgerinnen und Bürgern auf die Straße gebracht haben,            wiederholbar?
auch tun werden, bleibt abzuwarten. Längst macht hier der vom             Immer komplexer werdende Regierungsentscheidungen erfor-
Spiegel-Autor Dirk Kurbjuweit (www.spiegel.de/spiegel/print/              dern bei einer plebiszitären Partizipation Methoden der Redu-
d-74184564.html) geprägte Begriff des »Wutbürgers« international          zierung von Komplexität. Gefahren lauern dabei etwa in der
Schlagzeilen. Interessante Untersuchungen über die (Stuttgar-             zunehmenden Verwendung scheinbar unpolitischer Werbungs-                                  5
ter) Demonstranten (| M 5 |), die in ihrer Mehrheit wohl zu den           methoden sowie der unsachlichen Personifizierung der politi-
eher Privilegierten in unserer Gesellschaft zählen, liefern hier ein      schen Entscheidungen. Die Suche nach sympathischen oder
differenziertes Bild jenseits jenes häufig bemühten Klischees von         unsympathischen Gallionsfiguren (wie z. B. die Rufe von Demons-
typischen »Berufsdemonstranten«. Der Direktor der LpB Baden-              tranten gegen Stuttgart 21: »Lügenpack!«) könnten die Diskus-
Württemberg, Lothar Frick, gibt schließlich in seinem Beitrag             sion emotionalisieren. »Mehr Demokratie« bedeutet also nicht
»Die Schlichtung zu »Stuttgart 21«: Vorbild für eine neue Form des Dia-   nur mehr und andauernde Konflikte, die manche immer noch
logs?« Einblick in seine, den Schlichter Heiner Geißler beratende         schrecken, sondern könnte auch zu weniger Rationalität und Ef-
und unterstützende Tätigkeit während der nach der Eskalation              fektivität führen. Wäre sie jedoch mit sachlichen öffentlichen Dis-
bei einer Demonstration am 30.9.2010 einberufenen Schlichtung             kussionen verbunden, könnte sie nicht nur zu Stärkung einer rati-
durch den ehemaligen CDU-Generalsekretär: Konsens herrscht                onalen politischen Kultur führen, sondern auch zum Instrument
darüber, dass mehr Transparenz bei politischen Entscheidungen             werden, das wieder mehr Bürgerinnen und Bürger an politische
in einem frühen Planungsstadium Not tue. Strittig bleibt jedoch           Entscheidungen heranführt, nicht nur im lokalen, auch im euro-
die Frage der (demokratischen) Legitimierung eines solchen »Ein-          päischen Bereich. Nicht nur die Bertelsmann-Studie hat gezeigt,
griffes von außen«, ob man ihn nun als Schlichtung, Moderation            dass das die Mehrheit der Bevölkerung wünscht.
oder anders bezeichnen mag.

                                                                          Literaturhinweise
Mehr direkte Demokratie wagen?
                                                                               Bertelsmann Stiftung (2009): Vertrauen in Deutschland. Eine qualitative
Von den Befürwortern der Parole »Mehr direkte Demokratie«                      Wertestudie der Bertelsmann Stiftung. Task Force »Perspektive 2020 –
wird jede höhere Beteiligung der Bevölkerung an der politischen                Deutschland nach der Krise«. www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/
Meinungs- und Willensbildung gerne rundum als ein Gewinn                       media/xcms_bst_dms_30530_30531_2.pdf
ohne Einschränkung betrachtet. Und in der Tat scheint dieser
                                                                               Geißler, Heiner (2011): Das Experiment. Bürgeraufstand Zivilgesellschaft De-
Vorgang den grundsätzlichen Vorgang der Identität von Herr-
                                                                               mokratie. Berlin. Ullstein-Verlag.
schenden und Beherrschten in immer höherem Maße zu verwirk-
lichen. Er scheint zunächst den Einfluss der Bevölkerung auf die               Göttinger Institut für Demokratieforschung (Hrsg.) (2011): »Stuttgart 21«.
Herrschaftsgewalt zu vergrößern. »Scheint« bedeutet, dass das                  Göttingen. www.demokratie-goettingen.de/content/uploads/2011/08/
nicht unbedingt geschehen muss. Die Schlichtung zu »Stuttgart                  Stuttgart21_II.pdf
21« und ihre massenmediale Beachtung sowie Direktübertragung
                                                                               Habermas, Jürgen (2011): Wie demokratisch ist die EU? Blätter für deutsche
beim öffentlich-rechtlichen TV-Sender »Phoenix« sowie dem zivil-
                                                                               und internationale Politik. 8/2011
gesellschaftlichen Fluegel-tv-Sender (www.fluegel.tv) im Internet
konnten in Baden-Württemberg Exemplarisches bewirken. Ist                      Heußner, Hermann K./Jung, Otmar (Hrsg.) (2/2009): Mehr direkte Demokra-
das beständig möglich? Und unter welchen Bedingungen ist                       tie wagen. Volksentscheid und Bürgerentscheid, München, Olzog-Verlag.

 D&E      Heft 62 · 2011                           Über Volk sabs timmungen zu mehr Legitimation in Europa?
DEUTSCHLAND & EUROPA - Politische Partizipation in Europa - Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft ...
JÜRGEN KALB

                  MATERIALIEN
                                                                                                                        Das ist die juristische Seite. Aber es
                                                                                                                        geht nicht nur um die geschriebene
                                                                                                                        Verfassung. Mehr noch geht es um
                                                                                                                        die innere Verfassung des Landes.
                                                                                                                        Um das Unbehagen an der EU. Ein
                                                                                                                        Unbehagen, das sich nicht gegen Eu-
                                                                                                                        ropa insgesamt richtet, sondern
                                                                                                                        gegen die Art und Weise, wie es ge-
                                                                                                                        baut wird, wie es agiert. Was die
                                                                                                                        Karlsruher Richter in fein ziselierten
                                                                                                                        Sätzen sagen, spüren auch die Bür-
                                                                                                                        ger: Es gibt ein Legitimationsdefizit
                                                                                                                        in Europa – und ein Demokratiedefi-
                                                                                                                        zit.
                                                                                                                        Die EU ist nicht undemokratisch, bei-
                                                                                                                        leibe nicht. Aber sie ist unterdemo-
                                                                                                                        kratisiert. Und bislang sind eben
                                                                                                                        doch die Nationalstaaten die Orte
                                                                                                                        und die Gehäuse der Demokratie.
                                                                                                                        Dort leben und erleben die Bürger
                                                                                                                        die demokratische Politik, von dort
                                                                                                                        leitet auch die EU ihre Legitimation
                                                                                                                        ab. Kann sein, dass das in einer wirk-
                  M 1 »Du schaffst das …«                                                 © Klaus Stuttmann, 27.10.2010
                                                                                                                        lich global organisierten Welt anders
                                                                                                                        werden muss. Aber dann werden
                                                                                                                        auch die Nationalstaaten absterben
                  M 2 Heinrich Wefing: »Fragt das Volk!« (Die ZEIT)                      und mit ihnen die eingeübten Formen der Demokratie. Das geht
                                                                                         nicht, ohne den Souverän dazu zu hören. Das Volk.
                  Noch ist es nur ein ferner Gedanke. Hingemurmelt in Halbsätzen,        Ja, eine solche Volksabstimmung würde enorme politische Kräfte
                  verpackt in Konjunktive, eine Idee für die Zukunft. Aber der bei-      binden, Kräfte, die in der permanenten Krise ohnehin wahnsinnig
                  nahe revolutionäre Gedanke taucht immer öfter auf. Er geht so:         angespannt sind. Wie die hypernervösen Märkte auf ein Referen-
                  Wenn wir mehr Europa wollen, eine weitere deutliche Vertiefung         dum reagieren würden, wie die Welt darauf schauen würde, ist
6                 der Integration, dann funktioniert das nicht mehr wie bisher mit       nicht schwer zu prognostizieren. Beunruhigt vermutlich. Ja, auch
                  nächtlichen Regierungsbeschlüssen in Brüssel und einer Abstim-         wahr, ein solches Referendum würde parteipolitisch verein-
                  mung im Bundestag. Es genügt auch keine bloße Änderung des             nahmt, es würde Protestwähler geben, taktische Spielereien, Ar-
                  Grundgesetzes. Wir brauchen dann etwas, das es noch nie gege-          gumente, die gar nichts mit Europa zu tun haben, sondern aus-
                  ben hat in der Geschichte der Bundesrepublik: eine Volksabstim-        schließlich mit Berliner Machtkämpfen. Daran lässt sich nichts
                  mung im Bund. Wir brauchen ein Referendum über Europa.                 ändern, so ist Demokratie.
                  Noch nicht für die erweiterte Griechenlandhilfe, über die gerade       Und ja, das vor allem, der Ausgang eines Referendums wäre nicht
                  der Bundestag entschieden hat. Wohl auch noch nicht für den            sicher. Durchaus möglich, dass die Volksabstimmung gegen Eu-
                  permanenten Rettungsmechanismus ESM, der 2013 installiert              ropa ausfiele. Das ist ein Risiko, aber es ist auch die Vorausset-
                  sein soll. Noch gibt es ein bisschen Spielraum, einen Puffer für       zung, neue Legitimation für Europa zu gewinnen. Überall in Eu-
                  bessere Koordination, für ein paar weitere Projekte, wahrschein-       ropa ist schon über Europa abgestimmt worden. Nur nicht in
                  lich sogar für die eine oder andere neue Institution, die die Regie-   Deutschland. Das geht nun nicht mehr. Mag ein deutsches Nein
                  rungschefs miteinander verabreden. (…)                                 auch folgenreicher sein als ein niederländisches oder französi-
                  Aber dann, beim nächsten großen Integrationsschritt, ist Schluss.      sches, mag Deutschland auch immer noch international unter
                  Nicht mit der Integration, keineswegs. Aber mit der Integration        Verdacht stehen: Wer den Bürgern misstraut, wird sie auf Dauer
                  ohne direkte Bürgerbeteiligung, so wie sie seit Gründung der EU        verlieren. Wir müssen heraus aus der Heimlichkeit des schlei-
                  betrieben wird. Seit Jahren, seit Jahrzehnten überträgt die Bun-       chenden Souveränitätstransfers, hin zur Verantwortung. Wer die-
                  desrepublik Souveränität an Brüssel, »doppelzentnerweise«, wie         sen Schritt nicht geht, der gefährdet Europa.
                  der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog gerade im ZEIT-             Genau das wäre, jenseits aller verfassungsdogmatischen und de-
                  Interview formuliert hat. Nur: Irgendwann geht Souveräni-              mokratietheoretischen Erwägungen, die politische Funktion
                  tätstransfer nicht mehr ohne den Souverän – das Volk.                  eines Referendums. Es müsste eine Debatte beginnen, eine
                  Deshalb brauchen wir in absehbarer Zeit ein Referendum. Weil           große, leidenschaftliche, vielleicht sogar emotionale Debatte.
                  das Grundgesetz dazu zwingt. Weil die innere Verfassung der Re-        Nicht über Details der Griechenlandhilfe oder die Feinheiten der
                  publik danach verlangt. Und weil anders Europa nicht mehr zu           Euro-Stabilisierung. Sondern über das große Ganze, über alles:
                  legitimieren sein wird. (…)                                            über Europa. Wie es sein soll, was es uns wert ist. Und was wir
                  Mehrfach hat das Bundesverfassungsgericht zuletzt geurteilt,           dafür aufzugeben bereit sind.
                  dass die Integrationsreserven des Grundgesetzes nahezu aufge-          Wenn wir diese Debatte endlich führen, dann können wir Souve-
                  braucht seien. Wenn das Haushaltsrecht des Bundestages ausge-          ränität gewinnen, selbst wenn wir darauf verzichten. Und Europa
                  hebelt oder wenn sonst die »Verfassungsidentität« des Grundge-         kann auf einen ganz neuen Sockel der Legitimation gestellt wer-
                  setzes verändert werden solle, dann sei das mit der bestehenden        den. Auf einen Sockel, der leicht die nächsten fünfundzwanzig
                  Verfassung nicht zu machen. Dann muss eine neue her. Und das           Jahre tragen könnte.
                  Grundgesetz stellt dafür, in Artikel 146, ein Mittel zur Verfügung:    © Heinrich Wefing: Fragt das Volk, Die Zeit, 29.9.2011, S. 1, http://pdf.zeit.de/2011/40/01-
                  eine Volksabstimmung.                                                  Europa.pdf

                  Über Volk sabs timmungen zu mehr Legitimation in Europa?                                                                           D&E         Heft 62 · 2011
DEUTSCHLAND & EUROPA - Politische Partizipation in Europa - Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft ...
M 3 Andreas Voßkuhle: »Mehr Europa
    lässt das Grundgesetz kaum zu«

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts
unter Vorsitz von Andreas Voßkuhle verkündete
am 7. September 2011 sein Urteil über die Gesetze
zur Rettung des Euro. Andreas Voßkuhle ist der
jüngste Präsident, den das Verfassungsgericht je
hatte.

FAZ: Herr Präsident Voßkuhle, das Bundesverfas-
sungsgericht hat die Euro-Rettungspakete durch-
gewunken. Hatten Sie Angst vor den Finanzmärk-
ten?
Voßkuhle: Nein, sicher nicht. Angst ist nie
ein guter Ratgeber, und wovor sollten wir
Angst haben? Alle Richter sind auf zwölf Jahre
gewählt und danach ist Schluss. Verfassungs-             M 4 Festakt zum 60-jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts am 28.09.2011 im Badischen
                                                              Staatstheater Karlsruhe, von links: Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des Bundesverfassungs-
richter schreckt deshalb wenig!                               gerichts, Bundestagspräsident Norbert Lammert, Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfas-
FAZ: Man hätte Ihren Senat für einen Zusammen-                sungsgerichts, Bundespräsident Christian Wulff, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und
bruch der Märkte mit allen realwirtschaftlichen               Winfried Kretschmann (Grüne), Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Das Bundesverfas-
Folgen verantwortlich machen können.                          sungsgericht hat die Kompetenz, Bundesgesetze für nichtig zu erklären, wenn sie gegen das
Voßkuhle: Damit hätten wir dann leben müs-                    Grundgesetz verstoßen.                                               © Uli Deck dpa/lsw, picture alliance
sen. Wir können unsere Entscheidungen
nicht an Prognosen über die Reaktion der Fi-
nanzmärkte ausrichten, von denen man im
                                                                               gesetz verankerten Ewigkeitsgarantie nicht aufgegeben werden.
Übrigen nicht weiß, was sie tun, sonst wären alle Spekulanten
                                                                               Danach sind Änderungen des Grundgesetzes, die Strukturprinzi-
reich.
                                                                               pien berühren – Demokratieprinzip, Rechtsstaatsprinzip, Sozial-
FAZ: Wie macht man sich frei von dem politischen Druck, der in den
                                                                               staatsprinzip, Bundesstaatlichkeit –, unzulässig.
Tagen vor dem Urteil auf Ihnen gelastet haben muss?
                                                                               FAZ: Könnte man die Budgethoheit des Bundestags teilweise europäi-
Voßkuhle: Unser Entscheidungsmaßstab ist allein das Grundge-
                                                                               schen Institutionen übertragen?
setz. Das Bundesverfassungsgericht steckt den verfassungs-
                                                                               Voßkuhle: Für eine Abgabe weiterer Kernkompetenzen an die Eu-
rechtlichen Rahmen ab, innerhalb dessen die Politik Lösungen für
                                                                               ropäische Union dürfte nicht mehr viel Spielraum bestehen.
Probleme entwickeln muss. Die Gesetze zur Griechenland-Hilfe
                                                                               Wollte man diese Grenze überschreiten, was politisch ja durchaus
und zum Euro-Rettungsschirm haben diese Rahmenvorgaben be-
                                                                               richtig und gewollt sein kann, müsste Deutschland sich eine neue                           7
achtet. (…)
                                                                               Verfassung geben. Dafür wäre ein Volksentscheid nötig. Ohne
FAZ: Kein Mitglied Ihres Gerichts versteht viel von Finanzmärkten, die
                                                                               das Volk geht es nicht!
wenigsten sind Experten für Wirtschaftsrecht. Ist das zeitgemäß?
                                                                               FAZ: Was bleibt von der Idee eines starken Parlaments, wenn der Verzicht
Voßkuhle: Wir sind kein Fachgericht für Finanzrecht, sondern für
                                                                               auf Rettungsgesetze katastrophale wirtschaftliche Folgen hätte?
Verfassungsfragen. Gleichwohl haben wir uns mit den zu prüfen-
                                                                               Voßkuhle: Politik hat immer mit faktischen Zwängen zu kämpfen.
den Gesetzen sehr intensiv befasst. In den 60 Jahren seit Beste-
                                                                               Zur Verantwortungsübernahme durch das Parlament gibt es
hen des Gerichts haben sich die Richter in alle erdenklichen Le-
                                                                               keine überzeugende Alternative. Der Bundestag ist und bleibt der
bens- und Rechtsbereiche hineingedacht, vom Gentechnikrecht
                                                                               Ort, an dem die wesentlichen Entscheidungen für unser Gemein-
über Fragen der Hühnerhaltung bis eben hin zum Euro-Rettungs-
                                                                               wesen getroffen werden müssen.
schirm. Es hat Vorteile, mit einem gewissen Abstand aus unter-
                                                                               FAZ: Die Abgeordneten sind für Sie noch »Herren ihrer Entschlüsse«, wie
schiedlichen Perspektiven auf die Dinge zu blicken. Das war einer
                                                                               es in Ihrem Urteil heißt?
der Leitgedanken bei der Gründung des Gerichts. (…)
                                                                               Voßkuhle: Wir erleben doch gerade, wie intensiv die Abgeordne-
FAZ: Wie kann das Grundgesetz verhindern, dass eine europäische Wirt-
                                                                               ten über die Rettungsmechanismen diskutieren. Sie pochen auf
schaftsregierung uns regiert und nicht deutsche Staatsorgane?
                                                                               ihre Rechte und mischen sich ein. Das ist richtig und macht mich
Voßkuhle: In der Informalisierung politisch weitreichender Ent-
                                                                               hoffnungsvoll. (…)
scheidungen liegt in der Tat eine Gefahr. Deshalb betont das Ge-
                                                                               FAZ: Auch Ihr Gericht steht im Wettbewerb, nämlich zum Europäischen
richt immer wieder die starke Stellung des Parlaments, im festen
                                                                               Gerichtshof und zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Wie wol-
Vertrauen darauf, dass es diesen Bestrebungen entgegentritt.
                                                                               len Sie sich behaupten?
Deutschland hat eine große Affinität zum Rechtsstaat, das Recht
                                                                               Voßkuhle: Unsere Aufgabe der nächsten Jahre wird es sein, uns
besitzt hier eine hohe Verbindlichkeit. Die Menschen erwarten,
                                                                               im Verbund mit den europäischen Gerichten deutlich zu positio-
dass sich auch die Politik an Regeln hält. Mit diesem Grundver-
                                                                               nieren und unser Zusammenspiel weiter zu verbessern. (…)
ständnis sind wir in den letzten Jahrzehnten sehr gut gefahren.
                                                                               FAZ: Immer öfter gehen Kläger erst vergeblich nach Karlsruhe, um dann
FAZ: Was bedeutet das für die Idee der Wirtschaftsregierung?
                                                                               in Luxemburg oder Straßburg zu siegen – schlecht für Ihr Image.
Voßkuhle: Versuche, Recht und Regeln im Hinterzimmer oder
                                                                               Voßkuhle: Da die drei Gerichte auf unterschiedlicher normativer
unter Hinweis auf konkrete Nöte zu umgehen, haben ungeahnte
                                                                               Grundlage entscheiden, kann es in Einzelfällen tatsächlich zu di-
Langzeitwirkungen, vor denen ich nur warnen kann. Wir müssen
                                                                               vergierenden Entscheidungen kommen. Damit müssen alle Betei-
aufpassen, dass wir da nicht in ein falsches Fahrwasser geraten.
                                                                               ligten leben. Wir sollten nur aufpassen, dass die Bürger nicht ins-
FAZ: Erlaubt das Grundgesetzes eine weitere europäische Integration?
                                                                               gesamt das Vertrauen in die höchsten Gerichte verlieren. Deshalb
Voßkuhle: Ich denke, der Rahmen ist wohl weitgehend ausge-
                                                                               muss die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten und die Ab-
schöpft.
                                                                               stimmung ihrer Entscheidungstätigkeit weiter intensiviert wer-
FAZ: Und wenn die Politik doch weitergehen will?
                                                                               den.
Voßkuhle: Die souveräne Staatlichkeit Deutschlands wird durch
das Grundgesetz unabänderbar garantiert. Sie darf auch durch                   © Im Gespräch: Andreas Voßkuhle, Mehr Europa lässt das Grundgesetz kaum zu, FAZ,
den verfassungsändernden Gesetzgeber aufgrund der im Grund-                    25.9.2011, www.faz.net/-027166

 D&E       Heft 62 · 2011                                Über Volk sabs timmungen zu mehr Legitimation in Europa?
DEUTSCHLAND & EUROPA - Politische Partizipation in Europa - Reihe für Gemeinschaftskunde, Geschichte, Deutsch, Geographie, Kunst und Wirtschaft ...
JÜRGEN KALB

                  M 5 Ana Belle Becké:
                                                                 Welche Formen der politischen Beteiligung werden von den Bürgern praktiziert oder sind für sie inter-
                      »Wutbürger?«
                                                                 essant?

                  Derzeit gibt es kaum ein                                                      Form der Beteiligung
                  Großprojekt, das nicht von                                                   Teilnahme an Wahlen                                                                         94 5
                  Protesten begleitet wird.                                      Volksentscheide, Bürgerbegehren                                                                78            21
                  Nicht nur »Stuttgart 21«, auch                          Abstimmung über Infrastrukturprojekte                                                        68                    29
                  andere        infrastrukturelle                         Teilnahme an einer Bürgerversammlung                                                      64                         36
                  Maßnahmen wie die Feh-                               Mitgliedschaft in einem Interessenverband                                               55                             44
                  marnbelt-Überquerung oder                                           Schreiben eines Leserbriefes                                             55                              45
                  die Olympiabewerbung Mün-                                Beschwerde/Eingabe bei Abgeordneten                                                54                              45
                  chens riefen eine Protest-                                           Online-Umfrage im Internet                                           51                                48
                  welle des Bürgertums hervor,                   Beratungen über kommunalen Bürgerhaushalt                                               47                                   52
                  das aufbegehrt gegen ver-                                     Teilnahme an einer Demonstration                                         47                                    53
                  krustete       Entscheidungs-                 Abstimmung über bestimmte Fragen im Internet                                           45                                     54
                  strukturen in der Bundesre-                                                 Elektronische Petition                               39                                        58
                  publik. Seit letztem Sommer              Teilnahme an einem Bürgerforum/Zukunftswerkstatt                                        39                                         60
                  gibt es für dieses Phänomen                              Mitgliedschaft in einer Bürgerinitiative                            34                                             65
                  auch      einen     handlichen                          Mitwirken in Partei ohne Mitgliedschaft                             33                                               67
                  Namen: Als buhende und                        Verfassen von Beiträgen in Internet-Foren/Blogs                              32                                               67
                  schreiende »Wutbürger« wer-                                         Mitgliedschaft in einer Partei                       30                                                 69
                  den die protestierenden Mit-                              Einsatz als Sachkundiger Bürger in Rat                       27                                                   72
                  telschichtsangehörigen        in           Habe ich schon einmal gemacht oder käme für mich infrage        Kommt für mich nicht infrage          Weiß nicht, keine Angabe
                  den Medien bezeichnet. Das
                  Bild des empörten Besitz-
                  standswahrers, der jegliche          M 6 Bertelsmann-Studie: »Welche Formen der politischen Mitbestimmungen bevorzugen die Deutschen?«
                                                                                                                                                                  © nach Bertelsmann-Studie, 2009
                  Reformen und Bauprojekte
                  aus Angst vor Veränderung
                  und aus Egoismus ablehnt,
                  wird seitdem häufig bemüht, egal um welche Form des Protests                          aktionen. Die Bürgerinitiativen sind bemüht, komplexe Themati-
                  es sich handelt. Dabei zeigt das Beispiel der Bürgerinitiativen                       ken durch eine engagierte Pressearbeit für die breite
                  gegen Windkraftanlagen und Stromtrassen, dass eine differen-                          Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Hierin zeigt sich ein weite-
                  ziertere Sichtweise angebracht ist.                                                   res Charakteristikum der Bürgerinitiativen: Die Mitglieder sind
                  Gegen den Ausbau der Windenergie, die spätestens seit der                             überdurchschnittlich gut mit dem Protestgegenstand vertraut.
                  Atomkatastrophe von Japan einhellig von der Politik in Deutsch-                       Statt »Spaßprotest« geht es um »Protest mit Tiefgang«.
8                 land gefordert und gefördert wird, formiert sich schon seit Jahren                    Glaubt man dem übereinstimmenden Bild der Medien, dann sind
                  Protest. Hinzu kommt: Der Ausbau der Windenergie hat auch                             es vor allem piefige Hausbesitzer, die um die Lebensqualität im
                  einen Ausbau der Leitungsnetze zur Folge. Dabei sollen die                            eigenen Garten fürchten – sei es durch den Schlagschatten der
                  »Stromautobahnen« ausgebaut werden, um den Strom sicher in                            Rotorenblätter der Windkraftanlagen oder das unerträgliche Sur-
                  die Netze einzuspeisen. Unter dem Synonym »Windkraftgegner«                           ren der Oberlandleitungen. Die Befragung der Bürgerinitiativen
                  agieren ca. 70 Bürgerinitiativen, die gut vernetzt sind. Die EPAW                     zeigt hingegen, dass persönliche Anliegen und der Schutz des
                  (»European Platform Against Windfarms«) ist die europäische                           persönlichen Eigentums im Hintergrund der Proteste stehen.
                  Schaltstelle, die europaweit Initiativen vereint und auch in                          Den Initiativlern geht es vielmehr um eine neue Beteiligungskul-
                  Deutschland eine erstaunliche Anzahl an Interessengruppen auf-                        tur in der Bundesrepublik. Etwa die Hälfte unter ihnen fordert,
                  listet. Ähnliches zeigt sich im Bereich des Netzausbaus, auch hier                    dass der Umgang mit dem Bürger bei anstehenden Entschei-
                  ist die Anzahl an Bürgerinitiativen beachtlich.                                       dungsprozessen generell überdacht werden soll. Dabei soll die
                  Eine Arbeitsgruppe des Göttinger Instituts für Demokratiefor-                         neue Partizipation direkt am und vor allem vor dem Gesetzge-
                  schung hat nun herausgefunden: Der Protest gegen den Ausbau                           bungsprozess eingreifen und nicht nur nachträglich und über das
                  von Windkraftanlagen und Stromtrassen passt nicht zum medial                          Mittel des Volksentscheides umgesetzt werden.
                  verbreiteten Bild des grantelnden Wutbürgers, welches, geprägt                        Der gesellschaftliche Diskurs stilisiert den »Wutbürger« als Phä-
                  durch den Spiegel-Autor Dirk Kurbjuweit, als Synonym für eine                         nomen unseres jungen Jahrzehnts. Kaum eine Protestform, die
                  neue bürgerliche Protestbewegung steht. Zwar stammen die                              nicht postwendend mit dem Begriff des sich ereifernden Prota-
                  »Protestler« zweifelsfrei aus der Mitte der Gesellschaft. Sie befin-                  gonisten Dirk Kurbjuweits assoziiert wird. Doch wie die Analyse
                  den sich in einem gesetzten Alter zwischen 45 und 59 Jahren und                       der Bürgerinitiativen zeigt, hat die bürgerliche Mitte keineswegs
                  zählen überwiegend zu der Berufsgruppe der »Besserverdienen-                          jedes Maß verloren. Im Gegenteil fordert sie, direkt an der Pla-
                  den« – diese Daten ergeben sich aus einer Studie des Göttinger                        nung von Bauprojekten beteiligt zu werden. Ihre Ziele sind größ-
                  Instituts für Demokratieforschung, in der zweiundfünfzig Bürger-                      tenteils konstruktiv und vor allem lokal begrenzt, und ihr Empö-
                  initiativen befragt wurden. Allerdings zeigt sich auch, dass die                      rungspotential scheint eher gering. Zumindest in ihrer
                  Hälfte der Initiativen gegen den Ausbau von Windenergie und                           Selbsteinschätzung sind sich die Bürgerinitiativen einig: Sie sch-
                  Stromnetze sich bereits zwischen den Jahren 2007 und 2009 ge-                         reiben sich ein extrem hohes Bedeutungsmaß zu und sind über-
                  gründet hat. Es handelt sich mithin nicht um ein neues Phäno-                         zeugt, als unabhängiger und objektiver Informationslieferant an
                  men.                                                                                  einer wichtigen Schaltstelle zwischen Politik und Wirtschaft zu
                  Außerdem agieren die Mitglieder der Initiativen äußerst maßvoll.                      sitzen. Je kleiner dabei die Initiative ist, desto höher wird auch der
                  Wirft man einen Blick auf die Organisationsstruktur, so zeigen                        eigene Einfluss bewertet. Diese Selbstüberschätzung der eigenen
                  sich ruhige Formen des Protestes. Eine Mehrzahl setzt auf eine                        Rolle ist vermutlich nicht zuletzt auf die hysterische »Wutbürger-
                  produktive Vernetzung und Kontaktpflege mit Vertretern aus Po-                        debatte« zurückzuführen.
                  litik und Wirtschaft. Im Rahmen dieser Kooperation kommt es                           © Ana Belle Becké (2011): Wutbürger?. www.demokratie-goettingen.de/blog/
                  zur Organisation gemeinsamer Veranstaltungen. Statt Demonst-                          «wutburger«
                  rationen gibt es Mahnwachen, Lichterketten und Unterschriften-

                  Über Volk sabs timmungen zu mehr Legitimation in Europa?                                                                                        D&E       Heft 62 · 2011
M 7 Werner J. Patzelt: »Politikverdrossenheit
    entsteht durch Missverständnisse«

System- und Politikverdrossenheit haben sicher auch
politische Gründe. Es ist zu Ende gegangen mit der
Überflussgesellschaft des europäischen Wirtschafts-
wunders, die Wohlstand, soziale Sicherheit und das
Gefühl bescherte, allein an Verbesserungen zu arbei-
ten sei unsere Aufgabe. Jetzt steht der Rückbau des
Erreichten, jetzt stehen an die Substanz gehende
Verteilungskonflikte auf der Tagesordnung. Die
Folge sind Unzufriedenheit und Murren. Hinzu kom-
men die Reaktionsträgheit politischer Institutionen,
so manche Politikblockade und die Neigung der poli-
tischen Klasse, Probleme erst dann anzugehen,
wenn sie sich gar nicht mehr verbergen lassen. Der
inzwischen nachgewiesene und völlig plausible Ne-
gativismus massenmedialer Politikdarstellung (»Nur
schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten«) tut
ein Übriges. Außerdem stellen die Bürger an die Leis-
tungen von Politik und Politikern höhere Ansprüche          M 9 »Die Piraten kommen!« Bei der Senatswahl im September 2011 in Berlin hatte die Partei
                                                                  der »Piraten« überraschend 8,9 % der Stimmen bekommen und lag auch bei bundeswei-
und werden ihrerseits immer selbstbewusster: Er-                  ten Umfragen im Oktober 2011 plötzlich bei 8 %.             © Gerhard Mester, 4.10.2011
wartungen steigen, Folgebereitschaft lässt nach,
Missmut resultiert. Der wird weiter angefacht durch
immer wieder aufkommende Politikskandale.                                 ter Verfassungskonflikt bezeichnen: ein Konflikt zwischen ver-
Demonstrative Politikverdrossenheit, Wahlabstinenz und Partizi-           muteter und gelebter Verfassung.
pationsverweigerung können dann ihrerseits zu politischen                 Vor wenigen Jahren wurde er demoskopisch nachgewiesen (…). Es
Akten werden. Noch mehr trägt zu Beteiligungsdefiziten aber               zeigte sich, dass unser Regierungssystem von der Mehrheit der
bei, dass die fortgeschrittene Auflösung lebenslang prägender             Deutschen nicht nur schlecht gekannt, sondern überdies anhand
Milieus, große Mobilität der Elitegruppen und die Individualisie-         von Erwartungen beurteilt wird, die seine Eigentümlichkeiten
rung von Lebensstilen den traditionellen Partizipationsformen in          verfehlen. Es funktioniert einfach anders, als viele Bürger glau-
Parteien und Kommunalpolitik die Wurzeln vertrocknen lässt.               ben, und die politische Klasse folgt oft völlig systemadäquaten
Leicht greift man da zum Argument, verdrossen und politikabsti-           Regeln, wo das Volk Unrat wittert. (…)
nent seien die Bürger, weil man sie von wirklicher, nämlich plebis-       Selbst unbegründete Vorwürfe führen nämlich zu wirklicher Ver-
zitärer Teilhabe ausschlösse. Indessen kennen so gut wie alle             drossenheit, auch Missverständnisse wirken entlegitimierend.
deutschen Kommunalverfassungen plebiszitäre Instrumente, be-              Das gibt einesteils besten Humus für wuchernden Radikalismus,                                 9
sitzen alle deutschen Länder die Hebel des Volksbegehrens und             für den immer wieder reale Politikdefizite zeugen. Andernteils
Volksentscheides. Aber auch dies hat das bürgerschaftliche Enga-          öffnet sich so das Tor für die Suche nach grundsätzlichen Alter-
gement in Kommunen und Ländern nicht hochgetrieben.                       nativen. Statt evolutionär Bewährtes zu verbessern, werden dann
Es hat aber den Anschein, als stamme ein Großteil politikverdros-         riskante Veränderungsvorschläge populär. (…)
senen Grummelns aus noch viel tieferen Schichten politischer              Sollen wir also eher unser politisches System dem Vorstellungs-
Kultur. Das sind die Tiefen überkommener Bilder vom Staat, die            horizont der Bürger oder lieber deren politisches Wissen und Ver-
Überholtes bewahren. Veraltetes politisches Denken wendet sich            ständnis der Komplexität unseres Institutionensystems anpas-
dann gegen moderne Institutionen, unkritisch in Geltung gehal-            sen? Hätte unsere Demokratie vor allem Fehlleistungen
tene Verfassungsideologie gegen eine durch Erfahrung belehrte             produziert, läge die erste Antwort nahe. Unsere politischen Insti-
Verfassungspraxis. Eine solche Lage der Dinge lässt sich als laten-       tutionen haben sich im Wesentlichen aber bewährt. Darum ist
                                                                          anzuraten, zwar unser politisches System dort zu verbessern, wo
                                                                                         es mangelhaft funktioniert. Noch dringender aber ist
                                                                                         es, an den Schulen und in den Massenmedien immer
       Wünschen Sie sich mehr
                                                                                         wieder solche politische Bildungsarbeit zu versu-
        politische Beteiligungs-                                  81        16
   möglichkeiten für die Bürger?
                                                                                         chen, welche die erreichbaren Bürger von ihren je-
                                                                                         weils bedrohlichsten Kenntnislücken, Missverständ-
                                                                                         nissen und Vorurteilen kuriert. (…)
                                                                                         Verbessern wir also das Funktionieren des deutschen
                                                                                         Föderalismus. Eröffnen wir über Bürgerforen und
     Wären Sie bereit, sich über
                                                                                         Planungszellen viel mehr Bürgern die Möglichkeit,
   Wahlen hinaus an politischen                        60                    39
       Prozessen zu beteiligen?
                                                                                         auch ohne langfristiges Engagement an sie betref-
                                                                                         fenden Entscheidungen mitzuwirken. Führen wir
                                                                                         vielleicht auch umsichtig plebiszitäre Elemente auf
                                                                                         Bundesebene ein. Stärken wir die Position des einzel-
                                                                                         nen Abgeordneten durch zusätzliche Mitarbeiter.
  Glauben Sie, dass die Politiker
                                                                                         Hüten wir uns aber davor, antiquierten oder inkon-
 grundsätzlich mehr Mitbestim-       22                                      76
  mung durch die Bürger wollen?
                                                                                         sistenten Systemvorstellungen nur deshalb zu fol-
                                                                                         gen, weil sie populär sind.
                                    Ja             Nein             Weiß nicht, keine Angabe   © Werner J. Patzelt (2001): Deutschlands latenter Verfassungskonflikt,
                                                                                               (2001), www.kas.de/wf/doc/kas_1522–544–1-30.pdf?040415181013
M 8 Bürgerinnen und Bürger wünschen mehr Beteiligung an politischen Entscheidungen
                                                            © nach Bertelsmann-Studie, 2009

 D&E      Heft 62 · 2011                             Über Volk sabs timmungen zu mehr Legitimation in Europa?
POLITISCHE PARTIZIPATION IN EUROPA
     2. Mehr Demokratie durch mehr Partizipation? –
        Aktuelle demokratietheoretische Debatten
     BEATE ROSENZWEIG / ULRICH EITH

     G    laubt man den politischen Kommentatoren, dann
          markiert das Jahr 2010 den Beginn einer neuen demokra-
     tischen Protestkultur. Gegen »Stuttgart 21«, die Einführung
     der Hamburger Gemeinschaftsschule, gegen die Münchner
     Olympiabewerbung und für den Atomausstieg – an vielen
     Orten der Bundesrepublik gingen Bürger und Bürgerinnen in
     Deutschland auf die Straße, um ihrem Unmut über die politi-
     schen Entscheidungsträger und ihrem Recht auf demokrati-
     sche Mitsprache Ausdruck zu verleihen. Europaweit häufen
     sich Proteste gegen die Haushaltssanierungs- und sozialen
     Einsparpolitiken der Regierungen. Die Gesellschaft für deut-
     sche Sprache (GfdS) erklärte den Begriff »Wutbürger« zum
     Wort des Jahres 2010. Dieser Begriff stehe, so die Begrün-
     dung, für die Empörung in der Bevölkerung, »dass politische
     Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden«
                                                                          Abb. 1 »Stuttgarter Wutbürger«              © Klaus Stuttmann, 15.6.2011
     Nun liegt es bereits am Konstruktionsprinzip von repräsentati-
     ven Demokratien, dass die politischen Sachentscheidungen von
     den gewählten Repräsentanten und somit über die Köpfe der            dem politischen Prozess der institutionellen Entscheidungsfin-
     Bürgerinnen und Bürger hinweg getroffen werden. Bei den auch         dung liegt.
     überregional wahrzunehmenden Protestaktionen der letzten
     Monate wurde zudem nicht zweifelsfrei klar, ob es den Protestie-
     renden tatsächlich um mehr direkte Beteiligung oder schlicht         Input- und Outputdimensionen der Demokratie
     um bessere bzw. andere politische Ergebnisse geht. Die demo-
     kratischen Erwartungshaltungen verschiedener Bevölkerungs-           Schon mit der berühmten Lincoln’schen Bestimmung der Demo-
10   gruppen haben sich über die letzten beiden Jahrzehnte hinweg         kratie als »government of the people – by the people, for the peo-
     deutlich ausdifferenziert. Eine bis zu 20 Prozent umfassende         ple« werden unterschiedliche Perspektiven demokratietheoreti-
     Gruppe von »Aktivbürgern« fordert nachdrücklich und generell         scher Ansätze deutlich. Legt man den Schwerpunkt auf die
     vermehrte Möglichkeiten der direkten Beteiligung im politi-          Dimension »by the people«, steht die sogenannte »Input-Legiti-
     schen Entscheidungsprozess. Sie verfügen über die entspre-           mation« des politischen Systems im Zentrum. Gefragt wird nach
     chenden Ressourcen, vor allem über Zeit und Fachkenntnisse,          der demokratischen Inklusion und Beteiligung sowie nach dem
     um im politischen Prozess eine aktivere Rolle nicht nur einfor-      Umfang demokratischer Teilhabe- und Entscheidungsrechte. In
     dern, sondern auch ausfüllen zu können. Demgegenüber be-             idealtypischer Zuspitzung bezeichnet »government by the peo-
     schränkt sich etwa die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger vor-        ple« die Selbstregierung der Bürgerinnen und Bürger und erfor-
     wiegend auf die kritische Beobachtung der Ergebnisse des             dert somit deren Bereitschaft zum aktiven Engagement, zur in-
     Regierungshandelns. Eine aktive Beteiligung ist für sie vor allem    formierten und reflektierten direkten Beteiligung im politischen
     dann geboten, wenn die politischen Ergebnisse offenkundig den        Entscheidungsprozess. Die Dimension »for the people« hingegen
     individuellen Erwartungen entgegen laufen. Bis zu einem knap-        verweist auf die »Output-Legitimation« des politischen Systems.
     pen Drittel der Bürgerinnen und Bürger schließlich verliert zu-      Dies lenkt den Blick auf die Effizienz, die Angemessenheit und die
     nehmend den Bezug zur Politik. Eine unterdurchschnittliche for-      Wirkung von politischen Entscheidungen. Idealtypisch beschreibt
     male Bildung, ein geringes politisches Interesse und lediglich       »government for the people« die Herrschaft von (gewählten) Re-
     rudimentäre Kenntnisse über den politischen Prozess machen           präsentanten im Namen der Bürgerinnen und Bürger, wobei ent-
     diese Bevölkerungsgruppe in Krisenzeiten anfällig für populisti-     sprechende Demokratiemodelle zumeist auf die konkrete Ausge-
     sche Politikangebote.                                                staltung von Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle – die
     Demokratietheoretische Diskussionen konzentrieren sich vor           Verschränkung staatlicher Institutionen im politischen Entschei-
     allem auf den Stellenwert und das Ausmaß direkter politischer        dungsprozess – und weniger auf die zu erwartende Qualität von
     Beteiligung. Eine einhellige Antwort darauf, in welchem Umfang       politischen Ergebnisse abheben. Aus dieser Perspektive sind Bür-
     und in welchen Formen die politische Partizipation von Bürgerin-     gerinnen und Bürger dann lediglich aufgerufen, ihre Repräsen-
     nen und Bürgern für das Gelingen einer Demokratie notwendig          tanten durch regelmäßige Wahlen auszuwählen und zum Han-
     oder hinreichend ist, gibt es allerdings nicht. Das Spektrum der     deln zu legitimieren. So führt bereits diese erste Unterscheidung
     Demokratiekonzeptionen reicht von minimalistisch-elitentheo-         zweier grundsätzlicher Blickwinkel auf die Demokratie zu be-
     retischen über pluralistisch-repräsentative bis hin zu deliberati-   trächtlichen Unterschieden hinsichtlich der Bedeutung und Rolle
     ven oder radikaldemokratischen Ansätzen. Trotz aller positiven       von Bürgerinnen und Bürgern in der Demokratie (| M 1 |).
     Wertschätzung von Demokratien im Grundsätzlichen unterschei-
     den sich die Demokratiemodelle hinsichtlich der Beteiligungs-
     möglichkeiten und Entscheidungsstrukturen doch beträchtlich.         Repräsentative Demokratie und Bürgerbeteiligung
     Im Folgenden werden repräsentative und partizipatorische An-
     sätze gegenüber gestellt, wobei der Schwerpunkt auf dem Bür-         Aus der Sicht repräsentativer Demokratiemodelle ist die Beteili-
     gerbild, den jeweiligen Arenen demokratischer Beteiligung sowie      gung der Bürgerinnen und Bürger durch Wahl und Abwahl der

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