Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten - Demokratie ...

 
WEITER LESEN
Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten - Demokratie ...
Deutungskulturen
                                                                                                                                 zwischen Bildern
                                                                                                                                 und Texten
                                                                                                                                 Perspektiven eines
                                                                                                                                 Forschungsprogramms am Beispiel
                                                                                                                                 der „Stoppt die Corona-Panik – Wir
                                                                                                                                 zeigen Gesicht!“-Kampagne der AfD

                                                                                                                                 Christopher Schmitz

            I
                        m Verlauf des ersten Jahres der Coro-                                                        blitzartig neu herausgebildeten Deutungskul-
                        na-Pandemie wurde dieser Krise die                                                           turen, die vormals gewohnte Routinen mitunter
                        Eigenschaft zugeschrieben, als eine Art                                                      tiefgreifend verändert haben – hier vor allem die
                        Brennglas gesellschaftliche Dysfunkti-                                                       Maßnahmen zur Eindämmung und Bewältigung
                        onalitäten schonungslos aufzudecken.1                                                        der Pandemie – und den eingeübten soziokultu-
                        Auch wenn diese Metapher mittlerweile                                                        rell verankerten Routinen, eröffnen sich frische
                        weitgehend ausgebrannt ist,2 lohnt es                                                        Perspektiven auf aktuellste politische Entwick-
                        sich, beim Phänomen zu verweilen, da                                                         lungen.
                Krisensituationen ein forschungspragmatisch
                besonders fruchtbares Gelegenheitsfenster für
                die politische Kulturforschung darstellen. Begreift
                man als Krise vor allem eine Divergenz zwischen                                                      Krisen und normative Landkarten

                                                                                                                     Nun ist dieser Gedanke, wenn auch oberflächlich
                1      Vgl. Ludwig, Gundula/Voss, Martin/Miller, Simone:                                             einsichtig, erläuterungsbedürftig. Eine Krisen-
                       Brennglas für gesellschaftliche Missstände. Theorie                                           situation ist zunächst, so der Soziologe Michael
                       in Coronazeiten – Gundula Ludwig und Martin Voss
                                                                                                                     Makropoulos, vor allem eine „unvollständig de-
                       im Gespräch mit Simone Miller, in: Deutschlandfunk
                                                                                                                     terminierte Situation […], eine Situation der irre-
                       Kultur, 05.07.2020, URL: https://www.deutschland-
                       funkkultur.de/theorie-in-coronazeiten-brenn-
                                                                                                                     duziblen Kontingenz.“3 Diese Kontingenz bestehe
                       glas-fuer-gesellschaftliche.2162.de.html?dram:ar-                                             aus der Möglichkeit zur Abänderung: Sowohl die
                       ticle_id=479895 [eingesehen am 18.02.2021].

                2      Plück, Maximilian: Die Renaissance der Lupe. Kolumne
                       „Hier in NRW“, in: RP-Online, 07.07.2020, URL: https://                                       3      Makropoulos, Michael: Über den Begriff der
                       rp-online.de/panorama/coronavirus/hier-in-nrw-                                                       „Krise“. Eine historisch-semantische Skiz-
                       welche-bedeutung-das-brennglas-in-der-corona-                                                        ze, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Ge-
                       krise-hat_aid-52075171 [eingesehen am 18.02.2021].                                                   sellschaft, H. 1/2013, S. 13–20, hier S. 16.

Schmitz, Christopher (2021): Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten. Perspektiven eines Forschungsprogramms am Beispiel der „Stoppt die Corona-Panik – Wir zeigen Gesicht!“-Kampagne der AfD. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 67-73.

                                                                                                                                                                                                                                     67
Demokratie-Dialog 8-2021

                       Gegenwart als auch die unbestimmte Zukunft –                                                          könnten.9 Andererseits bietet sich in diesen Kri-
                       beides könnte jeweils anders aussehen als das,                                                        senmomenten das Gelegenheitsfenster, diesen
                       was jeweils ist oder jeweils sein könnte.4                                                            gestressten Deutungskulturen auf den Zahn zu
                                                                                                                             fühlen, die ,ihrer Selbstgewissheit und Selbstver-
                       Laut dem Göttinger Politikwissenschaftler Franz                                                       ständlichkeit beraubt, sichtbar werden. Eine Krise
                       Walter bergen Krisen einen Moment der Ernüch-                                                         im Allgemeinen und die Corona-Krise im Spezi-
                       terung in dem Sinne, dass „lang aufgebaute                                                            ellen bietet also Sichtluken in die politisch-kul-
                       Erwartungen an die Zukunft enttäuscht“5 werden.                                                       turellen Orientierungsentwürfe. Denn, eine Krise
                       Zugleich geraten aber nicht nur die Erwartungen                                                       sei, wie Makropoulos betont, immer auch das
                       an die Zukunft unter Druck, sondern eben auch                                                         Produkt diskursiver Setzungen: Es schwinge auch
                       die Bewältigungsmuster in der Gegenwart. Was                                                          immer die Frage mit, wie eine Krise ausgedeutet
                       etabliert, funktional, gewöhnlich und normal                                                          und aus welchen Gründen, mit welchen Motivla-
                       gewesen sei, sei es nicht länger, was mitunter zu                                                     gen eine Krisensituation erklärt und mit welchen
                       Verunsicherung führe.6 In zeitlich kurzer Abfol-                                                      Mitteln und Maßnahmen diese Krisensituation
                       ge würden Gewissheiten in Frage gestellt. Damit                                                       überwunden und beendet werden solle.10
                       würden sie aber auch wieder verhandelbar und
                       zugänglich. Franz Walter spricht von sich öffnen-                                                     Wenn Gewissheiten erodieren, steigt der Bedarf
                       den „Möglichkeitspforten für neue Deutungs-                                                           nach Kompensation deutungskultureller Natur.
                       muster, Ideen und Handlungsmotivationen“, die                                                         Der Schleier auf der normativen Landkarte muss
                       die Gelegenheit für gesellschaftliche Innovatio-                                                      gelichtet ,neue Routinen müssen erarbeitet und
                       nen böten. Umgekehrt seien auch Regressionen                                                          angeboten werden, wobei diese Deutungsange-
                       und „gesellschaftliche Paranoia“ denkbar.7                                                            bote soziokulturell fundierten Projektionen und
                                                                                                                             Zuschreibungen folgen. Einerseits bildet sich eine
                       In Krisen lege sich ein Schleier der Unsicherheit                                                     Kluft zwischen den unter Aktualisierungszwang
                       und Bedeutungsoffenheit über die „kognitiv-nor-                                                       stehenden deutungskulturellen Mustern und den
                       mative ‚Landkarte‘“, durch die die politische Welt                                                    zunächst verhältnismäßig starren, soziokulturell
                       Struktur und Orientierung erhalte.8 Es gerieten,                                                      abgesicherten und eingeübten Bewältigungs-
                       tradierte Deutungskulturen unter Druck. Sie                                                           strategien des Alltags. Andererseits entsteht ein
                       müssten modifiziert werden, oder sie würden, da                                                       womöglich spannungsgeladener, zeitlicher Über-
                       obsolet geworden, abgelöst. Hier bestehe einer-                                                       hang, bei dem in Frage steht, inwieweit soziokul-
                       seits gesellschaftlich das Potenzial für Konflikte,                                                   turell vermittelte Praxen schließlich den aktua-
                       seien sie doch ein Etablierungsmoment, in dem                                                         lisierten Deutungskulturangeboten folgen – und
                       sich unter anderem gegenhegemoniale Vorstel-                                                          wenn ja, wie. Eine politische Kulturforschung, die
                       lungen manifestieren oder weiter konturieren                                                          sich dergestalt an einen diskursiven Krisenbegriff
                                                                                                                             ankoppelt, kann diese Krisenrahmung mittels
                                                                                                                             ihres Vokabulars aus Sozio- und Deutungskultur
                                                                                                                             fassen. Beide Begriffe stehen für Rohe in einem
                       4       Vgl. ebd.                                                                                     Basis-Überbau-Zusammenhang: Soziokultur
                                                                                                                             fasst die weitgehend unhinterfragten, zu Selbst-
                       5       Walter, Franz: Ruhe im Sturm. Deutungsverlust und
                                                                                                                             verständlichkeiten geronnen Basisannahmen als
                               Demokratieschwund in der Krise, in: INDES. Zeitschrift
                               für Politik und Gesellschaft, H. 1/2013, S. 6–12, hier S. 6.

                       6       Vgl. ebd.
                                                                                                                             9      Vgl. Marg, Stine/Schenke, Julian/Finkbeiner, Flori-
                       7       Ebd., S. 6 f.                                                                                        an: Gegen einen formalistischen Demokratiebegriff.
                                                                                                                                    Zwischenstand der begriffshistorischen und -the-
                       8       Rohe, Karl: Politische Kultur: Zum Verständnis eines
                                                                                                                                    oretischen Reflexionen im Forschungsprozess, in:
                               theoretischen Konzepts, in: Niedermayer, Oskar/
                                                                                                                                    Demokratie-Dialog, H. 5/2019, S. 2–13, hier S. 10 f.
                               Beyme, Klaus von (Hrsg.): Politische Kultur in Ost-
                               und Westdeutschland, Berlin 1994, S. 1–21, hier S. 1.                                         10     Vgl. Makropoulos: Über den Begriff der „Krise“, S. 19 f.

Schmitz, Christopher (2021): Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten. Perspektiven eines Forschungsprogramms am Beispiel der „Stoppt die Corona-Panik – Wir zeigen Gesicht!“-Kampagne der AfD. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 67-73.

68
Christopher Schmitz  |  Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten

                Grundlage politischer Gemeinwesen, während                                                           weit genug, während elf Prozent diese Maßnah-
                Deutungskultur die darauf aufgesattelte Erklä-                                                       men als zu weitgehend erachteten.13
                rungs- und Deutungsarbeit anhand, aber auch
                mit dieser Soziokultur darstellt. Die Deutungskul-                                                   Zwar formulieren auch Initiativen wie NoCovid
                tur beherbergt Diskurse und Debatten und kann                                                        oder ZeroCovid Ansichten, die nicht hegemo-
                dabei auch die Soziokultur aktiv be- und hinter-                                                     nial sind; aus dem Fokus des Interesses fallen
                fragen.11                                                                                            sie an dieser Stelle jedoch heraus, weil sie die
                                                                                                                     grundlegende Ausgangsbedingung (COVID-19
                In diesem Prozess der Krisenrahmung, die in                                                          mit umfassenden Maßnahmen einzudämmen)
                verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen,                                                      im Grundsatz teilen. Von Interesse sind jene
                in denen jeweils andere Deutungskulturen do-                                                         Gegenentwürfe, die diese Ausgangsbedingung
                minieren, sicherlich unterschiedlich behandelt                                                       nicht oder nur in losen Grundzügen teilen. Hier
                wird, ist ein gewisses Verdichtungspotenzial zur                                                     bieten sich zwar grundsätzlich zahlreiche ver-
                Hervorbringung entsprechend divergierender                                                           schiedene Akteur*innen und Gruppierungen an,
                Deutungskulturen zu vermuten. Dabei ist es na-                                                       auch solche, die sich um Einzelpersonen herum
                heliegend, zunächst die offensichtlich ablehnen-                                                     sammeln, wie beispielsweise den Hannoveraner
                den Positionen und die jeweilige deutungskultu-                                                      Wirtschaftswissenschaftler Stefan Homburg14
                relle „Veräußerlichung“12 in den Blick zu nehmen                                                     oder verschiedene Protestbündnisse15, die auch
                und auf den oben skizzierten Zusammenhang                                                            in Niedersachsen aktiv sind.16 Weiterhin fällt auf,
                von Krisenkartierung und deutungskultureller
                Abstützung zu befragen.
                                                                                                                     13      Vgl. infratest dimap: NiedersachsenTREND Oktober
                                                                                                                             2020. Im Auftrag des NDR, in: infratest-dimap.de, ohne
                                                                                                                             Datum, URL: https://www.infratest-dimap.de/umfra-
                                                                                                                             gen-analysen/bundeslaender/niedersachsen/laen-
                „Schluss mit der Corona-Panik!“                                                                              dertrend/2020/oktober/ [eingesehen am 26.02.2021].

                                                                                                                     14      Vgl. Brinkmann, Bastian: Prof. Dr. Verschwö-
                Eine politische Kulturforschung mit dem Ziel,
                                                                                                                             rung, in: Süddeutsche.de, 14.05.2020, URL: https://
                nicht-hegemoniale Deutungsweisen zu rekonst-
                                                                                                                             www.sueddeutsche.de/wirtschaft/corona-ver-
                ruieren und nachzuverfolgen, wie sie die For-                                                                schwoerung-stefan-homburg-1.4906380?re-
                schungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse                                                                duced=true [eingesehen am 18.02.2021].
                politischer und religiöser Extremismen in Nieder-
                                                                                                                     15      Vgl. Nachtwey, Oliver/Schäfer, Robert/Frei, Na-
                sachsen (FoDEx) verfolgt, muss dann entspre-
                                                                                                                             dine: Politische Soziologie der Corona-Proteste.
                chende gegenhegemoniale Deutungskulturan-                                                                    Grundauswertung, Basel 2020, URL: https://osf.
                gebote in den Fokus zu rücken. So empfanden                                                                  io/preprints/socarxiv/zyp3f/ [eingesehen am
                laut NiedersachsenTREND im Oktober 2020 zwei                                                                 18.02.2021]; Virchow, Fabian/Häusler, Alexander:
                Drittel der Befragten die Corona-Maßnahmen                                                                   Pandemie-Leugnung und Extreme Rechte in Nord-
                der Landesregierung als angemessen, einem                                                                    rhein-Westfalen. Kurzgutachten 3, Bonn 2020.
                knappen Viertel der Befragten gingen sie nicht                                                       16      Zum Beispiel „Querdenken“, die sich in sozialen Medi-
                                                                                                                             en und online anhand der Telefonvorwahlen orga-
                                                                                                                             nisieren und in verschiedenen Städten zu Protesten
                                                                                                                             mobilisieren: Vgl. o. V.: 650 Menschen demonstrieren
                11     Vgl. Rohe, Karl: Politische Kultur und der kulturelle
                                                                                                                             bei der „Querdenken“-Demo auf dem Opernplatz, in:
                       Aspekt von politischer Wirklichkeit. Konzeptionel-
                                                                                                                             Göttinger Tageblatt, URL: https://www.goettinger-ta-
                       le und typologische Überlegungen zu Gegenstand
                                                                                                                             geblatt.de/Mehr/Bilder/Fotostrecken/650-Men-
                       und Fragestellung Politischer Kultur-Forschung,
                                                                                                                             schen-demonstrieren-bei-der-Querdenken-De-
                       in: Berg-Schlosser, Dirk (Hrsg.): Politische Kul-
                                                                                                                             mo-auf-dem-Opernplatz [eingesehen am 26.02.2021];
                       tur in Deutschland. Bilanz und Perspektiven der
                                                                                                                             die lokale Querdenken-Gruppe in Göttingen hat eine
                       Forschung, Opladen 1987, S. 39–48, hier S. 42.
                                                                                                                             Homepage unter der URL: https://www.querden-
                12     Rohe: Politische Kultur, S. 7.                                                                        ken-551.de/index.php [eingesehen am 26.02.2021].

Schmitz, Christopher (2021): Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten. Perspektiven eines Forschungsprogramms am Beispiel der „Stoppt die Corona-Panik – Wir zeigen Gesicht!“-Kampagne der AfD. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 67-73.

                                                                                                                                                                                                                                    69
Demokratie-Dialog 8-2021

                       dass die Sorge um langfristige negative Aus-                                                          gelten können und die Rekonstruktionsversuche
                       wirkungen auf die Freiheitsrechte bei denen,                                                          der zugrunde liegenden soziokulturellen Sche-
                       die als AfD-Anhänger*innen identifiziert wur-                                                         mata ermöglichen. Die multimodale Natur, also
                       den, vermehrt auftritt.17 Deshalb kommt auch                                                          die Kombination von beispielsweise Text- und
                       eine Analyse parteipolitischer Ausdrucksweisen                                                        Bildelementen, des Materials macht, vor allem
                       dieses Phänomens in Frage, da hier die Vermu-                                                         die Herausarbeitung visueller Klassifikations-
                       tung naheliegt, dass politische Eliten versuchen,                                                     schemata der Kampagnenarbeit notwendig, in
                       gesellschaftliche Veränderungsprozesse entspre-                                                       der sich diese Momente symbolischer Adressie-
                       chend symbolisch zu adressieren.18 Zu diesem                                                          rung verdichten und auffinden lassen. Hierbei ist
                       Zweck soll die Kampagne des niedersächsischen                                                         es wesentlich, die Affordanz der Website, also
                       Landesverbands der AfD gegen die Corona-Maß-                                                          das Zusammenspiel technologisch möglicher
                       nahmen auf Potenziale zur Hervorbringung                                                              und kulturell wahrscheinlicher Gebrauchsweisen
                       deutungskultureller Angebote untersucht wer-                                                          eines technischen Artefakts, zu berücksichtigen.22
                       den. Die Kampagne begann am 26. Oktober 2020
                       und dauerte bis zum 21. November 2020, ist also                                                       Das Vorhaben schließt einerseits an theoretische
                       bereits abgeschlossen. Dreh- und Angelpunkt                                                           Setzungen und konzeptionelle Überlegungen an,
                       der Kampagne ist eine eigene Webpräsenz19,                                                            die FoDEx in den letzten Monaten und Jahren
                       die die politische Kommunikation bündelt und                                                          angestellt hat, während der streng regionale
                       Kampagnenmaterial zentral abbildet, und, wie                                                          Fokus auf den niedersächsischen Landesverband
                       ein schneller Blick verrät (Abb. 1), ein komplexes                                                    der AfD als Vehikel von Artikulationsmaterial
                       Gefüge aus Bild-Text-Elementen darstellt.20                                                           zugleich den Anschluss an weitere Vorarbeiten
                                                                                                                             hinsichtlich von Regional- und ergänzenden
                       Hierzu ist eine Analyse der Kampagnenkom-                                                             Kurzstudien erlaubt und ermöglicht.23
                       munikation und perspektivisch der Anschluss-
                       kommunikation vorgesehen, die im Verlauf des                                                          Zugleich öffnet sich durch die Auswertung von
                       Jahres 2021 für FoDEx durchgeführt werden soll.                                                       (kommentiertem) Bildmaterial eine Weiterent-
                       Im Zentrum der Analyse soll die Interpretation                                                        wicklung des politikwissenschaftlichen Metho-
                       von Narrativen sowie Deutungsmustern stehen,                                                          denrepertoires, das vor allem auf die Analyse
                       die sich in der Kampagnenarbeit artikulieren und                                                      digitaler Kommunikate ausgerichtet ist und sie
                       – als „Ausdrucksseite“21 politischer Kultur be-                                                       als integrierte, nicht voneinander zu lösende
                       griffen – als Präsentationen von Deutungskultur

                                                                                                                             22     Vgl. Zillien, Nicole: Die (Wieder-)Entdeckung
                       17      Vgl. infratest-dimap: NiedersachsenTREND.
                                                                                                                                    der Medien – Das Affordanzkonzept in der Me-
                       18      Vgl. Schenke, Julian/Finkbeiner, Florian/                                                            diensoziologie, in: Sociologia Internationa-
                               Neumann, Amelie: Das Potenzial der Clea-                                                             lis, Jg. 46 (2008), H. 2, S. 161–181, hier S. 178.
                               vage-Perspektive. Wahlverhalten als Ober-
                                                                                                                             23 Vgl. Schenke, Julian/Trittel, Katharina/Neumann,
                               flächenphänomen der politischen Kultur, in: De-
                                                                                                                                Amelie: Die ungeschriebene Verfassung der Nie-
                               mokratie-Dialog, H. 6/2020, S. 2–11, hier S. 10.
                                                                                                                                dersachsen. 1. Qualitative Vertiefungsstudie des
                       19      Die URL lautet https://stoppt-die-coro-                                                          Niedersächischen Demokratie-Monitors (NDM),
                               na-panik.de/ [eingesehen am 18.2.2021].                                                          Göttingen 2020, URL: https://www.fodex-online.
                                                                                                                                de/publikationen/die-ungeschriebene-verfas-
                       20 Auslagerungen der Kampagnen-Kommuni-
                                                                                                                                sung-der-niedersachsen/ [eingesehen am 18.02.2021];
                          kation in soziale Netzwerke (Instagram/Face-
                                                                                                                                Finkbeiner, Florian/Schröder, Niklas: Die AfD und
                          book) und die Medien (bspw. ein Artikel in der
                                                                                                                                ihre Wähler in Niedersachsen. Eine Fallanalyse zum
                          HAZ) haben ebenfalls stattgefunden und wer-
                                                                                                                                Sozialprofil der Wählerschaft und ihrer politischen
                          den beizeiten eingehender thematisiert.
                                                                                                                                Einstellungen am Beispiel von Niedersachsen, Fo-
                       21      Rohe: Politische Kultur, S. 7.                                                                   DEx-Studie Rechtsradikalismus, Göttingen 2020.

Schmitz, Christopher (2021): Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten. Perspektiven eines Forschungsprogramms am Beispiel der „Stoppt die Corona-Panik – Wir zeigen Gesicht!“-Kampagne der AfD. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 67-73.

70
Christopher Schmitz  |  Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten

                Abb. 1.: Desktop-Darstellung „stoppt-die-corona-panik.de“, (Aus- und Zuschnitt, Christopher Schmitz, 18.02.2021),

                Daten begreift.24 So können die Konzepte von                                                         anschließenden Kommentaren.25 Weiterhin bietet
                inhaltlicher Anlagerung und Anschlusskommu-                                                          sich die Möglichkeit, die politische Kulturfor-
                nikation verfeinert werden – also der Zusam-                                                         schung als Forschungsparadigma entsprechend
                menhang von Posting, Beitrag und sich daran                                                          weiterzuentwickeln und erste Überlegungen
                                                                                                                     anzustellen, wie visuelle und digitale Materia-
                                                                                                                     lien auch im Sinne einer (visuellen) politischen
                                                                                                                     Kulturforschung strukturiert nutzbar gemacht
                24 Vgl. Schmitz, Christopher/Messinger-Zimmer, Sören:
                                                                                                                     werden können: Hier bieten sich zum Teil unge-
                   Rhetorische Autovervollständigung. Inhaltliche
                   Anlagerung als Kommunikationsphänomen in Pro-
                                                                                                                     nutzte und über weite Strecken auch übersehene
                   duktions- und Rezeptionsbeziehungen in sozialen
                   Netzwerken am Beispiel eines Facebook-Postings,
                   in: Demokratie-Dialog, H. 6/2020, S. 12–21, hier S. 14.                                           25 Vgl. ebd.

Schmitz, Christopher (2021): Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten. Perspektiven eines Forschungsprogramms am Beispiel der „Stoppt die Corona-Panik – Wir zeigen Gesicht!“-Kampagne der AfD. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 67-73.

                                                                                                                                                                                                                                      71
Demokratie-Dialog 8-2021

                       Potenziale, gerade im Hinblick auf die Würdigung                                                      realisieren.28 Petra Bernhardt und Karin Liebhardt
                       von bildlichem Material mit seinen Eigenheiten.                                                       stellen schließlich sogar fest, dass politische
                       Zum Abschluss soll es demzufolge darum gehen,                                                         Kommunikation ohne Bilder nicht vorstellbar
                       einige konzeptionelle Grundlagen zu skizzieren.                                                       sei und entwerfen dabei ein Bezugssystem der
                                                                                                                             (Wahlkampf-)Kommunikation, das eben nicht nur
                                                                                                                             auf kurzfristige Moden reagiert, sondern explizite
                                                                                                                             Bezugspunkte zur politischen Kulturforschung im
                       Kulturell-politische Ikonologie                                                                       Sinne Karl Rohes herstellt, indem sie sich auch an
                                                                                                                             tiefsitzenden Grundannahmen über das Politi-
                       Die Vakanz von visuellen Ausdrucksformen po-                                                          sche orientiert.29
                       litischer Kommunikation und ihrer entsprechen-
                       den Bedeutung für die politische Kultur ist als                                                       „In Bildern lässt sich schneller denken als in
                       Desiderat erkannt worden. So hebt beispielsweise                                                      Worten.“30 Anhand dieses Zitats aus einer
                       Paula Diehl hervor, dass die Dimension symbo-                                                         Schreibmaschinennotiz Reinhart Kosellecks aus
                       lischer Repräsentation in der zeitgenössischen                                                        dem Jahre 1963 illustriert Hubert Locher die
                       politischen Kulturforschung weitgehend brach-                                                         Wirkmächtigkeit visueller Kommunikation. Sie sei
                       liege und kaum angemessen Berücksichtigung                                                            demnach eingängiger und überhole die Spra-
                       finde.26                                                                                              che. In seinem Typoskript sei es Koselleck darum
                                                                                                                             gegangen, die Besonderheit der modernen
                       Allerdings ist die Feststellung dieser Lücke inso-                                                    visuellen Kommunikation zu bestimmen: „Die
                       fern irritierend, als dass im Sinne Karl Rohes fest-                                                  Analyse von Bildern kann generell, besonders
                       zuhalten ist, dass Bilder im Grunde niemals nicht                                                     aber im Zeitalter der von der Sprache sich lösen-
                       Trägermedien politischer Kulturen waren, es also                                                      den Bilder, Informationen und Einsichten ver-
                       eher um die Rekultivierung bereits bestehender                                                        mitteln, die anderswo nicht zu gewinnen sind.“31
                       Theorieflächen geht: Kulturelle Regeln und Prin-                                                      Mehr noch: Es ist möglich, Bilder auf vorreflexive
                       zipien benötigten, so Karl Rohe, eine „Veräußer-                                                      Gehalte zu untersuchen, die in sie einfließen
                       lichung“, damit sie schließlich verinnerlicht wer-                                                    und damit Wissensbestände noch einmal auf
                       den könnten. „Anders formuliert heißt das, daß                                                        eine andere Art aufschließen, als dies über die
                       sie auf zeichenhafte Verdeutlichung angewiesen                                                        Analyse anderer Materialtypen möglich wäre.
                       sind und immer wieder durch Wort, Schrift, Bild                                                       Bilder vermitteln ihre Gehalte subtiler, aber nicht
                       und Tat in Erinnerung gerufen werden müssen.“27                                                       weniger wirksam als Texte, und: Sie wirken in ih-
                       In Rohes Konzeption politischer Kultur ist dies                                                       rer kompositorischen Gesamtheit, während Texte
                       auch nur folgerichtig, sieht das Konzept doch vor,                                                    zumeist linear rezipiert werden.32 Den Begriff,
                       dass mentale und habituelle Prinzipien soweit
                       einsickern, dass sie Handeln und Äußerungen
                       präformieren und präfigurieren und sich dann
                                                                                                                             28 Vgl. ebd., S. 6.
                       schließlich auch in visuellen Repräsentationen
                                                                                                                             29 Vgl. Petra Bernhardt/Karin Liebhart: Wie Bilder
                                                                                                                                Wahlkampf machen, Wien/Berlin 2020, S. 9 ff.

                                                                                                                             30 Koselleck, Reinhart: In Bildern lässt sich schnel-
                       26 Vgl. Diehl, Paula: Interdisziplinarität, Politische
                                                                                                                                ler denken als in Worten – Zur pol. Ikonologie
                          Repräsentation und das Imaginäre. Plädoyer für
                                                                                                                                [1963], zitiert nach Locher, Hubert: Denken in
                          eine neue Perspektive der politischen Kultur-
                                                                                                                                Bildern. Reinhart Kosellecks Programm Zur Po-
                          forschung, in: Bergem, Wolfgang/Diehl, Paula/
                                                                                                                                litischen Ikonologie, in: Zeitschrift für Ideenge-
                          Lietzmann, Hans J. (Hrsg.): Politische Kulturfor-
                                                                                                                                schichte, H. 4/2009, S. 81–96, hier S. 82 f.
                          schung reloaded. Neue Theorien, Methoden, Er-
                          gebnisse, Bielefeld 2019, S. 39–57, hier S. 45.                                                    31     Ebd., S. 85.

                       27      Rohe, Karl: Politische Kultur, S. 7 [Her-                                                     32 Vgl. Schmitz/Messinger-Zimmer: Rhetori-
                               vorhebung durch den Autor].                                                                      sche Autovervollständigung, S. 15 ff.

Schmitz, Christopher (2021): Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten. Perspektiven eines Forschungsprogramms am Beispiel der „Stoppt die Corona-Panik – Wir zeigen Gesicht!“-Kampagne der AfD. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 67-73.

72
Christopher Schmitz  |  Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten

                den Koselleck seinerzeit vorgeschlagen hat, war
                jener der politischen Ikonologie. Als solche gelte
                dann die Annäherung an und die Analyse von
                „von ideellen Gehalten in Bildern in Abhängigkeit
                von den veränderten Lebensbedingungen und
                Erfahrungsräumen“33.

                Da es aber die gerade die Erfahrungsräume und
                Lebensbedingungen sind, die auf einem sozi-
                okulturellen Fundament ruhen und von einem
                Baldachin deutungskultureller Angebote be-
                schattet werden, drängt sich die Berücksichti-
                gung visueller Materialien mit einer sich stetig
                aktualisierenden Dringlichkeit auf. Damit hat sich
                der Kreis zur politischen Kulturforschung zwar
                noch nicht geschlossen, aber die Konturen sind
                skizziert. Diesen Bogen gilt es nicht nur zwischen
                Deutungs- und Soziokultur zu spannen. Nötig ist
                auch ein Brückenschlag zwischen den verschie-
                denen Darstellungsformen, um Phänomene der
                politischen Kultur überhaupt in einem umfassen-
                den Sinne zugänglich zu machen. Denn diese ist
                auf ihrer Ausdrucksseite stets multimodal und
                Deutungskulturen sind stets visuell und textuell
                miteinander verwoben.

                                                                                                                                                                         Christopher Schmitz, M. A.,
                                                                                                                                                                            ist Politikwissenschaftler
                                                                                                                                                                        und wissenschaftlicher Mit-
                                                                                                                                                                        arbeiter am Institut für De-
                                                                                                                                                                           mokratieforschung. Seine
                                                                                                                                                                           Forschungsschwerpunkte
                                                                                                                                                                            sind historische und kul-
                                                                                                                                                                          turelle Grundlagen des In-
                                                                                                                                                                         ternets sowie Protest- und
                                                                                                                                                                         politische Kulturforschung.
                33 Locher: Denken in Bildern, S. 94.

Schmitz, Christopher (2021): Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten. Perspektiven eines Forschungsprogramms am Beispiel der „Stoppt die Corona-Panik – Wir zeigen Gesicht!“-Kampagne der AfD. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 67-73.

                                                                                                                                                                                                                                     73
Sie können auch lesen