Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten - Demokratie ...
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Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten Perspektiven eines Forschungsprogramms am Beispiel der „Stoppt die Corona-Panik – Wir zeigen Gesicht!“-Kampagne der AfD Christopher Schmitz I m Verlauf des ersten Jahres der Coro- blitzartig neu herausgebildeten Deutungskul- na-Pandemie wurde dieser Krise die turen, die vormals gewohnte Routinen mitunter Eigenschaft zugeschrieben, als eine Art tiefgreifend verändert haben – hier vor allem die Brennglas gesellschaftliche Dysfunkti- Maßnahmen zur Eindämmung und Bewältigung onalitäten schonungslos aufzudecken.1 der Pandemie – und den eingeübten soziokultu- Auch wenn diese Metapher mittlerweile rell verankerten Routinen, eröffnen sich frische weitgehend ausgebrannt ist,2 lohnt es Perspektiven auf aktuellste politische Entwick- sich, beim Phänomen zu verweilen, da lungen. Krisensituationen ein forschungspragmatisch besonders fruchtbares Gelegenheitsfenster für die politische Kulturforschung darstellen. Begreift man als Krise vor allem eine Divergenz zwischen Krisen und normative Landkarten Nun ist dieser Gedanke, wenn auch oberflächlich 1 Vgl. Ludwig, Gundula/Voss, Martin/Miller, Simone: einsichtig, erläuterungsbedürftig. Eine Krisen- Brennglas für gesellschaftliche Missstände. Theorie situation ist zunächst, so der Soziologe Michael in Coronazeiten – Gundula Ludwig und Martin Voss Makropoulos, vor allem eine „unvollständig de- im Gespräch mit Simone Miller, in: Deutschlandfunk terminierte Situation […], eine Situation der irre- Kultur, 05.07.2020, URL: https://www.deutschland- funkkultur.de/theorie-in-coronazeiten-brenn- duziblen Kontingenz.“3 Diese Kontingenz bestehe glas-fuer-gesellschaftliche.2162.de.html?dram:ar- aus der Möglichkeit zur Abänderung: Sowohl die ticle_id=479895 [eingesehen am 18.02.2021]. 2 Plück, Maximilian: Die Renaissance der Lupe. Kolumne „Hier in NRW“, in: RP-Online, 07.07.2020, URL: https:// 3 Makropoulos, Michael: Über den Begriff der rp-online.de/panorama/coronavirus/hier-in-nrw- „Krise“. Eine historisch-semantische Skiz- welche-bedeutung-das-brennglas-in-der-corona- ze, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Ge- krise-hat_aid-52075171 [eingesehen am 18.02.2021]. sellschaft, H. 1/2013, S. 13–20, hier S. 16. Schmitz, Christopher (2021): Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten. Perspektiven eines Forschungsprogramms am Beispiel der „Stoppt die Corona-Panik – Wir zeigen Gesicht!“-Kampagne der AfD. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 67-73. 67
Demokratie-Dialog 8-2021 Gegenwart als auch die unbestimmte Zukunft – könnten.9 Andererseits bietet sich in diesen Kri- beides könnte jeweils anders aussehen als das, senmomenten das Gelegenheitsfenster, diesen was jeweils ist oder jeweils sein könnte.4 gestressten Deutungskulturen auf den Zahn zu fühlen, die ,ihrer Selbstgewissheit und Selbstver- Laut dem Göttinger Politikwissenschaftler Franz ständlichkeit beraubt, sichtbar werden. Eine Krise Walter bergen Krisen einen Moment der Ernüch- im Allgemeinen und die Corona-Krise im Spezi- terung in dem Sinne, dass „lang aufgebaute ellen bietet also Sichtluken in die politisch-kul- Erwartungen an die Zukunft enttäuscht“5 werden. turellen Orientierungsentwürfe. Denn, eine Krise Zugleich geraten aber nicht nur die Erwartungen sei, wie Makropoulos betont, immer auch das an die Zukunft unter Druck, sondern eben auch Produkt diskursiver Setzungen: Es schwinge auch die Bewältigungsmuster in der Gegenwart. Was immer die Frage mit, wie eine Krise ausgedeutet etabliert, funktional, gewöhnlich und normal und aus welchen Gründen, mit welchen Motivla- gewesen sei, sei es nicht länger, was mitunter zu gen eine Krisensituation erklärt und mit welchen Verunsicherung führe.6 In zeitlich kurzer Abfol- Mitteln und Maßnahmen diese Krisensituation ge würden Gewissheiten in Frage gestellt. Damit überwunden und beendet werden solle.10 würden sie aber auch wieder verhandelbar und zugänglich. Franz Walter spricht von sich öffnen- Wenn Gewissheiten erodieren, steigt der Bedarf den „Möglichkeitspforten für neue Deutungs- nach Kompensation deutungskultureller Natur. muster, Ideen und Handlungsmotivationen“, die Der Schleier auf der normativen Landkarte muss die Gelegenheit für gesellschaftliche Innovatio- gelichtet ,neue Routinen müssen erarbeitet und nen böten. Umgekehrt seien auch Regressionen angeboten werden, wobei diese Deutungsange- und „gesellschaftliche Paranoia“ denkbar.7 bote soziokulturell fundierten Projektionen und Zuschreibungen folgen. Einerseits bildet sich eine In Krisen lege sich ein Schleier der Unsicherheit Kluft zwischen den unter Aktualisierungszwang und Bedeutungsoffenheit über die „kognitiv-nor- stehenden deutungskulturellen Mustern und den mative ‚Landkarte‘“, durch die die politische Welt zunächst verhältnismäßig starren, soziokulturell Struktur und Orientierung erhalte.8 Es gerieten, abgesicherten und eingeübten Bewältigungs- tradierte Deutungskulturen unter Druck. Sie strategien des Alltags. Andererseits entsteht ein müssten modifiziert werden, oder sie würden, da womöglich spannungsgeladener, zeitlicher Über- obsolet geworden, abgelöst. Hier bestehe einer- hang, bei dem in Frage steht, inwieweit soziokul- seits gesellschaftlich das Potenzial für Konflikte, turell vermittelte Praxen schließlich den aktua- seien sie doch ein Etablierungsmoment, in dem lisierten Deutungskulturangeboten folgen – und sich unter anderem gegenhegemoniale Vorstel- wenn ja, wie. Eine politische Kulturforschung, die lungen manifestieren oder weiter konturieren sich dergestalt an einen diskursiven Krisenbegriff ankoppelt, kann diese Krisenrahmung mittels ihres Vokabulars aus Sozio- und Deutungskultur fassen. Beide Begriffe stehen für Rohe in einem 4 Vgl. ebd. Basis-Überbau-Zusammenhang: Soziokultur fasst die weitgehend unhinterfragten, zu Selbst- 5 Walter, Franz: Ruhe im Sturm. Deutungsverlust und verständlichkeiten geronnen Basisannahmen als Demokratieschwund in der Krise, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, H. 1/2013, S. 6–12, hier S. 6. 6 Vgl. ebd. 9 Vgl. Marg, Stine/Schenke, Julian/Finkbeiner, Flori- 7 Ebd., S. 6 f. an: Gegen einen formalistischen Demokratiebegriff. Zwischenstand der begriffshistorischen und -the- 8 Rohe, Karl: Politische Kultur: Zum Verständnis eines oretischen Reflexionen im Forschungsprozess, in: theoretischen Konzepts, in: Niedermayer, Oskar/ Demokratie-Dialog, H. 5/2019, S. 2–13, hier S. 10 f. Beyme, Klaus von (Hrsg.): Politische Kultur in Ost- und Westdeutschland, Berlin 1994, S. 1–21, hier S. 1. 10 Vgl. Makropoulos: Über den Begriff der „Krise“, S. 19 f. Schmitz, Christopher (2021): Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten. Perspektiven eines Forschungsprogramms am Beispiel der „Stoppt die Corona-Panik – Wir zeigen Gesicht!“-Kampagne der AfD. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 67-73. 68
Christopher Schmitz | Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten Grundlage politischer Gemeinwesen, während weit genug, während elf Prozent diese Maßnah- Deutungskultur die darauf aufgesattelte Erklä- men als zu weitgehend erachteten.13 rungs- und Deutungsarbeit anhand, aber auch mit dieser Soziokultur darstellt. Die Deutungskul- Zwar formulieren auch Initiativen wie NoCovid tur beherbergt Diskurse und Debatten und kann oder ZeroCovid Ansichten, die nicht hegemo- dabei auch die Soziokultur aktiv be- und hinter- nial sind; aus dem Fokus des Interesses fallen fragen.11 sie an dieser Stelle jedoch heraus, weil sie die grundlegende Ausgangsbedingung (COVID-19 In diesem Prozess der Krisenrahmung, die in mit umfassenden Maßnahmen einzudämmen) verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen, im Grundsatz teilen. Von Interesse sind jene in denen jeweils andere Deutungskulturen do- Gegenentwürfe, die diese Ausgangsbedingung minieren, sicherlich unterschiedlich behandelt nicht oder nur in losen Grundzügen teilen. Hier wird, ist ein gewisses Verdichtungspotenzial zur bieten sich zwar grundsätzlich zahlreiche ver- Hervorbringung entsprechend divergierender schiedene Akteur*innen und Gruppierungen an, Deutungskulturen zu vermuten. Dabei ist es na- auch solche, die sich um Einzelpersonen herum heliegend, zunächst die offensichtlich ablehnen- sammeln, wie beispielsweise den Hannoveraner den Positionen und die jeweilige deutungskultu- Wirtschaftswissenschaftler Stefan Homburg14 relle „Veräußerlichung“12 in den Blick zu nehmen oder verschiedene Protestbündnisse15, die auch und auf den oben skizzierten Zusammenhang in Niedersachsen aktiv sind.16 Weiterhin fällt auf, von Krisenkartierung und deutungskultureller Abstützung zu befragen. 13 Vgl. infratest dimap: NiedersachsenTREND Oktober 2020. Im Auftrag des NDR, in: infratest-dimap.de, ohne Datum, URL: https://www.infratest-dimap.de/umfra- gen-analysen/bundeslaender/niedersachsen/laen- „Schluss mit der Corona-Panik!“ dertrend/2020/oktober/ [eingesehen am 26.02.2021]. 14 Vgl. Brinkmann, Bastian: Prof. Dr. Verschwö- Eine politische Kulturforschung mit dem Ziel, rung, in: Süddeutsche.de, 14.05.2020, URL: https:// nicht-hegemoniale Deutungsweisen zu rekonst- www.sueddeutsche.de/wirtschaft/corona-ver- ruieren und nachzuverfolgen, wie sie die For- schwoerung-stefan-homburg-1.4906380?re- schungs- und Dokumentationsstelle zur Analyse duced=true [eingesehen am 18.02.2021]. politischer und religiöser Extremismen in Nieder- 15 Vgl. Nachtwey, Oliver/Schäfer, Robert/Frei, Na- sachsen (FoDEx) verfolgt, muss dann entspre- dine: Politische Soziologie der Corona-Proteste. chende gegenhegemoniale Deutungskulturan- Grundauswertung, Basel 2020, URL: https://osf. gebote in den Fokus zu rücken. So empfanden io/preprints/socarxiv/zyp3f/ [eingesehen am laut NiedersachsenTREND im Oktober 2020 zwei 18.02.2021]; Virchow, Fabian/Häusler, Alexander: Drittel der Befragten die Corona-Maßnahmen Pandemie-Leugnung und Extreme Rechte in Nord- der Landesregierung als angemessen, einem rhein-Westfalen. Kurzgutachten 3, Bonn 2020. knappen Viertel der Befragten gingen sie nicht 16 Zum Beispiel „Querdenken“, die sich in sozialen Medi- en und online anhand der Telefonvorwahlen orga- nisieren und in verschiedenen Städten zu Protesten mobilisieren: Vgl. o. V.: 650 Menschen demonstrieren 11 Vgl. Rohe, Karl: Politische Kultur und der kulturelle bei der „Querdenken“-Demo auf dem Opernplatz, in: Aspekt von politischer Wirklichkeit. Konzeptionel- Göttinger Tageblatt, URL: https://www.goettinger-ta- le und typologische Überlegungen zu Gegenstand geblatt.de/Mehr/Bilder/Fotostrecken/650-Men- und Fragestellung Politischer Kultur-Forschung, schen-demonstrieren-bei-der-Querdenken-De- in: Berg-Schlosser, Dirk (Hrsg.): Politische Kul- mo-auf-dem-Opernplatz [eingesehen am 26.02.2021]; tur in Deutschland. Bilanz und Perspektiven der die lokale Querdenken-Gruppe in Göttingen hat eine Forschung, Opladen 1987, S. 39–48, hier S. 42. Homepage unter der URL: https://www.querden- 12 Rohe: Politische Kultur, S. 7. ken-551.de/index.php [eingesehen am 26.02.2021]. Schmitz, Christopher (2021): Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten. Perspektiven eines Forschungsprogramms am Beispiel der „Stoppt die Corona-Panik – Wir zeigen Gesicht!“-Kampagne der AfD. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 67-73. 69
Demokratie-Dialog 8-2021 dass die Sorge um langfristige negative Aus- gelten können und die Rekonstruktionsversuche wirkungen auf die Freiheitsrechte bei denen, der zugrunde liegenden soziokulturellen Sche- die als AfD-Anhänger*innen identifiziert wur- mata ermöglichen. Die multimodale Natur, also den, vermehrt auftritt.17 Deshalb kommt auch die Kombination von beispielsweise Text- und eine Analyse parteipolitischer Ausdrucksweisen Bildelementen, des Materials macht, vor allem dieses Phänomens in Frage, da hier die Vermu- die Herausarbeitung visueller Klassifikations- tung naheliegt, dass politische Eliten versuchen, schemata der Kampagnenarbeit notwendig, in gesellschaftliche Veränderungsprozesse entspre- der sich diese Momente symbolischer Adressie- chend symbolisch zu adressieren.18 Zu diesem rung verdichten und auffinden lassen. Hierbei ist Zweck soll die Kampagne des niedersächsischen es wesentlich, die Affordanz der Website, also Landesverbands der AfD gegen die Corona-Maß- das Zusammenspiel technologisch möglicher nahmen auf Potenziale zur Hervorbringung und kulturell wahrscheinlicher Gebrauchsweisen deutungskultureller Angebote untersucht wer- eines technischen Artefakts, zu berücksichtigen.22 den. Die Kampagne begann am 26. Oktober 2020 und dauerte bis zum 21. November 2020, ist also Das Vorhaben schließt einerseits an theoretische bereits abgeschlossen. Dreh- und Angelpunkt Setzungen und konzeptionelle Überlegungen an, der Kampagne ist eine eigene Webpräsenz19, die FoDEx in den letzten Monaten und Jahren die die politische Kommunikation bündelt und angestellt hat, während der streng regionale Kampagnenmaterial zentral abbildet, und, wie Fokus auf den niedersächsischen Landesverband ein schneller Blick verrät (Abb. 1), ein komplexes der AfD als Vehikel von Artikulationsmaterial Gefüge aus Bild-Text-Elementen darstellt.20 zugleich den Anschluss an weitere Vorarbeiten hinsichtlich von Regional- und ergänzenden Hierzu ist eine Analyse der Kampagnenkom- Kurzstudien erlaubt und ermöglicht.23 munikation und perspektivisch der Anschluss- kommunikation vorgesehen, die im Verlauf des Zugleich öffnet sich durch die Auswertung von Jahres 2021 für FoDEx durchgeführt werden soll. (kommentiertem) Bildmaterial eine Weiterent- Im Zentrum der Analyse soll die Interpretation wicklung des politikwissenschaftlichen Metho- von Narrativen sowie Deutungsmustern stehen, denrepertoires, das vor allem auf die Analyse die sich in der Kampagnenarbeit artikulieren und digitaler Kommunikate ausgerichtet ist und sie – als „Ausdrucksseite“21 politischer Kultur be- als integrierte, nicht voneinander zu lösende griffen – als Präsentationen von Deutungskultur 22 Vgl. Zillien, Nicole: Die (Wieder-)Entdeckung 17 Vgl. infratest-dimap: NiedersachsenTREND. der Medien – Das Affordanzkonzept in der Me- 18 Vgl. Schenke, Julian/Finkbeiner, Florian/ diensoziologie, in: Sociologia Internationa- Neumann, Amelie: Das Potenzial der Clea- lis, Jg. 46 (2008), H. 2, S. 161–181, hier S. 178. vage-Perspektive. Wahlverhalten als Ober- 23 Vgl. Schenke, Julian/Trittel, Katharina/Neumann, flächenphänomen der politischen Kultur, in: De- Amelie: Die ungeschriebene Verfassung der Nie- mokratie-Dialog, H. 6/2020, S. 2–11, hier S. 10. dersachsen. 1. Qualitative Vertiefungsstudie des 19 Die URL lautet https://stoppt-die-coro- Niedersächischen Demokratie-Monitors (NDM), na-panik.de/ [eingesehen am 18.2.2021]. Göttingen 2020, URL: https://www.fodex-online. de/publikationen/die-ungeschriebene-verfas- 20 Auslagerungen der Kampagnen-Kommuni- sung-der-niedersachsen/ [eingesehen am 18.02.2021]; kation in soziale Netzwerke (Instagram/Face- Finkbeiner, Florian/Schröder, Niklas: Die AfD und book) und die Medien (bspw. ein Artikel in der ihre Wähler in Niedersachsen. Eine Fallanalyse zum HAZ) haben ebenfalls stattgefunden und wer- Sozialprofil der Wählerschaft und ihrer politischen den beizeiten eingehender thematisiert. Einstellungen am Beispiel von Niedersachsen, Fo- 21 Rohe: Politische Kultur, S. 7. DEx-Studie Rechtsradikalismus, Göttingen 2020. Schmitz, Christopher (2021): Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten. Perspektiven eines Forschungsprogramms am Beispiel der „Stoppt die Corona-Panik – Wir zeigen Gesicht!“-Kampagne der AfD. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 67-73. 70
Christopher Schmitz | Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten Abb. 1.: Desktop-Darstellung „stoppt-die-corona-panik.de“, (Aus- und Zuschnitt, Christopher Schmitz, 18.02.2021), Daten begreift.24 So können die Konzepte von anschließenden Kommentaren.25 Weiterhin bietet inhaltlicher Anlagerung und Anschlusskommu- sich die Möglichkeit, die politische Kulturfor- nikation verfeinert werden – also der Zusam- schung als Forschungsparadigma entsprechend menhang von Posting, Beitrag und sich daran weiterzuentwickeln und erste Überlegungen anzustellen, wie visuelle und digitale Materia- lien auch im Sinne einer (visuellen) politischen Kulturforschung strukturiert nutzbar gemacht 24 Vgl. Schmitz, Christopher/Messinger-Zimmer, Sören: werden können: Hier bieten sich zum Teil unge- Rhetorische Autovervollständigung. Inhaltliche Anlagerung als Kommunikationsphänomen in Pro- nutzte und über weite Strecken auch übersehene duktions- und Rezeptionsbeziehungen in sozialen Netzwerken am Beispiel eines Facebook-Postings, in: Demokratie-Dialog, H. 6/2020, S. 12–21, hier S. 14. 25 Vgl. ebd. Schmitz, Christopher (2021): Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten. Perspektiven eines Forschungsprogramms am Beispiel der „Stoppt die Corona-Panik – Wir zeigen Gesicht!“-Kampagne der AfD. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 67-73. 71
Demokratie-Dialog 8-2021 Potenziale, gerade im Hinblick auf die Würdigung realisieren.28 Petra Bernhardt und Karin Liebhardt von bildlichem Material mit seinen Eigenheiten. stellen schließlich sogar fest, dass politische Zum Abschluss soll es demzufolge darum gehen, Kommunikation ohne Bilder nicht vorstellbar einige konzeptionelle Grundlagen zu skizzieren. sei und entwerfen dabei ein Bezugssystem der (Wahlkampf-)Kommunikation, das eben nicht nur auf kurzfristige Moden reagiert, sondern explizite Bezugspunkte zur politischen Kulturforschung im Kulturell-politische Ikonologie Sinne Karl Rohes herstellt, indem sie sich auch an tiefsitzenden Grundannahmen über das Politi- Die Vakanz von visuellen Ausdrucksformen po- sche orientiert.29 litischer Kommunikation und ihrer entsprechen- den Bedeutung für die politische Kultur ist als „In Bildern lässt sich schneller denken als in Desiderat erkannt worden. So hebt beispielsweise Worten.“30 Anhand dieses Zitats aus einer Paula Diehl hervor, dass die Dimension symbo- Schreibmaschinennotiz Reinhart Kosellecks aus lischer Repräsentation in der zeitgenössischen dem Jahre 1963 illustriert Hubert Locher die politischen Kulturforschung weitgehend brach- Wirkmächtigkeit visueller Kommunikation. Sie sei liege und kaum angemessen Berücksichtigung demnach eingängiger und überhole die Spra- finde.26 che. In seinem Typoskript sei es Koselleck darum gegangen, die Besonderheit der modernen Allerdings ist die Feststellung dieser Lücke inso- visuellen Kommunikation zu bestimmen: „Die fern irritierend, als dass im Sinne Karl Rohes fest- Analyse von Bildern kann generell, besonders zuhalten ist, dass Bilder im Grunde niemals nicht aber im Zeitalter der von der Sprache sich lösen- Trägermedien politischer Kulturen waren, es also den Bilder, Informationen und Einsichten ver- eher um die Rekultivierung bereits bestehender mitteln, die anderswo nicht zu gewinnen sind.“31 Theorieflächen geht: Kulturelle Regeln und Prin- Mehr noch: Es ist möglich, Bilder auf vorreflexive zipien benötigten, so Karl Rohe, eine „Veräußer- Gehalte zu untersuchen, die in sie einfließen lichung“, damit sie schließlich verinnerlicht wer- und damit Wissensbestände noch einmal auf den könnten. „Anders formuliert heißt das, daß eine andere Art aufschließen, als dies über die sie auf zeichenhafte Verdeutlichung angewiesen Analyse anderer Materialtypen möglich wäre. sind und immer wieder durch Wort, Schrift, Bild Bilder vermitteln ihre Gehalte subtiler, aber nicht und Tat in Erinnerung gerufen werden müssen.“27 weniger wirksam als Texte, und: Sie wirken in ih- In Rohes Konzeption politischer Kultur ist dies rer kompositorischen Gesamtheit, während Texte auch nur folgerichtig, sieht das Konzept doch vor, zumeist linear rezipiert werden.32 Den Begriff, dass mentale und habituelle Prinzipien soweit einsickern, dass sie Handeln und Äußerungen präformieren und präfigurieren und sich dann 28 Vgl. ebd., S. 6. schließlich auch in visuellen Repräsentationen 29 Vgl. Petra Bernhardt/Karin Liebhart: Wie Bilder Wahlkampf machen, Wien/Berlin 2020, S. 9 ff. 30 Koselleck, Reinhart: In Bildern lässt sich schnel- 26 Vgl. Diehl, Paula: Interdisziplinarität, Politische ler denken als in Worten – Zur pol. Ikonologie Repräsentation und das Imaginäre. Plädoyer für [1963], zitiert nach Locher, Hubert: Denken in eine neue Perspektive der politischen Kultur- Bildern. Reinhart Kosellecks Programm Zur Po- forschung, in: Bergem, Wolfgang/Diehl, Paula/ litischen Ikonologie, in: Zeitschrift für Ideenge- Lietzmann, Hans J. (Hrsg.): Politische Kulturfor- schichte, H. 4/2009, S. 81–96, hier S. 82 f. schung reloaded. Neue Theorien, Methoden, Er- gebnisse, Bielefeld 2019, S. 39–57, hier S. 45. 31 Ebd., S. 85. 27 Rohe, Karl: Politische Kultur, S. 7 [Her- 32 Vgl. Schmitz/Messinger-Zimmer: Rhetori- vorhebung durch den Autor]. sche Autovervollständigung, S. 15 ff. Schmitz, Christopher (2021): Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten. Perspektiven eines Forschungsprogramms am Beispiel der „Stoppt die Corona-Panik – Wir zeigen Gesicht!“-Kampagne der AfD. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 67-73. 72
Christopher Schmitz | Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten den Koselleck seinerzeit vorgeschlagen hat, war jener der politischen Ikonologie. Als solche gelte dann die Annäherung an und die Analyse von „von ideellen Gehalten in Bildern in Abhängigkeit von den veränderten Lebensbedingungen und Erfahrungsräumen“33. Da es aber die gerade die Erfahrungsräume und Lebensbedingungen sind, die auf einem sozi- okulturellen Fundament ruhen und von einem Baldachin deutungskultureller Angebote be- schattet werden, drängt sich die Berücksichti- gung visueller Materialien mit einer sich stetig aktualisierenden Dringlichkeit auf. Damit hat sich der Kreis zur politischen Kulturforschung zwar noch nicht geschlossen, aber die Konturen sind skizziert. Diesen Bogen gilt es nicht nur zwischen Deutungs- und Soziokultur zu spannen. Nötig ist auch ein Brückenschlag zwischen den verschie- denen Darstellungsformen, um Phänomene der politischen Kultur überhaupt in einem umfassen- den Sinne zugänglich zu machen. Denn diese ist auf ihrer Ausdrucksseite stets multimodal und Deutungskulturen sind stets visuell und textuell miteinander verwoben. Christopher Schmitz, M. A., ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mit- arbeiter am Institut für De- mokratieforschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind historische und kul- turelle Grundlagen des In- ternets sowie Protest- und politische Kulturforschung. 33 Locher: Denken in Bildern, S. 94. Schmitz, Christopher (2021): Deutungskulturen zwischen Bildern und Texten. Perspektiven eines Forschungsprogramms am Beispiel der „Stoppt die Corona-Panik – Wir zeigen Gesicht!“-Kampagne der AfD. In: Demokratie Dialog 8 (2021), S. 67-73. 73
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