Die Einschränkungen der Grundfreiheiten aufgrund der Corona-Pandemie - Universität Innsbruck
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Die Einschränkungen der Grundfreiheiten aufgrund der Corona-Pandemie DIPLOMARBEIT Zur Erlangung des akademischen Grades eines Mag.iur.rer.oec. an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Eingereicht bei Univ.-Prof. Dr. Walter Obwexer von Alexander Leidinger Bludenz, im September 2021
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG Ich erkläre hiermit an Eides statt durch meine eigenhändige Unterschrift, dass ich die vorliegende Arbeit selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel verwendet habe. Alle Stellen, die wörtlich oder inhaltlich den angegebenen Quellen entnommen wurden, sind als solche kenntlich gemacht. Die vorliegende Arbeit wurde bisher noch nicht in gleicher oder ähnlicher Form als Magister-/Master-/Diplomarbeit/Dissertation eingereicht. Bludenz, September 2021 _______________________ Alexander Leidinger II
INHALTSVERZEICHNIS EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG ............................................................................. II INHALTSVERZEICHNIS............................................................................................. III ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ................................................................................... V VORWORT ............................................................................................................... VII 1 EINFÜHRUNG ....................................................................................................... 2 2 ZIEL UND AUFBAU DER ARBEIT ......................................................................... 3 3 ÜBERBLICK ÜBER DIE ENTSTEHUNG UND AUSBREITUNG DER CORONA- PANDEMIE UND DIE AKTUELLE LAGE IN DER EU............................................ 4 4 DIE 4 GRUNDFREIHEITEN ................................................................................... 5 4.1 Einheitlichkeit der Grundfreiheiten in der EU – die Grundregeln ..................... 6 4.1.1 Bedeutung der Grundfreiheiten ................................................................. 6 4.1.2 Anwendungsbereich.................................................................................. 7 4.1.3 Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot............................................ 8 4.1.4 Drittwirkung und unmittelbare Anwendbarkeit......................................... 12 4.1.4.1 Arbeitnehmerfreizügigkeit und ihre unmittelbare Drittwirkung .......... 12 4.1.4.2 Warenverkehrsfreiheit und ihre unmittelbare Drittwirkung................ 14 4.1.4.3 Niederlassungsfreiheit und ihre unmittelbare Drittwirkung ............... 15 4.1.4.4 Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit und deren unmittelbare Drittwirkung....................................................................................... 16 4.1.5 Grenzüberschreitender Sachverhalt ....................................................... 16 4.1.6 Rechtfertigungsgründe ............................................................................ 18 4.1.6.1 Ausdrückliche Rechtfertigungsgründe .............................................. 18 4.1.6.2 Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe .......................................... 19 4.1.6.3 Unionsgrundrechte als Rechtfertigungsgründe ................................ 21 4.1.7 Verhältnismäßigkeitsprinzip .................................................................... 22 4.2 Die 4 Grundfreiheiten im Einzelnen ............................................................... 23 4.2.1 Warenverkehrsfreiheit ............................................................................. 23 4.2.2 Personenverkehrsfreiheit ........................................................................ 24 4.2.2.1 Arbeitnehmerfreizügigkeit ................................................................. 24 III
4.2.2.2 Niederlassungsfreiheit ...................................................................... 25 4.2.3 Dienstleistungsfreiheit ............................................................................. 27 4.2.4 Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs............................................ 28 5 DIE ZUSTÄNDIGKEITSVERTEILUNG ZWISCHEN DER EU UND IHREN MITGLIEDSTAATEN ............................................................................................ 30 5.1 Arten von Kompetenzen ................................................................................ 30 5.2 Einschlägige Kompetenzbereiche der EU in Hinblick auf die Covid-19 Pandemie....................................................................................................... 32 6 AUSGEWÄHLTE MAßNAHMEN DER MITGLIEDSTAATEN IM LICHTE DER GRUNDFREIHEITEN ........................................................................................... 34 6.1 Beschränkungen des Grenzverkehrs ............................................................ 34 6.2 Grenzkontrollen im Schengen-Raum............................................................. 39 6.3 Green Lanes .................................................................................................. 41 6.4 Ausfuhrbeschränkungen für Masken ............................................................. 45 7 AUSGEWÄHLTE MAßNAHMEN DER EU ........................................................... 51 7.1 Exkurs zur gemeinsamen Beschaffung und Verteilung des Corona- Impfstoffes ..................................................................................................... 51 7.1.1 Abnahmegarantien .................................................................................. 54 7.1.2 Impfstrategie ........................................................................................... 56 7.2 Gemeinsame Corona-Ampel ......................................................................... 58 7.3 Digitales Covid-Zertifikat der EU – „Grüner Pass“ ......................................... 62 8 RÉSUMÉ UND AUSBLICK .................................................................................. 66 LITERATURVERZEICHNIS ....................................................................................... 70 JUDIKATURVERZEICHNIS....................................................................................... 80 IV
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ABl Amtsblatt der Europäischen Union/Gemeinschaften Abs Absatz AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der EU Aufl Auflage AGES Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit AMC Abnahmegarantien Art Artikel BGBl österreichisches Bundesgesetzblatt bzgl bezüglich bzw beziehungsweise dh das heißt DVBl Deutsches Verwaltungsblatt ECDC Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten EG Europäische Gemeinschaft EGV Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft EMA Europäische Arzneimittel Agentur EMRK Europäische Menschenrechtskonvention ESI Europäische Stabilitätsinitiative EU Europäische Union EuGH Europäischer Gerichtshof EUV Vertrag über die Europäische Union EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWGV Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWR Europäischer Wirtschaftsraum ff fortfolgende FFP filtering face piece Fn Fußnote GRC Charta der Grundrechte der Europäischen Union Hrsg Herausgeber IPCR Integrated Political Crisis Response lit litera (= Buchstabe) V
Nr Nummer PSA persönliche Schutzausrüstung RL Richtlinie Rn Randnummer Rs Rechtssache Rz Randziffer vgl vergleiche VO Verordnung WHO Weltgesundheitsorganisation VI
VORWORT Seit nun gut einem Jahr ist das Thema Covid-19 und dessen Folgen für die Bevölkerung ein allgegenwärtiger Begleiter. Diese Pandemie hat auch den letzten Part meines Studiums geprägt, da so gut wie keine Präsenzlehrveranstaltungen mehr erlaubt waren. Dies war auch der Grund, wieso ich versuchen wollte, in meiner Diplomarbeit dieses Thema aufzugreifen und dessen Auswirkungen auf die Grundfreiheiten der Europäischen Union näher zu erläutern. Besonderen Dank möchte ich meiner mitwirkenden Assistentin, Frau Mag. Meryem Vural, und meinem Professor, Herrn Univ.-Prof. Dr. Walter Obwexer, auf diesem Wege zukommen lassen, da sie mich während der ganzen Diplomarbeit sehr gut betreut haben und sofern Fragen entstanden sind mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden sind. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Herrn Mag. Simon Bickel an den ich mich allzeit wenden durfte. VII
1 Einführung Jeder Student 1 der Rechtswissenschaften wird über kurz oder lang mit dem Europarecht konfrontiert. Dieses Recht befasst sich unter anderem auch sehr stark mit den Grundfreiheiten, welche die Grundlage für einen funktionierenden Binnenmarkt darstellen. Mit diesen Regelungen, welche im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verankert sind, soll es den Unionsbürgern möglich sein, innerhalb der Europäischen Union einfacher und schneller Kapital oder Waren zu verteilen, sowie Dienstleistungen über die Binnengrenzen hinweg zu verrichten, sowie der Grenzübergang der Unionsbürger erleichtert werden. Zu den Zielen der Grundfreiheiten zählen somit unter anderem ein fairer Austausch zwischen den Mitgliedstaaten und das Verhindern von sozialer Ausgrenzung oder Diskriminierung. Ebenso will die Union ihren Bürgern einen Raum, der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, bieten und den freien Personenverkehr gewährleisten. Die Errichtung und vor allem der Erhalt des Binnenmarktes, dienen nicht nur als Grundlage für ein europaweites Wirtschaftswachstum, sondern zielen auch auf eine Vollbeschäftigung und einen sozialen Fortschritt ab. Der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt der Mitgliedstaaten sowie die Wirtschafts- und Währungsunion sollten ständig geschützt und gefördert werden (Art 3 EUV). Was passiert nun aber, wenn eine Krankheit zu einer Pandemie wird und dadurch zwangsweise Einschränkungen getroffen werden müssen, um eine weitere Ausbreitung zu vermeiden. Unter welchen Umständen haben die einzelnen Mitgliedstaaten die Möglichkeit, ihre Bestimmungen abzuändern zum Wohle ihrer eigenen Staatsangehörigen und welche Möglichkeit hat die EU, um das Fortbestehen der Grundfreiheiten und deren Einhaltung auch in Krisenzeiten zu fördern und zu sichern? 1Zur leichteren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit von einer geschlechterspezifischen Schreibweise abgesehen. Es soll festgehalten werden, dass unter der männlichen Schreibweise personenbezogener Hauptwörter Frauen wie Männer gleichermaßen zu verstehen sind. 2
2 Ziel und Aufbau der Arbeit Ziel dieser Arbeit ist es, die Grundfreiheiten und deren Anwendung während der Corona-Krise zu betrachten und darzulegen, wie beziehungsweise ob diese weltweite Pandemie dazu geführt hat, dass es zu Einschränkungen der Grundfreiheiten gekommen ist. Diese Arbeit wird einen kurzen Überblick über die 4 Grundfreiheiten geben und erörtern, was genau unter einer Grundfreiheit zu verstehen ist. Darauffolgend wird auf die allgemeinen Grundlagen und die Gemeinsamkeiten der Grundfreiheiten eingegangen sowie deren Anwendungsbereich beschrieben und die Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote der Grundfreiheiten dargelegt. Anschließend werden die 4 Grundfreiheiten und deren Eigenschaften in denen sie sich unterscheiden erläutert und konkretisiert. Ein weiterer Punkt dieser Arbeit werden die Kompetenzbereiche und die Zuständigkeitsverteilungen der EU im Hinblick auf die Covid-19 Pandemie sein sowie einige Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Lichte der Grundfreiheiten. Hier wird es um Grenzschließungen, Green Lanes und Ausfuhrbeschränkungen für Schutzmasken gehen. Anschließend werden noch ausgewählte Maßnahmen, welche die EU gemeinsam mit den Mitgliedstaaten beschlossen hat, näher betrachtet und beschrieben. In diesem Bereich werden, neben einem kurzen Exkurs über Abnahmegarantien und Impfstrategien der EU, auch die gemeinsame Corona-Ampel sowie der „Grüne Pass“ behandelt. Abschließend wird in dieser Arbeit noch ein kurzes Résumé gezogen um einen Ausblick auf weitere Folgen zugeben sowie die Möglichkeiten der EU während der Covid-19 Pandemie zu verdeutlichen. 3
3 Überblick über die Entstehung und Ausbreitung der Corona- Pandemie und die aktuelle Lage in der EU Das Coronavirus sowie die dadurch induzierte Infektionskrankheit der Atemwege - genannt SARS-CoV-2 hat – so aktuell angenommen – ihren Ursprung in der Volksrepublik China in einer Provinz namens Hubei. Als Epizentrum der ersten Infektionswelle im Dezember 2019 gilt die Stadt Wuhan, von dort aus verbreitete sich das Virus weltweit in einem rasanten Tempo. Am 11. März 2020 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Ausbruch von Covid-19 zu einer weltweiten Pandemie. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte dazu: „Die Coronavirus-Pandemie stellt uns alle auf eine harte Probe. Die ist nicht nur eine beispiellose Herausforderung für unsere Gesundheitssysteme, sondern auch ein großer Schock für unsere Volkswirtschaften.“2 Die EU und ihre Mitgliedstaaten wurden somit vor mehrere Probleme gestellt, sowohl in wirtschaftlicher als auch in gesundheitstechnischer Hinsicht.3 Dies führte dazu, dass die Europäische Kommission gemeinsame Maßnahmen zur Krisenbewältigung koordinierte und nun versucht gemeinsam mit den Mitgliedstaaten das Virus bestmöglich einzudämmen. 2 Vgl Europäische Kommission, Pressemitteilung IP 20/459 vom 13. März 2020. 3 Vgl Fischer, COVID-19 – Sorgfaltspflichten und Haftung von Leitungsorganen, Vorwort. 4
4 Die 4 Grundfreiheiten Im Jahre 1957 erfolgte die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Bewusstsein, dass nur die Integration der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten wirtschaftliche Stabilität und Wachstum garantieren könne. Das Ziel dieses Prozesses sollte ein gemeinsamer Markt sein, auf dem der Wirtschaftsverkehr nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage unter Ausnutzung der natürlichen Standortvorteile abläuft.4 Der EuGH hat auf dieser Grundlage den Begriff „Gemeinsamer Markt“ in der Rechtssache „Gaston Schul“5 wie folgt definiert: „Der Begriff Gemeinsamer Markt ... stellt ab auf die Beseitigung aller Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel mit dem Ziel der Verschmelzung der nationalen Märkte zu einem einheitlichen Markt, dessen Bedingungen denjenigen eines wirklichen Binnenmarktes6 möglichst nahekommen“.7 Ein damals von der Kommission vorgelegtes Programm, das sogenannte Weißbuch8 über die Vollendung des Binnenmarktes, sowie die spätere Festsetzung des Binnenmarkt-Konzepts durch die einheitliche Europäische Akte im Jahr 1986 ergeben die für uns heute grundlegenden Ansichten von einem europäischen Binnenmarkt und den dazu nötigen Grundfreiheiten. Im Weißbuch wurden vor allem Maßnahmen zur Beseitigung von materiellen und technischen Schranken sowie eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für die grenzüberschreitende Tätigkeit von Unternehmen konkretisiert.9 Das daraus entstehende Grundkonzept der vier Grundfreiheiten, welches erstmals im EWG Vertrag (Art 8a – Art 8c EWGV) rechtlich festgehalten wurde, findet sich 4 Vgl Borchard, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union7, 407 ff. 5 EuGH Rs15/81, Slg 5.5.1982,1409 - Gaston Schul. 6 Ex-Art 14 Abs 2 EG: „Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags gewährleistet ist“. 7 EuGH Rs15/81, Slg 5.5.1982, 1409 Rn33 - Gaston Schul. 8 Die von der Europäischen Kommission veröffentlichten Weißbücher enthalten Vorschläge für ein gemeinschaftliches Vorgehen in einem bestimmten Bereich. 9 Vgl Europäische Kommission (Hrsg), Vollendung des Binnenmarktes, Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat, KOM(85) 310 endg. 5
heute in der geltenden Fassung des AEUV wieder. Unterteilen lassen sich diese vier Grundfreiheiten in die Warenverkehrsfreiheit (Art 34 ff AEUV), die Personenverkehrsfreiheit, welche wiederum in die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 45 ff AEUV) und die Niederlassungsfreiheit (Art 49 ff AEUV) unterteilt werden kann, die Dienstleistungsfreiheit (Art 56 ff AEUV) sowie die Kapitalverkehrsfreiheit (Art 63 ff AEUV).10 4.1 Einheitlichkeit der Grundfreiheiten in der EU – die Grundregeln 4.1.1 Bedeutung der Grundfreiheiten Die 4 oben genannten Grundfreiheiten leisten einen wesentlichen Bestandteil zur Verwirklichung des Binnenmarktes – sie zählen zu den zentralen Elementen der europäischen Wirtschaftsverfassung. Betrachtet man die Grundfreiheiten, so wird ihr Binnenmarktbezug, sprich das Verlangen nach dem Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhaltes zwischen den Mitgliedstaaten – mit wenigen Ausnahmen – deutlich ersichtlich. Dieser Bezug lässt sich auch aus den Bestimmungen des AEUV erschließen, so spricht man zum Beispiel in Art 34 AEUV vom „Verbot mengenmäßiger Einfuhrbeschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten“ oder in Art 45 Abs 2 AEUV von der „Abschaffung auf der Staatsangehörigkeit beruhender unterschiedlicher Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten“. Spezielle Regelungen gibt es im Bereich der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit nach Art 63 AEUV, da diese auch gegenüber Drittstaaten geltend gemacht werden kann. An dieser Stelle sei zu erwähnen, dass man die Grundfreiheiten trotz ihrer Relevanz nicht mit den Grundrechten verwechseln darf. Zwar gleichen sich diese beiden Begriffe durch wesensgleiche Inhalte wie ein Diskriminierungsverbot oder ein Beschränkungsverbot, allerdings sind die Grundfreiheiten im Unterschied zu den Grundrechten speziell auf eine grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeit anzuwenden. Der Vollständigkeit halber sei ergänzt, dass die Grundrechte durch den EuGH aus der Interpretation der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und der EMRK abgeleitet wurden und als allgemeine Rechtsgrundsätze gelten.11 10 Vgl Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, Rn 1317. 11 Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Rn 1 ff. 6
4.1.2 Anwendungsbereich In folgendem Kapitel geht es um die Konvergenz der Grundfreiheiten und darum, ob der Anwendungsbereich für alle Grundfreiheiten derselbe ist. Dies würde wiederum bedeuten, dass wir von einheitlichen Anwendungsregeln sprechen könnten. Diese Frage ist in der Literatur und auch in der Rechtsprechung bis dato sehr uneinheitlich oder gar nicht beantwortet worden.12 Beantwortet und eindeutig geklärt ist jedoch, dass es für die Anwendung der Grundfreiheiten einen grenzüberschreitenden Sachverhalt braucht – wenn zum Beispiel ein Sachverhalt geprüft werden soll, der von einem Mitgliedstaat in das Territorium eines anderen Mitgliedstaates reicht, der Sachverhalt also über ein sogenanntes transnationales Element verfügt. Im Bereich der Warenverkehrsfreiheit, welche in Art 28 AEUV geregelt ist, würde das bedeuten, dass zum Beispiel eine Ware von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat geliefert oder dort verkauft werden würde, wodurch durch das Überqueren der Grenze zwischen den Mitgliedstaaten der grenzüberschreitende Sachverhalt gegeben wäre. Da nun für die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten ein grenzüberschreitender Sachverhalt obligat ist, lässt sich daraus schließen, dass die Grundfreiheiten grundsätzlich nicht auf Sachverhalte anwendbar sind, welche sich ausschließlich nur innerhalb eines Mitgliedstaates abspielen. Grundsätzlich ist jedoch auch eine Berufung auf die Personen- und Dienstleistungsfreiheit durch Inländer möglich, sofern durch diese staatlichen Regulierungen auch EU-Ausländer betroffen sind. Sollte eine nationale Regelung also gegen eine Grundfreiheit verstoßen, kommt es aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts dazu, dass die nationale Regelung für diesen Sachverhalt unanwendbar wird. Die nationale Regelung wird dadurch allerdings nicht nichtig, sie gilt und besteht weiterhin, nur nicht für jene Sachverhalte, die dem Unionsrecht unterliegen. In diesem Zusammenhang ebenso kurz erwähnt seien sogenannte „Rückkehrerfälle“. Diese betreffen Unionsbürger, die sich gegenüber dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, auf die Grundfreiheiten berufen möchten, nachdem sie bereits zuvor ihre Freizügigkeitsrechte, wie zum Beispiel die 12 Vgl Kingreen, Die Grundfreiheiten, in Bogdandy/Bast (Hrsg), Europäisches Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, 708 ff. 7
Arbeitnehmerfreizügigkeit, im EU-Ausland ausgeübt hatten. Ein Beispiel dafür wäre eine Person, welche im Unionsausland eine Qualifikation erlangt hat, die ihr nach ihrer Heimkehr nicht angerechnet werden würde.13 4.1.3 Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot Zur Entstehung der Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote trug maßgeblich bei, dass der Gerichtshof die Grundfreiheiten im Laufe der Zeit nach und nach zu umfassenden Wirtschaftsfreiheiten ausbaute. Ziel dieser Wirtschaftsfreiheiten ist es, nicht nur offene oder versteckte Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit zu verbieten, sondern auch jegliche Maßnahmen zu untersagen, die zwischen den Mitgliedstaaten zu Beschränkungen des Waren- und Personenverkehrs führen könnten. Wie zum Beispiel aus Art 45 Abs 2 AEUV zu entnehmen ist, steht die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung im Vordergrund. Sämtliche Maßnahmen, die nach der Staatsangehörigkeit der betreffenden Person oder der Herkunft der Waren unterscheiden, stellen verbotene Beschränkungen dar, da sie den Zugang zum Binnenmarkt für Waren, Personen, Dienstleistungen oder Kapital behindern.14 Insbesondere unmittelbare oder offene Diskriminierungen, die an die Staatsangehörigkeit anknüpfen und somit Ausländer in vergleichbaren Situationen schlechter stellen wie Inländer beziehungsweise ausdrücklich zwischen ausländischen Personen, Waren oder Kapital differenzieren, sind verboten. Des Weiteren sind aber auch alle mittelbaren oder versteckte Formen der Diskriminierung, welche nicht vorrangig von der Staatsangehörigkeit ausgehen, aber durch das Anwenden von anderen Unterscheidungsmerkmalen zu gleichen diskriminierenden Ergebnissen führen, wie zum Beispiel die Forderung nach Kenntnissen der Landessprache oder das Erfordernis eines Wohnsitzes im Inland, untersagt. Das allgemeine Diskriminierungsverbot nach Art 18 AEUV ist gegenüber den in den Grundfreiheiten enthaltenen sachbezogenen Diskriminierungsverboten, 13 Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Rn 7 ff. 14 Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Rn 7 ff. 8
auf welche ich anschließend noch eingehen werde, subsidiär anzuwenden und tritt bei der Ausübung wirtschaftlicher Rechte in Form der Grundfreiheiten zurück.15 Aus dem Wortlaut des AEUV ergaben sich aber zunächst noch erhebliche Unterschiede im Schutzbereich der einzelnen Grundfreiheiten. Beispielsweise wurden im Bereich der Warenverkehrsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit ausdrücklich Beschränkungen als unzulässig bezeichnet, währenddessen bei der Niederlassungsfreiheit und der Arbeitnehmerfreizügigkeit zunächst einmal nur die Differenzierung auf Grund der Staatsangehörigkeit verboten war. Durch die Auslegung der Grundfreiheiten im Laufe der Jahre durch den EuGH, welcher alle Grundfreiheiten so auslegte als würden sie sowohl über ein Diskriminierungs- als auch ein Beschränkungsverbot verfügen, konnte dieser Mangel jedoch behoben werden.16 Ein wichtiges Urteil in diesem Zusammenhang ist das Urteil Dassonville, welches sich auf die Warenverkehrsfreiheit bezieht. Daraus entwickelte sich die Dassonville- Formel, aus welcher hervorgeht, dass unter Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie bei mengenmäßigen Beschränkungen im Sinne von Art 34 AEUV, alle Handelsregelungen der Mitgliedstaaten zu verstehen sind, welche geeignet sind, „den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern“. Dieses Urteil lässt klar erkennen, dass auch diskriminierungsfreie Beschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten, welche die Warenverkehrsfreiheit betreffen, in den Anwendungsbereich von Art 34 AEUV fallen.17 Diese Auslegung würde allerdings wiederum bedeuten, dass sämtliche Waren und Güter, welche in einem Mitgliedstaat ordnungsgemäß hergestellt wurden, in einem anderen Mitgliedstaat eingeführt und dort verkauft werden könnten. Das Bestreben eine so weitreichende Konsequenz zu vermeiden, bestätigt sich in der Cassis-de- Dijon18 Rechtsprechung. Daraus geht hervor, dass zwingende Erfordernisse, welche den Gesundheitsschutz, den Verbraucherschutz oder auch den Schutz des 15 Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §12 Rn 1 ff. 16 Vgl Ehlers, Allgemeine Lehren der Grundfreiheiten, in Ehlers (Hrsg), § 7 Rn 46 ff. 17 EuGH, Rs 8/74, Slg 11.07.1974, 837, Rn 5 – Dassonville. 18 EuGH, Rs 120/78, Slg 20.02.1979, 649, Rn 8 – Rewe-Zentral-AG. 9
Handelsverkehrs sowie die steuerliche Kontrolle, aus dem Tatbestand des Art 34 AEUV ausgenommen werden müssen.19 Es gab noch weitere Entscheidungen, wie zum Beispiel jene aus dem Keck und Mithouard-Verfahren20, in denen es darum ging, die Verkaufsmodalitäten wie etwa die Ladenöffnungszeiten21 oder die Apothekenpflichtigkeit bestimmter Produkte22 aus dem Tatbestand des Art 34 AEUV auszuschließen und die Dassonville-Formel noch weitreichender einzuschränken.23 Die Rechtsprechung im Bereich der Warenverkehrsfreiheit zeigt also, dass es vorerst zu einer weitreichenden Auslegung bei den Tatbeständen gekommen war, diese aber kurz darauf durch weitere Entscheidungen durch den EuGH relativiert wurde. Diese Entwicklung ließ sich nicht nur bei der Warenverkehrsfreiheit feststellen, sondern auch bei den anderen Grundfreiheiten. Ein erwähnenswertes Beispiel die Dienstleistungsfreiheit betreffend, ist die Van 24 Binsbergen-Entscheidung. Hier lässt der EuGH bereits in seiner ersten Entscheidung erkennen, dass auch das Beschränkungsverbot auf die Dienstleistungsfreiheit anzuwenden ist. Es dauerte daraufhin nicht lange bis der EuGH in einer weiteren Entscheidung, der sogenannten Alpine Investments- Entscheidung 25 , zu erkennen gab, dass die Einschränkungen aus dem Keck- Verfahren auch auf die Dienstleistungsfreiheit übertragen werden können. Nicht diskriminierende Beschränkungen dürfen nach dem Verständnis der Keck- Rechtsprechung nur dann untersagt werden, wenn sie durch Genehmigungsvoraussetzungen oder Verbote oder durch die Verursachung zusätzlicher Kosten bei der Erbringung grenzüberschreitender Leistungen, den Zugang zum Dienstleistungsmarkt eines Mitgliedstaats behindern. Insofern sich die Ausübung einer Dienstleistung nicht auf den freien Verkehr auswirkt, sind solche Beschränkungen jedoch erlaubt. Indessen sind in der neueren Judikatur 19 S.a. Mayer, die Warenverkehrsfreiheit im Europarecht – eine Rekonstruktion, EuR 2003, 793 ff. 20 EuGH, Rs C-267/91, C-268/91, Slg 24.11.1993, I-6097, Rn 16 - Keck und Mithouard. 21 EuGH, Rs C-69/93, C-258/93, Slg 02.06.1994, I-2355, Rn 12 f - Punta casa. 22 EuGH, Rs C-322/01, Slg 11.12.2003, Rn 72 - Deutscher Apothekerverband e.V. 23 Vgl Ehlers (Hrsg), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn 46 ff. 24 EuGH, Rs 33/74, Slg 03.12.1974, Rn 10 - van Binsbergen. 25 EuGH, Rs C-384/93, Slg 26.01.1995, Rn 33 ff - Alpine Investment. 10
Entscheidungen, wie zum Beispiel die Vanderborght-Entscheidung 26 , zu finden, welche staatliche Maßnahmen, welche in nichtdiskriminierender Art und Weise nur die Ausübung einer Dienstleistung regeln, als einen Eingriff in Art 56 AEUV bewerten.27 28 Für die Arbeitnehmerfreizügigkeit war die Bosman-Entscheidung von grundlegender Bedeutung. Der EuGH lässt in dieser Entscheidung nämlich erkennen, dass nicht nur das Beschränkungsverbot, sondern auch die einschränkende Auslegung nach der Keck-Formel ebenso auf die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit angewendet werden kann. Anhand dieser Entscheidungen durch den EuGH lässt sich also schließen, dass eine Konvergenz der gemeinsamen Dogmatik der Grundfreiheiten besteht.29 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die nichtdiskriminierenden Regelungen, die den Marktzugang beschränken, im Alltag schwer von solchen Regelungen zu unterscheiden sind, welche nur die Ausübung einer Wirtschaftstätigkeit im Binnenmarkt regeln. Aus diesem Grund hat der EuGH eine Eingrenzung des Verbotstatbestandes der Grundfreiheiten vorgenommen, indem er weitere Kriterien für dessen Eingrenzung aufgestellt hat. Zu diesen Kriterien ist unter anderem auch die Spürbarkeit zu zählen, so geht man in der Literatur davon aus, dass keine Beschränkung der Grundfreiheiten vorliegt, wenn die Behinderung des zwischenstaatlichen Handels nicht spürbar ist. Eine „Spürbarkeitsprüfung“ wird vom EuGH allerdings abgelehnt, da diese im Bezug auf die Grundfreiheiten mehr oder weniger nicht praktikabel ist. Anstelle dieser wendet der EuGH ein Kausalitätskriterium an – darunter ist zu verstehen, dass die aufgrund der nationalen Maßnahme geltend gemachte Beschränkung nicht von einem „zukünftigen, hypothetischen Ereignis“ d.h. von einem „ungewissen und indirekten“ 30 Ereignis, abhängen darf. Die getroffenen Maßnahmen und die Handelsbeschränkungen müssen also einen direkten Zusammenhang aufweisen, woraus sich schlussfolgern 26 EuGH, Rs C-339/15, Slg 04.05.2017, Rn 61 ff. – Vanderborght. 27 Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Rn 156 f. 28 EuGH, Rs C-415/93, Slg 15.12.1995, Rn 103 - Bosman. 29 Ehlers (Hrsg), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, §7 Rn 46 ff. 30 Vgl EuGH, Rs C-69/88, Slg 1990, I-583 Rn 11 - Krantz. 11
lässt, dass Maßnahmen, welche die Grundfreiheiten nur hypothetisch betreffen, aus diesem Grund für eine Beschränkung nicht in Frage kommen.31 4.1.4 Drittwirkung und unmittelbare Anwendbarkeit Überaus wichtig für die Anwendbarkeit des Europarechts war die Rechtsprechung bezüglich der Wirkkraft des Primärrechts. Dieses Primärrecht steht in der Rangordnung über dem Sekundärrecht und verdrängt ebenso nationales Recht, welches mit dem Europarecht nicht im Einklang steht.32 Das Primärrecht verhält sich gegenüber dem Sekundärrecht, wie das Verfassungsrecht gegenüber einfachem Gesetzesrecht auf nationaler Ebene. 33 Daraus schließend ergibt sich, dass das Sekundärrecht immer mit dem Primärrecht übereinstimmen und mit diesem konform gehen muss.34 Im Zusammenhang mit den Grundfreiheiten hat der EuGH deren unmittelbare Wirkung bereits früh durch eine die Warenverkehrsfreiheit betreffende Entscheidung festgestellt und bestätigt. Fortan wurde die unmittelbare Wirkung nicht nur auf die Warenverkehrsfreiheit angewendet, sondern auf alle Grundfreiheiten ausgeweitet.35 Nachfolgend möchte ich nun auf die verschiedenen Grundfreiheiten eingehen und eruieren, inwieweit den einzelnen Grundfreiheiten eine Drittwirkung zukommt. 4.1.4.1 Arbeitnehmerfreizügigkeit und ihre unmittelbare Drittwirkung Im Hinblick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit spielt die Drittwirkung der 36 Grundfreiheiten eine wichtige Rolle. Dies wird unter anderem im Deliège-Urteil , in dem es um die internationale Zulassung von Teilnehmern zu einem Judowettbewerb durch den belgischen Judo-Verband ging, sichtbar. An dieser Stelle sei abermals die Bosman-Entscheidung37 erwähnt, in der es um die Transferpolitik, genauer gesagt um die Ausländerklauseln, die den Fußballvereinen von den Fußballverbänden 31 Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Rn 43 ff. 32 Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht, 29 ff. 33 Vgl Köndgen, Europäische Methodenlehre2, in Riesenhuber (Hrsg), §7 Rn 9c. 34 Schwarze, EU-Kommentar 3, Art19EUV, Rn 22 ff. 35 Vgl EuGH, Rs 26/62, Slg 05.02.1963, van Gend u. Loos, Rn 3. 36 Vgl EuGH, Rs C-51/96, C-191/97, Slg 11.04. 2000, Rn 47 - Deliège. 37 EuGH, Rs C-415/93, Slg 15.12 1995, Rn 96 - Bosman. 12
vorgeschrieben werden, geht. Der EuGH erklärte in seinem Urteil, dass die Anforderung, eine gewisse Anzahl an Ausländern im Verein haben zu müssen, gegen die Abreitnehmerfreizügigkeit verstößt und mit dem AEUV nicht in Einklang zu bringen sei. Es handle sich einerseits um eine Diskriminierung auf Grund der Staatsangehörigkeit, andererseits sei die Ausländerklausel nicht mit den diskriminierungsfreien Beschränkungen vereinbar. Mit diesen Entscheidungen bestätigte der EuGH eine Drittwirkung im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, sowohl gegenüber bestimmten Vereinen wie auch gegenüber sogenannten intermediären Gewalten, wobei es sich um nichtstaatliche, private Einrichtungen handelt, bei denen die private Normsetzung mit der Normsetzung von staatlichen Einrichtungen in ihrer Wirkung und ihrem Gewicht gleichgesetzt werden kann. 38 Dadurch sollte erreicht werden, dass es durch den grundfreiheitlichen Schutz der schwächeren einzelnen Partei gegenüber einer stärkeren kollektiven Verbandsmacht zu keiner asymmetrischen und unfairen Ausgestaltung von Verträgen kommt. Somit kam es zu einer Ausweitung der Verpflichteten im Hinblick auf die Grundfreiheiten im Bereich von privaten Institutionen und Einrichtungen mit besonderer kollektiver Macht.39 Die nächste Erweiterung der Drittwirkung nahm der EuGH mit dem Urteil Agonese40 vor. Es kam zu einer Ausdehnung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf sämtliche – auch zwischen Privatpersonen – abgeschlossenen Verträge, wodurch ein weiterer Schritt Richtung unbeschränkter Drittwirkung gemacht worden ist. 41 Obwohl das Urteil nicht nur positive Kritik erntete, hielt der EuGH daran fest und bestätigte eine unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten auch für privatrechtliche Arbeitsverhältnisse mit der Raccanelli-Entscheidung.42 In dieser Entscheidung ging es darum, dass ein italienischer Doktorrand bei einer deutschen Forschungseinrichtung gegenüber seinen deutschen Kollegen hinsichtlich der Möglichkeit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung diskriminiert wurde. Dadurch entstand ihm in Bezug auf seine soziale Absicherung ein Nachteil und es kam zu einem Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit.43 38 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht8, Rn 884. 39 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, S 194. 40 EuGH, Rs C-281/98, Slg 2000, Rn 30 ff. - Angonese. 41 Streinz, Europarecht, Rn 850. 42 EuGH, Rs C-94/07, Slg17.07. 2008, Rn 45 - Raccanelli. 43 Birkemeyer, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten – Zugleich Anmerkung zum Urteil des EuGH v. 17.07.2008, Rs C-94/07 (Raccanelli) - in: EuR 2010, S 662 - 677. 13
Zusammenfassend ist somit in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit davon auszugehen, dass der Kreis der Verpflichteten im Hinblick auf die Drittwirkung durch den EuGH sehr weit auszulegen ist. 4.1.4.2 Warenverkehrsfreiheit und ihre unmittelbare Drittwirkung Für die Warenverkehrsfreiheit und deren Drittwirkung war die Fra.bo SpA- Entscheidung durch den EuGH aus dem Jahre 2012 von entscheidender Bedeutung. 44 Bis zu diesem Urteil hat der EuGH nämlich eine unmittelbare Drittwirkung im Bereich der Warenverkehrsfreiheit abgelehnt. Dieser Entscheidung liegt der Sachverhalt zu Grunde, dass ein in Italien ansässiges Unternehmen namens Fra.bo, welches Kupferfittings für Gas- und Wasserleitungen herstellte und verkaufte, bei der DVGW – einem gemeinnützigen, privatrechtlichen Verein ohne Gewinnerzielungsabsicht in Deutschland – die Zertifizierung ihrer Waren beantragte und vorerst befristet auch ein solches Zertifikat erhielt. Mit einer Zertifizierung durch die DVGW kann davon ausgegangen werden, dass das Produkt mit dem deutschen Recht konform ist. In weiterer Folge kam es aber zu Normenänderungen und folglich zu einem obligaten Nachprüfungsverfahren, woraufhin die Firma Fra.bo jedoch keinen erneuten Antrag auf Zertifizierung stellte und ihr somit das Zertifikat entzogen beziehungsweise dieses nicht verlängert wurde. Daraufhin reichte die Firma Fra.bo eine Klage mit Bezug auf die Warenverkehrsfreiheit ein. Das angerufene Gericht ersuchte den EuGH in dieser Sache, um eine Vorabentscheidung bezüglich der Auslegung der Art 34, 101 und 106 AEUV.45 Der EuGH stellte in seinem Urteil fest, dass die DVGW ein privates Unternehmen ist und dessen Tätigkeit nicht dem Staat zugeordnet werden kann. Trotzdem erklärte der EuGH die Warenverkehrsfreiheit für die DVGW und deren Tätigkeiten für anwendbar, da auch die Maßnahmen der DVGW in diesem Bereich – ebenso wie staatliche Bestimmungen – zu einer Einschränkung im Bereich des Warenverkehrs führen können. Mit diesem Urteil hat der EuGH einen großen Schritt zur Anerkennung der Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit gemacht. Es kann somit angenommen 44 EuGH, Rs C-171/11, Slg 12.7.2012, - Fra.bo SpA/DVGW. 45 Vgl Weidermann, Drittwirkung der Europäischen Grundfreiheiten Aufsatz ÖR. 14
werden, dass auf private Unternehmen, sofern sie mit Regelungsbefugnissen ausgestattet sind mit welchen sie den Marktzugang beeinflussen können, auch die Warenverkehrsfreiheit und deren Bestimmungen angewendet werden können. 4.1.4.3 Niederlassungsfreiheit und ihre unmittelbare Drittwirkung Auch im Bereich der Niederlassungsfreiheit gibt es einige Urteile, welche darauf schließen lassen, dass eine Drittwirkung in diesem Bereich gegeben ist. Eines dieser Urteile wäre zum Beispiel das Urteil des EuGH in der Rechtssache Van Ameyde/UCI. 46 In diesem Rechtsstreit bestätigte der EuGH, dass ein Schutz im Bereich der Niederlassungsfreiheit auch gegenüber privaten Akteuren, in diesem speziellen Fall handelte es sich um ein Versicherungsbüro, gegeben ist. Somit kann auch im Bereich der Niederlassungsfreiheit von einer unmittelbaren Drittwirkung gegenüber Privaten ausgegangen werden. Eine weitere Entscheidung des EuGH, mit welcher er die unmittelbare Drittwirkung der Niederlassungsfreiheit bestätigt, war der Fall Wouters47. In dieser Entscheidung ging es um die Rechtsanwälte Wouters und Savelbergh aus Amsterdam und Rotterdam, welchen es nicht erlaubt worden war, eine Sozietät mit den Wirtschaftsprüfergesellschaften Arthur Anderson und Price Waterhouse zu gründen. Die Rechtsanwälte riefen zusammen mit den Wirtschaftsprüfern das zuständige niederländische Gericht an, nachdem sie zuerst erfolglos Beschwerde bei der niederländischen Rechtsanwaltskammer eingelegt hatten. Das Gericht ersuchte den EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren über die Auslegung und Gültigkeit des angewendeten Rechts zu entscheiden, um eine unterschiedliche Auslegung zu verhindern.48 Der EuGH kam schlussendlich zu der Entscheidung, dass auch hier die Regelungen aus dem AEUV bezüglich der Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit eingehalten werden müssen, mit denen selbständige Tätigkeiten und Dienstleistungen kollektiv geregelt werden – auch wenn diese keinen hoheitlichen Ursprung aufweisen sondern einen privaten. In seiner Begründung verweist der 46 EuGH, Rs 90/76, Slg 09.06 1977, Rn 28 - Van Ameyde/UCI. 47 EuGH, Rs C-309/99, Slg 19.02.2002, Rn 120 - Wouters. 48 Vgl Abteilung für Presse und Information, PRESSEMITTEILUNG Nr 15/02 19. Februar 2002, Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-309/99 Wouters, Savelbergh, URL: https://curia.europa.eu/de/actu/communiques/cp02/aff/cp0215de.htm (Stand 15.04.2021). 15
EuGH auf den „effet utile“ Gedanken. Damit gemeint ist, dass hoheitliche Hindernisse zwischen den Mitgliedstaaten nicht dazu gedacht sind, durch private nicht hoheitliche Maßnahmen umgangen zu werden, um anschließend mit gleicher Wirkung wieder errichtet werden zu können.49 Somit gibt es auch im Bereich der Niederlassungsfreiheit eine Drittwirkung gegenüber intermediären Gewalten. 4.1.4.4 Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit und deren unmittelbare Drittwirkung Bei der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit gibt es noch keine Entscheidungen durch den EuGH, aus welchem sich die Drittwirkung dieser Grundfreiheit einwandfrei ableiten lassen würde. Die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit ist am ehesten mit der Warenverkehrsfreiheit zu vergleichen. Daher könnte man seit dem Urteil Fra.bo SpA/DVGW, welches ich oben bereits ausführlich behandelt habe, und der diesem Urteil zugrunde liegenden Rechtsprechung durch den EuGH vermuten, dass im Bereich Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit ebenfalls eine Drittwirkung besteht.50 So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich die Generalanwältin Trstenjak in ihrem Schlussantrag für eine Übertragung der Drittwirkung auch in den Bereich der Kapital- Zahlungsverkehrsfreiheit ausgesprochen hat.51 Ob und wie der EuGH über die Drittwirkung im Bereich der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit urteilen wird, wird sich wohl in den nächsten Jahren zeigen. 4.1.5 Grenzüberschreitender Sachverhalt Für die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH52 ein „grenzüberschreitendes Element“53 Voraussetzung. Aus diesem Grund 49 Vgl Kaufmann, Die Struktur der Europäischen Grundfreiheiten – Konvergenz und Divergenz?, Würzburger Online-Schriften zum Europarecht, Nr 5. URN: urn:nbn:de:bvb:20- opus-107231, S 68 ff. 50 Vgl Kaufmann, Die Struktur der Europäischen Grundfreiheiten – Konvergenz und Divergenz?, Würzburger Online-Schriften zum Europarecht, Nr 5. URN: urn:nbn:de:bvb:20- opus-107231, S 68 ff. 51 Generalanwältin Trstenjak, Schlussanträge vom 28.3.2012 – C-171/11 Fra.bo SpA, Rn 44. 52 So zB. EuGH, Rs 20/87, Slg 08.12.1987, Rn 12 - Gauchard, [Niederlassungsfreiheit]; Rs C-41/90, Slg 23.04.1991, Rn 37 -.Höfner und Elser; Rs C-332/90, Steen, Slg 28.01.1992, I- 341, Rn 9 [Arbeitnehmerfreizügigkeit], verb Rs C-29/94, C-30/94, C-31/94, C-32/94, C-33/94, C-34/94 und C-35/94, Aubertin ua; Slg 1995, I-301, Rn 9; Rs C-17/94 Gervais; Slg 1995, I- 4353, Rn 26 [Dienstleistungsfreiheit]. 16
sind die Grundfreiheiten bei rein innerstaatlichen Problemen nicht anzuwenden, da hier kein grenzüberschreitendes Element vorhanden ist. Diese Unterscheidung von grenzüberschreitenden und internen Maßnahmen kann zu Schwierigkeiten führen. Nicht untersagt durch die Grundfreiheiten ist die Inländerdiskriminierung, ob eine solche Diskriminierung erlaubt ist, muss durch das nationale Recht geregelt werden.54 Nun sollte geklärt werden, ob das Element des grenzüberschreitenden Sachverhaltes bei allen Grundfreiheiten anerkannt ist beziehungsweise worin strukturelle Unterschiede zu erkennen sind.55 Dem in Art 34 und Art 35 AEUV enthaltenem Wortlaut ist zu entnehmen, dass es sich bei der Warenverkehrsfreiheit um Maßnahmen handelt, welche zwingend „zwischen den Mitgliedstaaten“ stattfinden müssen. Diesen grenzüberschreitenden Bezug hat der EuGH wiederum in einigen Entscheidungen festgestellt56 und damit festgehalten, dass betreffende Waren eine innergemeinschaftliche Grenze überschreiten müssen. Wirft man nun einen Blick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit, welche sich nach dem Wortlaut des Art 45 Abs 1 AEUV auf die Freizügigkeit „innerhalb der Union“ bezieht, muss hier anstelle einer Ware eine Person in Form eines Arbeitnehmers die Grenze überqueren. Zur Dienstleistungsfreiheit (siehe Art 56 AEUV) ist anzumerken, dass ebenfalls das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Sachverhalts vorausgesetzt wird. 57 Die Dienstleistung kann entweder vom Dienstleistungsempfänger beim Erbringer in Empfang genommen werden oder umgekehrt. Entweder erfolgt dabei ein Grenzübertritt durch den Dienstleistungsempfänger oder den Erbringer oder auch die Dienstleistung selbst wird grenzüberschreitend erbracht. 53 Vgl auch Gundel DVBl 2007, 269, 270f, Lackhoff, Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht 2000, Fn 167. AA zB Epiney (Fn74) S 201, 203, 209 f, Lackhoff (Fn 77) S 55 ff. 54 Ehlers (Hrsg), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, §7, Rn 23 ff. 55 Kaufmann, Die Struktur der Europäischen Grundfreiheiten – Konvergenz und Divergenz?, Würzburger Online-Schriften zum Europarecht, Nr 5. (2015), URN: urn:nbn:de:bvb:20-opus- 107231, S 5 ff. 56 Vgl EuGH, Rs C-267/91, C-268/91, Slg 24.11.1993, I-6097, Rn 16 f. – Keck, EuGH, Rs C- 15/79, Slg, 08.11.1979, 3409, Rn 7, 9 - Groenveld. 57 EuGH, verb. Rs 286/82 u. 26/83, Slg 1984, 377, Rn 10 - Luisi und Carbone; EuGH, Rs186/87, Slg 1989, 195, Rn 15 - Cowan; EuGH, Rs C-158/96, Slg 1998, I-1931, Rn 29 - Kohll. 17
Es ist also möglich, dass die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten sowohl von Maßnahmen des Herkunfts- als auch des Ziel- beziehungsweise Bestimmungsstaats ausgehen.58 4.1.6 Rechtfertigungsgründe Unter gewissen Umständen kann eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten auch gerechtfertigt sein, hier spricht man dann von den sogenannten Rechtfertigungsgründen. Diese Rechtfertigungsgründe können geschrieben im Unionsrecht verankert sein – es besteht auch die Möglichkeit von ungeschriebenen 59 Rechtfertigungsgründen. Durch diese Rechtfertigungsgründe wird es den Mitgliedstaaten im Einzelfall ermöglicht, die nach dem AEUV verbotenen Maßnahmen dennoch zu ergreifen. Solche Rechtfertigungen sind grundsätzlich allerdings nur dann möglich, wenn die Causa nicht bereits durch das Sekundärrecht geregelt ist. Allgemein gilt, dass sämtliche Rechtfertigungsgründe rein nicht- wirtschaftlicher Natur sind und somit auch nicht zum Schutz vor wirtschaftlichen Notsituationen missbraucht werden können.60 4.1.6.1 Ausdrückliche Rechtfertigungsgründe Wie oben bereits erwähnt können je nach Grundfreiheit Beschränkungen aufgrund von vertraglich festgehaltenen Ausnahmen gemäß Art 36, Art 45 Abs 3, Art 52, Art 62 und Art 65 AEUV gerechtfertigt werden, man spricht hier also von geschriebenen 61 oder auch ausdrücklichen Rechtfertigungsgründen. Sowohl die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreizügigkeit und die Kapitalverkehrsfreiheit als auch die Dienstleistungsfreiheit beziehen sich auf einen Rechtfertigungsgrund im Sinne des ordre public. In diesem Sinne können Eingriffe aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit gerechtfertigt sein. Diese Eingriffe sind nach ständiger Rechtsprechung des EuGH eng 58 EuGH, Rs C-19/92 Slg 1993, I-1663, Rn 15 f. -. Kraus; EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I- 4921, Rn 96 – Bosman; EuGH, Rs C-109/04, Slg 2005, I-2421, Rn 25 f. - Kranemann. 59 Ehlers (Hrsg), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, §7 Rn 90 ff. 60 Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Rn 44 ff. 61 Vgl Cremer, Grundstudium ÖR, Die Grundfreiheiten des Europäischen Unionsrechts S 51 ff. 18
auszulegen.62 Durch diese strikte Auslegung durch den EuGH müssen staatliche Interessen von erheblicher Bedeutung betroffen sein63, wodurch die Grundinteressen der Gesellschaft und/oder deren öffentliche Sicherheit berührt werden.64 Unter dem Begriff der öffentlichen Sicherheit lässt sich die innere und äußere Sicherheit eines Mitgliedstaates sowie der Schutz von dessen Existenz vor etwaigen Bedrohungen 65 und der Fortbestand des staatlichen Gewaltmonopols subsumieren. In Zusammenhang gebracht werden kann hiermit auch der Begriff der öffentlichen Ordnung und Sicherheit laut Art 36 AEUV. Auf den Schutz der Gesundheit vor epidemischen und sonstigen übertragbaren Krankheiten – ebenfalls in Art 36 AEUV – sollten wir in den folgenden Kapiteln ein besonderes Augenmerk legen.66 Auf Grund der oben genannten vertraglichen Rechtfertigungsgründe und deren restriktiven Auslegung durch den EuGH muss es den Mitgliedstaaten möglich sein, sachlich notwendige Maßnahmen auch zusätzlich zu den niedergeschriebenen Rechtfertigungsgründen rechtfertigen zu können.67 4.1.6.2 Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe Mit der Zeit entstand ein immer größer werdender Bedarf für die Anerkennung weiterer Rechtfertigungsgründe. Einerseits durch die frühe Festlegung der restriktiven Auslegung der geschriebenen Rechtfertigungsgründe, andererseits durch die Interpretation des EuGH der Grundfreiheiten nicht mehr nur als Diskriminierungs- , sondern zudem auch als Beschränkungsverbote.68 So kam es, dass der EuGH in der Cassis de Dijon-Entscheidung – zwingende Erfordernisse – die im Allgemeininteresse der Mitgliedstaaten lagen, als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe anerkannte.69 Unter solche im Allgemeininteresse liegenden 62 Vgl EuGH, Slg 1974, 1337 , Rn 18 Van Duyn; Slg 1977, 5, Rn 12 ff – Bauhuis; Slg 1981, 1625 Rn 7 - Kommission/Irland; Slg 1991, 1361, 1377 - Kommission/Griechenland. 63 Vgl Becker, in Schwarze (Hrsg), EUV, Art 30 EGV Rn 11. 64 EuGH, Rs C-54/99 Slg 2000, I-1335, Rn 17 - Scientology. 65 EuGH, Rs C-367/89, Slg 1991, I-4621, Rn 22 – Richardt; EuGH, Rs 72/83, Slg 10.07.1984, 2727, Rn 34 f. - Campus Oil. 66 Art 29 Abs 1 RL 2004/38/EG, Vgl auch Becker/Schwarze/Schneider/Wunderlich, Art 45,Rn 133. 67 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn 42. 68 Vgl Cremer, Grundstudium ÖR, Die Grundfreiheiten des Europäischen Unionsrechts S 51 ff. 69 EuGH, Rs 120/78, Slg 20.02.1979, Rn 8 - Rewe-Zentral-AG. 19
Rechtfertigungsgründe fallen unter anderem eine wirksame steuerliche Kontrolle, der Schutz der öffentlichen Gesundheit, die Lauterkeit des Handelsverkehrs und der Verbraucherschutz. 70 Auch können alle anderen im Allgemeininteresse liegenden Zwecke in Betracht gezogen werden mit Ausnahme jener Maßnahmen, welche aus rein wirtschaftlichen Gründen getätigt werden würden.71 Diese ungeschriebenen Schranken wurden zu Beginn für den freien Warenverkehr entwickelt wurden aber später auf alle anderen Grundfreiheiten ebenso angewendet.72 Die „zwingenden Erfordernisse“, welche in der Cassis-Entscheidung beispielhaft katalogisiert wurden, wurden später um weitere Schutzgüter wie zum Beispiel kulturelle Gründe, Schutz der Medienvielfalt oder Erfordernisse des Umweltschutzes erweitert. Zusammenfassend werden letzten Endes vom EuGH alle legitimen Belange des Allgemeinwohls akzeptiert – sofern diese, noch einmal ausdrücklich erwähnt, immer von nicht-wirtschaftlicher Natur sind.73 Diese Akzeptanz kommt für die Personenverkehrsfreiheit in der Gebhard-Formel 74 zum Ausdruck. Demzufolge müssen 4 Voraussetzungen erfüllt sein, um nationale Maßnahmen, welche die Ausübung der durch den Vertrag garantierten und grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen, zu rechtfertigen: „Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.“75 70 Ehlers (Hrsg), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, §7, Rn 101 ff. 71 Vgl EuGH, Slg 1998, I-1831, Rn 39 – Decker; Slg 1998, I - 1931, Rn 41 - Kohll (Fall 11); Slg 2000, I - 151, Rn 33 - Schutzverband gegen den unlauteren Wettbewerb = JK 10/00; EGV Art 28/1, Slg 2003, I-4509, Rn 72 - Müller-Fauré. 72 Vgl für die Arbeitnehmerfreizügigkeit zB EuGH, Slg 1996, I–2617, Rn 19 - O`Flynn: „objektive Erwägungen“, für die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit EuGH, Slg 1991, I–4221, Rn 15ff – Säger; Slg 1997, I-3689, Rn 8 - Familiapress: „Allgemeininteresse“ = JK 2/98 EGV Art 30/1, Slg 1998, Rn 41 - Kohll (Fall 11), Slg 1999, I-2835, Rn 19 - Pfeiffer: „zwingende Gründe des Gemeinwohls“; ebenso Slg 2003, I-4509, Rn 73 - Müller- Fauré. 73 Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Grundfreiheiten Rn 44 ff. 74 EuGH, Slg 1995, Rs C-55/94, I-4165 Rn 37, - Gebhard. 75 Vgl EuGH Slg 1993 I-01663, Rs C-19/92, Kraus. 20
Die Rechtfertigungsgründe können in terminologischer Hinsicht unterschieden werden, jedoch nicht ihren Inhalt betreffend. So ist bei der Warenverkehrsfreiheit von „zwingenden Erfordernissen“ die Rede, wohingegen die Personenverkehrsfreiheit von „zwingenden Gründen“ spricht. Anfänglich war unsicher, ob diskriminierende Verstöße gegen die Grundfreiheiten von Mitgliedstaaten dadurch gerechtfertigt werden können, dass sich jener Mitgliedstaat auf ungeschriebene zwingende Erfordernisse beruft. Der EuGH ging bei seiner Rechtsprechung davon aus, dass eine Anwendung zwingender Erfordernisse nur dann in Betracht gezogen werden könne, wenn die betreffende Maßnahme sowohl auf Inländer als auch auf Ausländer „unterschiedslos“ anwendbar war. Aus diesem Grund war eine unmittelbare Diskriminierung ausschließlich durch Art 36, 45 Abs 3 sowie Art 52, 62 und 65 AEUV zu rechtfertigen. Andererseits wurde angenommen, dass eine Rechtfertigung mittelbarer Diskriminierungen durch ungeschriebene zwingende Erfordernisse möglich war. Eine Unterscheidung zwischen den beiden Diskriminierungsformen ist tatsächlich aber nicht zu rechtfertigen, da die Mitgliedsstaaten so versuchen könnten, durch Umgehungen ans Ziel zu kommen. Aus diesem Grund sollten die zwingenden Erfordernisse auf alle diskriminierenden Maßnahmen angewendet werden.76 4.1.6.3 Unionsgrundrechte als Rechtfertigungsgründe Um das Kapitel der Rechtfertigungsgründe zu vervollständigen, sei eine weitere Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Beschränkungen der Grundfreiheiten zu rechtfertigen, erwähnt – die Berufung auf die Unionsgrundrechte. Die Grundrechte können zum Beispiel herangezogen werden, um das Allgemeininteresse darzulegen, zwingende Erfordernisse zu untermauern oder auch um geschriebene Rechtfertigungsgründe näher zu definieren. Ein Beispiel aus der Judikatur hierfür 77 78 wäre die „Omega Spielhallen“-Entscheidung des EuGH. Hier klagte ein Spielhallenbetreiber, welcher ein Spiel anbot, bei welchem mit pistolenähnlichen Lasern auf Sensoren am Körper anderer Spieler geschossen werden sollte, auf Verletzung der Dienstleistungsfreiheit gem Art 56 AEUV, nachdem ihm dieses Spiel 76 Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Grundfreiheiten Rn 50 ff. 77 EuGH, Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609, Rn 28 ff - Omega Spielhallen. 78 Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Rn 57 ff. 21
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