Die Einschränkungen der Grundfreiheiten aufgrund der Corona-Pandemie - Universität Innsbruck

Die Seite wird erstellt Darian Eichler
 
WEITER LESEN
Die Einschränkungen der Grundfreiheiten aufgrund der Corona-Pandemie - Universität Innsbruck
Die Einschränkungen
      der Grundfreiheiten
               aufgrund
    der Corona-Pandemie

              DIPLOMARBEIT

  Zur Erlangung des akademischen Grades
            eines Mag.iur.rer.oec.
  an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät
 der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Eingereicht bei Univ.-Prof. Dr. Walter Obwexer
           von Alexander Leidinger

        Bludenz, im September 2021
Die Einschränkungen der Grundfreiheiten aufgrund der Corona-Pandemie - Universität Innsbruck
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG

Ich erkläre hiermit an Eides statt durch meine eigenhändige Unterschrift, dass ich die
vorliegende Arbeit selbständig verfasst und keine anderen als die angegebenen
Quellen und Hilfsmittel verwendet habe. Alle Stellen, die wörtlich oder inhaltlich den
angegebenen Quellen entnommen wurden, sind als solche kenntlich gemacht.
Die vorliegende Arbeit wurde bisher noch nicht in gleicher oder ähnlicher Form als
Magister-/Master-/Diplomarbeit/Dissertation eingereicht.

Bludenz, September 2021
                                                     _______________________
                                                            Alexander Leidinger

                                          II
Die Einschränkungen der Grundfreiheiten aufgrund der Corona-Pandemie - Universität Innsbruck
INHALTSVERZEICHNIS

EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG ............................................................................. II

INHALTSVERZEICHNIS............................................................................................. III

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ................................................................................... V

VORWORT ............................................................................................................... VII

1 EINFÜHRUNG ....................................................................................................... 2

2 ZIEL UND AUFBAU DER ARBEIT ......................................................................... 3

3 ÜBERBLICK ÜBER DIE ENTSTEHUNG UND AUSBREITUNG DER CORONA-
     PANDEMIE UND DIE AKTUELLE LAGE IN DER EU............................................ 4

4 DIE 4 GRUNDFREIHEITEN ................................................................................... 5
   4.1     Einheitlichkeit der Grundfreiheiten in der EU – die Grundregeln ..................... 6
      4.1.1      Bedeutung der Grundfreiheiten ................................................................. 6
      4.1.2      Anwendungsbereich.................................................................................. 7
      4.1.3      Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot............................................ 8
      4.1.4      Drittwirkung und unmittelbare Anwendbarkeit......................................... 12
         4.1.4.1 Arbeitnehmerfreizügigkeit und ihre unmittelbare Drittwirkung .......... 12
         4.1.4.2 Warenverkehrsfreiheit und ihre unmittelbare Drittwirkung................ 14
         4.1.4.3 Niederlassungsfreiheit und ihre unmittelbare Drittwirkung ............... 15
         4.1.4.4 Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit und deren unmittelbare
                       Drittwirkung....................................................................................... 16
      4.1.5      Grenzüberschreitender Sachverhalt ....................................................... 16
      4.1.6      Rechtfertigungsgründe ............................................................................ 18
         4.1.6.1 Ausdrückliche Rechtfertigungsgründe .............................................. 18
         4.1.6.2 Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe .......................................... 19
         4.1.6.3 Unionsgrundrechte als Rechtfertigungsgründe ................................ 21
      4.1.7      Verhältnismäßigkeitsprinzip .................................................................... 22
   4.2     Die 4 Grundfreiheiten im Einzelnen ............................................................... 23
      4.2.1      Warenverkehrsfreiheit ............................................................................. 23
      4.2.2      Personenverkehrsfreiheit ........................................................................ 24
         4.2.2.1 Arbeitnehmerfreizügigkeit ................................................................. 24

                                                            III
Die Einschränkungen der Grundfreiheiten aufgrund der Corona-Pandemie - Universität Innsbruck
4.2.2.2 Niederlassungsfreiheit ...................................................................... 25
     4.2.3     Dienstleistungsfreiheit ............................................................................. 27
     4.2.4     Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs............................................ 28

5 DIE ZUSTÄNDIGKEITSVERTEILUNG ZWISCHEN DER EU UND IHREN
    MITGLIEDSTAATEN ............................................................................................ 30
  5.1    Arten von Kompetenzen ................................................................................ 30
  5.2    Einschlägige Kompetenzbereiche der EU in Hinblick auf die Covid-19
         Pandemie....................................................................................................... 32

6 AUSGEWÄHLTE MAßNAHMEN DER MITGLIEDSTAATEN IM LICHTE DER
    GRUNDFREIHEITEN ........................................................................................... 34
  6.1    Beschränkungen des Grenzverkehrs ............................................................ 34
  6.2    Grenzkontrollen im Schengen-Raum............................................................. 39
  6.3    Green Lanes .................................................................................................. 41
  6.4    Ausfuhrbeschränkungen für Masken ............................................................. 45

7 AUSGEWÄHLTE MAßNAHMEN DER EU ........................................................... 51
  7.1    Exkurs zur gemeinsamen Beschaffung und Verteilung des Corona-
         Impfstoffes ..................................................................................................... 51
     7.1.1     Abnahmegarantien .................................................................................. 54
     7.1.2     Impfstrategie ........................................................................................... 56
  7.2    Gemeinsame Corona-Ampel ......................................................................... 58
  7.3    Digitales Covid-Zertifikat der EU – „Grüner Pass“ ......................................... 62

8 RÉSUMÉ UND AUSBLICK .................................................................................. 66

LITERATURVERZEICHNIS ....................................................................................... 70

JUDIKATURVERZEICHNIS....................................................................................... 80

                                                           IV
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

ABl    Amtsblatt der Europäischen Union/Gemeinschaften
Abs    Absatz
AEUV   Vertrag über die Arbeitsweise der EU
Aufl   Auflage
AGES   Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit
AMC    Abnahmegarantien
Art    Artikel
BGBl   österreichisches Bundesgesetzblatt
bzgl   bezüglich
bzw    beziehungsweise
dh     das heißt
DVBl   Deutsches Verwaltungsblatt
ECDC   Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von
       Krankheiten
EG     Europäische Gemeinschaft
EGV    Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
EMA    Europäische Arzneimittel Agentur
EMRK   Europäische Menschenrechtskonvention
ESI    Europäische Stabilitätsinitiative
EU     Europäische Union
EuGH   Europäischer Gerichtshof
EUV    Vertrag über die Europäische Union
EWG    Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
EWGV   Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
EWR    Europäischer Wirtschaftsraum
ff     fortfolgende
FFP    filtering face piece
Fn     Fußnote
GRC    Charta der Grundrechte der Europäischen Union
Hrsg   Herausgeber
IPCR   Integrated Political Crisis Response
lit    litera (= Buchstabe)

                                     V
Nr    Nummer
PSA   persönliche Schutzausrüstung
RL    Richtlinie
Rn    Randnummer
Rs    Rechtssache
Rz    Randziffer
vgl   vergleiche
VO    Verordnung
WHO   Weltgesundheitsorganisation

                                VI
VORWORT

Seit nun gut einem Jahr ist das Thema Covid-19 und dessen Folgen für die
Bevölkerung ein allgegenwärtiger Begleiter. Diese Pandemie hat auch den letzten
Part meines Studiums geprägt, da so gut wie keine Präsenzlehrveranstaltungen
mehr erlaubt waren.

Dies war auch der Grund, wieso ich versuchen wollte, in meiner Diplomarbeit dieses
Thema aufzugreifen und dessen Auswirkungen auf die Grundfreiheiten der
Europäischen Union näher zu erläutern.

Besonderen Dank möchte ich meiner mitwirkenden Assistentin, Frau Mag. Meryem
Vural, und meinem Professor, Herrn Univ.-Prof. Dr. Walter Obwexer, auf diesem
Wege zukommen lassen, da sie mich während der ganzen Diplomarbeit sehr gut
betreut haben und sofern Fragen entstanden sind mir mit Rat und Tat zur Seite
gestanden sind. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Herrn Mag. Simon Bickel
an den ich mich allzeit wenden durfte.

                                         VII
1   Einführung

Jeder Student 1 der Rechtswissenschaften wird über kurz oder lang mit dem
Europarecht konfrontiert. Dieses Recht befasst sich unter anderem auch sehr stark
mit den Grundfreiheiten, welche die Grundlage für einen funktionierenden
Binnenmarkt darstellen. Mit diesen Regelungen, welche im Vertrag über die
Arbeitsweise der Europäischen Union verankert sind, soll es den Unionsbürgern
möglich sein, innerhalb der Europäischen Union einfacher und schneller Kapital oder
Waren zu verteilen, sowie Dienstleistungen über die Binnengrenzen hinweg zu
verrichten, sowie der Grenzübergang der Unionsbürger erleichtert werden. Zu den
Zielen der Grundfreiheiten zählen somit unter anderem ein fairer Austausch
zwischen den Mitgliedstaaten und das Verhindern von sozialer Ausgrenzung oder
Diskriminierung. Ebenso will die Union ihren Bürgern einen Raum, der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts, bieten und den freien Personenverkehr gewährleisten.
Die Errichtung und vor allem der Erhalt des Binnenmarktes, dienen nicht nur als
Grundlage für ein europaweites Wirtschaftswachstum, sondern zielen auch auf eine
Vollbeschäftigung und einen sozialen Fortschritt ab. Der wirtschaftliche und soziale
Zusammenhalt der Mitgliedstaaten sowie die Wirtschafts- und Währungsunion sollten
ständig geschützt und gefördert werden (Art 3 EUV).

Was passiert nun aber, wenn eine Krankheit zu einer Pandemie wird und dadurch
zwangsweise Einschränkungen getroffen werden müssen, um eine weitere
Ausbreitung zu vermeiden. Unter welchen Umständen haben die einzelnen
Mitgliedstaaten die Möglichkeit, ihre Bestimmungen abzuändern zum Wohle ihrer
eigenen Staatsangehörigen und welche Möglichkeit hat die EU, um das
Fortbestehen der Grundfreiheiten und deren Einhaltung auch in Krisenzeiten zu
fördern und zu sichern?

1Zur leichteren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit von einer geschlechterspezifischen
Schreibweise abgesehen. Es soll festgehalten werden, dass unter der männlichen
Schreibweise personenbezogener Hauptwörter Frauen wie Männer gleichermaßen zu
verstehen sind.

                                            2
2   Ziel und Aufbau der Arbeit

Ziel dieser Arbeit ist es, die Grundfreiheiten und deren Anwendung während der
Corona-Krise zu betrachten und darzulegen, wie beziehungsweise ob diese
weltweite Pandemie dazu geführt hat, dass es zu Einschränkungen der
Grundfreiheiten gekommen ist.

Diese Arbeit wird einen kurzen Überblick über die 4 Grundfreiheiten geben und
erörtern, was genau unter einer Grundfreiheit zu verstehen ist. Darauffolgend wird
auf die allgemeinen Grundlagen und die Gemeinsamkeiten der Grundfreiheiten
eingegangen     sowie     deren   Anwendungsbereich     beschrieben      und   die
Diskriminierungs-   und   Beschränkungsverbote   der   Grundfreiheiten   dargelegt.
Anschließend werden die 4 Grundfreiheiten und deren Eigenschaften in denen sie
sich unterscheiden erläutert und konkretisiert. Ein weiterer Punkt dieser Arbeit
werden die Kompetenzbereiche und die Zuständigkeitsverteilungen der EU im
Hinblick auf die Covid-19 Pandemie sein sowie einige Maßnahmen der
Mitgliedstaaten im Lichte der Grundfreiheiten. Hier wird es um Grenzschließungen,
Green Lanes und Ausfuhrbeschränkungen für Schutzmasken gehen. Anschließend
werden noch ausgewählte Maßnahmen, welche die EU gemeinsam mit den
Mitgliedstaaten beschlossen hat, näher betrachtet und beschrieben. In diesem
Bereich werden, neben einem kurzen Exkurs über Abnahmegarantien und
Impfstrategien der EU, auch die gemeinsame Corona-Ampel sowie der „Grüne Pass“
behandelt.

Abschließend wird in dieser Arbeit noch ein kurzes Résumé gezogen um einen
Ausblick auf weitere Folgen zugeben sowie die Möglichkeiten der EU während der
Covid-19 Pandemie zu verdeutlichen.

                                        3
3     Überblick über die Entstehung und Ausbreitung der Corona-
      Pandemie und die aktuelle Lage in der EU

Das Coronavirus sowie die dadurch induzierte Infektionskrankheit der Atemwege -
genannt SARS-CoV-2 hat – so aktuell angenommen – ihren Ursprung in der
Volksrepublik China in einer Provinz namens Hubei. Als Epizentrum der ersten
Infektionswelle im Dezember 2019 gilt die Stadt Wuhan, von dort aus verbreitete sich
das Virus weltweit in einem rasanten Tempo.

Am 11. März 2020 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Ausbruch
von Covid-19 zu einer weltweiten Pandemie. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von
der Leyen erklärte dazu:

„Die Coronavirus-Pandemie stellt uns alle auf eine harte Probe. Die ist nicht nur eine
     beispiellose Herausforderung für unsere Gesundheitssysteme, sondern auch ein
                       großer Schock für unsere Volkswirtschaften.“2

Die EU und ihre Mitgliedstaaten wurden somit vor mehrere Probleme gestellt, sowohl
in wirtschaftlicher als auch in gesundheitstechnischer Hinsicht.3
Dies führte dazu, dass die Europäische Kommission gemeinsame Maßnahmen zur
Krisenbewältigung koordinierte und nun versucht gemeinsam mit den Mitgliedstaaten
das Virus bestmöglich einzudämmen.

2
    Vgl Europäische Kommission, Pressemitteilung IP 20/459 vom 13. März 2020.
3
    Vgl Fischer, COVID-19 – Sorgfaltspflichten und Haftung von Leitungsorganen, Vorwort.

                                              4
4    Die 4 Grundfreiheiten

Im Jahre 1957 erfolgte die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im
Bewusstsein, dass nur die Integration der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten
wirtschaftliche Stabilität und Wachstum garantieren könne. Das Ziel dieses
Prozesses sollte ein gemeinsamer Markt sein, auf dem der Wirtschaftsverkehr nach
den Gesetzen von Angebot und Nachfrage unter Ausnutzung der natürlichen
Standortvorteile abläuft.4

Der EuGH hat auf dieser Grundlage den Begriff „Gemeinsamer Markt“ in der
Rechtssache „Gaston Schul“5 wie folgt definiert:

„Der Begriff Gemeinsamer Markt ... stellt ab auf die Beseitigung aller Hemmnisse im
    innergemeinschaftlichen Handel mit dem Ziel der Verschmelzung der nationalen
     Märkte zu einem einheitlichen Markt, dessen Bedingungen denjenigen eines
                wirklichen Binnenmarktes6 möglichst nahekommen“.7

Ein damals von der Kommission vorgelegtes Programm, das sogenannte Weißbuch8
über die Vollendung des Binnenmarktes, sowie die spätere Festsetzung des
Binnenmarkt-Konzepts durch die einheitliche Europäische Akte im Jahr 1986
ergeben die für uns heute grundlegenden Ansichten von einem europäischen
Binnenmarkt und den dazu nötigen Grundfreiheiten.
Im Weißbuch wurden vor allem Maßnahmen zur Beseitigung von materiellen und
technischen Schranken sowie eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für die
grenzüberschreitende Tätigkeit von Unternehmen konkretisiert.9

Das daraus entstehende Grundkonzept der vier Grundfreiheiten, welches erstmals
im EWG Vertrag (Art 8a – Art 8c EWGV) rechtlich festgehalten wurde, findet sich
4
  Vgl Borchard, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union7, 407 ff.
5
  EuGH Rs15/81, Slg 5.5.1982,1409 - Gaston Schul.
6
  Ex-Art 14 Abs 2 EG: „Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem
der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den
Bestimmungen dieses Vertrags gewährleistet ist“.
7 EuGH Rs15/81, Slg 5.5.1982, 1409 Rn33 - Gaston Schul.
8 Die von der Europäischen Kommission veröffentlichten Weißbücher enthalten Vorschläge

für ein gemeinschaftliches Vorgehen in einem bestimmten Bereich.
9
  Vgl Europäische Kommission (Hrsg), Vollendung des Binnenmarktes, Weißbuch der
Kommission an den Europäischen Rat, KOM(85) 310 endg.

                                           5
heute in der geltenden Fassung des AEUV wieder. Unterteilen lassen sich diese vier
Grundfreiheiten      in   die      Warenverkehrsfreiheit     (Art    34   ff   AEUV),     die
Personenverkehrsfreiheit, welche wiederum in die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art 45
ff AEUV) und die Niederlassungsfreiheit (Art 49 ff AEUV) unterteilt werden kann, die
Dienstleistungsfreiheit (Art 56 ff AEUV) sowie die Kapitalverkehrsfreiheit (Art 63 ff
AEUV).10

4.1 Einheitlichkeit der Grundfreiheiten in der EU – die Grundregeln
4.1.1 Bedeutung der Grundfreiheiten

Die 4 oben genannten Grundfreiheiten leisten einen wesentlichen Bestandteil zur
Verwirklichung des Binnenmarktes – sie zählen zu den zentralen Elementen der
europäischen Wirtschaftsverfassung. Betrachtet man die Grundfreiheiten, so wird ihr
Binnenmarktbezug,         sprich      das     Verlangen    nach     dem   Vorliegen     eines
grenzüberschreitenden Sachverhaltes zwischen den Mitgliedstaaten – mit wenigen
Ausnahmen – deutlich ersichtlich. Dieser Bezug lässt sich auch aus den
Bestimmungen des AEUV erschließen, so spricht man zum Beispiel in Art 34 AEUV
vom „Verbot mengenmäßiger Einfuhrbeschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten“
oder in Art 45 Abs 2 AEUV von der „Abschaffung auf der Staatsangehörigkeit
beruhender unterschiedlicher Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten“.
Spezielle Regelungen gibt es im Bereich der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit
nach Art 63 AEUV, da diese auch gegenüber Drittstaaten geltend gemacht werden
kann.

An dieser Stelle sei zu erwähnen, dass man die Grundfreiheiten trotz ihrer Relevanz
nicht mit den Grundrechten verwechseln darf. Zwar gleichen sich diese beiden
Begriffe durch wesensgleiche Inhalte wie ein Diskriminierungsverbot oder ein
Beschränkungsverbot, allerdings sind die Grundfreiheiten im Unterschied zu den
Grundrechten       speziell     auf    eine     grenzüberschreitende      Wirtschaftstätigkeit
anzuwenden. Der Vollständigkeit halber sei ergänzt, dass die Grundrechte durch den
EuGH aus der Interpretation der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und
der EMRK abgeleitet wurden und als allgemeine Rechtsgrundsätze gelten.11

10
     Vgl Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, Rn 1317.
11
     Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Rn 1 ff.

                                                 6
4.1.2 Anwendungsbereich

In folgendem Kapitel geht es um die Konvergenz der Grundfreiheiten und darum, ob
der Anwendungsbereich für alle Grundfreiheiten derselbe ist. Dies würde wiederum
bedeuten, dass wir von einheitlichen Anwendungsregeln sprechen könnten. Diese
Frage ist in der Literatur und auch in der Rechtsprechung bis dato sehr uneinheitlich
oder gar nicht beantwortet worden.12

Beantwortet und eindeutig geklärt ist jedoch, dass es für die Anwendung der
Grundfreiheiten einen grenzüberschreitenden Sachverhalt braucht – wenn zum
Beispiel ein Sachverhalt geprüft werden soll, der von einem Mitgliedstaat in das
Territorium eines anderen Mitgliedstaates reicht, der Sachverhalt also über ein
sogenanntes transnationales Element verfügt. Im Bereich der Warenverkehrsfreiheit,
welche in Art 28 AEUV geregelt ist, würde das bedeuten, dass zum Beispiel eine
Ware von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat geliefert oder dort
verkauft werden würde, wodurch durch das Überqueren der Grenze zwischen den
Mitgliedstaaten der grenzüberschreitende Sachverhalt gegeben wäre. Da nun für die
Anwendbarkeit der Grundfreiheiten ein grenzüberschreitender Sachverhalt obligat ist,
lässt sich daraus schließen, dass die Grundfreiheiten grundsätzlich nicht auf
Sachverhalte anwendbar sind, welche sich ausschließlich nur innerhalb eines
Mitgliedstaates abspielen. Grundsätzlich ist jedoch auch eine Berufung auf die
Personen- und Dienstleistungsfreiheit durch Inländer möglich, sofern durch diese
staatlichen Regulierungen auch EU-Ausländer betroffen sind. Sollte eine nationale
Regelung also gegen eine Grundfreiheit verstoßen, kommt es aufgrund des Vorrangs
des Unionsrechts dazu, dass die nationale Regelung für diesen Sachverhalt
unanwendbar wird. Die nationale Regelung wird dadurch allerdings nicht nichtig, sie
gilt und besteht weiterhin, nur nicht für jene Sachverhalte, die dem Unionsrecht
unterliegen.

In diesem Zusammenhang ebenso kurz erwähnt seien sogenannte „Rückkehrerfälle“.
Diese betreffen Unionsbürger, die sich gegenüber dem Mitgliedstaat, dessen
Staatsangehörigkeit sie besitzen, auf die Grundfreiheiten berufen möchten, nachdem
sie   bereits    zuvor    ihre    Freizügigkeitsrechte,    wie    zum        Beispiel   die

12
  Vgl Kingreen, Die Grundfreiheiten, in Bogdandy/Bast (Hrsg), Europäisches
Verfassungsrecht: Theoretische und dogmatische Grundzüge, 708 ff.

                                            7
Arbeitnehmerfreizügigkeit, im EU-Ausland ausgeübt hatten. Ein Beispiel dafür wäre
eine Person, welche im Unionsausland eine Qualifikation erlangt hat, die ihr nach
ihrer Heimkehr nicht angerechnet werden würde.13

4.1.3 Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot

Zur Entstehung der Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote trug maßgeblich
bei, dass der Gerichtshof die Grundfreiheiten im Laufe der Zeit nach und nach zu
umfassenden Wirtschaftsfreiheiten ausbaute. Ziel dieser Wirtschaftsfreiheiten ist es,
nicht nur offene oder versteckte Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit
zu verbieten, sondern auch jegliche Maßnahmen zu untersagen, die zwischen den
Mitgliedstaaten zu Beschränkungen des Waren- und Personenverkehrs führen
könnten. Wie zum Beispiel aus Art 45 Abs 2 AEUV zu entnehmen ist, steht die
Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen
Behandlung      im      Vordergrund.         Sämtliche     Maßnahmen,     die         nach   der
Staatsangehörigkeit der betreffenden Person oder der Herkunft der Waren
unterscheiden, stellen verbotene Beschränkungen dar, da sie den Zugang zum
Binnenmarkt für Waren, Personen, Dienstleistungen oder Kapital behindern.14

Insbesondere        unmittelbare     oder     offene     Diskriminierungen,     die     an   die
Staatsangehörigkeit anknüpfen und somit Ausländer in vergleichbaren Situationen
schlechter    stellen       wie   Inländer     beziehungsweise      ausdrücklich       zwischen
ausländischen Personen, Waren oder Kapital differenzieren, sind verboten. Des
Weiteren     sind    aber     auch   alle    mittelbaren   oder   versteckte     Formen      der
Diskriminierung, welche nicht vorrangig von der Staatsangehörigkeit ausgehen, aber
durch das Anwenden von anderen Unterscheidungsmerkmalen zu gleichen
diskriminierenden Ergebnissen führen, wie zum Beispiel die Forderung nach
Kenntnissen der Landessprache oder das Erfordernis eines Wohnsitzes im Inland,
untersagt. Das allgemeine Diskriminierungsverbot nach Art 18 AEUV ist gegenüber
den in den Grundfreiheiten enthaltenen sachbezogenen Diskriminierungsverboten,

13
   Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Rn 7 ff.
14 Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Rn 7 ff.

                                                 8
auf welche ich anschließend noch eingehen werde, subsidiär anzuwenden und tritt
bei der Ausübung wirtschaftlicher Rechte in Form der Grundfreiheiten zurück.15

Aus dem Wortlaut des AEUV ergaben sich aber zunächst noch erhebliche
Unterschiede im Schutzbereich der einzelnen Grundfreiheiten. Beispielsweise
wurden im Bereich der Warenverkehrsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit und der
Kapitalverkehrsfreiheit ausdrücklich Beschränkungen als unzulässig bezeichnet,
währenddessen bei der Niederlassungsfreiheit und der Arbeitnehmerfreizügigkeit
zunächst einmal nur die Differenzierung auf Grund der Staatsangehörigkeit verboten
war. Durch die Auslegung der Grundfreiheiten im Laufe der Jahre durch den EuGH,
welcher alle Grundfreiheiten so auslegte als würden sie sowohl über ein
Diskriminierungs- als auch ein Beschränkungsverbot verfügen, konnte dieser Mangel
jedoch behoben werden.16

Ein wichtiges Urteil in diesem Zusammenhang ist das Urteil Dassonville, welches
sich auf die Warenverkehrsfreiheit bezieht. Daraus entwickelte sich die Dassonville-
Formel, aus welcher hervorgeht, dass unter Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie
bei   mengenmäßigen        Beschränkungen         im    Sinne     von    Art   34   AEUV,    alle
Handelsregelungen der Mitgliedstaaten zu verstehen sind, welche geeignet sind,
„den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder
potenziell   zu   behindern“.     Dieses    Urteil     lässt    klar    erkennen,   dass    auch
diskriminierungsfreie Beschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten, welche die
Warenverkehrsfreiheit betreffen, in den Anwendungsbereich von Art 34 AEUV
fallen.17

Diese Auslegung würde allerdings wiederum bedeuten, dass sämtliche Waren und
Güter, welche in einem Mitgliedstaat ordnungsgemäß hergestellt wurden, in einem
anderen Mitgliedstaat eingeführt und dort verkauft werden könnten. Das Bestreben
eine so weitreichende Konsequenz zu vermeiden, bestätigt sich in der Cassis-de-
Dijon18 Rechtsprechung. Daraus geht hervor, dass zwingende Erfordernisse, welche
den Gesundheitsschutz, den Verbraucherschutz oder auch den Schutz des

15 Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §12 Rn 1 ff.
16
   Vgl Ehlers, Allgemeine Lehren der Grundfreiheiten, in Ehlers (Hrsg), § 7 Rn 46 ff.
17
   EuGH, Rs 8/74, Slg 11.07.1974, 837, Rn 5 – Dassonville.
18 EuGH, Rs 120/78, Slg 20.02.1979, 649, Rn 8 – Rewe-Zentral-AG.

                                              9
Handelsverkehrs sowie die steuerliche Kontrolle, aus dem Tatbestand des Art 34
AEUV ausgenommen werden müssen.19

Es gab noch weitere Entscheidungen, wie zum Beispiel jene aus dem Keck und
Mithouard-Verfahren20, in denen es darum ging, die Verkaufsmodalitäten wie etwa
die Ladenöffnungszeiten21 oder die Apothekenpflichtigkeit bestimmter Produkte22 aus
dem Tatbestand des Art 34 AEUV auszuschließen und die Dassonville-Formel noch
weitreichender einzuschränken.23

Die Rechtsprechung im Bereich der Warenverkehrsfreiheit zeigt also, dass es vorerst
zu einer weitreichenden Auslegung bei den Tatbeständen gekommen war, diese
aber kurz darauf durch weitere Entscheidungen durch den EuGH relativiert wurde.
Diese Entwicklung ließ sich nicht nur bei der Warenverkehrsfreiheit feststellen,
sondern auch bei den anderen Grundfreiheiten.

Ein erwähnenswertes Beispiel die Dienstleistungsfreiheit betreffend, ist die Van
                             24
Binsbergen-Entscheidung.           Hier lässt der EuGH bereits in seiner ersten
Entscheidung     erkennen,        dass   auch    das    Beschränkungsverbot         auf     die
Dienstleistungsfreiheit anzuwenden ist. Es dauerte daraufhin nicht lange bis der
EuGH in einer weiteren Entscheidung, der sogenannten Alpine Investments-
Entscheidung 25 , zu erkennen gab, dass die Einschränkungen aus dem Keck-
Verfahren auch auf die Dienstleistungsfreiheit übertragen werden können. Nicht
diskriminierende Beschränkungen dürfen nach dem Verständnis der Keck-
Rechtsprechung       nur     dann        untersagt      werden,      wenn     sie         durch
Genehmigungsvoraussetzungen oder Verbote oder durch die Verursachung
zusätzlicher Kosten bei der Erbringung grenzüberschreitender Leistungen, den
Zugang zum Dienstleistungsmarkt eines Mitgliedstaats behindern. Insofern sich die
Ausübung einer Dienstleistung nicht auf den freien Verkehr auswirkt, sind solche
Beschränkungen      jedoch   erlaubt.    Indessen      sind   in   der   neueren    Judikatur

19
   S.a. Mayer, die Warenverkehrsfreiheit im Europarecht – eine Rekonstruktion, EuR 2003,
793 ff.
20
   EuGH, Rs C-267/91, C-268/91, Slg 24.11.1993, I-6097, Rn 16 - Keck und Mithouard.
21
   EuGH, Rs C-69/93, C-258/93, Slg 02.06.1994, I-2355, Rn 12 f - Punta casa.
22
   EuGH, Rs C-322/01, Slg 11.12.2003, Rn 72 - Deutscher Apothekerverband e.V.
23
   Vgl Ehlers (Hrsg), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn 46 ff.
24
   EuGH, Rs 33/74, Slg 03.12.1974, Rn 10 - van Binsbergen.
25
   EuGH, Rs C-384/93, Slg 26.01.1995, Rn 33 ff - Alpine Investment.

                                            10
Entscheidungen, wie zum Beispiel die Vanderborght-Entscheidung 26 , zu finden,
welche staatliche Maßnahmen, welche in nichtdiskriminierender Art und Weise nur
die Ausübung einer Dienstleistung regeln, als einen Eingriff in Art 56 AEUV
bewerten.27

                                                                                             28
Für   die     Arbeitnehmerfreizügigkeit          war       die   Bosman-Entscheidung               von
grundlegender Bedeutung. Der EuGH lässt in dieser Entscheidung nämlich
erkennen,     dass    nicht     nur    das      Beschränkungsverbot,          sondern   auch       die
einschränkende Auslegung nach der Keck-Formel ebenso auf die Grundfreiheit der
Arbeitnehmerfreizügigkeit angewendet werden kann. Anhand dieser Entscheidungen
durch den EuGH lässt sich also schließen, dass eine Konvergenz der gemeinsamen
Dogmatik der Grundfreiheiten besteht.29

Zusammenfassend         lässt      sich      festhalten,     dass     die    nichtdiskriminierenden
Regelungen, die den Marktzugang beschränken, im Alltag schwer von solchen
Regelungen      zu     unterscheiden          sind,    welche        nur    die   Ausübung        einer
Wirtschaftstätigkeit im Binnenmarkt regeln. Aus diesem Grund hat der EuGH eine
Eingrenzung des Verbotstatbestandes der Grundfreiheiten vorgenommen, indem er
weitere Kriterien für dessen Eingrenzung aufgestellt hat. Zu diesen Kriterien ist unter
anderem auch die Spürbarkeit zu zählen, so geht man in der Literatur davon aus,
dass keine Beschränkung der Grundfreiheiten vorliegt, wenn die Behinderung des
zwischenstaatlichen Handels nicht spürbar ist. Eine „Spürbarkeitsprüfung“ wird vom
EuGH allerdings abgelehnt, da diese im Bezug auf die Grundfreiheiten mehr oder
weniger     nicht    praktikabel      ist.    Anstelle      dieser     wendet     der   EuGH       ein
Kausalitätskriterium an – darunter ist zu verstehen, dass die aufgrund der nationalen
Maßnahme geltend gemachte Beschränkung nicht von einem „zukünftigen,
hypothetischen Ereignis“ d.h. von einem „ungewissen und indirekten“ 30 Ereignis,
abhängen darf. Die getroffenen Maßnahmen und die Handelsbeschränkungen
müssen also einen direkten Zusammenhang aufweisen, woraus sich schlussfolgern

26 EuGH, Rs C-339/15, Slg 04.05.2017, Rn 61 ff. – Vanderborght.
27 Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Rn 156 f.
28
   EuGH, Rs C-415/93, Slg 15.12.1995, Rn 103 - Bosman.
29
   Ehlers (Hrsg), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, §7 Rn 46 ff.
30
   Vgl EuGH, Rs C-69/88, Slg 1990, I-583 Rn 11 - Krantz.

                                                  11
lässt, dass Maßnahmen, welche die Grundfreiheiten nur hypothetisch betreffen, aus
diesem Grund für eine Beschränkung nicht in Frage kommen.31

4.1.4 Drittwirkung und unmittelbare Anwendbarkeit

Überaus wichtig für die Anwendbarkeit des Europarechts war die Rechtsprechung
bezüglich der Wirkkraft des Primärrechts. Dieses Primärrecht steht in der
Rangordnung über dem Sekundärrecht und verdrängt ebenso nationales Recht,
welches mit dem Europarecht nicht im Einklang steht.32 Das Primärrecht verhält sich
gegenüber dem Sekundärrecht, wie das Verfassungsrecht gegenüber einfachem
Gesetzesrecht auf nationaler Ebene. 33 Daraus schließend ergibt sich, dass das
Sekundärrecht immer mit dem Primärrecht übereinstimmen und mit diesem konform
gehen muss.34

Im Zusammenhang mit den Grundfreiheiten hat der EuGH deren unmittelbare
Wirkung bereits früh durch eine die Warenverkehrsfreiheit betreffende Entscheidung
festgestellt und bestätigt. Fortan wurde die unmittelbare Wirkung nicht nur auf die
Warenverkehrsfreiheit angewendet, sondern auf alle Grundfreiheiten ausgeweitet.35
Nachfolgend möchte ich nun auf die verschiedenen Grundfreiheiten eingehen und
eruieren, inwieweit den einzelnen Grundfreiheiten eine Drittwirkung zukommt.

4.1.4.1 Arbeitnehmerfreizügigkeit und ihre unmittelbare Drittwirkung

Im   Hinblick   auf   die   Arbeitnehmerfreizügigkeit   spielt   die   Drittwirkung        der
                                                                                      36
Grundfreiheiten eine wichtige Rolle. Dies wird unter anderem im Deliège-Urteil , in
dem es um die internationale Zulassung von Teilnehmern zu einem Judowettbewerb
durch den belgischen Judo-Verband ging, sichtbar. An dieser Stelle sei abermals die
Bosman-Entscheidung37 erwähnt, in der es um die Transferpolitik, genauer gesagt
um die Ausländerklauseln, die den Fußballvereinen von den Fußballverbänden

31
   Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Rn 43 ff.
32
   Perner, Grundfreiheiten, Grundrechte-Charta und Privatrecht, 29 ff.
33
   Vgl Köndgen, Europäische Methodenlehre2, in Riesenhuber (Hrsg), §7 Rn 9c.
34
   Schwarze, EU-Kommentar 3, Art19EUV, Rn 22 ff.
35
   Vgl EuGH, Rs 26/62, Slg 05.02.1963, van Gend u. Loos, Rn 3.
36
   Vgl EuGH, Rs C-51/96, C-191/97, Slg 11.04. 2000, Rn 47 - Deliège.
37
   EuGH, Rs C-415/93, Slg 15.12 1995, Rn 96 - Bosman.

                                           12
vorgeschrieben werden, geht. Der EuGH erklärte in seinem Urteil, dass die
Anforderung, eine gewisse Anzahl an Ausländern im Verein haben zu müssen,
gegen die Abreitnehmerfreizügigkeit verstößt und mit dem AEUV nicht in Einklang zu
bringen sei. Es handle sich einerseits um eine Diskriminierung auf Grund der
Staatsangehörigkeit,    andererseits    sei     die   Ausländerklausel      nicht   mit   den
diskriminierungsfreien Beschränkungen vereinbar. Mit diesen Entscheidungen
bestätigte der EuGH eine Drittwirkung im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit,
sowohl gegenüber bestimmten Vereinen wie auch gegenüber sogenannten
intermediären Gewalten, wobei es sich um nichtstaatliche, private Einrichtungen
handelt, bei denen die private Normsetzung mit der Normsetzung von staatlichen
Einrichtungen in ihrer Wirkung und ihrem Gewicht gleichgesetzt werden kann. 38
Dadurch sollte erreicht werden, dass es durch den grundfreiheitlichen Schutz der
schwächeren einzelnen Partei gegenüber einer stärkeren kollektiven Verbandsmacht
zu keiner asymmetrischen und unfairen Ausgestaltung von Verträgen kommt. Somit
kam es zu einer Ausweitung der Verpflichteten im Hinblick auf die Grundfreiheiten im
Bereich von privaten Institutionen und Einrichtungen mit besonderer kollektiver
Macht.39
Die nächste Erweiterung der Drittwirkung nahm der EuGH mit dem Urteil Agonese40
vor. Es kam zu einer Ausdehnung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf sämtliche –
auch zwischen Privatpersonen – abgeschlossenen Verträge, wodurch ein weiterer
Schritt Richtung unbeschränkter Drittwirkung gemacht worden ist. 41 Obwohl das
Urteil nicht nur positive Kritik erntete, hielt der EuGH daran fest und bestätigte eine
unmittelbare    Drittwirkung    der    Grundfreiheiten      auch      für    privatrechtliche
Arbeitsverhältnisse mit der Raccanelli-Entscheidung.42 In dieser Entscheidung ging
es    darum,    dass     ein    italienischer      Doktorrand   bei      einer      deutschen
Forschungseinrichtung gegenüber seinen deutschen Kollegen hinsichtlich der
Möglichkeit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung diskriminiert wurde.
Dadurch entstand ihm in Bezug auf seine soziale Absicherung ein Nachteil und es
kam zu einem Verstoß gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit.43

38
   Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht8, Rn 884.
39
   Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten, S 194.
40
   EuGH, Rs C-281/98, Slg 2000, Rn 30 ff. - Angonese.
41
   Streinz, Europarecht, Rn 850.
42
   EuGH, Rs C-94/07, Slg17.07. 2008, Rn 45 - Raccanelli.
43
   Birkemeyer, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten – Zugleich Anmerkung zum
Urteil des EuGH v. 17.07.2008, Rs C-94/07 (Raccanelli) - in: EuR 2010, S 662 - 677.

                                              13
Zusammenfassend ist somit in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit davon
auszugehen, dass der Kreis der Verpflichteten im Hinblick auf die Drittwirkung durch
den EuGH sehr weit auszulegen ist.

4.1.4.2 Warenverkehrsfreiheit und ihre unmittelbare Drittwirkung

Für die Warenverkehrsfreiheit und deren Drittwirkung war die Fra.bo SpA-
Entscheidung durch den EuGH aus dem Jahre 2012 von entscheidender
Bedeutung. 44 Bis zu diesem Urteil hat der EuGH nämlich eine unmittelbare
Drittwirkung im Bereich der Warenverkehrsfreiheit abgelehnt. Dieser Entscheidung
liegt der Sachverhalt zu Grunde, dass ein in Italien ansässiges Unternehmen
namens Fra.bo, welches Kupferfittings für Gas- und Wasserleitungen herstellte und
verkaufte, bei der DVGW – einem gemeinnützigen, privatrechtlichen Verein ohne
Gewinnerzielungsabsicht in Deutschland – die Zertifizierung ihrer Waren beantragte
und vorerst befristet auch ein solches Zertifikat erhielt. Mit einer Zertifizierung durch
die DVGW kann davon ausgegangen werden, dass das Produkt mit dem deutschen
Recht konform ist. In weiterer Folge kam es aber zu Normenänderungen und folglich
zu einem obligaten Nachprüfungsverfahren, woraufhin die Firma Fra.bo jedoch
keinen erneuten Antrag auf Zertifizierung stellte und ihr somit das Zertifikat entzogen
beziehungsweise dieses nicht verlängert wurde. Daraufhin reichte die Firma Fra.bo
eine Klage mit Bezug auf die Warenverkehrsfreiheit ein. Das angerufene Gericht
ersuchte den EuGH in dieser Sache, um eine Vorabentscheidung bezüglich der
Auslegung der Art 34, 101 und 106 AEUV.45
Der EuGH stellte in seinem Urteil fest, dass die DVGW ein privates Unternehmen ist
und dessen Tätigkeit nicht dem Staat zugeordnet werden kann. Trotzdem erklärte
der EuGH die Warenverkehrsfreiheit für die DVGW und deren Tätigkeiten für
anwendbar, da auch die Maßnahmen der DVGW in diesem Bereich – ebenso wie
staatliche Bestimmungen – zu einer Einschränkung im Bereich des Warenverkehrs
führen können.

Mit diesem Urteil hat der EuGH einen großen Schritt zur Anerkennung der
Drittwirkung der Warenverkehrsfreiheit gemacht. Es kann somit angenommen

44
     EuGH, Rs C-171/11, Slg 12.7.2012, - Fra.bo SpA/DVGW.
45
     Vgl Weidermann, Drittwirkung der Europäischen Grundfreiheiten Aufsatz ÖR.

                                             14
werden, dass auf private Unternehmen, sofern sie mit Regelungsbefugnissen
ausgestattet sind mit welchen sie den Marktzugang beeinflussen können, auch die
Warenverkehrsfreiheit und deren Bestimmungen angewendet werden können.

4.1.4.3 Niederlassungsfreiheit und ihre unmittelbare Drittwirkung

Auch im Bereich der Niederlassungsfreiheit gibt es einige Urteile, welche darauf
schließen lassen, dass eine Drittwirkung in diesem Bereich gegeben ist. Eines dieser
Urteile wäre zum Beispiel das Urteil des EuGH in der Rechtssache Van
Ameyde/UCI. 46 In diesem Rechtsstreit bestätigte der EuGH, dass ein Schutz im
Bereich der Niederlassungsfreiheit auch gegenüber privaten Akteuren, in diesem
speziellen Fall handelte es sich um ein Versicherungsbüro, gegeben ist. Somit kann
auch im Bereich der Niederlassungsfreiheit von einer unmittelbaren Drittwirkung
gegenüber Privaten ausgegangen werden.
Eine weitere Entscheidung des EuGH, mit welcher er die unmittelbare Drittwirkung
der Niederlassungsfreiheit bestätigt, war der Fall Wouters47. In dieser Entscheidung
ging es um die Rechtsanwälte Wouters und Savelbergh aus Amsterdam und
Rotterdam, welchen es nicht erlaubt worden war, eine Sozietät mit den
Wirtschaftsprüfergesellschaften Arthur Anderson und Price Waterhouse zu gründen.
Die Rechtsanwälte riefen zusammen mit den Wirtschaftsprüfern das zuständige
niederländische Gericht an, nachdem sie zuerst erfolglos Beschwerde bei der
niederländischen Rechtsanwaltskammer eingelegt hatten. Das Gericht ersuchte den
EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren über die Auslegung und Gültigkeit des
angewendeten Rechts zu entscheiden, um eine unterschiedliche Auslegung zu
verhindern.48
Der EuGH kam schlussendlich zu der Entscheidung, dass auch hier die Regelungen
aus dem AEUV bezüglich der Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit
eingehalten     werden   müssen,     mit    denen    selbständige     Tätigkeiten   und
Dienstleistungen kollektiv geregelt werden – auch wenn diese keinen hoheitlichen
Ursprung aufweisen sondern einen privaten. In seiner Begründung verweist der

46
   EuGH, Rs 90/76, Slg 09.06 1977, Rn 28 - Van Ameyde/UCI.
47
   EuGH, Rs C-309/99, Slg 19.02.2002, Rn 120 - Wouters.
48
   Vgl Abteilung für Presse und Information, PRESSEMITTEILUNG Nr 15/02 19. Februar
2002, Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-309/99
Wouters, Savelbergh, URL:
https://curia.europa.eu/de/actu/communiques/cp02/aff/cp0215de.htm (Stand 15.04.2021).

                                           15
EuGH auf den „effet utile“ Gedanken. Damit gemeint ist, dass hoheitliche
Hindernisse zwischen den Mitgliedstaaten nicht dazu gedacht sind, durch private
nicht hoheitliche Maßnahmen umgangen zu werden, um anschließend mit gleicher
Wirkung wieder errichtet werden zu können.49 Somit gibt es auch im Bereich der
Niederlassungsfreiheit eine Drittwirkung gegenüber intermediären Gewalten.

4.1.4.4 Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit und deren unmittelbare
        Drittwirkung

Bei der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit gibt es noch keine Entscheidungen
durch den EuGH, aus welchem sich die Drittwirkung dieser Grundfreiheit einwandfrei
ableiten lassen würde. Die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit ist am ehesten mit
der Warenverkehrsfreiheit zu vergleichen. Daher könnte man seit dem Urteil Fra.bo
SpA/DVGW, welches ich oben bereits ausführlich behandelt habe, und der diesem
Urteil zugrunde liegenden Rechtsprechung durch den EuGH vermuten, dass im
Bereich Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit ebenfalls eine Drittwirkung besteht.50
So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich die Generalanwältin Trstenjak in ihrem
Schlussantrag für eine Übertragung der Drittwirkung auch in den Bereich der Kapital-
Zahlungsverkehrsfreiheit ausgesprochen hat.51
Ob und wie der EuGH über die Drittwirkung im Bereich der Kapital- und
Zahlungsverkehrsfreiheit urteilen wird, wird sich wohl in den nächsten Jahren zeigen.

4.1.5 Grenzüberschreitender Sachverhalt

Für die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten ist nach ständiger Rechtsprechung des
EuGH52 ein „grenzüberschreitendes Element“53 Voraussetzung. Aus diesem Grund

49
   Vgl Kaufmann, Die Struktur der Europäischen Grundfreiheiten – Konvergenz und
Divergenz?, Würzburger Online-Schriften zum Europarecht, Nr 5. URN: urn:nbn:de:bvb:20-
opus-107231, S 68 ff.
50
   Vgl Kaufmann, Die Struktur der Europäischen Grundfreiheiten – Konvergenz und
Divergenz?, Würzburger Online-Schriften zum Europarecht, Nr 5. URN: urn:nbn:de:bvb:20-
opus-107231, S 68 ff.
51
   Generalanwältin Trstenjak, Schlussanträge vom 28.3.2012 – C-171/11 Fra.bo SpA, Rn 44.
52
   So zB. EuGH, Rs 20/87, Slg 08.12.1987, Rn 12 - Gauchard, [Niederlassungsfreiheit]; Rs
C-41/90, Slg 23.04.1991, Rn 37 -.Höfner und Elser; Rs C-332/90, Steen, Slg 28.01.1992, I-
341, Rn 9 [Arbeitnehmerfreizügigkeit], verb Rs C-29/94, C-30/94, C-31/94, C-32/94, C-33/94,
C-34/94 und C-35/94, Aubertin ua; Slg 1995, I-301, Rn 9; Rs C-17/94 Gervais; Slg 1995, I-
4353, Rn 26 [Dienstleistungsfreiheit].

                                            16
sind die Grundfreiheiten bei rein innerstaatlichen Problemen nicht anzuwenden, da
hier kein grenzüberschreitendes Element vorhanden ist. Diese Unterscheidung von
grenzüberschreitenden und internen Maßnahmen kann zu Schwierigkeiten führen.
Nicht untersagt durch die Grundfreiheiten ist die Inländerdiskriminierung, ob eine
solche Diskriminierung erlaubt ist, muss durch das nationale Recht geregelt
werden.54 Nun sollte geklärt werden, ob das Element des grenzüberschreitenden
Sachverhaltes bei allen Grundfreiheiten anerkannt ist beziehungsweise worin
strukturelle Unterschiede zu erkennen sind.55

Dem in Art 34 und Art 35 AEUV enthaltenem Wortlaut ist zu entnehmen, dass es sich
bei der Warenverkehrsfreiheit um Maßnahmen handelt, welche zwingend „zwischen
den Mitgliedstaaten“ stattfinden müssen. Diesen grenzüberschreitenden Bezug hat
der EuGH wiederum in einigen Entscheidungen festgestellt56 und damit festgehalten,
dass betreffende Waren eine innergemeinschaftliche Grenze überschreiten müssen.
Wirft man nun einen Blick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit, welche sich nach dem
Wortlaut des Art 45 Abs 1 AEUV auf die Freizügigkeit „innerhalb der Union“ bezieht,
muss hier anstelle einer Ware eine Person in Form eines Arbeitnehmers die Grenze
überqueren.

Zur Dienstleistungsfreiheit (siehe Art 56 AEUV) ist anzumerken, dass ebenfalls das
Erfordernis eines grenzüberschreitenden Sachverhalts vorausgesetzt wird. 57 Die
Dienstleistung kann entweder vom Dienstleistungsempfänger beim Erbringer in
Empfang genommen werden oder umgekehrt. Entweder erfolgt dabei ein
Grenzübertritt durch den Dienstleistungsempfänger oder den Erbringer oder auch die
Dienstleistung selbst wird grenzüberschreitend erbracht.

53
   Vgl auch Gundel DVBl 2007, 269, 270f, Lackhoff, Die Niederlassungsfreiheit des EGV –
nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht 2000, Fn 167. AA zB Epiney (Fn74) S 201,
203, 209 f, Lackhoff (Fn 77) S 55 ff.
54
   Ehlers (Hrsg), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, §7, Rn 23 ff.
55
   Kaufmann, Die Struktur der Europäischen Grundfreiheiten – Konvergenz und Divergenz?,
Würzburger Online-Schriften zum Europarecht, Nr 5. (2015), URN: urn:nbn:de:bvb:20-opus-
107231, S 5 ff.
56
   Vgl EuGH, Rs C-267/91, C-268/91, Slg 24.11.1993, I-6097, Rn 16 f. – Keck, EuGH, Rs C-
15/79, Slg, 08.11.1979, 3409, Rn 7, 9 - Groenveld.
57
   EuGH, verb. Rs 286/82 u. 26/83, Slg 1984, 377, Rn 10 - Luisi und Carbone; EuGH,
Rs186/87, Slg 1989, 195, Rn 15 - Cowan; EuGH, Rs C-158/96, Slg 1998, I-1931, Rn 29 -
Kohll.

                                           17
Es ist also möglich, dass die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten sowohl von
Maßnahmen des Herkunfts- als auch des Ziel- beziehungsweise Bestimmungsstaats
ausgehen.58

4.1.6 Rechtfertigungsgründe

Unter gewissen Umständen kann eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten auch
gerechtfertigt   sein,   hier     spricht    man     dann    von    den    sogenannten
Rechtfertigungsgründen. Diese Rechtfertigungsgründe können geschrieben im
Unionsrecht verankert sein – es besteht auch die Möglichkeit von ungeschriebenen
                           59
Rechtfertigungsgründen.         Durch   diese     Rechtfertigungsgründe   wird   es   den
Mitgliedstaaten im Einzelfall ermöglicht, die nach dem AEUV verbotenen
Maßnahmen dennoch zu ergreifen. Solche Rechtfertigungen sind grundsätzlich
allerdings nur dann möglich, wenn die Causa nicht bereits durch das Sekundärrecht
geregelt ist. Allgemein gilt, dass sämtliche Rechtfertigungsgründe rein nicht-
wirtschaftlicher Natur sind und somit auch nicht zum Schutz vor wirtschaftlichen
Notsituationen missbraucht werden können.60

4.1.6.1 Ausdrückliche Rechtfertigungsgründe

Wie oben bereits erwähnt können je nach Grundfreiheit Beschränkungen aufgrund
von vertraglich festgehaltenen Ausnahmen gemäß Art 36, Art 45 Abs 3, Art 52, Art
62 und Art 65 AEUV gerechtfertigt werden, man spricht hier also von geschriebenen
                                                                    61
oder     auch     ausdrücklichen        Rechtfertigungsgründen.           Sowohl      die
Arbeitnehmerfreizügigkeit,       die        Niederlassungsfreizügigkeit     und       die
Kapitalverkehrsfreiheit als auch die Dienstleistungsfreiheit beziehen sich auf einen
Rechtfertigungsgrund im Sinne des ordre public. In diesem Sinne können Eingriffe
aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit gerechtfertigt
sein. Diese Eingriffe sind nach ständiger Rechtsprechung des EuGH eng

58
    EuGH, Rs C-19/92 Slg 1993, I-1663, Rn 15 f. -. Kraus; EuGH, Rs C-415/93, Slg 1995, I-
4921, Rn 96 – Bosman; EuGH, Rs C-109/04, Slg 2005, I-2421, Rn 25 f. - Kranemann.
59
    Ehlers (Hrsg), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, §7 Rn 90 ff.
60
    Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Rn 44 ff.
61
    Vgl Cremer, Grundstudium ÖR, Die Grundfreiheiten des Europäischen Unionsrechts S 51
ff.

                                             18
auszulegen.62 Durch diese strikte Auslegung durch den EuGH müssen staatliche
Interessen von erheblicher Bedeutung betroffen sein63, wodurch die Grundinteressen
der Gesellschaft und/oder deren öffentliche Sicherheit berührt werden.64 Unter dem
Begriff der öffentlichen Sicherheit lässt sich die innere und äußere Sicherheit eines
Mitgliedstaates sowie der Schutz von dessen Existenz vor etwaigen Bedrohungen
                                                                                      65
und   der   Fortbestand    des    staatlichen   Gewaltmonopols         subsumieren.        In
Zusammenhang gebracht werden kann hiermit auch der Begriff der öffentlichen
Ordnung und Sicherheit laut Art 36 AEUV. Auf den Schutz der Gesundheit vor
epidemischen und sonstigen übertragbaren Krankheiten – ebenfalls in Art 36 AEUV
– sollten wir in den folgenden Kapiteln ein besonderes Augenmerk legen.66

Auf Grund der oben genannten vertraglichen Rechtfertigungsgründe und deren
restriktiven Auslegung durch den EuGH muss es den Mitgliedstaaten möglich sein,
sachlich notwendige Maßnahmen auch zusätzlich zu den niedergeschriebenen
Rechtfertigungsgründen rechtfertigen zu können.67

4.1.6.2 Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe

Mit der Zeit entstand ein immer größer werdender Bedarf für die Anerkennung
weiterer Rechtfertigungsgründe. Einerseits durch die frühe Festlegung der
restriktiven Auslegung der geschriebenen Rechtfertigungsgründe, andererseits durch
die Interpretation des EuGH der Grundfreiheiten nicht mehr nur als Diskriminierungs-
, sondern zudem auch als Beschränkungsverbote.68 So kam es, dass der EuGH in
der   Cassis   de    Dijon-Entscheidung    –    zwingende     Erfordernisse   –   die      im
Allgemeininteresse      der      Mitgliedstaaten     lagen,      als      ungeschriebene
Rechtfertigungsgründe anerkannte.69 Unter solche im Allgemeininteresse liegenden

62
    Vgl EuGH, Slg 1974, 1337 , Rn 18 Van Duyn; Slg 1977, 5, Rn 12 ff – Bauhuis; Slg 1981,
1625 Rn 7 - Kommission/Irland; Slg 1991, 1361, 1377 - Kommission/Griechenland.
63
    Vgl Becker, in Schwarze (Hrsg), EUV, Art 30 EGV Rn 11.
64
    EuGH, Rs C-54/99 Slg 2000, I-1335, Rn 17 - Scientology.
65
    EuGH, Rs C-367/89, Slg 1991, I-4621, Rn 22 – Richardt; EuGH, Rs 72/83, Slg
10.07.1984, 2727, Rn 34 f. - Campus Oil.
66
    Art 29 Abs 1 RL 2004/38/EG, Vgl auch Becker/Schwarze/Schneider/Wunderlich, Art 45,Rn
133.
67
    Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 22 Rn 42.
68
    Vgl Cremer, Grundstudium ÖR, Die Grundfreiheiten des Europäischen Unionsrechts S 51
ff.
69
    EuGH, Rs 120/78, Slg 20.02.1979, Rn 8 - Rewe-Zentral-AG.

                                           19
Rechtfertigungsgründe fallen unter anderem eine wirksame steuerliche Kontrolle, der
Schutz der öffentlichen Gesundheit, die Lauterkeit des Handelsverkehrs und der
Verbraucherschutz. 70 Auch können alle anderen im Allgemeininteresse liegenden
Zwecke in Betracht gezogen werden mit Ausnahme jener Maßnahmen, welche aus
rein wirtschaftlichen Gründen getätigt werden würden.71

Diese ungeschriebenen Schranken wurden zu Beginn für den freien Warenverkehr
entwickelt    wurden    aber   später   auf    alle   anderen   Grundfreiheiten    ebenso
angewendet.72 Die „zwingenden Erfordernisse“, welche in der Cassis-Entscheidung
beispielhaft katalogisiert wurden, wurden später um weitere Schutzgüter wie zum
Beispiel kulturelle Gründe, Schutz der Medienvielfalt oder Erfordernisse des
Umweltschutzes erweitert. Zusammenfassend werden letzten Endes vom EuGH alle
legitimen Belange des Allgemeinwohls akzeptiert – sofern diese, noch einmal
ausdrücklich erwähnt, immer von nicht-wirtschaftlicher Natur sind.73 Diese Akzeptanz
kommt für die Personenverkehrsfreiheit in der Gebhard-Formel 74 zum Ausdruck.
Demzufolge müssen 4 Voraussetzungen erfüllt sein, um nationale Maßnahmen,
welche die Ausübung der durch den Vertrag garantierten und grundlegenden
Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen, zu rechtfertigen:

     „Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus
      zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen
 geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten,
                       und sie dürfen nicht über das hinausgehen,
                   was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.“75

70
   Ehlers (Hrsg), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, §7, Rn 101 ff.
71
   Vgl EuGH, Slg 1998, I-1831, Rn 39 – Decker; Slg 1998, I - 1931, Rn 41 - Kohll (Fall 11);
Slg 2000, I - 151, Rn 33 - Schutzverband gegen den unlauteren Wettbewerb = JK 10/00;
EGV Art 28/1, Slg 2003, I-4509, Rn 72 - Müller-Fauré.
72
   Vgl für die Arbeitnehmerfreizügigkeit zB EuGH, Slg 1996, I–2617, Rn 19 - O`Flynn:
„objektive Erwägungen“, für die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit EuGH, Slg 1991,
I–4221, Rn 15ff – Säger; Slg 1997, I-3689, Rn 8 - Familiapress: „Allgemeininteresse“ = JK
2/98 EGV Art 30/1, Slg 1998, Rn 41 - Kohll (Fall 11), Slg 1999, I-2835, Rn 19 - Pfeiffer:
„zwingende Gründe des Gemeinwohls“; ebenso Slg 2003, I-4509, Rn 73 - Müller- Fauré.
73
   Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Grundfreiheiten Rn 44 ff.
74
   EuGH, Slg 1995, Rs C-55/94, I-4165 Rn 37, - Gebhard.
75
   Vgl EuGH Slg 1993 I-01663, Rs C-19/92, Kraus.

                                              20
Die Rechtfertigungsgründe können in terminologischer Hinsicht unterschieden
werden, jedoch nicht ihren Inhalt betreffend. So ist bei der Warenverkehrsfreiheit von
„zwingenden Erfordernissen“ die Rede, wohingegen die Personenverkehrsfreiheit
von „zwingenden Gründen“ spricht.

Anfänglich war unsicher, ob diskriminierende Verstöße gegen die Grundfreiheiten
von Mitgliedstaaten dadurch gerechtfertigt werden können, dass sich jener
Mitgliedstaat auf ungeschriebene zwingende Erfordernisse beruft. Der EuGH ging bei
seiner Rechtsprechung davon aus, dass eine Anwendung zwingender Erfordernisse
nur dann in Betracht gezogen werden könne, wenn die betreffende Maßnahme
sowohl auf Inländer als auch auf Ausländer „unterschiedslos“ anwendbar war. Aus
diesem Grund war eine unmittelbare Diskriminierung ausschließlich durch Art 36, 45
Abs 3 sowie Art 52, 62 und 65 AEUV zu rechtfertigen. Andererseits wurde
angenommen, dass eine Rechtfertigung mittelbarer Diskriminierungen durch
ungeschriebene zwingende Erfordernisse möglich war. Eine Unterscheidung
zwischen den beiden Diskriminierungsformen ist tatsächlich aber nicht zu
rechtfertigen, da die Mitgliedsstaaten so versuchen könnten, durch Umgehungen ans
Ziel zu kommen. Aus diesem Grund sollten die zwingenden Erfordernisse auf alle
diskriminierenden Maßnahmen angewendet werden.76

4.1.6.3 Unionsgrundrechte als Rechtfertigungsgründe

Um das Kapitel der Rechtfertigungsgründe zu vervollständigen, sei eine weitere
Möglichkeit    der   Mitgliedstaaten,    Beschränkungen         der    Grundfreiheiten   zu
rechtfertigen, erwähnt – die Berufung auf die Unionsgrundrechte. Die Grundrechte
können zum Beispiel herangezogen werden, um das Allgemeininteresse darzulegen,
zwingende     Erfordernisse    zu    untermauern         oder   auch    um     geschriebene
Rechtfertigungsgründe näher zu definieren. Ein Beispiel aus der Judikatur hierfür
                                                    77                 78
wäre die „Omega Spielhallen“-Entscheidung                 des EuGH.         Hier klagte ein
Spielhallenbetreiber, welcher ein Spiel anbot, bei welchem mit pistolenähnlichen
Lasern auf Sensoren am Körper anderer Spieler geschossen werden sollte, auf
Verletzung der Dienstleistungsfreiheit gem Art 56 AEUV, nachdem ihm dieses Spiel

76
   Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Grundfreiheiten Rn 50 ff.
77
   EuGH, Rs C-36/02, Slg 2004, I-9609, Rn 28 ff - Omega Spielhallen.
78
   Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht6, §14 Rn 57 ff.

                                            21
Sie können auch lesen