Die Geschichte der europäischen Hymne

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Die Geschichte der europäischen Hymne
BRIEFING
Geschichtsreihe des Europäischen Union

       Die Geschichte der europäischen
                   Hymne
ZUSAMMENFASSUNG
Seit der Zwischenkriegszeit stellten sich die Förderer der europäischen Einheit die Frage nach einer
Hymne, die das Gefühl, einer Schicksalsgemeinschaft anzugehören sowie gemeinsame Werte zu
teilen, zum Ausdruck bringen könnte. Die Gründung des Europarates im Jahr 1949 gab Anlass zu
vielen Aufrufen. Projekte, die sich mit der Musik und dem Text für eine europäische Hymne
befassten, schossen wie Pilze aus dem Boden. Doch erst 1972 nahm der Europarat offiziell das
Thema der Ode an die Freude aus der Neunten Symphonie Ludwig van Beethovens als europäische
Hymne an.
In der Gemeinschaft, aus der später die Europäische Union hervorgehen sollte, nutzten die
Institutionen die Debatte über das Europa der Bürger Mitte der 1980er-Jahre, um ebenfalls die Ode
an die Freude als Hymne zu verabschieden. Am 29. Mai 1986 fand in Brüssel eine feierliche
Veranstaltung statt, in deren Rahmen die Europaflagge und die Europahymne offiziell
angenommen wurden. Obwohl man sich dafür entschied, dass die Hymne keinen Text haben sollte,
symbolisierte diese Hymne fortan die Europäische Union. Sie wird bei offiziellen Feierlichkeiten, an
denen die Europäische Union oder ihr Führungspersonal teilnimmt, und generell bei den meisten
Veranstaltungen mit europäischem Charakter gespielt.

                                                  In diesem Briefing
                                                      Das geeinte Europa und seine Symbole
                                                      Eine Vervielfachung der Projekte
                                                      Die Vorreiterrolle des Europarates
                                                      Bearbeitung der Ode an die Freude durch
                                                      Herbert von Karajan
                                                      Eine Hymne für            die Europäischen
                                                      Gemeinschaften?
                                                      Das Europa der Bürger und die Auswahl einer
                                                      Hymne
                                                      Eine Hymne ohne Text
                                                      Eine in den Verträgen unerwähnte aber im
                                                      Parlament sehr präsente Hymne

          EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments
                                  Autor: Étienne Deschamps
                                   Referat Bürgerbibliothek
                                    PE 690.568 – Mai 2021                                              DE
Die Geschichte der europäischen Hymne
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Das geeinte Europa und seine Symbole
Wie jedes politische Konstrukt steht das europäische Projekt vor der Notwendigkeit, die Verbindung
zwischen den europäischen Staaten und die gemeinsamen Werte durch leicht erkennbare Embleme
und Symbole leibhaftig werden zu lassen. Diese Symbole (Flagge, Leitspruch, Hymne, Europatag
und der Euro als Währung der Europäischen Union) haben eine identitätsstiftende Funktion. Sie
müssen es den Europäern ermöglichen, sich abzuheben und sich zu repräsentieren. Diese Symbole
erscheinen dann als Zeichen der Zugehörigkeit und Verbundenheit, ohne jedoch die nationalen
Symbole (mit Ausnahme der Währung) zu ersetzen. In diesem Sinne spielen die europäischen
Symbole eine Rolle als politische Legitimation und Sozialisation. Sie zielen darauf ab, Europa seinen
Bürgern näher zu bringen, indem sie das Gefühl verkörpern, ein und derselben Gemeinschaft
anzugehören 1.
Die Idee, über eine Hymne zu verfügen, die die Einheit zwischen den Nationen darstellt, ist nicht
neu. Auf der von Kaiser Napoleon III. ausgerichteten Weltausstellung 1867 in Paris wurde ein
öffentlicher Wettbewerb ausgerufen, in dessen Rahmen ein musikalisches Werk gefunden werden
sollte, das künftig als Hymne bei internationalen feierlichen Veranstaltungen fungieren sollte 2.
Konfrontiert mit zahlreichen Anfragen potenzieller Komponisten (anonym oder von Amateur- und
Profimusikern) legte das Auswahlkomitee fest, dass die „Hymne des Friedens“ ein Lied sein sollte,
„das sich wie eine universelle Hymne wie ein Lauffeuer verbreitet und immer wiederholt wird, das
jeder kennt und das jedem im Gedächtnis bleibt – eine Art Marseillaise des Friedens“. Der Erfolg
dieser Aufforderung überstieg die Erwartungen: Es werden hunderte von Vorschlägen aus
Frankreich und dem Ausland eingereicht. Keines der eingereichten Musikstücke vermochte es
jedoch, sich nachhaltig durchzusetzen; häufig wurde die geringe Qualität der Musikkompositionen
moniert. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts blieben internationale Hymnenprojekte den
Friedensbewegungen vorbehalten, obwohl bei der Eröffnungsfeier der ersten Olympischen Spiele
der Modern 1896 in Athen eine Hymne aufgeführt wurde.
In der Zwischenkriegszeit äußerten diejenigen, die sich für die europäische Einheit einsetzten,
ebenfalls das Bedürfnis nach einer Hymne, die bei Kundgebungen und öffentlichen
Demonstrationen gespielt werden konnte. Im Jahr 1929 beschloss die Paneuropa-Bewegung, die
einige Jahre zuvor in Wien von Richard Coudenhove-Kalergi gegründet worden war, am Ende ihrer
Kongresse das Thema der Ode an die Freude aus dem vierten Satz der Neunten Symphonie Ludwig
van Beethovens spielen zu lassen3. Das hielt einige pro-europäische Aktivisten nicht davon ab,
Hymnenentwürfe zu verbreiten, die inbrünstig das Entstehen der Vereinigten Staaten von Europa
forderten. Gleichzeitig wurden spontan zahlreiche Liedvorschläge an den Völkerbund geschickt, um
der in Genf ansässigen Organisation eine eigene Friedenshymne zu verschaffen. Auch wenn
Vorschläge aus der ganzen Welt eingereicht wurden, kamen die meisten doch aus Europa. Zu diesen
Projekten gehörte auch der Text einer internationalen
Hymne, die, die Universalität der menschlichen
Brüderlichkeit beschwörend, auf den 16 Takten von
                                                            Abbildung 1 – Partitur der
Beethovens Ode an die Freude beruhte. Die große             Hymne L‘Europe unie!, 1948
kulturelle und sprachliche Vielfalt der Mitgliedsländer des
Völkerbundes macht es jedoch äußerst schwierig, eine
Melodie oder einen Text zu finden, die in allen
Gesellschaften Anklang hätten finden können 4.
Nach dem Zweiten Weltkrieg beendeten die Teilnehmer
des Europa-Kongresses (der im Mai 1948 in Den Haag
vom      internationalen    Koordinationskomitee      der
Bewegungen für die Einheit Europas ausgerichtet wurde)
ihr Treffen mit einem Chor und einer Fanfare der Hymne
L’Europe unie! (Vereinigtes Europa!), um ihr Bekenntnis zu     Quelle: private Sammlung. © Alle Rechte
Frieden und Solidarität zwischen den Völkern Europas zu        vorbehalten.

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Die Geschichte der europäischen Hymne
Die Geschichte der europäischen Hymne

besiegeln. Die Partitur des Liedes L’Europe unie! wurde speziell für diesen Anlass von dem
niederländischen Musiker Louis Noiret auf den Text des Dichters Henrik Joosten geschrieben und in
niederländischer, französischer, englischer und italienischer Sprache adaptiert.

Eine Vervielfachung der Projekte
Angesichts der hohen Erwartungen, die der Europarat seit seiner Gründung im Jahr 1949 geweckt
hatte, fühlte man sich alsbald zu neuen Vorschlägen berufen 5. Im August 1949, als die Beratende
Versammlung ihre erste Sitzung in Straßburg abhielt, erhielt ihr Präsident, Paul-Henri Spaak, den
Text und die Melodie des Chant de la paix (Friedensgesang), den die Gesangslehrerin Jehane Louis
Gaudet zuvor komponiert hatte. Die ehemalige französische Résistance-Kämpferin, die sich selbst
als eine Mutter beschrieb, die während des letzten Krieges alle möglichen Schwierigkeiten,
einschließlich der Internierung, erlitten hatte, erklärte, dass das Lied Hymne sei, ein Aufruf an alle
Menschen auf der Welt, die sich nach Frieden sehnen – ohne jeden Hintergedanken – und die davon
träumen, sich zu vereinen und die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen. In kürzester Zeit
kamen Dutzende weitere Projekte hinzu: feierliche Hymnen, Kantaten, Oratorien oder
Triumphmärsche, unter anderem L’hymne de l’Europe unifiée (Carl Kahlfuss, 1949), Invocata
(Hans Horben, 1950), La marche de l’Europe unie (Maurice Clavel, 1951), An Europa (E. Hohenfeldt
und F. Schein, 1953), La Marseillaise de la paix (M. L. Guy, 1953), Europa vacata (Hanns Holenia,
1957), Cantate de l’Europe (Alfred Max und Jacques Porte, 1957), Europa! (P. Krüger), Hymnus
europeus, Vereintes Europa, Europe lève-toi! (L. Alban,
1961),    Paneuropa       (C. Falk),    Inno    all’Europa Abbildung 2 – Text des Inno
(Ferdinando Durand und Adriana Autéri Sìvori, 1961),           degli Europeisti, 1963
L’Européenne (J. Lafont, 1960), Sur un même chemin
(Jany Rogers,     1963),     Inno      degli    Europeisti
(Cosimo Distratis, 1963) oder auch L’hymne de la
Confédération européenne des anciens combattants
(Jean Ledrut, 1967).
In Italien nutzen europäisch orientierte Bewegungen die
Europäischen Schultage, um junge Menschen
anzusprechen und sie einzuladen, sich Hymnen für ein
geeintes Europa zu ersinnen. Der Aufwand trug jedoch
kaum Früchte: Die weit verstreuten Vorhaben und
Initiativen kamen meist nicht über die Projektphase
hinaus. Nur sehr wenige dieser Kompositionen wurden
öffentlich aufgeführt, darunter die Cantate de l'Europe,
die im April 1957 im Théâtre des Champs-Élysées in Paris
aufgeführt und vom französischen Rundfunk
übertragen wurde 6. Was die Symbole betraf, stand in
jener Zeit die Verabschiedung einer Flagge ganz oben
auf der Agenda des Europarates. Der Gedanke, auch eine
Hymne zu haben, wurde zwar nicht ausgeschlossen, Quelle: private Sammlung. © Alle
aber viele waren der Meinung, dass es besser wäre, auf Rechte vorbehalten.
ein Musikstück aus dem klassischen Repertoire
zurückzugreifen. So sollte vermieden werden, dass ein
Wettbewerb organisiert sich zwischen den bereits vorgeschlagenen Hymnen entschieden werden
muss Niemand sprach sich dafür aus, dass die europäische Hymne von einem Stück zeitgenössischer
Musik inspiriert werden könnte.

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Die Geschichte der europäischen Hymne
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Die Vorreiterrolle des Europarates
Entschlossen, den europäischen Gedanken zu fördern, um ein echtes gemeinsames Bewusstsein zu
schaffen, nahmen die Gremien des Europarates die Sache schließlich selbst in die Hand. Sie wollten
die Verwirrung vermeiden, die unweigerlich dadurch entstehen würde, dass bei Veranstaltungen
mit europäischem Charakter in ganz Europa ungeordnet unterschiedliche musikalische Werke
verwendet werden7. Auf Ersuchen des Ausschusses für allgemeine Angelegenheiten der
Beratenden Versammlung legte Generalsekretär Jacques-Camille Paris im August 1950 einen
Bericht vor, in dem er eine Reihe von Maßnahmen vorschlug, die geeignet waren, die Öffentlichkeit
für die „Realität der Europäischen Union“ zu sensibilisieren. Einen Artikel des französischen
Essayisten Daniel-Rops über die Schaffung einer Flagge für Europa paraphrasierend, führte er aus,
„dass an dem Tag, an dem diese Flagge von einer europäischen Hymne begrüßt wird, wie heute in
den verschiedenen Ländern die Nationalflagge von der jeweiligen Nationalhymne begrüßt wird, ein
großer Schritt in Richtung der notwendigen Union getan sein wird“. Diese enthusiastische Aussage
täuschte jedoch nicht darüber hinweg, dass von dem ehrgeizigen Vorhaben noch ein weiter Weg
zurückzulegen war, bevor konkret gehandelt wurde. Wie ließen sich die Werte des neuen Europas
in Musik geschweige denn in Worte fassen? Sowohl aus politischer als auch aus künstlerischer Sicht
war die Herausforderung groß 8.
1955 schlug Richard Coudenhove-Kalergi als Gründer und wichtigster Unterstützer der
Europäischen Parlamentarischen Union erneut vor, die Ode an die Freude von Beethoven trotz der
zahlreichen unterschiedlichen politischen Auslegungen seit Vollendung der Komposition 9 als
Europahymne anzunehmen. Die Ode an die Freude wurde auch vom Chor der Saint-Guillaume-
Kirche in Straßburg bei den Feierlichkeiten am 20. April 1959 anlässlich des zehnten Jahrestags des
Europarates dargeboten. Dennoch schlugen zur gleichen Zeit einige Kommentatoren vor, den
letzten Satz der Feuerwerksmusik als Europahymne zu verwenden. Dieses Werk war 1749 von Georg
Friedrich Händel anlässlich des Vertrags von Aachen und des erneuten Friedens in Europa nach dem
Ende des Österreichischen Erbfolgekrieges komponiert worden. Die Befürworter dieses berühmten
Stücks von Händel machten geltend, dass es bereits als Erkennungsmelodie für Hörfunksendungen
des Europarats verwendet wird. Andere wiederum sprachen sich für das Präludium aus Te Deum in
D-Dur des französischen Komponisten Marc-Antoine Charpentier aus, das von der Union der
Europäischen Rundfunkorganisationen seit 1954 als Eröffnungsmusik zahlreicher Veranstaltungen
oder Sendungen verwendet wird, die von der Eurovision übertragen werden. 10

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Die Geschichte der europäischen Hymne
Die Geschichte der europäischen Hymne

                                            Mehrere Jahre lang geschah nichts, bis die belgische
 Abbildung 3    – Partitur          des     Sektion des Rates der Gemeinden Europas die Melodie
 Europaliedes, 1961                         der Ode an die Freude von Beethoven 1961 bearbeiten
                                            ließ und sie seitdem bei Feierlichkeiten im Rahmen von
                                            Städtepartnerschaften regelmäßig als Europalied spielen
                                            lässt. 1963 wandte sie sich an das Sekretariat des
                                            Ausschusses für kommunale Angelegenheiten des
                                            Europarates, damit dieser das Stück zusammen mit den
                                            Nationalhymnen bei öffentlichen Veranstaltungen mit
                                            europäischem Bezug spielen lässt. Die Strophen auf der
                                            zu diesem Anlass von F. Vande Brande verfassten Partitur
                                            stammen nicht aus dem Gedicht von Schiller, dessen
                                            wörtliche Übersetzung keine Option zu sein schien. Im
                                            darauffolgenden Jahr wurde auf der siebten
                                            Generalversammlung des Rates der Gemeinden Europas
                                            in Rom eine Entschließung verabschiedet, in der
                                            gefordert wurde, dass der Europarat und die
                                            Europäischen Gemeinschaften gemeinsam eine Hymne
                                            auswählen,          um           das          europäische
                                            Zusammengehörigkeitsgefühl         zu     stärken.    Das
                                            Ministerkomitee des Europarates hatte 1955 bereits die
                                            europäische Flagge mit zwölf im Kreis angeordneten
                                            Sternen auf blauem Hintergrund angenommen und 1964
 Quelle: Sammlung des Institut d'histoire   den 5. Mai – den Tag der Unterzeichnung der Satzung des
 ouvrière, économique et sociale            Europarates im Jahr 1949 in London – als Europatag
 (IHOES), Seraing. © Alle Rechte            eingeführt.11
 vorbehalten.
                                            1971 teilte der Norweger Kjell T. Evers, Vorsitzender des
                                            Runden Tischs für den Europatag und Präsident der
Europäischen Gemeindekonferenz, dem Europarat mit, dass die Europäische Gemeindekonferenz
festgestellt hat, dass es angezeigt wäre, eine Europahymne einzuführen, die den Glauben der Bürger
an ein vereintes Europa symbolisiert. Diese Hymne sollte anlässlich des Europatags in möglichst
vielen Gemeinden und Schulen und bei möglichst vielen Veranstaltungen gespielt werden können.
Der Zeitpunkt war gewiss nicht zufällig gewählt: In der Tat verfasste genau zu jener Zeit Wystan
Hugh Auden, berühmter amerikanischer Autor mit britischen Wurzeln, ein Gedicht mit dem Titel
„Hymn to the United Nations“ (Hymne an die Vereinten Nationen). Der spanische Cellist Pablo Casals
ließ sich von diesem sehr pazifistischen Gedicht inspirieren und komponierte eine Hymne, die am
24. Oktober 1971 im Saal der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York gespielt
wurde. Die Bemühungen des Generalsekretärs Sithu U Thant reichten jedoch nicht aus, um dieses
musikalische und literarische Werk zur offiziellen Hymne der Vereinten Nationen zu machen. Auch
die Bemühungen der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO), die anlässlich der Feierlichkeiten
zur Einweihung des neuen Sitzes der Atlantischen Allianz im Oktober 1967 in Brüssel einen Auszug
aus der Ode an die Freude von Beethoven als Hymne spielen ließ, waren nicht von Erfolg gekrönt.

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Die Geschichte der europäischen Hymne
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In         der       Beratenden
Versammlung des Europarates Abbildung 4 – Vom Rat der Gemeinden Europas
arbeitete der französische vertriebene Schallplatte, 1971
Abgeordnete René Radius
einen ausführlichen Bericht und
mehrere Entschließungen aus,
in denen den Regierungen der
Mitgliedstaaten               des
Europarates empfohlen wurde,
die Ode an die Freude aus der
Neunten       Symphonie       von
Beethoven zur Europahymne
zu machen.12 Die Befürworter
dieses musikalischen Werks
waren der Ansicht, dass es den Quelle: private Sammlung. © Alle Rechte vorbehalten.
europäischen              Genius
besonders gut verkörpert.13 Gegen den Text des Gedichts, das 1785 von Friedrich Schiller
geschrieben und von Beethoven in seiner Symphonie vertont wurde, wurden jedoch Einwände
erhoben. Unter anderem wurde darauf hingewiesen, dass es nicht nur rein sprachliche Probleme
gäbe (das Gedicht gibt es nur auf Deutsch), sondern dass diese „Ode an die Freude“, mit der das
Ideal der Geschwisterlichkeit aller Menschen zum Ausdruck gebracht wird, für jene Zeit wenig
geeignet und daher kaum imstande wäre, ein europäisches Bewusstsein zu wecken. Daher hielt man
es letztlich für besser, auf den Text der Ode an die Freude zu verzichten, sich auf die universelle
Sprache der Musik zu verlassen und lediglich die Melodie von Beethoven beizubehalten. Am
12. Januar 1972 wurde das Vorhaben schließlich vom Ministerkomitee des Europarates gebilligt.
Nach mehr als 20 Jahren der Bemühungen und des Zögerns wurde die Ode an die Freude der
Neunten Symphonie von Beethoven zur Europahymne.14

Bearbeitung der Ode an die Freude durch Herbert von
Karajan
Der Beschluss wurde daraufhin den Präsidenten und Generalsekretären der Organe der
Europäischen Gemeinschaft und den Organisationen, die beratenden Status im Europarat hatten,
mitgeteilt. 15 Lujo Tončić-Sorinj, Generalsekretär des Europarates, beauftragte umgehend seinen
österreichischen Landsmann und den weltberühmten Dirigenten Herbert von Karajan damit, das
Werk von Beethoven musikalisch zu bearbeiten, um die Orchestrierung und Interpretation zu
erleichtern. Das Berliner Philharmonische Orchester nahm die Instrumentalfassung in d-Moll und
etwas langsamerem Tempo unter der Leitung von Herbert von Karajan und im Auftrag des
berühmten Plattenlabels Deutsche Grammophon auf. Auf die Verse von Schiller wurde dabei
verzichtet. Dieses Arrangement wurde gerade rechtzeitig fertiggestellt, um der Öffentlichkeit bei
den Veranstaltungen anlässlich des Europatages am 5. Mai 1972 in Straßburg vorgestellt werden zu
können.16 Nur 10 Tage später wurde die Hymne anlässlich des Beginns der Bauarbeiten am Palais de
l’Europe in Straßburg erneut gespielt. In diesem Gebäude, dem Sitz des Europarates, fanden bis
1999 die monatlichen Tagungen des Europäischen Parlaments statt.
Das neue musikalische Arrangement, das in Mainz vom Verlag Schott‘s Söhne veröffentlicht wurde,
dessen Katalog seit 1827 die Neunte Symphonie von Beethoven umfasst, besteht aus drei
Fassungen: einer Fassung für Symphonieorchester, einer Fassung für Blasinstrumente und einer
Fassung für Klavier. Zwei Schallplatten mit 45 bzw. 33 Umdrehungen pro Minute wurden je nach
Land von der Deutschen Grammophon oder von Polydor zum Verkauf angeboten. Zum großen
Missfallen des Europarates behielt Herbert von Karajan alle Urheberrechte an der Aufzeichnung und
der Verbreitung seines Arrangements der Europahymne. 17

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Die Geschichte der europäischen Hymne
Die Geschichte der europäischen Hymne

Eine Hymne für die Europäischen Gemeinschaften?
Auch die Europäischen Gemeinschaften hegten ab den 1950er Jahren den Wunsch, bei bestimmten
Gelegenheiten über eine Hymne zu verfügen, die die Menschen zusammenbringt und leicht zu
erkennen ist. Dabei stellten sich ihnen jedoch viele heikle Fragen: Welches Werk sollte ausgewählt
werden? Wie können die lokalen und nationalen Traditionen gleichzeitig als Inspiration genutzt und
überwunden werden? Welche Musik könnte für eine wirksame Kommunikation sorgen und als
Grundlage für eine neue Tradition dienen? Sollte ein sehr feierliches Werk einer leicht zu merkenden
Melodie vorgezogen werden? Sollte eine Ausschreibung organisiert werden, die allen offensteht,
oder im Gegenteil aus dem europäischen musikalischen Erbe geschöpft werden? Wie sollte mit der
Sprache eines eventuellen Liedtextes verfahren werden, da es in der Europäischen Gemeinschaft zu
jener Zeit vier Amtssprachen gab? Welche Instanz sollte die Wahl treffen und eine Entscheidung
fällen?
Damals waren sich die für Information und für das Protokoll zuständigen Dienste in diesen Fragen
nicht einig. Zunächst gab es keine Lösung. Durch die Beteiligung der Europäischen Gemeinschaft
für Kohle und Stahl (EGKS) an der Weltausstellung 1958 in Brüssel zeichnete sich jedoch ein Ausweg
ab. Die dann beschlossene Lösung sollte in erster Linie pragmatisch sein. Während der sechs Monate
der Weltausstellung fanden im EGKS-Pavillon mehrere Veranstaltungen statt, bei denen mitunter
als Eröffnungsfanfare die Hymne der Vereinigten Staaten Europas von Michel Roverti gespielt
wurde. Dies geschah auch am Tag der Europäischen Gemeinschaft, mit dem am 9. Mai 1958 der
achte Jahrestag der Schuman-Erklärung begangen wurde. An diesem Tag waren insbesondere der
Präsident der Europäischen Parlamentarischen Versammlung, Robert Schuman, der Präsident der
Hohen Behörde der EGKS, Paul Finet, und Walter Hallstein anwesend, der seit einigen Monaten
Präsident der Kommission der neuen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war. Mit diesem
musikalischen Werk, das allen Erbauern des geeinten Europas gewidmet war, sollten die Opfer des
Krieges in Erinnerung gerufen werden und die glückliche Zukunft der Nationen, die gemeinsam
friedlich zusammenleben, zum Ausdruck kommen. Tatsächlich mussten die für Information
zuständigen Dienste der EGKS nicht lange suchen: Michel Roverti war ein Pseudonym, hinter dem
sich Nadine Van Helmont verbarg, die Gattin des Franzosen Jacques Van Helmont, der wiederum
                                          ein enger Mitarbeiter von Jean Monnet war und diesen
   Abbildung 5 – Hymne der insbesondere                      bei       der     Einrichtung     des
   Vereinigten Staaten Europas von Aktionsausschusses für die Vereinigten Staaten von
                                          Europa in Paris unterstützt hatte. Dennoch hüteten sich
   Michel Roverti, 1958.
                                          die Verantwortlichen der EGKS, die Hymne der
                                          Vereinigen Staaten Europas als offizielle Hymne der
                                          Europäischen Gemeinschaften vorzustellen.
                                       Dabei blieb es dann eine Zeit lang. In den 1960er- und
                                       1970er-Jahren gehörte das Thema einer Europahymne
                                       nicht     unbedingt    zu    den      Prioritäten   der
                                       gemeinschaftlichen Organe. Es sei angemerkt, dass sich
                                       diese Organe immer wieder mit institutionellen
                                       Problemen und politischen Krisen auseinandersetzen
                                       mussten, sodass Symbolfragen eher in den Hintergrund
                                       gerieten. Das gemeinschaftliche Europa war in
                                       Anbetracht des Scheiterns von Euratom, der
                                       Streitigkeiten über den zwischenstaatlichen oder
                                       supranationalen Charakter des Gemeinschaftssystems,
  Quelle: private Sammlung. © Alle
                                       der wiederholten Blockaden mit Blick auf die erste
  Rechte vorbehalten.
                                       Erweiterung, der Meinungsverschiedenheiten im
                                       Zusammenhang mit der Vertiefung bestimmter
gemeinsamer Politikbereiche, der Widerstände gegen die Haushaltsbeiträge, der internationalen
Währungskrisen und des Ölpreisschocks sowie der Wirtschaftskrise offenbar in eine Sackgasse

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Die Geschichte der europäischen Hymne
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geraten. Der Aufbau Europas stagnierte damals für lange Zeit. Dieser Zeitraum wurde bisweilen als
„Eurosklerose“ bezeichnet. Die Öffentlichkeit interessierte sich immer weniger für das europäische
Aufbauwerk.
Doch die Wahl des Europäischen Parlaments in allgemeiner direkter Wahl im Jahr 1979 änderte die
Lage grundlegend. Das Europäische Parlament präsentierte sich als Garant dafür, dass das
gemeinschaftliche Aufbauwerk demokratisch vollzogen wurde. Es gelang ihm, seine neue, durch
eine Wahl erlangte Legitimation zu nutzen, um sich insbesondere in institutionellen
Angelegenheiten Gehör zu verschaffen. Aber es setzte sich auch mit den Möglichkeiten
auseinander, wie den Bürgern das Gefühl der Zugehörigkeit zu ein und derselben Gemeinschaft
vermittelt werden kann und wie es zur Entstehung eines gemeinschaftlichen europäischen
Bewusstseins beitragen kann. Zu Beginn der 1980er-Jahre kamen Forderungen von Abgeordneten
auf, die im Wege von „Anfragen zur schriftlichen Beantwortung“ an die Europäische Kommission
eine Flagge und eine Europahymne, die bei offiziellen Anlässen gespielt werden könnte,
einforderten. Die Entscheidung für die Ode an die Freude von Ludwig van Beethoven, die bereits
vom Europarat angenommen worden war, schien die naheliegendste zu sein. Dieses Musikstück
wurde zudem von verschiedenen lokalen Initiativen aufgegriffen.
Es sei darauf hingewiesen, dass sich damals niemand wirklich darüber empörte, wie die Neunte
Symphonie von Beethoven in der Vergangenheit vereinnahmt worden war. Tatsächlich wurde sie
zu Propagandazwecken genutzt, zum Beispiel durch ihre massive Verbreitung durch die Nazis im
Dritten Reich – insbesondere anlässlich des Geburtstags von Hitler im Jahr 1942 – oder bei der
Auswahl der Ode an die Freude als Nationalhymne Rhodesiens (Voices of Rhodesia), das aufgrund
seines rassistischen Apartheid-Regimes 18 von 1974 bis 1980 von der internationalen Gemeinschaft
geächtet wurde.

Das Europa der Bürger und die Auswahl einer Hymne
Die Idee einer gemeinsamen Hymne gewann anlässlich der Debatten über das Europa der Bürger
wieder an Fahrt. Die ersten Überlegungen über den Begriff der europäischen Bürgerschaft kamen
Mitte der 1970er-Jahre auf, als ein einheitlicher Pass angenommen wurde und die Kontrollen an den
Binnengrenzen abgeschafft wurden. Schlussendlich erklärten die Staats- und Regierungschefs der
zehn Staaten, die sich 1984 zum Europäischen Rat in Fontainebleau versammelt hatten, offiziell, die
Identität und das Bild Europas bei den Bürgern und in der Welt stärken zu wollen. Um ihren Worten
Taten folgen zu lassen, setzten sie anschließend einen Ausschuss „Europa der Bürger“ ein, der
Empfehlungen ausarbeiten sollte, um die Identität der Gemeinschaft zu stärken und die Entstehung
eines europäischen Raums ohne Grenzen zu fördern.19 Dieser Ad-hoc-Ausschuss nahm im
September 1984 unter dem Vorsitz des Juristen und ehemaligen Europaabgeordneten Pietro
Adonnino seine Arbeit auf. Ihm gehörten Sachverständige, Diplomaten und persönliche Vertreter
der Staats- und Regierungschefs der zehn Staaten an. Nachdem der Adonnino-Ausschuss im
Frühjahr 1985 zunächst einen Zwischenbericht vorgelegt hatte, in dem er in erster Linie die Rechte
der Bürger (Freizügigkeit, gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen, Aufenthaltsrecht von
Arbeitnehmern usw.) hervorhob, übergab er im Juni 1985 in Mailand seinen Abschlussbericht an
den Europäischen Rat. Im Abschlussbericht lag der Schwerpunkt auf der Beteiligung der Bürger am
politischen Prozess in der Gemeinschaft und in den Mitgliedstaaten. Die in ihm enthaltenen
Vorschläge umfassten Maßmahnen im Bereich der Kultur und der Kommunikation,
Schüleraustauschprogramme und die Zusammenarbeit von Hochschulen. In dem Bericht des
Ausschusses „Europa der Bürger“ wurde zudem empfohlen, Symbole für das Bestehen der
Gemeinschaft zu nutzen, nämlich die Flagge, die Ode an die Freude von Beethoven und Briefmarken
mit einer Darstellung Europas. Der Europäische Rat billigte all diese Vorschläge und beauftragte die
Kommission und die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu ihrer Realisierung zu
ergreifen.
Die Entscheidungen zu den Symbolen wurden am schnellsten getroffen. Im März 1986 einigten sich
die Generalsekretäre der Kommission, des Parlaments und des Rates darauf, anzuerkennen, dass die

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Die Geschichte der europäischen Hymne

Hymne von den Gemeinschaftsorganen bereits umfassend verwendet wurde. Einen Monat später
wurde anlässlich eines Rates „Auswärtige Angelegenheiten“ beschlossen, dass der Rat, das
Parlament, die Kommission und der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften von nun an bei
europäischen Anlässen die blaue Flagge mit zwölf goldfarbenen Sternen und die Melodie der Ode
an die Freude verwenden sollten.20
Nachdem vorab die Zustimmung des Europarates eingeholt worden war, wurde auch eine Einigung
dahingehend erzielt, dass diese Symbole ab dem 29. Mai 1986 anlässlich öffentlicher
Veranstaltungen in Brüssel offiziell verwendet werden. Ursprünglich wollten die Kommission und
                                           das Parlament erreichen, dass die Flagge und die Hymne
  Abbildung 6 – Erste Darbietung gemeinsam bereits drei Wochen früher anlässlich des
  der Ode an die Freude als Europatags am 9. Mai verwendet werden konnten. Dies
  offizielle Europahymne und war aufgrund von Terminschwierigkeiten jedoch nicht
  Hissen der Europaflagge in möglich.21 So kam es, dass der Chor der Europäischen
  Brüssel, 1986.                           Gemeinschaften am 29. Mai 1986 in Anwesenheit einer
                                           Delegation mit zwölf Kindern aus den europäischen
                                           Schulen in Brüssel, von denen jedes einen Mitgliedstaat
                                           repräsentierte, die Ode an die Freude in ihrer
                                           Originalfassung (auf Deutsch) anstimmte, während die
                                           Flagge gehisst wurde, wodurch diese beiden Symbole
                                           nun offiziell bestätigt waren. Diese Zeremonie fand auf
                                           der Esplanade du Berlaymont am Sitz der Europäischen
                                           Kommission in Brüssel statt. Anwesend waren der
                                           Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors,
                                           der Präsident des Europäischen Parlaments, Pierre
                                           Pflimlin, das insbesondere für das Europa der Bürger
                                           zuständige Mitglied der Kommission, Carlo Ripa di
                                           Meana, und der Botschafter Charles Rutten, der den
                                           amtierenden Ratsvorsitzenden Hans Van Den Broek
                                           vertrat. Von diesem Tag an wurde das Thema der Ode an
                                           die Freude immer häufiger bei europäischen
                                           Veranstaltungen oder Feierlichkeiten entweder allein
                                           oder in Kombination mit der Nationalhymne des Landes,
                                           in dem die Veranstaltung stattfand, intoniert. Die
  Quelle: © Europäische Union.             Abgeordneten des Europäischen Parlaments würden
                                           noch oft die Gelegenheit haben, darauf hinzuweisen,
                                           dass die europäische Dimension in der Schule gestärkt
werden muss, indem insbesondere die Europahymne
vermittelt wird.                                              Abbildung 7 – Mit Anmerkungen
                                                             von      Beethoven    versehene
Eine Hymne ohne Text                                         Partitur der Neunten Symphonie
Eine Frage bleibt offen: Sollte die Europahymne um einen
Text ergänzt werden, der in alle Amtssprachen der
Europäischen Gemeinschaften übersetzt wird und mit
dem die Botschaft eines friedlichen, freien und
solidarischen Europas zum Ausdruck gebracht wird? 22 Im
Europäischen Parlament wurde der Frage eine so große
Bedeutung zugemessen, dass das Kabinett des
Präsidenten im Oktober 1986 die Möglichkeit in Betracht
zog, in den zwölf Ländern der Europäischen
Gemeinschaften einen Wettbewerb auszurichten, um
einen Text für die Europahymne zu finden. Diese Initiative   Quelle: © Alamy.
entstand aus der Überzeugung, dass es bei einer Hymne

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EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments

nicht nur um die Musik geht. Sie müsse auch eine Idee, ein Gefühl in Bezug auf die Größe und die
Ideale eines Volkes zum Ausdruck bringen. Der Initiator des Projekts erklärte, dass in der Hymne ab
der ersten Strophe das vorrangige Thema der Union der europäischen Völker hervorgehoben
werden sollte und dass unbedingt die aus der Ode an die Freude von Friedrich Schiller stammenden
Worte „alle Menschen werden Brüder“ enthalten sein sollten. Im Rahmen des Projekts sollte rasch
eine europäische Jury, bestehend aus Literaturkritikern und Mitgliedern des Europäischen
Parlaments für jede der neun Amtssprachen, eingerichtet werden. 23
Auch wenn die Initiative nicht weiterverfolgt wurde, spiegelte sie doch wider, dass einige das Fehlen
eines Textes für die Europahymne und andere die mögliche ausschließliche Verwendung der
deutschen Fassung skeptisch betrachteten. Das Europäische Parlament und die Kommission
erhielten zwar Textvorschläge von Bürgern, doch es
konnte keine wirkliche Lösung für das sprachliche und
literarische Problem gefunden werden. Ende der 1980er-
                                                              Abbildung 8 – Darstellung des
Jahre bis Anfang der 1990er-Jahre wandten sich mehrere Pressespiegels der Kommission
Mitglieder des Europäischen Parlaments mit diesem von 1990 zu den Schwierigkeiten
Thema an die Kommission. Es wurde gefordert, einen beim Finden eines Textes für die
Wettbewerb auszurichten, um endgültig einen Text Europahymne.
annehmen zu können, wobei der Gedanke war, dass die in
dem Text zum Ausdruck gebrachten Gefühle ein
zusätzliches verbindendes Element darstellen und den
europäischen Geist stärken würden. Nach dem Fall der
Berliner Mauer schlug Lyndon Harrison, ein britisches
Mitglied des Europäischen Parlaments, sogar vor, den
ursprünglichen Text von Schiller wiederaufzugreifen, der
als Lied zur Anprangerung aller Formen von Despotismus
oder Diktatur dargestellt wurde, um dem Kampf der
Völker Europas für die Freiheit Rechnung zu tragen. Er
verwies auf die berühmten Konzerte, die am
23. Dezember 1989 in der Westberliner Philharmonie und
am 25. Dezember 1989 im Schauspielhaus in Ostberlin
unter dem Dirigent Leonard Bernstein gegeben wurden.
Letzterer hatte die Neunte Symphonie von Beethoven mit
Musikern und Chorsängern aus ganz Europa aufgeführt
und zu diesem Anlass den Text von Schiller in „Ode an die
Freiheit“ umgetauft. An einer Sache hat sich jedoch nichts Quelle: Archiv Robert Pendville (ARP
geändert: Die Europahymne bleibt weiter eine Melodie 6/1/70). © Jean-Monnet-Stiftung für
ohne Text. Erfolglos blieben auch der lateinische Text, der Europa, Lausanne.
2004 an den Präsidenten der Kommission Romano Prodi
übermittelt wurde, und der auf Esperanto verfasste Text des Sprachwissenschaftlers Umberto
Broccatelli von 2012, der im Rahmen einer Europäischen Bürgerinitiative, die kurz zuvor mit dem
Vertrag von Lissabon eingeführt worden war, vorgeschlagen wurde.

Eine in den Verträgen unerwähnte aber im Parlament sehr
präsente Hymne
Das wiederkehrende Thema der Europahymne gewann Anfang der 2000er-Jahre wieder an
Aktualität, als im Rahmen der Arbeiten des Konvents über die Zukunft Europas auch das Thema der
europäischen Symbole behandelt wurde. Im Februar 2003 räumte der Präsident des Konvents
Valéry Giscard d’Estaing ein, dass diese in die künftige europäische Verfassung aufgenommen
werden müssten. Dabei erklärte er auch, dass über einen Text nachgedacht werden müsse, der zur
Europahymne gesungen werden könne. Er schlug daraufhin vor, dass ein Wettbewerb ausgerichtet
werden könnte, sofern die dem Konvent gewährten Mittel dies zuließen. Einige Mitglieder des

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Die Geschichte der europäischen Hymne

Konvents hielten dagegen, dass die Europäische Union kein Staat sei und sich daher selbst keine
externen Symbole geben dürfe. 24 Schließlich beschränkte sich der Entwurf des Vertrags zur
Schaffung einer Verfassung für Europa im Jahr 2004 darauf, die Hymne (Ode an die Freude) ebenso
wie die Flagge, den Leitspruch, den Euro und den Europatag als Symbole der Europäischen Union
anzuerkennen.
Nach dem negativen Ausgang der Referenden zum Verfassungsvertrag, die im Mai bzw. Juni 2005
in Frankreich und in den Niederlanden abgehalten wurden, wurde das Thema ein weiteres Mal
aufgegriffen. Diese zweifache Ablehnung führte zur Ausarbeitung und Unterzeichnung des Vertrags
von Lissabon im Dezember 2007. Unter dem Druck einiger Mitgliedstaaten, insbesondere des
Vereinigten Königreichs, wurde der Verweis auf europäische Symbole jedoch aus dem Text
gestrichen. Daraufhin unterzeichneten 16 Mitgliedstaaten (Belgien, Bulgarien, Deutschland,
Griechenland, Spanien, Italien, Zypern, Litauen, Luxemburg, Ungarn, Malta, Österreich, Portugal,
Rumänien, Slowenien und die Slowakei) eine gemeinsame Erklärung, die dem Vertrag beigefügt
wurde und in der sie darlegten, dass sie diese Zeichen, darunter die Hymne, weiterhin als Symbole
für die gemeinsame Zugehörigkeit der Bürger zur Europäischen Union und ihre Verbindung zu
dieser betrachteten. Im Jahr 2017 tat Frankreich dasselbe. Das Europäische Parlament änderte mit
dem Beschluss vom 9. Oktober 2008 seine Geschäftsordnung, um die Symbole der Union,
einschließlich der „Hymne auf der Grundlage der ,Ode an die Freude‘ aus der Neunten Symphonie
von Ludwig van Beethoven“, anzuerkennen und zu übernehmen. Darüber hinaus legte das
Parlament fest, dass „[d]ie Hymne [...] bei der Eröffnung jeder konstituierenden Sitzung und bei
anderen feierlichen Sitzungen, insbesondere zur Begrüßung von Staats- oder Regierungschefs oder
zur Begrüßung neuer Mitglieder im Zuge einer Erweiterung abgespielt [wird]“. In der Praxis bleibt
die Europahymne somit in ihrer ausschließlich instrumentalen Fassung bestehen.

ANMERKUNGEN
1
     Foret, F., Légitimer l’Europe. Pouvoir et symbolique à l'ère de la gouvernance, Presses de Sciences Po, 2008.
2
     Cheyronnaud, J., Introuvable „Hymne de la paix“, in Amnis – Revue d’études des sociétés et cultures contemporaines
     Europe – Amérique, Nr. 10, 2011, S. 4.
3
     „Paneuropa-hymne“, in Paneuropa, Nr. 5/9, 1929, S. 23.
4
     Bouchard, .C, „Formons un chœur aux innombrables voix...“ – hymnes et chants pour la paix soumis à la Société des
     nations, in Relations internationales, Nr. 155, 2013/3, S. 103–120.
5
     Lager, C., L’Europe en quête de ses symboles, Peter Lang, 1995, S. 90–92.
6
     Buch, E., La Neuvième de Beethoven. Une histoire politique, Gallimard, 1999, S. 271–272.
7
     Curti Gialdino, C., I simboli dell’Unione europea: bandiera, inno, motto, moneta, giornata, Istituto poligrafico e Zecca
     dello Stato/Libreria dello Stato, 2005, S. 99–127.
8
     Clark, C., „Forging Identity. Beethoven’s ’Ode’ as European Anthem“, in Critical Inquiry, Ausgabe 23/4, 1997, S. 789–807.
9
     E. Buch, „L’Ode à la joie, fétiche sonore du politique“, in C. Lemoine und M.-P. Martin (Hg.), Le mythe Ludwig van
     Beethoven, Gallimard, 2016, S. 102–109.
10
     M. Bois, Beethoven et l’hymne de l’Europe. Genèse et destin de l’Hymne à la joie, Atlantica-Séguier, 2005, S. 175 ff.
11
     A. Larcher, Le drapeau de l’Europe et l’hymne européen. La genèse de deux symboles, Straßburg, Europarat, 1995, S. 12.
12
     E. Buch, „Parcours et paradoxes de l’hymne européen“, in L. Passerini (Hg.), Figures d’Europe. Images and Myths of
     Europe, Peter Lang, 2003, S. 87–97.
13
     Beratender Ausschuss des Europarates, Rapport sur un hymne européen, Dok. 2978, 10. Juni 1971.
14
     M. Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration: Fahne, Hymne, Hauptstadt, Pass, Briefmarke,
     Auszeichnungen, Peter Lang, 1988, S. 128–142.
15
     Jean-Monnet-Stiftung für Europa (Lausanne), Archive von Robert Pendville, ARP 6/1/50-1/2, Schreiben S. Sforza an
     C. Calmes, Straßburg, 11. Februar 1972.
16
     C. Farrington, „Beyond the Ode to Joy? The Politics of the European Anthem“, in The Political Quarterly, Band 90, Nr. 3,
     2019, S. 525–533.
17
     T. Betzwieser, „European Anthems. Musical Insignia of Understanding and Identity“, in A. Riethmüller (Hg.), The Role of
     Music in European Integration. Conciliating Eurocentrism and Multiculturalism, De Gruyter, 2017, S. 148–169.
18
     J. Förnas, Signifying Europe, Intellect, 2012, S. 155.

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EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments

19
     N. Tousignant, „L'impact du comité Adonnino (1984–1986). Rapprocher les Communautés européennes des citoyens“,
     in Études internationales, Band 36, Nr. 1, März 2005, S. 41.
20
     Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Nr. 4, 1986, S. 54.
21
     P. Collowald, „D’azur et de joie. Contribution à l’histoire du drapeau et de l’hymne de l’Europe“, in Revue d’Alsace,
     Nr. 125, 1999, S. 199.
22
     A. Riethmüller, „Die Hymne der Europäischen Union“, in P. den Boer, H. Duchhardt, G. Kreis, W. Schmale (Hg.),
     Europäische Erinnerungsorte, Band 2: Das Haus Europa, 2012, S. 89–96.
23
     Archiv des Europäischen Parlaments, EU.HAEU/PE2.P1.200/PRES.260/CITO.266/COMM//COMM-1984-200/0010),
     Vermerk von F. Brunagel für P. Pflimlin, 13. Oktober 1986.
24
     A. Lamassoure, Histoire secrète de la Convention européenne, Albin Michel, Robert-Schuman-Stiftung, 2004, S. 439.

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© Europäische Union, 2021.
Bildnachweise: © Die Europahymne. Von der Europäischen Kommission und vom Europarat hergestellte
Schallplatte, 1995. Zeichnung von Jean-Michel Folon. © Europäische Union.
eprs@ep.europa.eu (Kontakt)
www.eprs.ep.parl.union.eu (Intranet)
https://www.europarl.europa.eu/thinktank/de/home.html (Internet)
http://epthinktank.eu (Blog)

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