Die Geschichte der europäischen Hymne
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BRIEFING Geschichtsreihe des Europäischen Union Die Geschichte der europäischen Hymne ZUSAMMENFASSUNG Seit der Zwischenkriegszeit stellten sich die Förderer der europäischen Einheit die Frage nach einer Hymne, die das Gefühl, einer Schicksalsgemeinschaft anzugehören sowie gemeinsame Werte zu teilen, zum Ausdruck bringen könnte. Die Gründung des Europarates im Jahr 1949 gab Anlass zu vielen Aufrufen. Projekte, die sich mit der Musik und dem Text für eine europäische Hymne befassten, schossen wie Pilze aus dem Boden. Doch erst 1972 nahm der Europarat offiziell das Thema der Ode an die Freude aus der Neunten Symphonie Ludwig van Beethovens als europäische Hymne an. In der Gemeinschaft, aus der später die Europäische Union hervorgehen sollte, nutzten die Institutionen die Debatte über das Europa der Bürger Mitte der 1980er-Jahre, um ebenfalls die Ode an die Freude als Hymne zu verabschieden. Am 29. Mai 1986 fand in Brüssel eine feierliche Veranstaltung statt, in deren Rahmen die Europaflagge und die Europahymne offiziell angenommen wurden. Obwohl man sich dafür entschied, dass die Hymne keinen Text haben sollte, symbolisierte diese Hymne fortan die Europäische Union. Sie wird bei offiziellen Feierlichkeiten, an denen die Europäische Union oder ihr Führungspersonal teilnimmt, und generell bei den meisten Veranstaltungen mit europäischem Charakter gespielt. In diesem Briefing Das geeinte Europa und seine Symbole Eine Vervielfachung der Projekte Die Vorreiterrolle des Europarates Bearbeitung der Ode an die Freude durch Herbert von Karajan Eine Hymne für die Europäischen Gemeinschaften? Das Europa der Bürger und die Auswahl einer Hymne Eine Hymne ohne Text Eine in den Verträgen unerwähnte aber im Parlament sehr präsente Hymne EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments Autor: Étienne Deschamps Referat Bürgerbibliothek PE 690.568 – Mai 2021 DE
EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments Das geeinte Europa und seine Symbole Wie jedes politische Konstrukt steht das europäische Projekt vor der Notwendigkeit, die Verbindung zwischen den europäischen Staaten und die gemeinsamen Werte durch leicht erkennbare Embleme und Symbole leibhaftig werden zu lassen. Diese Symbole (Flagge, Leitspruch, Hymne, Europatag und der Euro als Währung der Europäischen Union) haben eine identitätsstiftende Funktion. Sie müssen es den Europäern ermöglichen, sich abzuheben und sich zu repräsentieren. Diese Symbole erscheinen dann als Zeichen der Zugehörigkeit und Verbundenheit, ohne jedoch die nationalen Symbole (mit Ausnahme der Währung) zu ersetzen. In diesem Sinne spielen die europäischen Symbole eine Rolle als politische Legitimation und Sozialisation. Sie zielen darauf ab, Europa seinen Bürgern näher zu bringen, indem sie das Gefühl verkörpern, ein und derselben Gemeinschaft anzugehören 1. Die Idee, über eine Hymne zu verfügen, die die Einheit zwischen den Nationen darstellt, ist nicht neu. Auf der von Kaiser Napoleon III. ausgerichteten Weltausstellung 1867 in Paris wurde ein öffentlicher Wettbewerb ausgerufen, in dessen Rahmen ein musikalisches Werk gefunden werden sollte, das künftig als Hymne bei internationalen feierlichen Veranstaltungen fungieren sollte 2. Konfrontiert mit zahlreichen Anfragen potenzieller Komponisten (anonym oder von Amateur- und Profimusikern) legte das Auswahlkomitee fest, dass die „Hymne des Friedens“ ein Lied sein sollte, „das sich wie eine universelle Hymne wie ein Lauffeuer verbreitet und immer wiederholt wird, das jeder kennt und das jedem im Gedächtnis bleibt – eine Art Marseillaise des Friedens“. Der Erfolg dieser Aufforderung überstieg die Erwartungen: Es werden hunderte von Vorschlägen aus Frankreich und dem Ausland eingereicht. Keines der eingereichten Musikstücke vermochte es jedoch, sich nachhaltig durchzusetzen; häufig wurde die geringe Qualität der Musikkompositionen moniert. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts blieben internationale Hymnenprojekte den Friedensbewegungen vorbehalten, obwohl bei der Eröffnungsfeier der ersten Olympischen Spiele der Modern 1896 in Athen eine Hymne aufgeführt wurde. In der Zwischenkriegszeit äußerten diejenigen, die sich für die europäische Einheit einsetzten, ebenfalls das Bedürfnis nach einer Hymne, die bei Kundgebungen und öffentlichen Demonstrationen gespielt werden konnte. Im Jahr 1929 beschloss die Paneuropa-Bewegung, die einige Jahre zuvor in Wien von Richard Coudenhove-Kalergi gegründet worden war, am Ende ihrer Kongresse das Thema der Ode an die Freude aus dem vierten Satz der Neunten Symphonie Ludwig van Beethovens spielen zu lassen3. Das hielt einige pro-europäische Aktivisten nicht davon ab, Hymnenentwürfe zu verbreiten, die inbrünstig das Entstehen der Vereinigten Staaten von Europa forderten. Gleichzeitig wurden spontan zahlreiche Liedvorschläge an den Völkerbund geschickt, um der in Genf ansässigen Organisation eine eigene Friedenshymne zu verschaffen. Auch wenn Vorschläge aus der ganzen Welt eingereicht wurden, kamen die meisten doch aus Europa. Zu diesen Projekten gehörte auch der Text einer internationalen Hymne, die, die Universalität der menschlichen Brüderlichkeit beschwörend, auf den 16 Takten von Abbildung 1 – Partitur der Beethovens Ode an die Freude beruhte. Die große Hymne L‘Europe unie!, 1948 kulturelle und sprachliche Vielfalt der Mitgliedsländer des Völkerbundes macht es jedoch äußerst schwierig, eine Melodie oder einen Text zu finden, die in allen Gesellschaften Anklang hätten finden können 4. Nach dem Zweiten Weltkrieg beendeten die Teilnehmer des Europa-Kongresses (der im Mai 1948 in Den Haag vom internationalen Koordinationskomitee der Bewegungen für die Einheit Europas ausgerichtet wurde) ihr Treffen mit einem Chor und einer Fanfare der Hymne L’Europe unie! (Vereinigtes Europa!), um ihr Bekenntnis zu Quelle: private Sammlung. © Alle Rechte Frieden und Solidarität zwischen den Völkern Europas zu vorbehalten. 2
Die Geschichte der europäischen Hymne besiegeln. Die Partitur des Liedes L’Europe unie! wurde speziell für diesen Anlass von dem niederländischen Musiker Louis Noiret auf den Text des Dichters Henrik Joosten geschrieben und in niederländischer, französischer, englischer und italienischer Sprache adaptiert. Eine Vervielfachung der Projekte Angesichts der hohen Erwartungen, die der Europarat seit seiner Gründung im Jahr 1949 geweckt hatte, fühlte man sich alsbald zu neuen Vorschlägen berufen 5. Im August 1949, als die Beratende Versammlung ihre erste Sitzung in Straßburg abhielt, erhielt ihr Präsident, Paul-Henri Spaak, den Text und die Melodie des Chant de la paix (Friedensgesang), den die Gesangslehrerin Jehane Louis Gaudet zuvor komponiert hatte. Die ehemalige französische Résistance-Kämpferin, die sich selbst als eine Mutter beschrieb, die während des letzten Krieges alle möglichen Schwierigkeiten, einschließlich der Internierung, erlitten hatte, erklärte, dass das Lied Hymne sei, ein Aufruf an alle Menschen auf der Welt, die sich nach Frieden sehnen – ohne jeden Hintergedanken – und die davon träumen, sich zu vereinen und die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen. In kürzester Zeit kamen Dutzende weitere Projekte hinzu: feierliche Hymnen, Kantaten, Oratorien oder Triumphmärsche, unter anderem L’hymne de l’Europe unifiée (Carl Kahlfuss, 1949), Invocata (Hans Horben, 1950), La marche de l’Europe unie (Maurice Clavel, 1951), An Europa (E. Hohenfeldt und F. Schein, 1953), La Marseillaise de la paix (M. L. Guy, 1953), Europa vacata (Hanns Holenia, 1957), Cantate de l’Europe (Alfred Max und Jacques Porte, 1957), Europa! (P. Krüger), Hymnus europeus, Vereintes Europa, Europe lève-toi! (L. Alban, 1961), Paneuropa (C. Falk), Inno all’Europa Abbildung 2 – Text des Inno (Ferdinando Durand und Adriana Autéri Sìvori, 1961), degli Europeisti, 1963 L’Européenne (J. Lafont, 1960), Sur un même chemin (Jany Rogers, 1963), Inno degli Europeisti (Cosimo Distratis, 1963) oder auch L’hymne de la Confédération européenne des anciens combattants (Jean Ledrut, 1967). In Italien nutzen europäisch orientierte Bewegungen die Europäischen Schultage, um junge Menschen anzusprechen und sie einzuladen, sich Hymnen für ein geeintes Europa zu ersinnen. Der Aufwand trug jedoch kaum Früchte: Die weit verstreuten Vorhaben und Initiativen kamen meist nicht über die Projektphase hinaus. Nur sehr wenige dieser Kompositionen wurden öffentlich aufgeführt, darunter die Cantate de l'Europe, die im April 1957 im Théâtre des Champs-Élysées in Paris aufgeführt und vom französischen Rundfunk übertragen wurde 6. Was die Symbole betraf, stand in jener Zeit die Verabschiedung einer Flagge ganz oben auf der Agenda des Europarates. Der Gedanke, auch eine Hymne zu haben, wurde zwar nicht ausgeschlossen, Quelle: private Sammlung. © Alle aber viele waren der Meinung, dass es besser wäre, auf Rechte vorbehalten. ein Musikstück aus dem klassischen Repertoire zurückzugreifen. So sollte vermieden werden, dass ein Wettbewerb organisiert sich zwischen den bereits vorgeschlagenen Hymnen entschieden werden muss Niemand sprach sich dafür aus, dass die europäische Hymne von einem Stück zeitgenössischer Musik inspiriert werden könnte. 3
EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments Die Vorreiterrolle des Europarates Entschlossen, den europäischen Gedanken zu fördern, um ein echtes gemeinsames Bewusstsein zu schaffen, nahmen die Gremien des Europarates die Sache schließlich selbst in die Hand. Sie wollten die Verwirrung vermeiden, die unweigerlich dadurch entstehen würde, dass bei Veranstaltungen mit europäischem Charakter in ganz Europa ungeordnet unterschiedliche musikalische Werke verwendet werden7. Auf Ersuchen des Ausschusses für allgemeine Angelegenheiten der Beratenden Versammlung legte Generalsekretär Jacques-Camille Paris im August 1950 einen Bericht vor, in dem er eine Reihe von Maßnahmen vorschlug, die geeignet waren, die Öffentlichkeit für die „Realität der Europäischen Union“ zu sensibilisieren. Einen Artikel des französischen Essayisten Daniel-Rops über die Schaffung einer Flagge für Europa paraphrasierend, führte er aus, „dass an dem Tag, an dem diese Flagge von einer europäischen Hymne begrüßt wird, wie heute in den verschiedenen Ländern die Nationalflagge von der jeweiligen Nationalhymne begrüßt wird, ein großer Schritt in Richtung der notwendigen Union getan sein wird“. Diese enthusiastische Aussage täuschte jedoch nicht darüber hinweg, dass von dem ehrgeizigen Vorhaben noch ein weiter Weg zurückzulegen war, bevor konkret gehandelt wurde. Wie ließen sich die Werte des neuen Europas in Musik geschweige denn in Worte fassen? Sowohl aus politischer als auch aus künstlerischer Sicht war die Herausforderung groß 8. 1955 schlug Richard Coudenhove-Kalergi als Gründer und wichtigster Unterstützer der Europäischen Parlamentarischen Union erneut vor, die Ode an die Freude von Beethoven trotz der zahlreichen unterschiedlichen politischen Auslegungen seit Vollendung der Komposition 9 als Europahymne anzunehmen. Die Ode an die Freude wurde auch vom Chor der Saint-Guillaume- Kirche in Straßburg bei den Feierlichkeiten am 20. April 1959 anlässlich des zehnten Jahrestags des Europarates dargeboten. Dennoch schlugen zur gleichen Zeit einige Kommentatoren vor, den letzten Satz der Feuerwerksmusik als Europahymne zu verwenden. Dieses Werk war 1749 von Georg Friedrich Händel anlässlich des Vertrags von Aachen und des erneuten Friedens in Europa nach dem Ende des Österreichischen Erbfolgekrieges komponiert worden. Die Befürworter dieses berühmten Stücks von Händel machten geltend, dass es bereits als Erkennungsmelodie für Hörfunksendungen des Europarats verwendet wird. Andere wiederum sprachen sich für das Präludium aus Te Deum in D-Dur des französischen Komponisten Marc-Antoine Charpentier aus, das von der Union der Europäischen Rundfunkorganisationen seit 1954 als Eröffnungsmusik zahlreicher Veranstaltungen oder Sendungen verwendet wird, die von der Eurovision übertragen werden. 10 4
Die Geschichte der europäischen Hymne Mehrere Jahre lang geschah nichts, bis die belgische Abbildung 3 – Partitur des Sektion des Rates der Gemeinden Europas die Melodie Europaliedes, 1961 der Ode an die Freude von Beethoven 1961 bearbeiten ließ und sie seitdem bei Feierlichkeiten im Rahmen von Städtepartnerschaften regelmäßig als Europalied spielen lässt. 1963 wandte sie sich an das Sekretariat des Ausschusses für kommunale Angelegenheiten des Europarates, damit dieser das Stück zusammen mit den Nationalhymnen bei öffentlichen Veranstaltungen mit europäischem Bezug spielen lässt. Die Strophen auf der zu diesem Anlass von F. Vande Brande verfassten Partitur stammen nicht aus dem Gedicht von Schiller, dessen wörtliche Übersetzung keine Option zu sein schien. Im darauffolgenden Jahr wurde auf der siebten Generalversammlung des Rates der Gemeinden Europas in Rom eine Entschließung verabschiedet, in der gefordert wurde, dass der Europarat und die Europäischen Gemeinschaften gemeinsam eine Hymne auswählen, um das europäische Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. Das Ministerkomitee des Europarates hatte 1955 bereits die europäische Flagge mit zwölf im Kreis angeordneten Sternen auf blauem Hintergrund angenommen und 1964 Quelle: Sammlung des Institut d'histoire den 5. Mai – den Tag der Unterzeichnung der Satzung des ouvrière, économique et sociale Europarates im Jahr 1949 in London – als Europatag (IHOES), Seraing. © Alle Rechte eingeführt.11 vorbehalten. 1971 teilte der Norweger Kjell T. Evers, Vorsitzender des Runden Tischs für den Europatag und Präsident der Europäischen Gemeindekonferenz, dem Europarat mit, dass die Europäische Gemeindekonferenz festgestellt hat, dass es angezeigt wäre, eine Europahymne einzuführen, die den Glauben der Bürger an ein vereintes Europa symbolisiert. Diese Hymne sollte anlässlich des Europatags in möglichst vielen Gemeinden und Schulen und bei möglichst vielen Veranstaltungen gespielt werden können. Der Zeitpunkt war gewiss nicht zufällig gewählt: In der Tat verfasste genau zu jener Zeit Wystan Hugh Auden, berühmter amerikanischer Autor mit britischen Wurzeln, ein Gedicht mit dem Titel „Hymn to the United Nations“ (Hymne an die Vereinten Nationen). Der spanische Cellist Pablo Casals ließ sich von diesem sehr pazifistischen Gedicht inspirieren und komponierte eine Hymne, die am 24. Oktober 1971 im Saal der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York gespielt wurde. Die Bemühungen des Generalsekretärs Sithu U Thant reichten jedoch nicht aus, um dieses musikalische und literarische Werk zur offiziellen Hymne der Vereinten Nationen zu machen. Auch die Bemühungen der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO), die anlässlich der Feierlichkeiten zur Einweihung des neuen Sitzes der Atlantischen Allianz im Oktober 1967 in Brüssel einen Auszug aus der Ode an die Freude von Beethoven als Hymne spielen ließ, waren nicht von Erfolg gekrönt. 5
EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments In der Beratenden Versammlung des Europarates Abbildung 4 – Vom Rat der Gemeinden Europas arbeitete der französische vertriebene Schallplatte, 1971 Abgeordnete René Radius einen ausführlichen Bericht und mehrere Entschließungen aus, in denen den Regierungen der Mitgliedstaaten des Europarates empfohlen wurde, die Ode an die Freude aus der Neunten Symphonie von Beethoven zur Europahymne zu machen.12 Die Befürworter dieses musikalischen Werks waren der Ansicht, dass es den Quelle: private Sammlung. © Alle Rechte vorbehalten. europäischen Genius besonders gut verkörpert.13 Gegen den Text des Gedichts, das 1785 von Friedrich Schiller geschrieben und von Beethoven in seiner Symphonie vertont wurde, wurden jedoch Einwände erhoben. Unter anderem wurde darauf hingewiesen, dass es nicht nur rein sprachliche Probleme gäbe (das Gedicht gibt es nur auf Deutsch), sondern dass diese „Ode an die Freude“, mit der das Ideal der Geschwisterlichkeit aller Menschen zum Ausdruck gebracht wird, für jene Zeit wenig geeignet und daher kaum imstande wäre, ein europäisches Bewusstsein zu wecken. Daher hielt man es letztlich für besser, auf den Text der Ode an die Freude zu verzichten, sich auf die universelle Sprache der Musik zu verlassen und lediglich die Melodie von Beethoven beizubehalten. Am 12. Januar 1972 wurde das Vorhaben schließlich vom Ministerkomitee des Europarates gebilligt. Nach mehr als 20 Jahren der Bemühungen und des Zögerns wurde die Ode an die Freude der Neunten Symphonie von Beethoven zur Europahymne.14 Bearbeitung der Ode an die Freude durch Herbert von Karajan Der Beschluss wurde daraufhin den Präsidenten und Generalsekretären der Organe der Europäischen Gemeinschaft und den Organisationen, die beratenden Status im Europarat hatten, mitgeteilt. 15 Lujo Tončić-Sorinj, Generalsekretär des Europarates, beauftragte umgehend seinen österreichischen Landsmann und den weltberühmten Dirigenten Herbert von Karajan damit, das Werk von Beethoven musikalisch zu bearbeiten, um die Orchestrierung und Interpretation zu erleichtern. Das Berliner Philharmonische Orchester nahm die Instrumentalfassung in d-Moll und etwas langsamerem Tempo unter der Leitung von Herbert von Karajan und im Auftrag des berühmten Plattenlabels Deutsche Grammophon auf. Auf die Verse von Schiller wurde dabei verzichtet. Dieses Arrangement wurde gerade rechtzeitig fertiggestellt, um der Öffentlichkeit bei den Veranstaltungen anlässlich des Europatages am 5. Mai 1972 in Straßburg vorgestellt werden zu können.16 Nur 10 Tage später wurde die Hymne anlässlich des Beginns der Bauarbeiten am Palais de l’Europe in Straßburg erneut gespielt. In diesem Gebäude, dem Sitz des Europarates, fanden bis 1999 die monatlichen Tagungen des Europäischen Parlaments statt. Das neue musikalische Arrangement, das in Mainz vom Verlag Schott‘s Söhne veröffentlicht wurde, dessen Katalog seit 1827 die Neunte Symphonie von Beethoven umfasst, besteht aus drei Fassungen: einer Fassung für Symphonieorchester, einer Fassung für Blasinstrumente und einer Fassung für Klavier. Zwei Schallplatten mit 45 bzw. 33 Umdrehungen pro Minute wurden je nach Land von der Deutschen Grammophon oder von Polydor zum Verkauf angeboten. Zum großen Missfallen des Europarates behielt Herbert von Karajan alle Urheberrechte an der Aufzeichnung und der Verbreitung seines Arrangements der Europahymne. 17 6
Die Geschichte der europäischen Hymne Eine Hymne für die Europäischen Gemeinschaften? Auch die Europäischen Gemeinschaften hegten ab den 1950er Jahren den Wunsch, bei bestimmten Gelegenheiten über eine Hymne zu verfügen, die die Menschen zusammenbringt und leicht zu erkennen ist. Dabei stellten sich ihnen jedoch viele heikle Fragen: Welches Werk sollte ausgewählt werden? Wie können die lokalen und nationalen Traditionen gleichzeitig als Inspiration genutzt und überwunden werden? Welche Musik könnte für eine wirksame Kommunikation sorgen und als Grundlage für eine neue Tradition dienen? Sollte ein sehr feierliches Werk einer leicht zu merkenden Melodie vorgezogen werden? Sollte eine Ausschreibung organisiert werden, die allen offensteht, oder im Gegenteil aus dem europäischen musikalischen Erbe geschöpft werden? Wie sollte mit der Sprache eines eventuellen Liedtextes verfahren werden, da es in der Europäischen Gemeinschaft zu jener Zeit vier Amtssprachen gab? Welche Instanz sollte die Wahl treffen und eine Entscheidung fällen? Damals waren sich die für Information und für das Protokoll zuständigen Dienste in diesen Fragen nicht einig. Zunächst gab es keine Lösung. Durch die Beteiligung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) an der Weltausstellung 1958 in Brüssel zeichnete sich jedoch ein Ausweg ab. Die dann beschlossene Lösung sollte in erster Linie pragmatisch sein. Während der sechs Monate der Weltausstellung fanden im EGKS-Pavillon mehrere Veranstaltungen statt, bei denen mitunter als Eröffnungsfanfare die Hymne der Vereinigten Staaten Europas von Michel Roverti gespielt wurde. Dies geschah auch am Tag der Europäischen Gemeinschaft, mit dem am 9. Mai 1958 der achte Jahrestag der Schuman-Erklärung begangen wurde. An diesem Tag waren insbesondere der Präsident der Europäischen Parlamentarischen Versammlung, Robert Schuman, der Präsident der Hohen Behörde der EGKS, Paul Finet, und Walter Hallstein anwesend, der seit einigen Monaten Präsident der Kommission der neuen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war. Mit diesem musikalischen Werk, das allen Erbauern des geeinten Europas gewidmet war, sollten die Opfer des Krieges in Erinnerung gerufen werden und die glückliche Zukunft der Nationen, die gemeinsam friedlich zusammenleben, zum Ausdruck kommen. Tatsächlich mussten die für Information zuständigen Dienste der EGKS nicht lange suchen: Michel Roverti war ein Pseudonym, hinter dem sich Nadine Van Helmont verbarg, die Gattin des Franzosen Jacques Van Helmont, der wiederum ein enger Mitarbeiter von Jean Monnet war und diesen Abbildung 5 – Hymne der insbesondere bei der Einrichtung des Vereinigten Staaten Europas von Aktionsausschusses für die Vereinigten Staaten von Europa in Paris unterstützt hatte. Dennoch hüteten sich Michel Roverti, 1958. die Verantwortlichen der EGKS, die Hymne der Vereinigen Staaten Europas als offizielle Hymne der Europäischen Gemeinschaften vorzustellen. Dabei blieb es dann eine Zeit lang. In den 1960er- und 1970er-Jahren gehörte das Thema einer Europahymne nicht unbedingt zu den Prioritäten der gemeinschaftlichen Organe. Es sei angemerkt, dass sich diese Organe immer wieder mit institutionellen Problemen und politischen Krisen auseinandersetzen mussten, sodass Symbolfragen eher in den Hintergrund gerieten. Das gemeinschaftliche Europa war in Anbetracht des Scheiterns von Euratom, der Streitigkeiten über den zwischenstaatlichen oder supranationalen Charakter des Gemeinschaftssystems, Quelle: private Sammlung. © Alle der wiederholten Blockaden mit Blick auf die erste Rechte vorbehalten. Erweiterung, der Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit der Vertiefung bestimmter gemeinsamer Politikbereiche, der Widerstände gegen die Haushaltsbeiträge, der internationalen Währungskrisen und des Ölpreisschocks sowie der Wirtschaftskrise offenbar in eine Sackgasse 7
EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments geraten. Der Aufbau Europas stagnierte damals für lange Zeit. Dieser Zeitraum wurde bisweilen als „Eurosklerose“ bezeichnet. Die Öffentlichkeit interessierte sich immer weniger für das europäische Aufbauwerk. Doch die Wahl des Europäischen Parlaments in allgemeiner direkter Wahl im Jahr 1979 änderte die Lage grundlegend. Das Europäische Parlament präsentierte sich als Garant dafür, dass das gemeinschaftliche Aufbauwerk demokratisch vollzogen wurde. Es gelang ihm, seine neue, durch eine Wahl erlangte Legitimation zu nutzen, um sich insbesondere in institutionellen Angelegenheiten Gehör zu verschaffen. Aber es setzte sich auch mit den Möglichkeiten auseinander, wie den Bürgern das Gefühl der Zugehörigkeit zu ein und derselben Gemeinschaft vermittelt werden kann und wie es zur Entstehung eines gemeinschaftlichen europäischen Bewusstseins beitragen kann. Zu Beginn der 1980er-Jahre kamen Forderungen von Abgeordneten auf, die im Wege von „Anfragen zur schriftlichen Beantwortung“ an die Europäische Kommission eine Flagge und eine Europahymne, die bei offiziellen Anlässen gespielt werden könnte, einforderten. Die Entscheidung für die Ode an die Freude von Ludwig van Beethoven, die bereits vom Europarat angenommen worden war, schien die naheliegendste zu sein. Dieses Musikstück wurde zudem von verschiedenen lokalen Initiativen aufgegriffen. Es sei darauf hingewiesen, dass sich damals niemand wirklich darüber empörte, wie die Neunte Symphonie von Beethoven in der Vergangenheit vereinnahmt worden war. Tatsächlich wurde sie zu Propagandazwecken genutzt, zum Beispiel durch ihre massive Verbreitung durch die Nazis im Dritten Reich – insbesondere anlässlich des Geburtstags von Hitler im Jahr 1942 – oder bei der Auswahl der Ode an die Freude als Nationalhymne Rhodesiens (Voices of Rhodesia), das aufgrund seines rassistischen Apartheid-Regimes 18 von 1974 bis 1980 von der internationalen Gemeinschaft geächtet wurde. Das Europa der Bürger und die Auswahl einer Hymne Die Idee einer gemeinsamen Hymne gewann anlässlich der Debatten über das Europa der Bürger wieder an Fahrt. Die ersten Überlegungen über den Begriff der europäischen Bürgerschaft kamen Mitte der 1970er-Jahre auf, als ein einheitlicher Pass angenommen wurde und die Kontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft wurden. Schlussendlich erklärten die Staats- und Regierungschefs der zehn Staaten, die sich 1984 zum Europäischen Rat in Fontainebleau versammelt hatten, offiziell, die Identität und das Bild Europas bei den Bürgern und in der Welt stärken zu wollen. Um ihren Worten Taten folgen zu lassen, setzten sie anschließend einen Ausschuss „Europa der Bürger“ ein, der Empfehlungen ausarbeiten sollte, um die Identität der Gemeinschaft zu stärken und die Entstehung eines europäischen Raums ohne Grenzen zu fördern.19 Dieser Ad-hoc-Ausschuss nahm im September 1984 unter dem Vorsitz des Juristen und ehemaligen Europaabgeordneten Pietro Adonnino seine Arbeit auf. Ihm gehörten Sachverständige, Diplomaten und persönliche Vertreter der Staats- und Regierungschefs der zehn Staaten an. Nachdem der Adonnino-Ausschuss im Frühjahr 1985 zunächst einen Zwischenbericht vorgelegt hatte, in dem er in erster Linie die Rechte der Bürger (Freizügigkeit, gegenseitige Anerkennung von Abschlüssen, Aufenthaltsrecht von Arbeitnehmern usw.) hervorhob, übergab er im Juni 1985 in Mailand seinen Abschlussbericht an den Europäischen Rat. Im Abschlussbericht lag der Schwerpunkt auf der Beteiligung der Bürger am politischen Prozess in der Gemeinschaft und in den Mitgliedstaaten. Die in ihm enthaltenen Vorschläge umfassten Maßmahnen im Bereich der Kultur und der Kommunikation, Schüleraustauschprogramme und die Zusammenarbeit von Hochschulen. In dem Bericht des Ausschusses „Europa der Bürger“ wurde zudem empfohlen, Symbole für das Bestehen der Gemeinschaft zu nutzen, nämlich die Flagge, die Ode an die Freude von Beethoven und Briefmarken mit einer Darstellung Europas. Der Europäische Rat billigte all diese Vorschläge und beauftragte die Kommission und die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu ihrer Realisierung zu ergreifen. Die Entscheidungen zu den Symbolen wurden am schnellsten getroffen. Im März 1986 einigten sich die Generalsekretäre der Kommission, des Parlaments und des Rates darauf, anzuerkennen, dass die 8
Die Geschichte der europäischen Hymne Hymne von den Gemeinschaftsorganen bereits umfassend verwendet wurde. Einen Monat später wurde anlässlich eines Rates „Auswärtige Angelegenheiten“ beschlossen, dass der Rat, das Parlament, die Kommission und der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften von nun an bei europäischen Anlässen die blaue Flagge mit zwölf goldfarbenen Sternen und die Melodie der Ode an die Freude verwenden sollten.20 Nachdem vorab die Zustimmung des Europarates eingeholt worden war, wurde auch eine Einigung dahingehend erzielt, dass diese Symbole ab dem 29. Mai 1986 anlässlich öffentlicher Veranstaltungen in Brüssel offiziell verwendet werden. Ursprünglich wollten die Kommission und das Parlament erreichen, dass die Flagge und die Hymne Abbildung 6 – Erste Darbietung gemeinsam bereits drei Wochen früher anlässlich des der Ode an die Freude als Europatags am 9. Mai verwendet werden konnten. Dies offizielle Europahymne und war aufgrund von Terminschwierigkeiten jedoch nicht Hissen der Europaflagge in möglich.21 So kam es, dass der Chor der Europäischen Brüssel, 1986. Gemeinschaften am 29. Mai 1986 in Anwesenheit einer Delegation mit zwölf Kindern aus den europäischen Schulen in Brüssel, von denen jedes einen Mitgliedstaat repräsentierte, die Ode an die Freude in ihrer Originalfassung (auf Deutsch) anstimmte, während die Flagge gehisst wurde, wodurch diese beiden Symbole nun offiziell bestätigt waren. Diese Zeremonie fand auf der Esplanade du Berlaymont am Sitz der Europäischen Kommission in Brüssel statt. Anwesend waren der Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, der Präsident des Europäischen Parlaments, Pierre Pflimlin, das insbesondere für das Europa der Bürger zuständige Mitglied der Kommission, Carlo Ripa di Meana, und der Botschafter Charles Rutten, der den amtierenden Ratsvorsitzenden Hans Van Den Broek vertrat. Von diesem Tag an wurde das Thema der Ode an die Freude immer häufiger bei europäischen Veranstaltungen oder Feierlichkeiten entweder allein oder in Kombination mit der Nationalhymne des Landes, in dem die Veranstaltung stattfand, intoniert. Die Quelle: © Europäische Union. Abgeordneten des Europäischen Parlaments würden noch oft die Gelegenheit haben, darauf hinzuweisen, dass die europäische Dimension in der Schule gestärkt werden muss, indem insbesondere die Europahymne vermittelt wird. Abbildung 7 – Mit Anmerkungen von Beethoven versehene Eine Hymne ohne Text Partitur der Neunten Symphonie Eine Frage bleibt offen: Sollte die Europahymne um einen Text ergänzt werden, der in alle Amtssprachen der Europäischen Gemeinschaften übersetzt wird und mit dem die Botschaft eines friedlichen, freien und solidarischen Europas zum Ausdruck gebracht wird? 22 Im Europäischen Parlament wurde der Frage eine so große Bedeutung zugemessen, dass das Kabinett des Präsidenten im Oktober 1986 die Möglichkeit in Betracht zog, in den zwölf Ländern der Europäischen Gemeinschaften einen Wettbewerb auszurichten, um einen Text für die Europahymne zu finden. Diese Initiative Quelle: © Alamy. entstand aus der Überzeugung, dass es bei einer Hymne 9
EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments nicht nur um die Musik geht. Sie müsse auch eine Idee, ein Gefühl in Bezug auf die Größe und die Ideale eines Volkes zum Ausdruck bringen. Der Initiator des Projekts erklärte, dass in der Hymne ab der ersten Strophe das vorrangige Thema der Union der europäischen Völker hervorgehoben werden sollte und dass unbedingt die aus der Ode an die Freude von Friedrich Schiller stammenden Worte „alle Menschen werden Brüder“ enthalten sein sollten. Im Rahmen des Projekts sollte rasch eine europäische Jury, bestehend aus Literaturkritikern und Mitgliedern des Europäischen Parlaments für jede der neun Amtssprachen, eingerichtet werden. 23 Auch wenn die Initiative nicht weiterverfolgt wurde, spiegelte sie doch wider, dass einige das Fehlen eines Textes für die Europahymne und andere die mögliche ausschließliche Verwendung der deutschen Fassung skeptisch betrachteten. Das Europäische Parlament und die Kommission erhielten zwar Textvorschläge von Bürgern, doch es konnte keine wirkliche Lösung für das sprachliche und literarische Problem gefunden werden. Ende der 1980er- Abbildung 8 – Darstellung des Jahre bis Anfang der 1990er-Jahre wandten sich mehrere Pressespiegels der Kommission Mitglieder des Europäischen Parlaments mit diesem von 1990 zu den Schwierigkeiten Thema an die Kommission. Es wurde gefordert, einen beim Finden eines Textes für die Wettbewerb auszurichten, um endgültig einen Text Europahymne. annehmen zu können, wobei der Gedanke war, dass die in dem Text zum Ausdruck gebrachten Gefühle ein zusätzliches verbindendes Element darstellen und den europäischen Geist stärken würden. Nach dem Fall der Berliner Mauer schlug Lyndon Harrison, ein britisches Mitglied des Europäischen Parlaments, sogar vor, den ursprünglichen Text von Schiller wiederaufzugreifen, der als Lied zur Anprangerung aller Formen von Despotismus oder Diktatur dargestellt wurde, um dem Kampf der Völker Europas für die Freiheit Rechnung zu tragen. Er verwies auf die berühmten Konzerte, die am 23. Dezember 1989 in der Westberliner Philharmonie und am 25. Dezember 1989 im Schauspielhaus in Ostberlin unter dem Dirigent Leonard Bernstein gegeben wurden. Letzterer hatte die Neunte Symphonie von Beethoven mit Musikern und Chorsängern aus ganz Europa aufgeführt und zu diesem Anlass den Text von Schiller in „Ode an die Freiheit“ umgetauft. An einer Sache hat sich jedoch nichts Quelle: Archiv Robert Pendville (ARP geändert: Die Europahymne bleibt weiter eine Melodie 6/1/70). © Jean-Monnet-Stiftung für ohne Text. Erfolglos blieben auch der lateinische Text, der Europa, Lausanne. 2004 an den Präsidenten der Kommission Romano Prodi übermittelt wurde, und der auf Esperanto verfasste Text des Sprachwissenschaftlers Umberto Broccatelli von 2012, der im Rahmen einer Europäischen Bürgerinitiative, die kurz zuvor mit dem Vertrag von Lissabon eingeführt worden war, vorgeschlagen wurde. Eine in den Verträgen unerwähnte aber im Parlament sehr präsente Hymne Das wiederkehrende Thema der Europahymne gewann Anfang der 2000er-Jahre wieder an Aktualität, als im Rahmen der Arbeiten des Konvents über die Zukunft Europas auch das Thema der europäischen Symbole behandelt wurde. Im Februar 2003 räumte der Präsident des Konvents Valéry Giscard d’Estaing ein, dass diese in die künftige europäische Verfassung aufgenommen werden müssten. Dabei erklärte er auch, dass über einen Text nachgedacht werden müsse, der zur Europahymne gesungen werden könne. Er schlug daraufhin vor, dass ein Wettbewerb ausgerichtet werden könnte, sofern die dem Konvent gewährten Mittel dies zuließen. Einige Mitglieder des 10
Die Geschichte der europäischen Hymne Konvents hielten dagegen, dass die Europäische Union kein Staat sei und sich daher selbst keine externen Symbole geben dürfe. 24 Schließlich beschränkte sich der Entwurf des Vertrags zur Schaffung einer Verfassung für Europa im Jahr 2004 darauf, die Hymne (Ode an die Freude) ebenso wie die Flagge, den Leitspruch, den Euro und den Europatag als Symbole der Europäischen Union anzuerkennen. Nach dem negativen Ausgang der Referenden zum Verfassungsvertrag, die im Mai bzw. Juni 2005 in Frankreich und in den Niederlanden abgehalten wurden, wurde das Thema ein weiteres Mal aufgegriffen. Diese zweifache Ablehnung führte zur Ausarbeitung und Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon im Dezember 2007. Unter dem Druck einiger Mitgliedstaaten, insbesondere des Vereinigten Königreichs, wurde der Verweis auf europäische Symbole jedoch aus dem Text gestrichen. Daraufhin unterzeichneten 16 Mitgliedstaaten (Belgien, Bulgarien, Deutschland, Griechenland, Spanien, Italien, Zypern, Litauen, Luxemburg, Ungarn, Malta, Österreich, Portugal, Rumänien, Slowenien und die Slowakei) eine gemeinsame Erklärung, die dem Vertrag beigefügt wurde und in der sie darlegten, dass sie diese Zeichen, darunter die Hymne, weiterhin als Symbole für die gemeinsame Zugehörigkeit der Bürger zur Europäischen Union und ihre Verbindung zu dieser betrachteten. Im Jahr 2017 tat Frankreich dasselbe. Das Europäische Parlament änderte mit dem Beschluss vom 9. Oktober 2008 seine Geschäftsordnung, um die Symbole der Union, einschließlich der „Hymne auf der Grundlage der ,Ode an die Freude‘ aus der Neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven“, anzuerkennen und zu übernehmen. Darüber hinaus legte das Parlament fest, dass „[d]ie Hymne [...] bei der Eröffnung jeder konstituierenden Sitzung und bei anderen feierlichen Sitzungen, insbesondere zur Begrüßung von Staats- oder Regierungschefs oder zur Begrüßung neuer Mitglieder im Zuge einer Erweiterung abgespielt [wird]“. In der Praxis bleibt die Europahymne somit in ihrer ausschließlich instrumentalen Fassung bestehen. ANMERKUNGEN 1 Foret, F., Légitimer l’Europe. Pouvoir et symbolique à l'ère de la gouvernance, Presses de Sciences Po, 2008. 2 Cheyronnaud, J., Introuvable „Hymne de la paix“, in Amnis – Revue d’études des sociétés et cultures contemporaines Europe – Amérique, Nr. 10, 2011, S. 4. 3 „Paneuropa-hymne“, in Paneuropa, Nr. 5/9, 1929, S. 23. 4 Bouchard, .C, „Formons un chœur aux innombrables voix...“ – hymnes et chants pour la paix soumis à la Société des nations, in Relations internationales, Nr. 155, 2013/3, S. 103–120. 5 Lager, C., L’Europe en quête de ses symboles, Peter Lang, 1995, S. 90–92. 6 Buch, E., La Neuvième de Beethoven. Une histoire politique, Gallimard, 1999, S. 271–272. 7 Curti Gialdino, C., I simboli dell’Unione europea: bandiera, inno, motto, moneta, giornata, Istituto poligrafico e Zecca dello Stato/Libreria dello Stato, 2005, S. 99–127. 8 Clark, C., „Forging Identity. Beethoven’s ’Ode’ as European Anthem“, in Critical Inquiry, Ausgabe 23/4, 1997, S. 789–807. 9 E. Buch, „L’Ode à la joie, fétiche sonore du politique“, in C. Lemoine und M.-P. Martin (Hg.), Le mythe Ludwig van Beethoven, Gallimard, 2016, S. 102–109. 10 M. Bois, Beethoven et l’hymne de l’Europe. Genèse et destin de l’Hymne à la joie, Atlantica-Séguier, 2005, S. 175 ff. 11 A. Larcher, Le drapeau de l’Europe et l’hymne européen. La genèse de deux symboles, Straßburg, Europarat, 1995, S. 12. 12 E. Buch, „Parcours et paradoxes de l’hymne européen“, in L. Passerini (Hg.), Figures d’Europe. Images and Myths of Europe, Peter Lang, 2003, S. 87–97. 13 Beratender Ausschuss des Europarates, Rapport sur un hymne européen, Dok. 2978, 10. Juni 1971. 14 M. Göldner, Politische Symbole der europäischen Integration: Fahne, Hymne, Hauptstadt, Pass, Briefmarke, Auszeichnungen, Peter Lang, 1988, S. 128–142. 15 Jean-Monnet-Stiftung für Europa (Lausanne), Archive von Robert Pendville, ARP 6/1/50-1/2, Schreiben S. Sforza an C. Calmes, Straßburg, 11. Februar 1972. 16 C. Farrington, „Beyond the Ode to Joy? The Politics of the European Anthem“, in The Political Quarterly, Band 90, Nr. 3, 2019, S. 525–533. 17 T. Betzwieser, „European Anthems. Musical Insignia of Understanding and Identity“, in A. Riethmüller (Hg.), The Role of Music in European Integration. Conciliating Eurocentrism and Multiculturalism, De Gruyter, 2017, S. 148–169. 18 J. Förnas, Signifying Europe, Intellect, 2012, S. 155. 11
EPRS | Wissenschaftlicher Dienst des Europäischen Parlaments 19 N. Tousignant, „L'impact du comité Adonnino (1984–1986). Rapprocher les Communautés européennes des citoyens“, in Études internationales, Band 36, Nr. 1, März 2005, S. 41. 20 Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Nr. 4, 1986, S. 54. 21 P. Collowald, „D’azur et de joie. Contribution à l’histoire du drapeau et de l’hymne de l’Europe“, in Revue d’Alsace, Nr. 125, 1999, S. 199. 22 A. Riethmüller, „Die Hymne der Europäischen Union“, in P. den Boer, H. Duchhardt, G. Kreis, W. Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, Band 2: Das Haus Europa, 2012, S. 89–96. 23 Archiv des Europäischen Parlaments, EU.HAEU/PE2.P1.200/PRES.260/CITO.266/COMM//COMM-1984-200/0010), Vermerk von F. Brunagel für P. Pflimlin, 13. Oktober 1986. 24 A. Lamassoure, Histoire secrète de la Convention européenne, Albin Michel, Robert-Schuman-Stiftung, 2004, S. 439. HAFTUNGSAUSSCHLUSS UND URHEBERRECHTSSCHUTZ Dieses Dokument richtet sich an die Mitglieder und Mitarbeiter des Europäischen Parlaments und ist als Hintergrundmaterial für ihre parlamentarische Arbeit bestimmt. Die Verantwortung für den Inhalt dieses Dokuments liegt ausschließlich bei dessen Verfasser. Die darin vertretenen Auffassungen entsprechen nicht unbedingt dem offiziellen Standpunkt des Europäischen Parlaments Nachdruck und Übersetzung – außer zu kommerziellen Zwecken – mit Quellenangabe sind gestattet, sofern das Europäische Parlament vorab unterrichtet und ihm ein Exemplar übermittelt wird. © Europäische Union, 2021. Bildnachweise: © Die Europahymne. Von der Europäischen Kommission und vom Europarat hergestellte Schallplatte, 1995. Zeichnung von Jean-Michel Folon. © Europäische Union. eprs@ep.europa.eu (Kontakt) www.eprs.ep.parl.union.eu (Intranet) https://www.europarl.europa.eu/thinktank/de/home.html (Internet) http://epthinktank.eu (Blog) 12
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