Die Grande Casse (3855 m) ist die Königin und unumstrittene Schönste der Vanoise - hier mit dem Lac du Plan du Lac als Spieglein.
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Die Grande Casse (3855 m) ist die Königin und unumstrittene Schönste der Vanoise – hier mit dem Lac du Plan du Lac als Spieglein. 34 DAV 4/2021
Nationalpark Vanoise Huhn Wandern im Nationalpark Vanoise Ein der Sonderklasse Der Vanoise-Nationalpark begeistert mit erhabenen Landschaften und mit einer Tierfülle, die ihresgleichen sucht. Mit Blick auf die Landkarte erklärt Iris Kürschner (Text und Fotos) obendrein, wo das Huhn steckt. noch lange nicht zu Ende, zeigt geduldig seine Fotos, die er von all den Tieren hier geschossen hat. Königsadler fräßen gerne Murmeltiere, und der Wolf sei wieder zu- P rückgekehrt, ein Rudel lebe im Nachbar- lötzlich ist es ganz still. Die Köp- phe Gotti, wie „Yeti“ eigentlich heißt, ar- tal, im Vallon de Rosuel. fe hängen im Nacken, weil „Yeti“ beitet seit über 30 Jahren als Parkranger Will man die Lage des Vanoise-Massivs in den Himmel zeigt. Ein impo- für den Vanoise-Nationalpark. Zugleich ist erklären, kann man gleich im Tierreich santer Bartgeier kreist elegant er Bergführer, Langlauflehrer, Wettkämp- bleiben. La poule – in Frankreich lernt je- durch die Lüfte, als sei er leicht wie eine fer beim Skibergsteigen und Autor von des Schulkind, wie leicht die Gebirgsgrup- Feder. „An die sieben Kilo können diese Wander- und Skiführern. Der Ranger pe auf der Landkarte im Gewirr der fran- Vögel auf die Waage bringen“, tönt es im sprüht vor Energie und hat Pranken wie zösischen Bergketten zu entdecken ist. Hintergrund, „und die Spannweite der – vielleicht ein Yeti. Das Schöne an Bart- Denn das durch die Täler der Isère (Taren- Flügel beträgt nicht selten zweieinhalb geiern, sagt er, sei ihre Neugier und dass taise genannt) und Arc (Maurienne ge- Meter.“ „Yeti“ weiß, wovon er redet, er half sie gerne auch mal ganz nahe kämen. So nannt) umschlossene Gebiet nur wenig beim Tragen im Wiederansiedlungspro- wie jetzt. Das Wanderpublikum, das sich südwestlich des Mont Blanc hat unver- gramm, ihm wurde auch die Überwa- auf der Terrasse des Refuge du Col du Palet kennbar die Form eines Huhns und sticht chung der Bartgeier aufgetragen. Christo- zusammengefunden hat, ist begeistert. Und Gotti ist mit seinen Ausführungen DAV 4/2021 35
Strom von der Sonne, sofort ins Auge. Im Hinterteil eigenes relativ kleinem Raum.“ Die- wasserhebepumpe, deshalb musste man Brot der Henne befindet sich der se Hüttendichte macht hier einen Diesel-Generator einsetzen. Um die Vanoise-Nationalpark. Der das Wandern besonders Speicherung der Sonnenenergie zu opti- älteste Nationalpark Frank- leicht. Allein an der Tour mieren und so auch den Generator zu reichs, 1963 gegründet, um de la Vallaisonnay befinden erübrigen, entwickelte der Park den inno- das Aussterben des Steinwilds zu verhin- sich neun Refuges, darunter auch das am vativen Prototyp: Überschüssige Solar dern, zeigt sich mittlerweile in überwälti- Col du Palet. Eine Vorzeigehütte, was die energie erzeugt Wasserstoff durch Elek gender Tierfülle. Damals kraxelten nur Energiebilanz betrifft. Seit 2015 wird sie trolyse von Wasser, die Brennstoffzelle noch vierzig Steinböcke durch das Hoch- zu 100 Prozent energieautark betrieben. wandelt bei Bedarf den Wasserstoff wieder gebirge, heute sind es rund zweitausend Mit dem Protoyp einer Kombination aus zu Strom. Eine geniale, saubere Energie- Exemplare, so Gotti. Ähnlich hoch ist die Fotovoltaik, Wasserstoffproduktion und technologie ganz ohne Treibhausgase. Be- Zahl der Gämsen. Brennstoffzelle versucht man neue Wege geistert sind wir auch von der netten Hüt- Völlig isoliert im Nordosten des Natio- zu gehen. Zuvor hätte es immer wieder tenwirtin, die mit viel Herzlichkeit und nalparks liegt das Refuge du Col du Palet. Probleme mit der Energieversorgung die- Engagement den Betrieb führt. Bérengère Es ist eine von 16 Hütten, die dem Natio- ses abgelegenen Stützpunkts gegeben, er- Vallat wollte vor einigen Jahren als Archi- nalpark gehören. Insgesamt aber verteilen klärt Gotti, weil die von den Solarmodulen tekturstudentin mit dem Ferienjob eigent- sich 54 Stützpunkte auf 530 km². „Das ist erzeugte elektrische Energie nicht länger lich nur etwas Geld verdienen. Es gefiel der einzigartig“, sagt Gotti. „Kein anderes Ge- als drei Tage gespeichert werden konnte. 28-Jährigen so gut, dass sie ihr Studium biet in den Alpen hat so viele Hütten auf Es reichte nicht für den Betrieb der Trink- erst mal auf Halde legte, um die Zeit nun 36 DAV 4/2021
Nationalpark Vanoise in den Bergen zu genießen. Bei ihr sieht es im Hochtal von Champagny beginnt und Winter aber zum Skizirkus erblüht. Gi- nicht nach Arbeit aus, sie strahlt über bei- endet. Ein Bilderbuch-Hochtal, wo sich in gantische Wintersportzentren wie Les de Ohren, wenn sie ihr leckeres Brot bäckt üppigen Blumenwiesen archaische Weiler Trois Vallées, Les Arcs und Val d’Isère kon- oder deftigen Eintopf kocht. betten und überm Kopf die Gletscher glit- frontieren. Sie zeigen aber auch, wie wich- Dieter und ich wollen die schönsten zern. Nicht selbstverständlich, denn ein tig es ist, Landschaften zu schützen. Der Runden herausfinden, und die Tour de la Tal weiter stechen Retortensiedlungen ins Vanoise-Nationalpark ist so geblieben wie Vallaisonnay gehört definitiv dazu. Wir Auge. Eine Kunstwelt aus Beton und Häss- bei unserem ersten Besuch vor über 20 gestalten sie zu einer Zweitagestour, die lichkeit, die im Sommer tot erscheint, im Jahren: unverbaut und traumhaft schön. In den Cirques de Pralo- gnan zeigt die Vanoise ihre wilde Seite. Das Refuge du Col du Palet wird mit regenerativer Energie versorgt und bietet feine Verpflegung. Geradezu legendär so- gar ist der Beaufortkäse der Alp Ritort – über so einen Leckerbissen würden sich auch Mur- meltiere mit Bandschei- benbeschwerden freuen. DAV 4/2021 37
Hinter den Wollgraswiesen im Biotop Bellecombe überragt der Dent Parrachée (3695 m) das Tal von Termignon. Unzählige Seen, weite Hochplateaus und se. Unterwegs biegen wir ab, um durch wilde Gebirgskessel, so genannte Cirques, den Cirque de l'Arcelin zum Cirque du prägen seine Landschaft. Unser Favorit Grand Marchet aufzusteigen. Wasserfälle bezogen auf Letzteres: die Tour des Cirques stieben von lotrechten Wänden. Sie bilden de Pralognan. reißende Gebirgsbäche, die im Grund der Pralognan im Herzen des Nationalparks Felsenkessel sanft und friedlich durch strahlt noch immer den Charme eines Moorbiotope mäandern. Bergsteigerdorfs aus. Von hier starteten Unterm Pic de la Vieille Femme wartet der britische Alpenpionier William Ma- das Refuge de la Valette auf uns. Vier thews und seine Führer Michel Croz und schmucke Holzhütten im Stil von Finnen- Etienne Favre im Jahre 1860, um die Gran- häusern, die seit dem Sommer 2019 von Ju- de Casse, den höchsten Gipfel der Vanoise, lie und Baptiste bewirtschaftet werden. Das als Erste zu besteigen. Die Königin der Va- junge Paar – er Ingenieur, sie Tierärztin – noise, unverkennbar ihre Form und doch zieht ein Leben in der Natur vor und will von allen Seiten anders, wandelbar wie etwas bewirken. Es stellte die Hüttenkost eine Diva. Schon von der Tour de la Vallai- auf Bio um und möchte jetzt auch andere sonnay konnten wir sie bewundern. Von Hütten dafür gewinnen, sich überwiegend Pralognan aus zeigt sie ihre markanteste mit lokalen Produkten beliefern zu lassen. Seite. Wie ein Rüssel zieht sich ein Glet- Julie serviert uns zur Begrüßung einen scher vom eingeschnittenen (cassé = ge- köstlichen Kuchen aus wildem Rhabarber. brochen) Haupt der Grande „Der wächst direkt vorm Casse herab. Über diese Seite führt auch der Weg der Erst- La Grande Haus, ist milder und weniger pelzig“, sagt sie und zeigt aufs Casse: die Königin besteiger und heutige Nor- nahe Gestrüpp. Überhaupt malweg. Eine strenge Route, sammle sie seit Coronazeiten die, je mehr der Gletscher mehr Kräuter, um nicht so schmilzt, umso heikler wird, oft einkaufen gehen zu müs- hatte uns Gotti gewarnt. Seit geraumer sen, schmunzelt Julie. Viel Zeit verbringen Zeit herrschen meist nur noch im Juni die beiden in der Küche. Applaus nach dem gute Bedingungen. Damals mussten Ma- Abendessen ist die Antwort der Gäste. thews, Croz und Favre 1100 Stufen schla- Ein überirdisches Lichtspektakel lockt gen, um den 45 Grad steilen Eishang zu plötzlich alle nach draußen. Die Grande bewältigen. Mathews gehört zu den fünf Casse glüht, dann die ganze Felsbarriere Briten, die im August 1857 auf dem Gipfel hinter der Hütte und im Süden die Aiguil- des Finsteraarhorns beschlossen, den ers- le de Polset. Ihr vergletschertes Antlitz be- ten alpinen Club der Welt zu gründen, was gleitet uns anderntags auf dem Höhenweg denn auch vier Monate später offiziell in zum Cirque du Génépy. Gletscher an- London geschah. schauen, solange es sie noch gibt. Auch im Viele Bergsteiger kämen zigmal um- Vanoise-Massiv lässt die Klimaerwärmung sonst, bevor die Grande Casse sie gewäh- das Eisvolumen stark zurückgehen. Der ren lasse, sagt Gotti. Aber was heißt hier vom Dôme de l'Arpont herabfließende umsonst. Allein ihr Anblick bleibt eine Glacier du Génépy zeigt sich im Hochsom- Augenweide – Blickfang auf dem Weg zwi- mer nur noch in Flecken, aus denen Bäche schen Pralognan und dem Col de la Vanoi- und Wasserfälle herausfließen. Als würde er weinen … Die Szenerie wirkt nach wie vor sehr imposant. ▶ 38 DAV 4/2021
Nationalpark Vanoise STOP TALKING. START PLANTING. Die Klimakrise ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Zum Glück gibt es Bäume. Sie verschaffen uns wertvolle Zeit, um Emissionen zu reduzieren. Deswegen hat Hannes Jaenicke gerade 1000 Bäume gepflanzt. Pflanz mit - mit einem Klick auf plant-for-the-planet.org oder unserer App.
Nationalpark Vanoise Einen Kontrast setzt die liebliche Alm- Abendrot an der Grande Casse, gesehen vom Refuge landschaft eines breiten Hochtals mit der de la Valette. Nahe dem Alp Ritort, besprenkelt von Tarentaise-Kü- Plan du Lac liegt die ver- hen, mit deren Milch der berühmte Beau lassene Alp la Chavière. fortkäse gleich vor Ort hergestellt wird. Als Käseliebhaber lassen wir uns das nicht entgehen. Zweimal am Tag, vormittags und abends gegen halb sechs Uhr, kann man durch Glasfenster die Produktion be- obachten. Degustieren und ein ordentli- ches Stück Käse einkaufen liegt auf der Hand. „Bon appétit“ wünscht uns der Kä- ser. 19-jährig tingelte Gaël als Backpacker durch die Welt. Er jobbte auf der Alp und blieb hängen. Das war 1998. Gaël Machet ist muskelbepackt, denn die Arbeit ist hart. Die Käselaiber wiegen um die 40 Kilo, regelmäßig müssen sie in der Schatzkam- 40 DAV 4/2021
mehr: alpenverein.de/ panorama-4-2021 die Gletscherberge wachsen und sich in einem Dutzend Seen spiegeln. Mehrere Hütten gibt es – Qual der Wahl. Das Refuge du Lac Blanc beispielsweise könnte nicht schöner liegen. Mächtig spie- gelt sich der Dent Parrachée in der Seeper- Anreise: Zentrale Ankunftspunkte mit ÖV sind in der Tarentaise die Bahnhöfe von Moûtiers und Bourg-St-Maurice, in der Maurienne der Bahnhof von Modane. le unterhalb der Hütte. Ebenso genial liegt Von dort sind die diversen Nationalpark-Täler per Bus erreichbar. das Refuge de Plan du Lac. La Grande Casse Wichtige Webadressen: vanoise-parcnational.fr, pralognan.com, zeigt sich doppelt. Selbst dann, wenn nicht saintefoy-tarentaise.com, haute-maurienne-vanoise.com Hütten: zu viel vom selbst gemachten Kräuterlikör, › Refuge du Col du Palet (2587 m), Tel.: 0033/(0)4 79 07 91 47, dem Génépy von Guilhem, genossen wurde. refuge-coldupalet.vanoise.com Stolz ist der Hüttenwirt aber vor allem › Refuge de la Valette (2590 m), Tel.: 0033/(0)6 65 64 57 36, auch auf sein batteriebetriebenes Gelände- refuge-valette.vanoise.com fahrzeug. Damit können auch behinderte › Refuge le Repoju (1710 m), Tel.: 0033/(0)6 83 58 21 73, refuge-repoju.com › Refuge du Lac Blanc (2290 m), Tel.: 0033/(0)6 82 38 11 98, refugedulacblanc-vanoise.com Steinböcke › Refuge de Plan du Lac (2368 m), Tel.: 0033/(0)4 79 20 50 85, refuge-plandulac.vanoise.com am alpinen › Refuge d’Entre-Deux-Eaux (2128 m), Tel.: 0033/(0)4 79 05 27 13, refuges-vanoise.com › Refuge de l‘Arpont (2290 m), Tel.: 0033/(0)9 82 12 42 13, Laufsteg refuge-arpont.vanoise.com Hotel-Tipps: Menschen hier coole Touren unterneh- › Hotel Le Monal in Ste-Foy Tarentaise, cooles Ambiente, men. Zudem ist die Unterkunft barrierefrei feine Küche, Tel.: 0033/(0)4 79 06 90 07, le-monal.com. ausgebaut und leicht von Termignon aus › L’Auberge d‘Oul, archaisch und ruhig im Dorfkern von über ein Sträßchen erreichbar. Nur ein Bonneval-sur-Arc, savoyardische Spezialitäten, Treffpunkt Einheimischer, Tel.: 0033/(0)4 79 05 87 99, dreiviertelstündiger Fußmarsch trennt sie auberge-oul.com. von der ältesten Unterkunft, dem Refuge Literatur: d'Entre-Deux-Eaux, Herberge seit 1908 an Iris Kürschner: Wanderführer Vanoise, Bergverlag Rother der Route du Sel et Fromage. Von dort star- 2021 (enthält alle erwähnten Routen – und mehr) ten wir eines Morgens zu den Lacs des Lo- zières hinauf. Es folgt ein grandioser Hö- mer gewendet werden, zwischen 350 und im Patois, dem lokalen Dialekt, die Ruhe- henweg zum Refuge de l'Arpont. Kurzweilig 400 Stück pro Saison. bänke“, erzählt uns Patron Nicolas, „dazu- wegen des ständig wechselnden Panora- Der Beaufort, gehuldigt als „Prinz der mal, als die Säumer auf dem Rücken Salz mas, aber auch wegen der Steinböcke, die Greyerzer“, gibt vielen lokalen Gerichten und Käse über die Pässe transportierten“, kokettieren, als wären sie beim Fotoshoo- einen besonderen Goût. Den Crozets (Teig- hinüber in die Maurienne und weiter in ting auf dem Laufsteg. Selbst die Murmel- waren) zum Beispiel. Im Restaurant „Ber- den Süden. Heute folgen diesen histori- tiere kommen so nah, als hätten sie nichts gerie“ in Les Prioux, das an unserer Runde schen Handelsrouten große Weitwander- zu befürchten. Vertrauen, das wir erst wie- liegt, werden sie ganz savoyardisch mit wege wie der GR 5 und der GR 55. Vom ei- der lernen müssen. Diots serviert, Würsten, in denen neben nen kann man auf den anderen abbiegen Fleisch auch Grünzeug wie Lauch und Spi- und das Herz des Nationalparks, die nat verarbeitet ist. Zur Bergerie gehört das Vanoisegletscher, umrunden. Dabei Refuge Repoju, beide urig, man fühlt sich lernt man auch das Hochplateau von Iris Kürschner war bei der Arbeit für ihre Führer-Neuauflage so fast wie zu Pionierszeiten. „Repoju heißen Termignon kennen. Eine abgefahrene begeistert, dass sie gleich wieder Landschaft, aus deren Wiesenprärie in die Vanoise möchte. DAV 4/2021 41
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