Was die Heilpädagogische Früherziehung von Obama lernen kann

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Was die Heilpädagogische Früherziehung
von Obama lernen kann…
Vortrag gehalten am 25-Jahr-Jubiläum des Berufsverbands der Früherzieherinnen und Früherzieher
der deutschen, rätoromanische und italienischen Schweiz, vom 15. Mai 2009 in Zürich
Dr. Ines Schlienger, Zürich

Vor 25 Jahren war der Saal zur Gründungsversammlung des Berufsverbandes berstend voll. Wir ha-
ben gerungen miteinander, um Paragraphen, um Begriffe, um Kommata, so wie das üblich ist in der
Schweiz. Der Berufsverband war nicht unumstritten. Sollen die Heilpädagogischen Früherzieherinnen
(ich werde in diesen Ausführungen immer die weibliche Form wählen und bitte die männlichen Früher-
zieher, sich mitgemeint zu empfinden) sich eigenständig organisieren, oder eine Berufsgruppe inner-
halb des Berufsverbandes der Heilpädagoginnen bleiben. Das war die zentrale Frage. Und dieses
demokratische Ringen, von Maria Haag souverän geführt, war und ist einer der Gründe, weshalb ich
das Schweizer politische System so liebe: das Verhältnis der Bürgerin zum Staat, zu seinen Institutio-
nen und zu den privatrechtlichen Organisationen ist sehr nah und direkt, von viel Verantwortung ge-
prägt. Gleichzeitig ist es wert- und konsens-orientiert, auch wenn oder gerade weil diese Art des
Umgangs miteinander intensive Auseinandersetzungen nach sich zieht. Wir neigen nicht dazu, auf
obrigkeitliche Entscheide zu warten, sondern packen selbst an, fordern basisdemokratische Entschei-
de ein.
Zumindest ist dies das Bild, das ich gerne von den Schweizerinnen und Schweizern habe, und das ich
in meinem Wertesystem hoch halte. Auch die Schweizerische Früherziehung war von ihren Anfängen
an geprägt durch diese Eigenschaften, und die Gründung des Berufsverbandes war nur einer von vie-
len Ausdrucken dafür.
Somit könnte man den Titel meines Vortrages auch umdrehen: „Was Obama von der Heilpädagogi-
schen Früherziehung lernen kann…“ Aber es steht mir nicht an, dem mächtigsten Mann der Welt Rat-
schläge zu erteilen.
Was nun wiederum nicht bedeutet, dass ich dem Berufsverband oder den praktisch tätigen Früherzie-
herinnen und Früherziehern Ratschläge erteilen möchte – oder dass es mir zustehen würde, das zu
tun. Nein, ich habe mir lediglich, angeregt durch einen Artikel in einem Zeitungsmagazin, Gedanken
gemacht, was wir von der Art, wie Obama seinen Wahlkampf geführt, seine Wahl angenommen und
gefeiert und sein Amt angetreten hat, „abkupfern“ könnten, in einer Zeit des politischen und sozialen
Wandels.
Und diese Überlegungen habe ich in sechs Lektionen aufgeteilt.

Lektion 1: Sei beharrlich
Werde nie müde, das einzufordern, was Not-wendig ist,
für das einzustehen, was wichtig ist und das zu tun, was richtig ist.
Investiere viel, damit Wandel möglich wird.
Resignation ist keine Option.

Mir ist klar: wir befinden uns in einer Zeit, in der mit immer weniger zeitlichen Ressourcen immer mehr
geleistet werden muss, in der Zeiterfassungssysteme Vorzug erhalten vor der Reflexion einer Förder-
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stunde oder wo politische Arbeit nicht mehr als Aufgabe der praktisch tätigen HFE betrachtet wird.
Trotzdem wird heute das Morgen geschaffen: Die Bedürfnisse der Kinder, die in der Heilpädagogi-
schen Früherzieung betreut werden und der Familien, die durch die Heilpädagogische Früherzieherin
begleitet werden, bedürfen der liebevollen menschlichen Beachtung und der adäquaten Antworten.
Nicht müde werden, darf man z.B. in Bezug auf das Einstehen für folgende Punkte:
   Es braucht weiterhin hinreichend zeitliche und finanzielle Ressourcen für die praktisch tätigen
    Heilpädagogischen Früherzieherinnen, damit sie ihren Auftrag im Sinne der Verordnungen und
    des theoretisch und praktisch erkannten Richtigen ausführen können. Dies betrifft insbesondere
    den Bereich der Hausfrüherziehung, dem „Herzstück“ der Heilpädagogischen Früherziehung, da-
    rauf hat Brigitte Eisner-Binkert in ihrem jüngsten Artikel in der Schweizerischen Zeitschrift für Heil-
    pädagogik hingewiesen: Die Hausfrüherziehung ist und bleibt für viele Familien, sei es aus öko-
    nomischen oder geographischen Gründen, die einzige Möglichkeit, ihr Recht auf Heilpädagogi-
    sche Früherziehung wahrzunehmen.
   Qualifizierte, den neuen Anforderungen angepasst Aus- und Weiterbildung der Fachkräfte sind
    unabdingbar.
   Theoretische Begründung für fachliches Handeln und theoriegeleitete Reflexion sind unerlässlich
    – v.a. auch unter dem erweiterten Auftrag der Prävention.

Lektion 2: Misch dich ein
Binde alle ein, die etwas betrifft oder betreffen könnte.
Bilde Netzwerke und nutze sie.
Suche Kooperationspartner wo immer Du sie finden kannst, auch im „gegnerischen
Lager“.
Es gibt keine Alternative zu Partnerschaft und Zusammenarbeit.
Zeige Dich, wo Du kannst in der Öffentlichkeit: Du hast eine Botschaft.

Eine der eher zwiespältigen Tugenden, die ich bei Schweizerinnen und Schweizern ab und an beob-
achte, ist die Tendenz, abzuwarten: Zu warten, bis der andere sich zuerst nach vorne wagt, „Bitte
nach Ihnen…“ heisst es dann, „ich will nicht stören“, oder „ich will den anderen nicht verärgern“.
Das hat seine Vorteile, das ist ganz klar, aber es zeigen sich auch Nachteile. Besonders dort, wo an-
dere schneller, frecher oder mächtiger sind. Natürlich kann man anschliessend jammern, dass man
nicht gehört wurde, dass man übergangen wurde, dass man nicht gesehen wurde. Aber die Opfer-
mentalität ist hier weder angebracht noch dienlich. Man muss zur „Täterin“ werden. Aktiv eingreifen,
stören, auf die Gefahr hin, sich vielleicht auch einmal unbeliebt zu machen. Aber man muss sich zei-
gen und sich Gehör verschaffen.
Für die Heilpädagogische Früherziehung bedeutet dies:
   Kooperation innerhalb des Berufsfeldes der Heilpädagogischen Früherziehung: Der Berufsver-
    band BVF ist hier das wichtigste Organ, dann der „Verband Heilpädagogischer Dienste Schweiz
    (VHDS)“, oder die Interessengruppe der freiberuflich tätigen Früherzieherinnen und Früherzieher
    (IGFF). Diese Gruppen sind im Interesse der Sache gefordert, intensiv zusammenzuarbeiten und
    gemeinsame Strategien zu entwickeln. Die Trägerschaften der Heilpädagogischen Dienste sind
    gefordert, die Zeichen der Zeit zu erkennen und die notwendigen Massnahmen zusammen mit
    den praktisch tätigen Heilpädagogischen Früherzieherinnen und den Leiterinnen anzupacken.
    Manchmal muss man die Trägerschaften auch aufrütteln: Misch dich ein!
   Netzwerke (mit den zugehörigen Abgrenzungen) sollen aber auch intensiviert werden zu den an-
    deren Berufsgruppen, die sich im Frühbereich ansiedeln: Logopädie, Psychomotorik, Früherzie-
    hung allgemein, Beratungsstellen usw.
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   Einmischen muss sich die Heilpädagogische Früherziehung in politische Entscheide. Vieles in den
    Kantonen ist im Zusammenhang mit der NFA schon geregelt und kann nicht mehr verändert
    werden. Vieles aber ist noch offen. Die Entscheidungsträger dürfen nicht im „stillen Kämmerlein“
    befinden. Sie brauchen Informationen, aber auch Druck von Seiten Betroffener.
   Einbinden in die Anliegen soll und kann man auch und verstärkt die Eltern und weitere Angehörige
    der betreuten Kinder. Diese sind primäre Nutzniesser der Heilpädagogischen Früherziehung und
    haben ursprüngliches Interesse. Sie sind auch die, die direkt und schnell die Auswüchse ungün-
    stiger politischer Entscheide oder ungünstiger Abläufe spüren.
   Immer wieder ist auch festzustellen, dass in der aktuellen Bildungsdebatte, in der Diskussion um
    Kindergarten, Grundstufe und Einschulung, neue Formen der frühen Förderung von Kindern mit
    Migrationshintergrund oder aus bildungsfernen Familien, die in der Presse gespiegelt werden, die
    HFE nicht auftaucht. Sie fehlt, wird nicht wahrgenommen, totgeschwiegen, geht vergessen...
    Finde ich irgendwo in der Tagespresse, in Zeitschriften einen Artikel über die Heilpädagogische
    Früherziehung, freut es mich ungemein. Aber diese Freuden sind selten. Es ist klar, nicht jedem
    und jeder ist die Gabe des Redens und Schreibens in und für die Öffentlichkeit in die Wiege ge-
    legt. Nicht alle Heilpädagoginnen dürfen mit ihren Ansichten an die Öffentlichkeit gelangen. Das
    ist aber noch lange kein hinreichender Grund für dieses öffentliche Verschwiegen-Werden: Die
    Heilpädagogische Früherziehung muss vermehrt öffentlich wahrgenommen werden, sonst verliert
    sie zunehmend an Bedeutung in einer Welt, die ohne Lobbying nicht mehr auskommt.

Lektion 3: Kommuniziere authentisch, klar und stringent
Sei freundlich im Ton, klar in der Sache.
Arbeite bei allem, was zu sagen ist, die Quintessenz heraus.
Sei diszipliniert und Gedanken und Gefühlen.
Lass Dich nicht provozieren, sei nicht nachtragend.
Arbeite auch mit Personen, mit denen zu Differenzen hast.
Höre zu, besonders wenn das Gegenüber anderer Meinung ist.
Vermeide Polarisierungen: Sowohl-als-auch und nicht Entweder-oder.

Wer Barack Obama in seinen Fernseh-Debatten gegen seinen Konkurrenten John McCain erlebt hat,
kommt nicht umhin, beeindruckt zu sein. Das scheint auch nicht eine antrainierte Haltung zu sein, nur
ein intensives Medientraining ermöglicht das nicht. Was es braucht um nachhaltig Vertrauen aufzu-
bauen, Hoffnung zu wecken und Menschen zu motivieren, ist ein Höchstmass an Authentizität, das
sich paart mit Engagement und guter Sachkenntnis. Damit kann man sich gelassen und souverän
auch gegenteilige Meinung anhören, unangemessene Angriffe an sich abperlen lassen und berechtig-
te Kritik integrieren.
Wenn ich jetzt die Heilpädagogischen Früherzieherinnen vor Augen habe, mit denen ich es in den
vielen Jahren meiner beruflichen Tätigkeit in diesem Feld zu tun hatte, dann weiss ich, dass gerade
solche Eigenschaften Kennzeichen von Angehörigen dieses Berufsstandes sind. Die Früherzieherin
stellt sich schon beim Erstkontakt auf die Eltern und das Kind ein und definiert sich. Sie klärt ihre Rolle
und ihren Auftrag, lässt sich auf das Familiensystem ein und grenzt sich gleichzeitig ab, und sie zeigt
sich auch als Person bei aller hohen Fachlichkeit.
Was sich jetzt noch mit diesen Eigenschaften paaren muss ist ein entsprechendes Selbst-Bewusst-
sein und die Bereitschaft, dies zu nutzen auch in weiteren, grösseren Zusammenhängen, sei es in der
Politik oder in der Öffentlichkeit.
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Lektion 4: Erzähl von einem Kind, berichte von einer Mutter
Bringe beim Argumentieren persönliche Werte mit ein.
Löse Deine Position nicht vom Einzelschicksal.
Verbinde politische oder soziale Anliegen mit Einzelschicksalen.

Jedes Handeln ist grundsätzlich wertegeleitet, das unsere genauso wie dasjenige des Gegenübers.
Wenn wir uns in Diskussionen oder im Argumentieren lediglich auf diese Werte ini ihrer abstrakten
Form beziehen („Es geht um Solidarität“), so wird das Gegenüber nicht in der Tiefe seines Empfindens
angesprochen. Wichtig ist, die Auswirkungen solidarischen oder unsolidarischen Handelns auf den
Einzelnen aufzeigen und schildern.
Das wurde mir sehr deutlich an einem Beispiel das schon viele Jahre zurückliegt. Da hat eine Mutter,
die mit der IV-Regionalstelle wegen der Höhe der Hilflosenentschädigung für ihr schwerstbehindertes
Kind im Clinch war, eben dieses Kind zu einer Besprechung mit dem IV-Verantwortlichen mitgenom-
men, im Besprechungszimmer das Znüni ausgepackt und den Offiziellen gebeten, er solle ihr doch bit-
te zeigen, wie dieses Kind das Znünijoghurt in 10 Minuten essen könne, wie das die IV vorgesehen
hatte. Der IV-Funktionär hat schnell nachgegeben…
Werte erhalten andere Bedeutung und werden auf andere Art handlungsleitend, wenn sie über Einzel-
schicksale oder Begegnungen auch die emotionale Seite des Menschen ansprechen. Und um es wie
Barack Obama zu sehen: Privates und Politisches sind eng verflochten.

Lektion 5: Blicke nach vorne
Verzichte nicht auf Träume und Visionen.
Entwirf Zukunftsperspektiven.
Entscheide Dich, eine (bessere) Geschichte zu wählen.
Grösse und Stärke sind nicht selbstverständlich, sie müssen verdient werden.
Nicht zaudern, indem man das Fehlende beklagt, sondern anpacken, heute.

Visionen, Träume, Imaginationen sind wichtig für Entwicklung und Wandel, nicht nur in der Pubertät,
der Zeit, in der entwicklungspsychologisch die Träume, Tagträume, Visionen und Fantasien ihre Hoch-
blüte haben. Sie ermöglichen dem Subjet, sich über aktuell schwierige Realitäten hinwegzusetzen und
sich in eine bessere Zukunft zu denken. Dabei stehen allerdings nicht die kognitiven Inhalte im Vor-
dergrund, sondern die Stimmungen und Gefühle, die diese Träume und Visionen auslösen.
Visionen sind für kreative Menschen, Forscher und Genies immer schon zentral gewesen. Sie verset-
zen das Subjekt in einen Zustand einer besonderen Wachheit. Die Welt wird weiter und offener, weil
das Denken und Fühlen nicht eingeschränkt ist durch Barrieren des Alltags oder Vorurteile, und weil
der Zugang zum Unbewussten geöffnet wird. Viele kreative Menschen benutzen für diesen Zustand
Begriffe wie Intuition, Instinkt, Vision, oder "die innere Stimme".
Und diese Fähigkeit soll auch die Heilpädagogische Früherziehung nutzen, damit sich dort Türen des
Denkens und Handelns öffnen, wo sie jetzt noch verschlossen scheinen, um Lösungen für die Zukunft
zu entwickeln, die angepasst sind dem, was notwendig ist und die das schaffen können, was grund-
sätzlich möglich ist.
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Lektion 6: Ehre das Alte
Führe das weiter, was gut ist und als richtig erkannt.
Verringere die Lücke zwischen den Idealen und den Realitäten der Zeit.
Führe das weiter, was die, die vor uns waren, gemeint haben.
Sei stolz auf das, was bisher errungen ist

Bei dem, was wir tun, fangen wir nie bei Null an. Immer war da vorher schon etwas, und darauf bauen
wir auf. Die Heilpädagogische Früherziehung ist von vielen Pionieren geprägt worden: Jörg Grond,
Gesche Bosshard, Cécile Brühwiler, um nur einige wenige zu nennen. Was diese Pioniere gemeint
haben, damals, vor 40 Jahren, hat heute noch Gültigkeit. Und was sie gefordert haben, gehört heute
noch zum Forderungskatalog – oder es gehört wieder dazu, weil alles neu verhandelt werden muss.
Auch wenn wir die Heilpädagogische Früherziehung immer wieder neu erfinden müssen: es gibt einen
Kern, der bleibt sich gleich, einen Kern von Engagement und Werten, den wir nicht aufgeben wollen
oder können. Und zu diesem Kern gehört in der Heilpädagogischen Früherziehung unabdingbar die
Heilpädagogik.
Heilpädagogische Früherziehung war von Anfang an, als sie noch „Früherziehung“ genannt wurde,
heilpädagogisch gedacht: heilpädagogisch im schweizerischen Sinn:
   •   handlungsorientiert, theorie- und wertegleitet
   •   bezogen auf Kinder mit Entwicklungsverzögerung oder Behinderung in verschiedensten Berei-
       chen oder auf Kinder, die davon bedroht sind
   •   ausgerichtet auf die Familien der Kinder, damit diese Entwicklungsbedingungen erfahren, die
       für sie ein Leben in möglichst viel Autonomie und Partizipation ermöglichen, und die den Fa-
       milien ein Leben in emotionaler Ausgeglichenheit, Stabilität und gesellschaftlicher Integration
       ermöglicht
   •   der andauernden Selbstreflexion verpflichtet

Dieses „Heilpädagogische“ zu bewahren und zu schützen ist auch Aufgabe der Heilpädagogischen
Früherziehung und vordringliche Aufgabe des BVF.

Und nun bleibt mir zum Schluss nur noch übrig, dem Berufsverbands der Früherzieherinnen und Früh-
erzieher der deutschen, rätoromanische und italienischen Schweiz alles Gute zum Jubiläum zu
wünschen und weitere 25 Jahre fruchtbare Arbeit, und der versammelten Mitgliedschaft heute wün-
sche ich ein tolles Fest.
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