Die Himmelsscheibe von Nebra: Zum Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts

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Die Himmelsscheibe von Nebra: Zum Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts
Die Himmelsscheibe von Nebra: Zum Stand der Deutung und Datierung
                                      eines schillernden Ritualgeräts

                                                                                                                         Paul Gleirscher

Zusammenfassung – Der Beitrag widmet sich der Diskussion um die Deutung und Datierung der Himmelsscheibe von Nebra. Sie wurde
1999 am Mittelberg bei Nebra von Raubgräbern gefunden, so dass eine Reihe von Fragen offenbleibt. Ein mehrteiliger Hortfund ist nicht
abzusichern. Beim Bild der Himmelsscheibe handelt es sich um ein Piktogramm bzw. eine Chiffre, keinesfalls um ein astronomisches
Messinstrument oder einen komplexen Kalender. Die Himmelsscheibe von Nebra zeigt zunächst (Phase I) einen Nachthimmel mit Voll-
und Sichelmond und Sternen, darunter den Plejaden, gängige Symbole für Aussaat und Ernte. In zwei chronologisch austauschbaren
Schritten (Phasen II und III) wurden nacheinander drei „Bögen“ ergänzt, von denen die beiden seitlichen hier als Marker für den Lauf
des Mondes und nicht der Sonne, jener am unteren Bildrand als Blatt einer „Großen Knopfsichel“ und nicht als Sonnenbarke interpretiert
werden. Dadurch wurde die Mond- bzw. Erntesymbolik verstärkt. Trifft das zu, ergibt sich daraus ein Datierungsansatz für Phase II oder
III in die Spätbronzezeit. Die beiden weiteren Umarbeitungen betreffen nicht mehr die Symbolik der Scheibe. Sie wurde zunächst ohne
Rücksicht auf das Bild rundum gelocht (Phase IV). Schließlich wurde im Zuge der rituellen Deponierung ein Bogenelement entfernt oder
ging verloren (Phase V). Die Himmelsscheibe von Nebra kann bis in die (frühe) Eisenzeit in Gebrauch gewesen sein.

Schlüsselwörter – Archäologie; Himmelsscheibe; Nebra; Bildabfolge; Deutungsfragen; Datierungsfragen; Bronzezeit; Eisenzeit.

Title – The Nebra Sky Disk: On the symbolism and dating of an enigmatic ritual tool

Abstract – The aim of this article is to present the discussion on the symbolism and chronology of the Nebra Sky Disk. It was found in
1999 by two looters on the Mittelberg near Nebra. Thus, the indications remain questionable. There is also no proof, that the disk has been
part of a deposition of several objects. The image of the disk is a pictogram or cypher, but never an astronomical measuring instrument
or contained a complex calendar. The Nebra Sky Disk originally shows the night sky with the moon in two different forms and some stars,
amongst them the Pleiades, symbols of sowing and harvest (phase I). The two lateral golden arcs added in a further step (phase II or III)
are interpreted as markers of the northern and southern tropics of the moon and not of the sun. The so-called sun-boat is interpreted as the
blade of a ‘big button sickle’. Thus, the symbolism of moon and sowing/harvest was strengthened. If so, this gives an indication for dating
phase II or III of the Nebra Sky Disk to the Late Bronze Age. The two further manipulations don’t concern the symbolism of the disk. First it
was perforated with no bearing on the image (phase IV). With the ritual deposition one of the two ‘horizon arcs’ finally was removed or got
lost (phase V). The Nebra Sky Diks may have been in use until the (Early) Iron Age.

Key words – archaeology; sky disk; Nebra; sequence of the illustration; question of symbolism; question of dating; Bronze Age; Iron Age.

Fundgeschichte und Fund                                                   be von Nebra zugeordneten Objekte gesichert
                                                                          als Teil eines Hortfundes aus der Zeit um 1600 v.
Die Himmelsscheibe von Nebra (Meller, 2002,                               Chr. angesprochen werden können, kürzlich aus
7-8 u. 17-19; 2010, 24-44; 2020b, 79; Pernicka et al.,                    einer Reihe gewichtiger Gründe in Zweifel gezo-
2020, 91-111) wurde im Sommer 1999 von Raub-                              gen (Gebhard & Krause, 2020a, 325-329; 2020b,
gräbern am Mittelberg bei Nebra an der Unstrut                            347-352). Diese Einwände brauchen hier nicht
(Burgenlandkreis; Sachsen-Anhalt) gefunden.                               wiederholt werden. Die Ungereimtheiten und
Deren Angaben, den Daten aus der Nachgrabung                              fehlenden Daten raten von einer Einschätzung
im Jahre 2002 und dem Gerichtsverfahren zufolge                           der Himmelsscheibe als Teil eines Hortfundes
lag sie dort im Schutze zumindest zweier Stein-                           ab. Harald Meller und die Forschergruppe um
platten, angeblich zusammen mit zwei Vollgriff-                           ihn (Pernicka et al., 2020, 96-111) gehen dennoch
schwertern, zwei (gebrochenen) Armspiralen,                               weiter davon aus, dass Fundumstände, Fundge-
zwei Axtklingen und einer Meißelklinge. Ob sich                           schichte und Fundort der Himmelsscheibe von
in der Grube dann auch die (zerbrochenen) Holme                           Nebra „zweifelsfrei“ geklärt werden konnten und
und der Griff des Meißels befanden, weiß man                              die Zusammengehörigkeit des Hortfundes unbe-
ebenso wenig wie, ob mit den beiden Armspira-                             stritten sei. Im Folgenden gilt das Augenmerk der
len auch Kleidung, insbesondere ein Zeremon­                              Himmelsscheibe per se.
ialgewand, niedergelegt worden war. Platz dafür                               Die Himmelsscheibe von Nebra (Abb. 1) ist
wäre in der Grube gewesen. Allerdings wurden                              nahezu kreisrund (Durchmesser 30-31 cm) und
die Argumente, wonach alle der Himmelsschei-                              wiegt 2,05 kg (Meller, 2002, 9-14; 2010, 44-48). Am

Eingereicht: 27. Jan. 2022                                                            Archäologische Informationen 44, 2021, 187-204
angenommen: 3. Feb. 2022                                                                                                   CC BY 4.0
online publiziert: 14. Feb. 2022                                    187
                                                                                                                         Weitere Aufsätze
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                                                                    Was die Deutung des Bildes und seiner Umarbei-
                                                                    tungen auf der Himmelsscheibe von Nebra anbe-
                                                                    langt, hat sich während der vergangenen zwanzig
                                                                    Jahre erwartungsgemäß eine kontroverse Diskus-
                                                                    sion ergeben. Stefanie Samida und Manfred K. H.
                                                                    Eggert (2013, 75-76) resümierten für das Fach ge-
                                                                    radezu selbstzerstörerisch, wenn sie meinen: „Die
                                                                    Wissenschaft, soviel steht fest, kann die Bedeutung der
                                                                    Scheibe für die Menschen der Bronzezeit nicht mehr
                                                                    rekonstruieren. Oder anders ausgedrückt: Ihr Kode
                                                                    kann nicht mehr entziffert werden.“ Insofern scheint
                                                                    eine neuerliche Betrachtung nicht nur von Nut-
                                                                    zen, sondern notwendig.
                                                                        Folgt man Harald Meller (2010), dann ist die
                                                                    Himmelsscheibe von Nebra mit dem „Urbild“ um
                                                                    ca. 1750/1700 v. Chr. entstanden (Abb. 3). Bereits
                                                                    um 1600/1580 v. Chr., also rund 100 bis 170 Jahre
                                                                    später, wäre sie zusammen mit Schmuck, Waffen
                                                                    und Gerät als Hortfund vergraben worden. Wäh-
                                                                    rend dieser Zeitspanne wurde die Himmelsschei-
                                                                    be von Nebra vier Mal geradezu im Generatio-
                                                                    nentakt verändert (Phase I-V), was entschieden zu
                                                                    knapp bemessen sein dürfte. Doch meinte jüngst
                                                                    auch Andreas Müller-Karpe (2021, 24), dass „für
                                                                    die verschiedenen Umarbeitungen der Himmelsscheibe
  Abb. 1 Die Himmelsscheibe von Nebra und das Blatt einer
 Knopfsichel aus dem Hortfund von Schkopau. Ohne Maßstab.
                                                                    nicht mehrere Jahrhunderte anzusetzen sind, sondern
  – Nach: Meller, 2002, 9, Abb. 2 und Sommerfeld, 2004b,            einige Generationen oder auch nur Jahre reichen.“
  119 (Fotos: Juraj Lipták, Landesamt für Denkmalpflege und             Meller (2010) folgend verberge sich bereits im
                 Archäologie Sachsen-Anhalt).
                                                                    „Urbild“ – abgesehen von einem Nachthimmel
                                                                    mit Bezug zum Erscheinen und Verschwinden
                                                                    der Plejaden im Sinne des bäuerlichen Jahres-
Rand ist sie 1,5 mm stark, in der Mitte 4,5 mm.                     laufes – die Schaltregel für einen Lunisolarka-
Rupert Gebhard und Rüdiger Krause (2020b, 352-                      lender (Phase I). Nachdem dieses komplexe „Ge-
353) haben entgegen Meller auf das Vorhanden-                       heimwissen“ verloren gegangen sei, wäre im Bild
sein von Gusslunker hingewiesen, wonach die                         auf der Himmelsscheibe von Nebra schon kurze
Scheibe gegossen und überschmiedet wurde. Mit-                      Zeit später, um 1680 v. Chr., der Lauf der Son-
tels Tauschierung wurde in drei Phasen (Abb. 2)                     ne zwischen Winter- und Sommersonnenwende
eine Reihe von Goldblechen (Stärke 0,4 mm) auf-                     festgehalten worden (Phase II). Wenig später, um
gebracht. Unterschiedliche Zinn-/Silber- und                        1650 v. Chr., hätte man außerdem ein Schiffsbild
Kupfer-/Silbergehalte erhellen nämlich, dass die                    aufgebracht. Die Himmelsscheibe hätte nunmehr
Goldbleche auf der Himmelsscheibe von Nebra                         jenen Mythos illustriert, in dem die Sonne auf
drei verschiedenen Goldchargen zuzurechnen                          unterschiedlichen Schiffen durch Tag und Nacht
sind (Phase I-III). Dazu kommen einzelne Überla-                    transportiert wurde (Phase III). Aus dem Auf-
gerungen. Weil diese Überlagerungen aber nicht                      kommen von Schiffsbildern in Mittel- und Nord­
die „offiziellen“ Phasen II und III betreffen, bleibt               europa erschloss Meller zugleich einen chrono-
deren zeitliche Abfolge umkehrbar. Später wurde                     logischen Fixpunkt im Sinne eines terminus ante
die Scheibe rundum gelocht (Phase IV). Zuletzt                      quem non für diese Phase.
wurde der linke der beiden seitlichen goldenen                          Weil sich diese Vorstellung nicht habe durch-
Bögen abgenommen (Phase V). Daraus ergibt                           setzen können, hätte man sich gegen bzw. um
sich, dass drei Bildphasen zu unterscheiden sind                    1600 v. Chr. auf ein Sonnenbild rückbesonnen,
(Phase I-III), die Scheibe später noch zweimal be-                  die Scheibe rundum gelocht, gerahmt und die-
arbeitet bzw. verändert wurde (Phase IV-V), ohne                    se auf einer Standarte zur Schau gestellt (Phase
dass das für das Bild relevant wäre.                                IV). Im Zuge der Deponierung der Scheibe – nach

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Die Himmelsscheibe von Nebra: Zum Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts
Die Himmelsscheibe von Nebra: Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts

   Abb. 2 Himmelsscheibe von Nebra: Die Goldauflagen entstammen drei unterschiedlichen Legierungen und damit wohl drei
unterschiedlichen Bearbeitungsphasen (Phasen I-III). – Nach: Meller, 2010, 48, Abb. 15 (Grafik: Klaus Pockrandt, Landesamt für
                                      Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt).

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Die Himmelsscheibe von Nebra: Zum Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts
Paul Gleirscher

Meller zusammen mit einer Reihe von Beifunden,                     Doch diese ursprüngliche Erklärung des „Ur-
die ihm einen weiteren Datierungsansatz liefern,               bildes“ reicht Meller (Meller, 2010, 23, 59-62 u. 70;
bereits um 1600/1580 v. Chr. – wäre schließlich                2020a, 33; 2020b, 80-82) später nicht mehr: „…
einer der Horizontbögen entfernt und die Scheibe               entschlüsselte Rahlf Hansen [2006; 2010] zwei Schalt-
auf diese Weise rituell zerstört worden (Phase V).             regeln, die es dem Schöpfer der Scheibe ermöglichten,
Nach Meller wäre die geistige Entwicklung vom                  das längere Sonnenjahr (365 Tage) mit dem kürzeren
Logos zum Mythos gegangen, nicht umgekehrt,                    Mondjahr (354 Tage) in Einklang zu bringen. […] Die
wie man erwarten würde. Meller meint überdies,                 Himmelsscheibe diente somit als lunisolarer Kalender,
die Ergänzungen und Umarbeitungen mit einem                    der die Harmonisierung von Mond- und Sonnenjahr
wiederholten Besitzerwechsel verbinden zu dür-                 auf eine vergleichsweise einfache Art und Weise löst.“
fen, wobei die Besitzer Einzelpersonen aus der                 „Ein derart nüchternes Himmelsbild ohne offenkun-
Elite und keine (Kult-)Gemeinschaft gewesen                    dige Bezüge zu mythologischen Vorstellungen ist völ-
wären. Doch wird man realiter umgekehrt bei                    lig untypisch für die Bronzezeit. […] Die scheinbar
vorrömischem Kultgerät vielmehr von einer Art                  einfache Anordnung der Bildelemente gibt komplexe
gemeinschaftlichem Besitz auszugehen haben.                    himmelsmechanische Regeln mehrfach verschlüsselt
                                                               wieder. Demnach symbolisieren die 32 Sterne 32 Son-
Phase I: Die Plejaden am Nachthimmel                           nenjahre, denen – zählt man Vollmond/Sonne hinzu
Betrachten wir die einzelnen Phasen und Mellers                – 33 Mondjahre entsprechen, eine Schaltregel [...], die
Interpretation näher. Auch er etikettiert das Bild             schriftlich zum ersten Mal [...] in Mesopotamien (8./7.
einleitend als „einprägsam, aber doch rätselhaft“              Jh. v. Chr.) festgehalten worden ist, aber deutlich älter
(Meller, 2010, 23) und spricht zudem von einem                 sein kann.“ Zudem enthalte dieser lunisolare Ka-
„piktogrammartigen Himmelsbild“ (Meller, 2010,                 lender die Möglichkeit zur indirekten Vorhersage
44), einem „Bildercode, der auf den ersten Blick sim-          einer Mondfinsternis.
pel anmutet. Sonne, Mond und Sterne sind für jeden                 „Der Schöpfer [gemeint: der Scheibe bzw. des Bild-
Erdenbürger, der seinen Blick zum Himmel richtet,              programmes] beschloss, das nur ihm oder einer kleinen
leicht erkennbar“ (Meller, 2020a, 29). Von einer               Gruppe bekannte astronomische Herrschaftswissen
„simplen Sichtweise“ rückt er in seiner detaillierten          über die Schaltregel für einen Lunisolarkalender als
Analyse jedoch völlig ab und entfaltet eine ebenso             perfektes Bild [auf die Scheibe] zu bannen. Dies gelang
komplexe wie willkürliche Interpretation (Meller,              ihm mehrfach codiert in virtuoser Weise. […] Das Bild
2010, 23 u. 59-70; 2020b. So auch die Forschungs-              diente als Verbildlichung wichtiger astronomischer Re-
gruppe um Meller: Maraszek et al., 2011, 162-174;              geln, als Schriftersatz, war das geheime Regelwerk eines
Pernicka et al., 2020, 90 u. 111-114), die deshalb             revolutionären Lunisolarkalenders.“ Im Bild wären
in ausführlichen Zitaten darzustellen und zu kom-              „komplexe himmelsmechanische Regeln gekonnt ver-
mentieren ist. Das „Urbild“ (Phase I; Abb. 3) zeigt,           schlüsselt in einem scheinbar einfachen Bild wiederge-
wie Wolfhard Schlosser (2002; 2004) erkannte, auf              geben […] eine erhebliche geistige Transformationslei-
dunklem Hintergrund einen Nachthimmel mit Si-                  stung. […] Es ist die Schöpfung eines beobachtenden,
chelmond und etwas größerem Vollmond – kei-                    außergewöhnlich kenntnisreichen, fähigen, kühl kalku-
ne Sonne – sowie 32 Sternen, von denen sieben                  lierenden Geistes oder eines weit gereisten „Helden“,
gebündelt erscheinen und deshalb wohl die Ple-                 der neues Wissen in die Heimat bringt, […] erworben
jaden darstellen. Wenn die Plejaden nämlich um                 durch eine Reise in den Vorderen Orient. […] Doch
den 10. März bei jungem Mond zum letzten Mal in                könnte das Wissen auch autonom in Mitteldeutsch-
der Abendröte sichtbar waren, war es Zeit für die              land entstanden sein, wobei der Zeitraum der Beobach-
Aussaat. Gingen sie um den 17. Oktober bei Voll-               tungen mindestens 40 Jahre umfasst und die Beobach-
mond erstmals wieder sichtbar unter, war es Zeit               tungen schriftlos archiviert und ausgewertet hätten
für die Ernte. Das Verschwinden und Erscheinen                 werden müssen. […] Der „Schöpfer“ der Himmels-
der Plejaden bei entsprechendem Mond war also                  scheibe brach mit allen bekannten neolithischen Tradi-
eine überaus günstige Himmelskonstellation für                 tionen und war seinen Zeitgenossen in Bezug auf sei-
die Einteilung des bäuerlichen Jahres in Europa.               ne Himmelskenntnisse offensichtlich weit voraus. Die
Der griechische Landmann und Dichter Hesiod                    Himmelsscheibe war in ihrer ersten Fassung ein klares
(Werke und Tage, Z. 383-384) formulierte das im                Bild rationalen Denkens, hinter dem sich in mehrfacher
8. Jahrhundert v. Chr. so: Πληιάδων Άτλαγενέων                 Verschlüsselung komplexe Kenntnisse verbargen. […]
έπιτελλομενάων / ἄρχεσθ‘ άμήτου, άρότοιο δέ                    wurden diese Bildinhalte vergessen und überlagert,
δυσομενάων, das heißt: „Wenn das Gestirn der Ple-              ging der Weg hier vom Logos zum Mythos.“
jaden, der Atlastöchter, emporsteigt, / dann beginne               „Wären diese Regeln Teil des Allgemeinwis-
den (Korn-)Schnitt; doch pflüge, wenn sie hinabgehen.“         sens der damaligen Bevölkerung gewesen […],

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Die Himmelsscheibe von Nebra: Zum Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts
Die Himmelsscheibe von Nebra: Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts

Abb. 3 Himmelsscheibe von Nebra: Die Phasen I bis IV der Umarbeitung bzw. Bearbeitung nach Meller bzw. Gleirscher. – Grundlage:
Meller, 2010, 48, Abb. 16 bzw. 35 (Grafik: Renate Jernej, basierend auf der Grafik von Klaus Pockrandt, Landesamt für Denkmalpflege
                                                  und Archäologie Sachsen-Anhalt).

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Die Himmelsscheibe von Nebra: Zum Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts
Paul Gleirscher

 Abb. 4 Himmelsscheibe von Nebra, Detail zum „gefiederten Bogen“ im unteren Bildbereich: Boot oder Sichel? – Nach: Meller, 2010,
                65, Abb. 34 (Foto: Juraj Lipták, Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt).

wäre eine aufwendige Verschlüsselung nicht                          vollzogenen Ritual ihren Sinn und Platz. Ihr Bild
notwendig gewesen. Folglich war das Urbild                          weist keine Ansätze einer astronomischen oder
der Himmelsscheibe zur Bewahrung wertvollen                         mathematischen Präzision auf, sie ist ein Pikto-
Wissens geschaffen worden. Um dieses Wissen                         gramm (ausführlich Rohde, 2012).1
exklusiv weiterzugeben, wurde die Scheibe wahr-
scheinlich nicht öffentlich gezeigt und wenn, dann                  Phase II oder III: Bögen zur Bahn der Sonne oder des
sicherlich nur unkommentiert und somit für die                      Mondes?
Gemeinschaft unverständlich. Womöglich war                          Bereits um 1680 v. Chr. wäre dieses Bild, wie
sie in den Händen eines Einzelnen, der sie als                      Meller (2010, 62-65 u. 70; 2020b, 82-83. Zustim-
Kostbarkeit mit schatzähnlichem Charakter ver-                      mend u. a. Müller-Karpe, 2021, 25) meint, umge-
borgen hielt. Das Wissen um die Schaltregeln zur                    arbeitet worden (Phase II; Abb. 3). Dabei bleibt
Herstellung eines Lunisolarkalenders verlieh dem                    die Austauschbarkeit in der Abfolge mit Phase
Besitzer der Himmelsscheibe Macht über die Zeit,                    III in Erinnerung zu rufen, die auch Meller an-
konnte er doch als Einziger exakte kalendarische                    spricht, aber nicht konsequent verfolgt. Das kom-
Bestimmungen im Sonnenjahr durchführen.“ Ab-                        plexe Wissen um die Schaltregeln zur Herstellung
gesehen von einem für die Bronzezeit Mittel- und                    eines Lunisolarkalenders wäre nach Meller – ohne
Nordeuropas auszuschließenden astronomischen                        jede Nachvollziehbarkeit – ein bis zwei Genera-
Wissen, allein schon wegen der fehlenden Mög-                       tionen nach Herstellung der Scheibe nicht mehr
lichkeiten, ein solches schriftlich festzuhalten, und               verstanden worden, verloren gegangen oder ab-
der Verkehrung des Aufkommens von Logos und                         gelehnt worden: „… es ist anzunehmen, dass die
Mythos versteigt sich Meller auch noch dazu, dass                   Himmelsscheibe entweder ohne mündliche Weitergabe
die Scheibe nicht öffentlich gezeigt worden wäre.                   der Schaltregel in unbefugte fremde Hände gelangte,
Man darf getrost vom Gegenteil ausgehen. Die                        oder dass der Kundige vorzeitig verstarb. […] Bei der
Scheibe hatte in allen Phasen in einem öffentlich                   Übernahme der Scheibe ging das kostbare Wissen ver-

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Die Himmelsscheibe von Nebra: Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts

loren, die Himmelsscheibe war nun ein bloßes unver-             Phase II oder III: Sonnenbarke oder Sichelblatt?
standenes Bild. […] Hier setzten die neuen Besitzer an          Bereits eine Generation später, um 1650 v. Chr.,
und fixierten altes horizontastronomisches Wissen des           wäre das Bild Meller zufolge erneut umgearbeitet
Sonnenverlaufes.“ Wiederum ein Angehöriger der                  worden (Phase III. Zu beachten bleibt die chrono-
Führungsschicht hätte nunmehr randlich zwei                     logische Austauschbarkeit mit Phase II; Abb. 3),
Bögen aufbringen lassen, die in der Regel – erneut              verbunden mit einer neuerlichen radikalen Än-
Schlosser (2010, 928-929) folgend – als Horizont-               derung des Inhalts hin zu einem Bildträger bron-
bögen mit Sonnenbezug interpretiert werden. Ein                 zezeitlicher Mythologie (Meller, 2010, 65-67 u.
Stern wurde dabei versetzt, zwei andere verdeckt.               70; 2020b, 84). Dabei spricht er das, jedenfalls in
Die beiden Bögen – von denen einer noch vor der                 einem separaten Arbeitsgang aufgebrachte und
Niederlegung (Phase V) verloren ging oder abge-                 aus einer speziellen Goldlegierung bestehende
nommen wurde – bilden einen Winkel von exakt                    Goldblech mit zweifacher Längsrillung und „ge-
82,7° und markieren nach Meller bzw. Schlosser                  fiedertem Rand“ (Abb. 4) einleitend zwar als das
den Lauf der Sonne zwischen Winter- und Som-                    „am rätselhaftesten und schwersten zu fassende
mersonnenwende, zwischen den Tag- und Nacht-                    Objekt“ an, um es anschließend unter Verweis
gleichen am 21. Juni bzw. 21. Dezember. Abgese-                 auf eigene, vermeintlich klärende Überlegungen
hen davon, dass erneut nicht von einer derartigen               (Meller, 2002, 10-14) und auf eine Analyse von Re-
Präzision im Bild auszugehen ist, hätten sich der               gine Maraszek (2010) – die ihrerseits Meller folgt
Himmelsbeobachter und die Scheibe dann zu                       – als Schiff zu interpretieren, mit dem unzutref-
diesem Zeitpunkt im Raum Magdeburg befinden                     fenden Zusatz (Meller, 2010, 65; 2020a, 29), „dass
müssen, etwa 70 km nördlich von Nebra (kritisiert               die ganz überwiegende Mehrheit der Kollegen da-
von Pásztor & Roslund, 2007, 270-271). Zudem                    rin trotz des hohen Abstraktionsgrades ein Schiff
ließen, so Meller bzw. Schlosser weiter, die Hori-              sieht.“ Das Gegenteil ist der Fall, wie zu zeigen ist.
zontbögen die Vorstellung einer die Erde überwöl-               Das Blech ist 18,5 cm lang und bis zu 1,5 cm breit.
benden Himmelskuppel vermuten. „Die Himmels-                    Es folgt einem Kreis mit einem Durchmesser von
scheibe wurde nun als bloßer Bildträger des nächtlichen         ca. 16 cm, bleibt aber im Umfang deutlich unter-
Sternenhimmels interpretiert. […] Vielleicht aus Ehr-           halb eines Halbkreises. Es zeigt zwei längsgerich-
furcht vor dem traditionellen Bild versah man die Him-          tete Furchen und eine besondere Hervorhebung
melsscheibe mit einem neuen Bildinhalt, der auf eige-           an den Längsseiten in Form einer dicht gesetzten,
nen, seit langem tradierten Kenntnissen basierte. […]           parallelen Kerbung („Fiederung“). Diese „Fiede-
Erst jetzt war die Verwendung der Himmelsscheibe auf            rung“ ist deshalb nicht als Teil des Objekts selbst
dem Mittelberg sinnvoll […], wurde die Beobachtung              zu verstehen. Es könnte sich um eine Rahmung
von Sonnenauf- und Sonnenuntergangspunkt präzise                handeln, die dieses Objekt von den Himmelsob-
auf den Kreis der Himmelsscheibe übertragen.“ Letzte-           jekten abhebt.
res steht im Gegensatz zum vermeintlich exakten                     Meller beruft sich bei seiner Deutung insbe-
Lagebezug in den Raum Magdeburg.2                               sondere auf Schiffsdarstellungen in Skandinavi-
    Erneut ist darauf hinzuweisen, dass dem Bild                en – einem angrenzenden, aber durchaus eigenen
auf der Himmelsscheibe von Nebra keine derar-                   Kulturkreis – und verknüpft das Bild mit einem
tige Präzision zu unterstellen ist, es vielmehr als             Mythos, wonach die Sonne auf unterschiedlichen
Piktogramm eines Nachthimmels zu lesen ist.                     Schiffen durch den Tag bzw. die Nacht transpor-
Wenn die beiden Bögen für die Bahn eines Him-                   tiert wurde. Dieser Mythos wird in Mitteleuropa
melskörpers stehen, dann könnte das im Kontext                  allerdings erst Jahrhunderte später im Bild der
der Himmelsscheibe von Nebra auf den Mond                       Vogel-Sonnen-Barke (Abb. 5) greifbar. Die Vo-
bezogen sein und damit den nördlichen und süd-                  gel-Sonnen-Barke brachte – so wird angenommen
lichen Wendekreis des Mondes meinen. Dass die                   – die Sonne während der Nacht vom Ort des Un-
Maße bzw. der entsprechende Winkel dann nicht                   tergangs zurück an den Ausgangspunkt, wo sie
exakt wären, würde angesichts der chiffrenhaften                wieder aufgehen konnte. Das Bild gilt als Heils-
Darstellung nicht stören. An der Symbolik des                   zeichen und Symbol für die lebensspendende
Bildes auf der Himmelsscheibe von Nebra hätte                   Wirkung von Sonne und Wasser (u. a. Kossack,
sich bei dieser Sichtweise nichts geändert. Der Zu-             1999, 23-27 u. 96-99). Meller widerspricht sich
sammenhang von Neumond/Vollmond und Ple-                        schon bezüglich der Datierung, die – folgt man
jaden wäre durch einen ins Bild gesetzten Bezug                 seinem Blick nach Nordeuropa – eigentlich nicht
zu den Wendekreisen des Mondes nur verstärkt                    vor 1600 v. Chr. anzusetzen wäre (Meller, 2010,
worden. Für die beiden Bögen wurde bisher kei-                  66-67; 2020b, 84): „Weil in Nordeuropa Schiffe
ne andere Deutungsmöglichkeit vorgeschlagen.                    frühestens gegen 1600 v. Chr. auftreten, ist der

                                                          193
Paul Gleirscher

                                                                     Gebrauch, wonach der Datierungsrahmen bis ins
                                                                     9. Jahrhundert v. Chr. reicht, auch wenn man ei-
                                                                     nen eher früheren Ansatz innerhalb dieser Zeit-
                                                                     spanne favorisieren wird (Gleirscher, 2007, 32). Je
                                                                     nachdem, ob es sich dabei im Übrigen um Phase
                                                                     II oder um Phase III handelt, verschiebt sich der
                                                                     Zeitpunkt der Herstellung der Himmelsscheibe
                                                                     von Nebra mehr oder weniger weit nach hinten.
                                                                         Vergleicht man den „gefiederten Bogen“ auf der
                                                                     Himmelsscheibe von Nebra mit dem Blatt einer
                                                                     „Großen Knopfsichel“, so fällt zuallererst die zwei-
                                                                     fache Längsfurchung des Bogens ins Auge, die an
                                                                     die Rippen der Knopfsicheln erinnert. Wie diese
                                                                     hat der „gefiederte Bogen“ beidseitig einen geraden
                                                                     Abschluss. Zudem gibt es „Große Knopfsicheln“,
                                                                     die von der Krümmung des Blattes her gesehen
Abb. 5 Bild einer spätbronzezeitlichen Vogelsonnenbarke auf
                                                                     dem „gefiederten Bogen“ weitgehend entsprechen,
der Situla von Hajdúböszömény (Ungarn). – Nach: Patay, 1990,
                         Taf. 30, 57.                                damit auch die „Verkippung“ erklären, die Meller
                                                                     mit einem Boot verband. In der schematischen
                                                                     Darstellung auf der Himmelsscheibe von Nebra
Beginn der Schiffssymbolik in Mitteleuropa nicht                     sind bei dieser Sichtweise gewisse Abstriche be-
vor dem 17. Jahrhundert v. Chr. anzusetzen. …                        züglich der Präzision der Darstellung zu machen.
so dass wir uns hypothetisch bei der Anbringung                      Doch spricht nichts dagegen, dass die Längs-
des Schiffes nicht weit vor 1650 v. Chr. befinden                    rippung als charakteristisches Merkmal einer
sollten.“                                                            „Großen Knopfsichel“ hervorgehoben wurde. Die
    Ungeachtet dessen fährt Meller fort: „Nebra                      „Fiederung“, die den Bogen nur an den Längssei-
stellt somit den ersten und ältesten Nachweis dieses                 ten umgibt, ist nicht Teil des Objekts selbst. Sie
Symbols in Mitteleuropa dar und kündet gleichzeitig                  erscheint wie eine Art Rahmung, die den „gefie-
als Vorbote von einer neuen, heraufziehenden religi-                 derten Bogen“ von den anderen Elementen auf der
ösen Vorstellung. […] Das einst verschlüsseltes Wis-                 Himmelsscheibe von Nebra, die kosmischer bzw.
sen tradierende Himmelsbild war zu einem funkeln-                    abstrakter Natur sind, abheben dürfte (Gleir-
den Beiwerk des neuen Kultes verkommen. […] Mit                      scher, 2007, 27-28). Man wird dabei weniger an
dem Übertritt in eine religiöse, mythologische Sphäre                das Resultat einer eigenen Technik des Aufbrin-
ist davon auszugehen, dass die Himmelsscheibe nicht                  gens dieses Handwerkers denken wollen.
mehr auf einen kleinen, elitären Kreis beschränkt war.                   Die Erstfassung des Bildes der Himmelsschei-
Vielmehr dürfte sie jetzt öffentlich die neue Denk-                  be von Nebra (Phase I) hat wegen des Plejaden-
weise versinnbildlicht haben und in diesem Zuge der                  Mond-Bildes einen unmissverständlichen Bezug
Gemeinschaft präsentiert worden sein.“ Ob hinter                     zu Aussaat und Ernte. Mit Blick auf das spät-
dieser Änderung Nachfahren der Besitzer aus                          bronzezeitliche Opferbrauchtum auch in Mittel-
Phase II oder neue Besitzer stehen, lasse sich nach                  deutschland wurde darauf hingewiesen, dass in
Meller derzeit nicht feststellen.                                    diesem Zusammenhang eine zuhauf nachgewie-
    Bereits 2007 habe ich die Überlegung vorge-                      sene Opfergabe besonders ins Auge sticht: Si-
bracht (Gleirscher, 2007), ob es sich beim „gefie-                   chelblätter (Gleirscher, 2007, 30-31).3 Der sakrale
derten Bogen“ auf der Himmelsscheibe von Nebra                       Charakter und der Mondbezug dieser Sichelblät-
nicht um ein Sichelblatt handeln könnte, genauer                     ter werden verschiedentlich an aufgebrachten
gesagt um das Blatt einer „Großen Knopfsichel“                       Marken und Zeichen umso deutlicher. Christoph
(Abb. 1). Knopfsicheln erscheinen mit der mitt-                      Sommerfeld (2004b) konnte diese Symbole näm-
leren Bronzezeit und wurden um 1350 v. Chr. am                       lich zum einen als Zahlzeichen von 1 bis 29, also
Beginn der Spätbronzezeit in Form der „Großen                        mit Bezug zum synodischen Mondumlauf erklä-
Knopfsicheln“ den Zungensicheln angeglichen                          ren, sowie zum anderen als Bildzeichen, die mit
(Primas, 1986, 49-83). Daraus ergibt sich als frü-                   dem Vegetationszyklus in Verbindung stehen
hester Zeitpunkt für das Aufbringen dieses et-                       und offenbar noch in den Begriffswerten der spä-
waigen Sichelsymbols auf die Himmelsschei-                           teren Runen wiederkehren.
be von Nebra die Zeit um 1350 v. Chr. „Große                             Bernhard Hänsel (1997, 20) ging so weit, Si-
Knopfsicheln“ waren bis in die Spätbronzezeit in                     cheln als Attribut einer Nacht- oder Mondgottheit

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Die Himmelsscheibe von Nebra: Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts

einzuschätzen, die während der mittleren und                       in Form von Punktlinien. […] Im Weiteren erwog er
späten Bronzezeit auch in Mitteleuropa bereits                     eine typologische Nähe zu ägäischen und ägyptischen
eine anthropomorphe Form gehabt hätte. Dem                         Schiffsbildern, […] allein überzeugen diese Parallelen
wird man nicht vorbehaltlos folgen. Es erscheint                   ebenso wenig wie die Hinweise auf entsprechende
hingegen als eine Möglichkeit, das Vergraben der                   Boote aus dem Vorderen Orient. Auch diesbezüglich
Himmelsscheibe von Nebra mit dem Aufkom-                           bleibt der Gesamthabitus letztlich ein anderer.“
men anthropomorpher Gottesvorstellungen in                             Emília Pásztor und Curt Roslund (2007, 27)
Mitteleuropa während der älteren Eisenzeit zu                      referierten zeitgleich zwar die gängige Einschät-
verbinden (Gleirscher, 2007, 32; 2009, 37-66). Das                 zung des „gefiederten“ Bogens als Schiffsdarstel-
Aufbringen eines Sichelblattes auf der Himmels-                    lung, hielten aber mit Bezug zu den Schiffsdar-
scheibe von Nebra würde demnach eine Verstär-                      stellungen im Bereich der Nordischen Bronzezeit
kung der Mondsymbolik sowie der bäuerlichen                        unmissverständlich fest: „However, these boats are
Fruchtbarkeitssymbolik (Ernte) bedeuten und                        flat-bottomed with rising stems and sterns. No boat
eine Uminterpretation von deren Sinngehalt hin                     with a semi-circular profile has yet been seen depicted
zu einer Sonnensymbolik obsolet machen. Dage-                      in prehistoric Europe.“ Die Vorschläge (Pásztor &
gen spricht ohnedies der Nachthimmel, der für                      Roslund, 2007, 271; Meller, 2010, 65; Maraszek,
das Bildverständnis in allen Umarbeitungspha-                      2010, 489-490; Schlosser, 2010, 928), wonach der
sen relevant bleibt.                                               „gefiederte Bogen“ die Milchstraße oder einen Re-
    Anders Meller (2010, 65): „Einzig P. Gleirscher                genbogen wiedergeben könnte, erklärt zum einen
interpretiert den Goldbogen als Sichel. Gegen diese                die Rahmung (Fiederung) nicht, passt zum ande-
Deutung sprechen jedoch zahlreiche chronologische                  ren nicht zu einem Nachthimmel.
und formale Gründe.“ Diese führt er allerdings                         Der Einschätzung Mellers, dass sich das Motiv
nicht konkret aus und wiederholt seine Einschät-                   des Schiffes auf der Himmelsscheibe vom Nebra
zung zusammen mit einer Reihe anderer Autoren                      aus dem mittleren Donaugebiet herleiten lasse,
– darunter die Archäologen Ralf Schwarz, Tho-                      hat auch Wolfgang David (2010, 442-445) in sei-
mas Stöllner und Alfred Reichenberger – zehn                       ner Studie zu den Zeichen auf der Scheibe von
Jahre später, erneut ohne nähere Begründung                        Nebra und dem altbronzezeitlichen Symbolgut im
und ohne auf die, längst auch von anderer Seite                    Mitteldonau-Karpatenraum in aller Deutlichkeit
vorgebrachten Zweifel an der Deutung des „gefie-                   widersprochen: „Bei den als Beleg für eine Deutung
derten Bogens“ als Schiff einzugehen (Pernicka et                  als Schiff angeführten ägäischen Beispielen handelt es
al., 2020, 113-114): „Paul Gleirscher’s interpretation,            sich um kykladische Goldschalen, die nicht nur um
who purported to be able to identify the arc as a harvest          viele Jahrhunderte älter als die Scheibe von Nebra sind,
sickle, does not lead any further either, since the arc            sondern deren Schiffsrümpfe auch eine gänzlich andere
with feather-like incisions all around definitely is not a         Form als der Goldbogen von Nebra besitzen. […] Glei-
sickle.“ Zu beachten bleibt, dass Meller (2020a, 29)               ches gilt für die im selben Zusammenhang genannten
zugleich meint: „Über das goldene Schiff kann man                  Schiffsdarstellungen aus dem Bereich der Nordischen
streiten, für die meisten Archäologen bestehen […]                 Bronzezeit. […] Keines der [von Meller] zitierten Bei-
aber keine Zweifel.“                                               spiele – vielleicht mit Ausnahme ägyptischer Barken –
    Mellers Vergleiche des „gefiederten Bogens“ mit                besitzt einen Rumpf, an dessen Form man sich bei dem
Schiffen habe ich aus mehreren Gründen zurück-                     Goldbogen auf der Scheibe von Nebra erinnert fühlt.
gewiesen (Gleirscher, 2007, 28-29): „Dabei handelt                 Vielmehr besitzen die Schiffskörper eine lang gestreckte
es sich mit Blick auf die skandinavischen Schiffsbilder            Form mit deutlich als Bug oder Heck ausgeprägten En-
um einen äußerst hinkenden Vergleich, der dadurch an               den. Zudem zeigen die nordischen Beispiele nur auf ei-
Wahrscheinlichkeit verliert, dass diese Boote in ihrem             ner Seite Strichreihen, […] unterscheiden auch sie sich
Grundhabitus ein ganz anderes Erscheinungsbild ha-                 deutlich von der beidseitigen Fiederung des Goldbogens
ben als das Objekt auf der Scheibe von Nebra. … For-               auf der Scheibe von Nebra und lassen keinen zwin-
mal und chronologisch übereinstimmende Vergleiche                  genden ikonologischen Zusammenhang erkennen.“
sah Meller in stark stilisierten Schiffsdarstellungen auf              Und David weiter: „Nach Meller sind die besten
zahlreichen Klingen donauländischer Prunk- oder Ze-                Parallelen für die Schiffsdarstellung auf der Scheibe
remonialäxte sowie auf zwei Schwertklingen von Zajta               von Nebra im mittleren Donauraum anzutreffen. […]
(Ungarn). Das trifft vage für die Innenzeichnung des               lässt sich eine Deutung der C-Spirale als Schiffsdar-
Objektes auf der Himmelsscheibe von Nebra zu. Doch                 stellung jedenfalls weder anhand der Form oder des
handelt es sich auch bei den Bildern auf den genannten             ornamentalen Kontextes begründen, noch ergäbe sie
Axtklingen durchwegs um lang gestreckte Boote mit                  einen Sinn. […] Alles andere als naheliegend und
hochgezogenen Enden und einseitiger „Fiederung“                    letztendlich als ungeeignet erweist sich die Interpreta-

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Paul Gleirscher

tion der Klingenzier des Vollgriffschwertes von Zajta           tallform. Suchen wir nach einem Sinnzusammenhang,
als Darstellung von Schiffen, einer Schiffsprozession           würde ein solches Abbild einerseits die schon darge-
oder gar einer Flotte sowie ihr Vergleich mit dem ge-           stellten Monde verstärken, andererseits die Daten des
fiederten Bogen auf der Scheibe von Nebra. […] Ab-              Vegetationszyklus verdoppeln, insbesondere der Ernte
solut unzulässig erscheint eine Interpretation besagter         im Herbst. […] als Darstellungen sind Sicheln weder
Klingenzier als Schiffsdarstellung jedoch bei Berück-           auf Felsbildern des Nordens noch im Symbolgut der
sichtigung des stilistischen Kontextes und kulturellen          Urnenfelderzeit vertreten. [..]. Obgleich die Sicheln zu
Umfeldes des Vollgriffschwertes von Zajta. […] Vor              einem hervorragenden Kultgegenstand der jüngeren
diesem Hintergrund lässt sich in den vermeintlichen             und späten Bronzezeit besonders im Saalegebiet wur-
Schiffsdarstellungen auf der anderen Klinge von Za-             den, kann ein Sinnzusammenhang mit dem Himmels-
jta das aus rudimentären Spiralelementen gebildete              bild nicht auf erkennbare Art hergestellt werden.“
Derivat einer Girlanden- oder Rankenzier erkennen.                  Trotz dieser Überlegungen schätzte Maraszek
[…] Die Punktsäumung kann kaum als Hinweis auf                  (2010, 492; Maraszek et al., 2011, 168-170) Mellers
Ruder oder Besatzungsmitglieder von Wasserfahr-                 Deutung des „gefiederten Bogens“ als stilisierte
zeugen aufgefasst werden. […] Im Falle des besagten             Darstellung eines Schiffes, das sich „sinnvoll aus
Klingenornaments von Zajta handelt es sich somit                dem mittleren Donaugebiet herleiten“ lasse, letzt-
keineswegs um die Darstellung von Schiffen oder gar             endlich als „überzeugend“ ein, obwohl auch sie
einer Prozession. […] Da das Schwert von Zajta zu-              zugleich feststellen musste, dass der „gefiederte
dem jünger als die Schwerter und Beile des Depots von           Bogen“ „keinem der bekannten Schiffsbilder zur Gän-
Nebra sind, scheidet das punktgesäumte Rankenmotiv              ze folgt […], die nordischen Schiffe der Bronzezeit ein
auch aus chronologischen Gründen als mögliches Vor-             andersartiges gerades Mittelteil mit deutlich abgesetz-
bild für den „gefiederten Goldbogen“ auf der Schei-             tem Bug und Heck haben.“ Allein eine Deutung als
be von Nebra aus.“ Und auch in der Darstellung                  Schiff trage „den Besonderheiten des gefiederten Bo-
von Himmelskörpern kann David (2010, 480-481)                   gens Rechnung: der schlichten Bogenform, der leich-
keine weiteren Anhaltpunkte und schon gar „kei-                 ten Asymmetrie, der Rillung, der Fiederung und der
nen Schlüssel zur „Lesung“ oder zum Verständnis der             Einbettung in das Himmelsbild.“ Für diese Deutung
Himmelsscheibe vom Nebra […] im Symbolgut des                   führt Maraszek – im Gegensatz zum möglichen
südlichen und südöstlichen Mitteleuropas“ erken-                Bild eines Sichelblattes – bemerkenswert weitläu-
nen, die er auch aus stilistischer Perspektive „eher            fige Kriterien an: „Es ist offensichtlich, dass der ge-
zum Norden“ rechnen möchte.                                     fiederte Bogen kein reales Abbild oder ein mit richtigen
    Zeitgleich widmete Regine Maraszek (2010),                  Proportionen versehenes Modell eines Schiffes dar-
eine Mitarbeiterin von Harald Meller, der Deu-                  stellt, sondern als Zeichen verstanden werden muss.
tung des „gefiederten Goldbogens“ eine Studie und               Es folgt keinem der bekannten Schiffsbilder in Gänze.
meinte zum einen, dass „die Ansprache als Schiffs-              […] Nach eingehender Untersuchung dieser Elemente
darstellung die sinnvollste Auslegung erscheint“, die           bietet die Deutung als Schiff die interessanteste und in
Himmelsscheibe von Nebra demnach – und im                       Hinblick auf das übrige Programm der Scheibe auch
Sinne Mellers – den ältesten Nachweis eines kom-                die sinnvollste Möglichkeit. […] Die Barke fährt zwi-
plexen mythischen Weltbildes in Europa darstelle                schen den Horizonten, zwischen Sonnenaufgang und
(Maraszek, 2010, 487). In einer Anmerkung hielt                 -untergang über den Sternenhimmel. […] Das Schiff
sie zum anderen zugleich fest (Maraszek, 2010,                  wird von Rudern bewegt – von Menschen, die rudern
488, Anm. 4), „dass die Interpretation des gefiederten          […], sehen wir folglich das einzige Mal auf der Scheibe
Goldbogens mit der größten Unsicherheit behaftet                Menschen dargestellt (wenn auch in verschlüsselter
bleibt.“ Eine überaus brüchige Voraussetzung                    Pose), die an der Szene direkten Anteil haben.“ Tobias
also für eine so weitreichende Interpretation, zu-              Mühlenbruch und Bernhard F. Steinmann (2020,
mal Maraszek (2010, 490-491; vgl. auch Gebhard                  187-189) haben das „Boot“ auf der Himmels-
& Krause, 2020a, 341) zugleich und ohne Hinweis                 scheibe von Nebra kürzlich erneut Schiffsdarstel-
auf meine Interpretation als Sichelblatt festhielt:             lungen aus der Ägäis an die Seite gestellt und zu-
„… dass auf der Suche nach bildlichen Vergleichen im            dem gemeint, dass „die Besatzung und die Paddel/
archäologischen Fundgut verschiedene Gegenstände in             Ruder ober- und unterhalb des Rumpfes als feine Fie-
Betracht kommen. Der gefiederte Bogen ist in seiner             derung wiedergeben sind.“ Wie das „Schiff“ auf der
Form einer Sichel vergleichbar. […] Knopfsicheln wur-           Himmelsscheibe von Nebra erhellt, wäre auch
den in Mittel- und Norddeutschland mit dem Beginn               der Mythos der Sonnenreise auf einem Schiff von
der Urnenfelderzeit als Mondsymbol und Zeichen-                 Ägypten bis nach Mitteleuropa gelangt.
träger regelhaftes Hortgut. […] Eine Sichel auf der                 Aber: Die „Fiederung“ ist nicht einmal Teil des
Himmelsscheibe wäre der älteste Hinweis dieser Me-              goldenen Bogens und damit vermutlich auch nicht

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Die Himmelsscheibe von Nebra: Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts

Teil des gesuchten Objekts. Sie dürfte den Bogen                Phase IV: Randliche Lochung
rahmen und als nicht-kosmisches Element im Bild                 Wozu die umlaufende randliche Lochung der
herausheben. Dementsprechend kann auch von                      Scheibe (Phase IV; Abb. 3) diente, die nach
einer verschlüsselten Darstellung von Menschen                  Meller (2010, 67-68 u. 70; Meller, 2020b, 84) gegen
– „von Menschen angetrieben“ – keine Rede sein.                 bzw. um 1600 v. Chr. erfolgt sei, weiß man nicht.
Während der Spätbronzezeit „reist die Sonne per                 Kam es zu einer neuen Art der Befestigung oder
Schiff über den Himmel – mit Hilfe von Pferd, Fisch,            Rahmung? Oder wurde rundherum etwas an ein-
Schlange oder Vogel“ (Maraszek et al., 2011, 170).              zelnen „Fäden“ eingehängt? Auch diese Lochung
    Als Variante zur Interpretation des „gefiederten            – sicher 38, vielleicht 39 Löcher – wurde mathe-
Bogens“ als Schiff verwies schließlich Anja Hell-               matisch überinterpretiert (Schmidt-Kaler, 2006,
muth Kramberger (2020, 187-189) wertfrei auf                    254-256 [Lunisolarkalender]; Schlosser, 2010, 920-
meinen Vorschlag, darin eine Sichel zu erkennen.                921 [frühes Zollmaß]).4 Meller denkt dabei an eine
Das Sichelblatt wäre zugleich ein Datierungshin-                Standarte zur öffentlichen Präsentation. Pásztor
weis aus der Scheibe selbst, der im Zeitraum zwi-               und Roslund (2007, 274-276) erwogen die Befe-
schen ca. 1550 und dem 850 Jahrhundert v. Chr.                  stigung der Scheibe auf einen Zeremonialschild
allerdings nicht wünschenswert zu eng zu fas-                   und sahen zusammen mit den Waffen des – nicht
sen ist. Dabei bleibt zudem zu beachten, dass die               gesicherten! – Hortfundes die Ausstattung eines
Bildphasen II und III chronologisch austauschbar                hochrangigen Mannes. Zugleich wäre, so Meller,
sind. Ihre Betrachtungen setzen an der stark geo-               der Randbereich des ursprünglichen Bildes ver-
metrisierten Verzierung zweier früh- und mittel-                mutlich durch eine Rahmung verdeckt worden:
bronzezeitlicher Schüsseln aus Monkodonja bei                   „Ein anderer Bildbezug stand somit im Vordergrund,
Rovinj (Istrien) an (Hellmuth Kramberger, 2020,                 möglicherweise der eines Himmelsbildes oder aber der
164, Abb. 3). Wären Sonnenbarken gemeint,                       der Sonne, dem prominentesten und flächigsten Bild-
sollten „Sonnenscheiben“ mittig in ihnen darge-                 gegenstand auf der Himmelsscheibe, auf die man sich
stellt sein; für den vorgeschlagenen Bezug zu den               zurückbesann. […] Das bedeutet aber auch, dass sich –
Plejaden fehlt der Sichelmond.                                  zumindest im Verwendungsgebiet der Himmelsscheibe
    Die Dimension des mit einer Schiffsdeutung                  – die neue religiöse Idee des Sonnentransportes in Ver-
verknüpften Dilemmas wird deutlich, wenn man                    bindung mit Schiffssymbolen nicht durchsetzen konn-
bedenkt, dass Meller dem eigens für die Präsen-                 te. Dafür spricht, dass sich im Gegensatz zum nor-
tation der Himmelsscheibe von Nebra erbauten                    dischen Raum die Schiffssymbolik erst Jahrhunderte
Museum („Besucherzentrum Arche Nebra“) eine                     später ausbreitete. […] Die Implementierung einer
Schiffsform und einen, an die biblische Arche                   neuen Religion, eines neuen Mythos war gescheitert,
Noah anspielenden Namen gegeben hat, ein Be-                    die Scheibe erneut in die Hand neuer Besitzer geraten.“
zug, von dem man ohne Gesichtsverlust kaum                      Das ist in Hinblick auf eine Schiffssymbolik nicht
abrücken kann. Meller und die Forschergruppe                    weiter zu kommentieren. Klarzustellen ist erneut,
um ihn (Pernicka et al., 2020, 114) legen nunmehr               dass in keiner der Bildphasen auf der Himmels-
sogar fest, wer als „relevant specialist[s]“ einzu-             scheibe von Nebra eine Sonne dargestellt war, die
schätzen sei, argumentieren selbst selektiv (Per-               große Scheibe neben dem Sichelmond vielmehr
nicka et al., 2020, 90 [„oberflächliche typologische            stets und zugleich einen Vollmond am Nacht-
Diskussion“] u. 114 [„extremly selective in their argu-         himmel darstellte (Gleirscher, 2007, 26; Gebhard
mentation“], gegen Gebhard & Krause, 2020a), wie                & Krause, 2020a, 337).
die Darstellung Mellers zur oben ausgebreiteten
Diskussion um das „Schiff“ gut zeigt. Das erinnert              Phase V: Entfernung eines Bogenelements und
an die Einschätzung der sozialen Einordnung des                 Deponierung
„Mannes aus dem Eis“ (Ötzi), die sich erst 20 Jah-
re nach der Auffindung – stillschweigend – vom                  Im Zuge der Deponierung der Scheibe etwa eine
Hirten in Richtung regionaler Anführer wandel-                  Generation später, um 1600/1580 v. Chr. (Phase
te, obwohl schon 1992 vorgeschlagen (ausführlich                V; Abb. 1 u. Abb. 3), wäre – so Meller (2010, 68-
Gleirscher, 2014). Aber auch weitere Beispiele für              70; 2020b, 84-85) weiter – einer der beiden Hori-
eine befremdliche Art der Diskussion lassen sich                zontbögen entfernt und die Scheibe bzw. deren
unschwer finden, die Herausgebern und Peer Re-                  Bild auf diese Weise rituell zerstört worden (be-
viewern zu denken geben könnten (z. B. Gleir-                   zweifelt bei Gebhard & Krause, 2020a, 327-328).
scher, 2020. Vgl. in diesem Zusammenhang auch                   Die Beifunde aus dem vermeintlichen Hort, die in
Samida & Eggert, 2013, 76-78).                                  die Zeit um 1600 v. Chr. datieren5 und von Meller
                                                                gesamthaft als zugehörig eingeschätzt werden

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Paul Gleirscher

(bezweifelt bei Gebhard & Krause, 2020a, 329-                  lich besser gearbeitet sind als die Himmelsscheibe
333), ließen ihn ein Naheverhältnis des letzten                von Nebra. Aufhorchen lässt, dass das Kupfererz,
Besitzers der Scheibe zum älteren Fürstengräber-               aus dem die Himmelsscheibe gefertigt ist, auch
Horizont in Mitteldeutschland erkennen. Meller                 gut aus Anatolien stammen könnte, wo man auch
spricht wiederholt von einem „Opfer an die Göt-                die frühesten Nachweise für das Applizieren von
ter“, obwohl es sich bei der Scheibe – gegebenen-              Ornamenten aus Edelmetallfolie kennt. Auch
falls auch bei den mitgefundenen Gegenständen                  müsse das für die Himmelsscheibe verwende-
– um Ritualgerät handelt, also nicht um Opfer-                 te Zinn keineswegs aus Cornwall stammen. Die
gaben im eigentlichen Sinn. Darzulegen wäre so                 Scheibe würde so gesehen aus technischen und
gesehen auch, warum das Ritualgerät geradezu                   lagerstättenkundlichen Überlegungen auch nach
ohne „Verwendungszeit“ unmittelbar nach der                    Anatolien passen. In diesem Zusammenhang ist
Herstellung vergraben worden wäre (Meller,                     festzuhalten, dass die technisch gesehen gleichar-
2010, 48-59 u. 70). Das gilt auch für die vermeint-            tige Umarbeitung der Scheibe in Mitteldeutsch-
lichen Beifunde, wenn man an der Einschätzung                  land erfolgt sein muss.
eines Hortfundes festhält, die dann gesamthaft                     In hethitischen Texten finden Gegenstände
nur als einen Terminus post quem ergeben, der                  aus organischen Materialen reichlich Erwähnung,
sich auf Jahrhunderte beziehen kann.                           darunter Backwaren. So wird auf einer Tontafel
    Gerade bei Kultgerät ist in der Regel von einer            aus Boğazköy (Hattusa) ein „Brotlaib der Nacht“
erheblichen Nutzungszeit auszugehen (Gleirscher,               genannt, in dem aus separatem Teig geformt
1993, 96-97; 2007, 32). Es wird vergraben, wenn es             Sterne und eine Mondsichel eingelegt sind. Brote
ersetzt wird, wenn sich religiöse Vorstellungen gra-           in Gestalt von Himmelsscheiben wurden bei
vierend ändern, wenn es zu einem entschedendem                 Schwangerschafts- und Geburtsritualen genutzt,
Kulturwandel kommt oder um es vor der Zerstö-                  was einen Mondbezug impliziert. Inventartexte
rung bzw. Entweihung durch Fremde zu schützen.                 aus Heiligtümern nennen als Votivgaben regel-
Blickt man in diesem Zusammenhang beispiels-                   haft Mondsicheln und Sonnen, oft im Kontext
weise auf die Statuengruppe um den Jüngling vom                mit Kleidungsstücken und Accessoires, denen
Magdalensberg in Kärnten, so wurde dieser in au-               sie demnach (auch) zuzurechnen sind. Aber auch
gusteischer Zeit geschaffen und im ausgehenden 4.              von Kultbildern, die den Himmel oder einzelne
Jahrhundert zum Schutz vor Zerstörung durch die                Himmelskörper darstellen, ist die Rede. Mond-
Christen rituell deponiert (Gleirscher, 1993, 97). Die         sicheln und Sonnenscheiben aus Kupfer zierten
Deponierung der Himmelsscheibe von Nebra sollte                Kultbilder von Berggöttern.
so gesehen nicht vor der frühen Eisenzeit erfolgt                  Auch wird eine Art Kupferschale als Him-
sein, als sich vom mediterranen Raum aus anthro-               melsschale beschrieben, plattiert mit einer Mond-
pomorphe Gottesvorstellungen über weite Teile                  sichel aus Gold und Sternen in Form funkelnder
Europas verbreitet haben (Gleirscher, 2009, 37-66.             Edelsteine. In diesem Zusammenhang ist von
Vgl. auch oben). Dabei bleibt zu beachten, dass                Interesse, dass das Zeichen für Himmel in den
mit Aussaat und Ernte zwar ein lebenswichtiger                 anatolischen Hieroglyphen eine flache, nach oben
Bereich betroffen ist, nicht aber ein theologischer            geöffnete Schale („Teller“) ist, mit vier kleinen
Kernbereich. So gesehen kann die Verwendung                    Kreisen drinnen, in denen schon die Plejaden
der Himmelsscheibe von Nebra vielleicht sogar bis              vermutet wurden. Die ansatzweise nachweisbare
in die spätere Eisenzeit gereicht haben (Gebhard &             Kenntnis von Konstellationen von Himmelskör-
Krause, 2020a, 341), als am Mittelberg eine Siedlung           pern erklärt sich bei den Hethitern aus deren
(Meller, 2010, 42-47) bestand.                                 Kontakt mit Mesopotamien.
                                                                   Wie Meller (2002, 7–20, bes. 16) meint auch
                                                               Müller-Karpe (2021, 27), dass die europäischen
Nebra und Anatolien?                                           Bronzezeitkulturen nicht nur einen gewissen
                                                               Güter- und Techniktausch mit Anatolien betrie-
Andreas Müller-Karpe (2021, bes. 11-15 u. 65)                  ben – was außer Streit steht, von Fall zu Fall aber
hat kürzlich Indizien zusammengetragen, die                    mit Blick auf die Überlieferungskette zu analysie-
eine Herkunft der Himmelsscheibe von Nebra zu                  ren ist –, sondern auch kosmologische Konzepte
Anatolien aufzeigen könnten. Mit Blick auf die                 Eingang in deren Weltbild fanden. Müller-Karpe
Herstellungstechnik und die verwendeten Roh-                   (2021, 25 u. relativierend 65) hält es zugleich für
materialien der Himmelsscheibe von Nebra weist                 unmöglich, dass man in Mitteleuropa während
er darauf hin, dass bronzezeitliche Metallgegen-               der Bronzezeit ohne Schrift einen lunisolaren Ka-
stände aus Mitteldeutschland handwerklich deut-                lender erarbeiten hätte können.

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Die Himmelsscheibe von Nebra: Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts

    Weil die Himmelsscheibe in ihrem kultu-                   achten. Bleibt auch aus methodischer Sicht auf
rellen Umfeld als Fremdkörper erscheint und                   die Analyseergebnisse darauf hinzuweisen, dass
handwerkliche Details (Machart, Applikation)                  mittlerweile auch vergleichbare Werte für anato-
wie auch textliche Überlieferungen nach Anato-                lische Kupferlagerstätten vorliegen (Müller-Kar-
lien weisen, war auch der Frage der Herstellung               pe, 2021, 17, Anm. 52).
der Himmelsscheibe in Anatolien nachzugehen,                      Betrachtet man das Bild auf der Himmels-
zumal dies auch die Rohmaterialien erlauben                   scheibe von Nebra, so wurden bezüglich der
(Müller-Karpe, 2021, 65). Das träfe umso mehr                 Datierungsfrage drei Überlegungen beigebracht.
zu, wenn sich dahinter tatsächlich ein lunisolarer            Auf der Suche nach einer, dem Himmelsbild
Kalender verberge, was für die Himmelsscheibe                 möglichst exakt entsprechenden Konstellation
von Nebra aber auszuschließen ist. Müller-Karpe               zwischen Vollmond, Sichelmond und Plejaden
(2021, 15) hält dementsprechend selbst fest, dass             hat Wolfhard Schlosser (2010, 930, Abb. 26) auf
zwar ein Bezug der Himmelsscheibe nach Anato-                 das Jahr 1713 v. Chr. verwiesen. Ein solcher Rück-
lien gesehen werden kann, allerdings ohne dass                schluss führt allerdings ins Leere, wenn man –
diesen letztlich allgemeinen Beobachtungen der-               wie an dieser Stelle – das Bild als Chiffre bzw.
weil eine Beweiskraft zukommt.                                Piktogramm versteht. Meller (2010, 66-67; 2020b,
                                                              84) gelangte mit seiner Interpretation des „gefie-
                                                              derten Bogens“ als Schiff zur Einschätzung, dass
Datierung                                                     dieses „nicht weit vor 1650 v. Chr.“ aufgebracht
                                                              worden sein konnte. Ist in Phase II oder III aber
Bezüglich der Datierung der Himmelsscheibe                    nicht ein Schiff, sondern das Blatt einer „Großen
von Nebra aus sich selbst heraus verwies Meller               Knopfsichel“ dargestellt, wie hier vorgeschlagen,
(2010, 62) schon 2010 auf die neueren Forschun-               so ließe sich daraus für diese Phase ein spätbron-
gen von Thomas Stöllner zur Blütezeit des Kup-                zezeitlicher Datierungsansatz zwischen ca. 1350
ferbergbaus am Mitterberg in Salzburg, von wo                 und 850 v. Chr. ableiten (Gleirscher, 2007, 30).
das Kupfer zur Herstellung der Himmelsscheibe                     Man könnte in diesem Zusammenhang
angeblich stammt. Andreas Müller-Karpe (2021,                 schließlich noch die Frage stellen, ob es zwischen
49-62) hat auf die mit der Zuordnung von Ob-                  der Entstehung oder einer der Umarbeitungspha-
jekten aus Kupfer und Bronze zu bestimmten                    sen des Bildes auf der Himmelsscheibe von Ne-
Lagerstätten verbundene Brüchigkeit der Daten                 bra und jenen klimatischen Veränderungen im 2.
hingewiesen. Geht man für die Himmelsschei-                   Jahrtausend v. Chr., die sich auf die Ernteerträge
be von Nebra weiterhin von einer Herkunft des                 ausgewirkt haben, einen Zusammenhang geben
Kupfers vom Mitterberg aus, bleibe – so Stöllner –            könnte. Dabei ist zum einen der verheerende Vul-
auch nach diesen Untersuchungen „die Datierung                kanausbruch von Santorin (Thera) um 1600/1630
der Produktionsanlagen methodisch schwierig […],              v. Chr. in Erinnerung zu rufen (Meller, 2020b, 85.
gibt es Hinweise auf ein erweitertes Datierungsspek-          Zum Vulkanausbruch Mühlenbruch, 2017). Zum
trum, das bereits in der Kupferzeit beginnen könnte.“         anderen ist diese Frage generell mit den Auswir-
Meller folgerte daraus zunächst, „dass die Herstel-           kungen jener Klimaverschlechterung in Mittel-
lung der Himmelsscheibe zwischen 1750 und 1700 v.             europa (Löbben-Schwankung) auf die Landwirt-
Chr. anzusetzen sei, ein früherer Ansatz aber derzeit         schaft verknüpft, die zwischen ca. 1500 und 1200
nicht auszuschließen ist.“ Bezüglich des Abbaus               v. Chr. angesetzt ist (Billamboz, 1997). Beides ist
der Kupfererze am Mitterberg wird nunmehr an-                 nicht zu beantworten und schon gar keiner der
genommen (Pernicka et al., 2020, 109-111; Meller              Bildphasen zuzuordnen.
2020b, 79. Kritisch Gebhard & Krause, 2020a, 335;                 Rupert Gebhard und Rüdiger Krause (2020a,
2020b, 352), dass die Blütezeit zwischen dem 15.              337-341) haben demgegenüber Überlegungen
und 13./11. Jahrhundert v. Chr. lag, dieser im 18.            vorgebracht, wonach das Bild auf der Himmels-
Jahrhundert v. Chr. einsetzte und für die Eisen-              scheibe von Nebra erst in der Eisenzeit entstanden
zeit als gering einzustufen sei. Von einem bereits            sein könnte. So wurde im Bild auf einer goldenen
kupferzeitlichen Abbau ist nicht mehr die Rede.               Schale aus Altstetten bei Zürich wiederholt die
Zu diesen Daten passen jene zum Goldberg-                     Darstellung von Sonne, Mond und Sternen ver-
bau in Cornwall, von wo das Gold – vermutlich                 mutet. Wegen des Tierfrieses ist die Schale wohl
(!) – stammt (skeptisch Müller-Karpe, 2021, 17).              erst eisenzeitlich zu datieren (Gebhard & Krau-
Der Aspekt der Nutzung der entsprechenden                     se, 2020a, 337; zur Datierung SPM III, 255-256,
Bergbaureviere ist in der Frage der Herstellung               Abb. 120; so auch Meller, 2010, 68). Weil dort
der Himmelsscheibe von Nebra jedenfalls zu be-                zwar Sichelmonde und Kreise – Vollmond und/

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