Die Himmelsscheibe von Nebra: Zum Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts - DGUF
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Sie wurde 1999 am Mittelberg bei Nebra von Raubgräbern gefunden, so dass eine Reihe von Fragen offenbleibt. Ein mehrteiliger Hortfund ist nicht abzusichern. Beim Bild der Himmelsscheibe handelt es sich um ein Piktogramm bzw. eine Chiffre, keinesfalls um ein astronomisches Messinstrument oder einen komplexen Kalender. Die Himmelsscheibe von Nebra zeigt zunächst (Phase I) einen Nachthimmel mit Voll- und Sichelmond und Sternen, darunter den Plejaden, gängige Symbole für Aussaat und Ernte. In zwei chronologisch austauschbaren Schritten (Phasen II und III) wurden nacheinander drei „Bögen“ ergänzt, von denen die beiden seitlichen hier als Marker für den Lauf des Mondes und nicht der Sonne, jener am unteren Bildrand als Blatt einer „Großen Knopfsichel“ und nicht als Sonnenbarke interpretiert werden. Dadurch wurde die Mond- bzw. Erntesymbolik verstärkt. Trifft das zu, ergibt sich daraus ein Datierungsansatz für Phase II oder III in die Spätbronzezeit. Die beiden weiteren Umarbeitungen betreffen nicht mehr die Symbolik der Scheibe. Sie wurde zunächst ohne Rücksicht auf das Bild rundum gelocht (Phase IV). Schließlich wurde im Zuge der rituellen Deponierung ein Bogenelement entfernt oder ging verloren (Phase V). Die Himmelsscheibe von Nebra kann bis in die (frühe) Eisenzeit in Gebrauch gewesen sein. Schlüsselwörter – Archäologie; Himmelsscheibe; Nebra; Bildabfolge; Deutungsfragen; Datierungsfragen; Bronzezeit; Eisenzeit. Title – The Nebra Sky Disk: On the symbolism and dating of an enigmatic ritual tool Abstract – The aim of this article is to present the discussion on the symbolism and chronology of the Nebra Sky Disk. It was found in 1999 by two looters on the Mittelberg near Nebra. Thus, the indications remain questionable. There is also no proof, that the disk has been part of a deposition of several objects. The image of the disk is a pictogram or cypher, but never an astronomical measuring instrument or contained a complex calendar. The Nebra Sky Disk originally shows the night sky with the moon in two different forms and some stars, amongst them the Pleiades, symbols of sowing and harvest (phase I). The two lateral golden arcs added in a further step (phase II or III) are interpreted as markers of the northern and southern tropics of the moon and not of the sun. The so-called sun-boat is interpreted as the blade of a ‘big button sickle’. Thus, the symbolism of moon and sowing/harvest was strengthened. If so, this gives an indication for dating phase II or III of the Nebra Sky Disk to the Late Bronze Age. The two further manipulations don’t concern the symbolism of the disk. First it was perforated with no bearing on the image (phase IV). With the ritual deposition one of the two ‘horizon arcs’ finally was removed or got lost (phase V). The Nebra Sky Diks may have been in use until the (Early) Iron Age. Key words – archaeology; sky disk; Nebra; sequence of the illustration; question of symbolism; question of dating; Bronze Age; Iron Age. Fundgeschichte und Fund be von Nebra zugeordneten Objekte gesichert als Teil eines Hortfundes aus der Zeit um 1600 v. Die Himmelsscheibe von Nebra (Meller, 2002, Chr. angesprochen werden können, kürzlich aus 7-8 u. 17-19; 2010, 24-44; 2020b, 79; Pernicka et al., einer Reihe gewichtiger Gründe in Zweifel gezo- 2020, 91-111) wurde im Sommer 1999 von Raub- gen (Gebhard & Krause, 2020a, 325-329; 2020b, gräbern am Mittelberg bei Nebra an der Unstrut 347-352). Diese Einwände brauchen hier nicht (Burgenlandkreis; Sachsen-Anhalt) gefunden. wiederholt werden. Die Ungereimtheiten und Deren Angaben, den Daten aus der Nachgrabung fehlenden Daten raten von einer Einschätzung im Jahre 2002 und dem Gerichtsverfahren zufolge der Himmelsscheibe als Teil eines Hortfundes lag sie dort im Schutze zumindest zweier Stein- ab. Harald Meller und die Forschergruppe um platten, angeblich zusammen mit zwei Vollgriff- ihn (Pernicka et al., 2020, 96-111) gehen dennoch schwertern, zwei (gebrochenen) Armspiralen, weiter davon aus, dass Fundumstände, Fundge- zwei Axtklingen und einer Meißelklinge. Ob sich schichte und Fundort der Himmelsscheibe von in der Grube dann auch die (zerbrochenen) Holme Nebra „zweifelsfrei“ geklärt werden konnten und und der Griff des Meißels befanden, weiß man die Zusammengehörigkeit des Hortfundes unbe- ebenso wenig wie, ob mit den beiden Armspira- stritten sei. Im Folgenden gilt das Augenmerk der len auch Kleidung, insbesondere ein Zeremon Himmelsscheibe per se. ialgewand, niedergelegt worden war. Platz dafür Die Himmelsscheibe von Nebra (Abb. 1) ist wäre in der Grube gewesen. Allerdings wurden nahezu kreisrund (Durchmesser 30-31 cm) und die Argumente, wonach alle der Himmelsschei- wiegt 2,05 kg (Meller, 2002, 9-14; 2010, 44-48). Am Eingereicht: 27. Jan. 2022 Archäologische Informationen 44, Early View angenommen: 3. Feb. 2022 CC BY 4.0 online publiziert: 14. Feb. 2022 1 Weitere Aufsätze
Paul Gleirscher Deutungsversuche und Bildfolge Was die Deutung des Bildes und seiner Umarbei- tungen auf der Himmelsscheibe von Nebra anbe- langt, hat sich während der vergangenen zwanzig Jahre erwartungsgemäß eine kontroverse Diskus- sion ergeben. Stefanie Samida und Manfred K. H. Eggert (2013, 75-76) resümierten für das Fach ge- radezu selbstzerstörerisch, wenn sie meinen: „Die Wissenschaft, soviel steht fest, kann die Bedeutung der Scheibe für die Menschen der Bronzezeit nicht mehr rekonstruieren. Oder anders ausgedrückt: Ihr Kode kann nicht mehr entziffert werden.“ Insofern scheint eine neuerliche Betrachtung nicht nur von Nut- zen, sondern notwendig. Folgt man Harald Meller (2010), dann ist die Himmelsscheibe von Nebra mit dem „Urbild“ um ca. 1750/1700 v. Chr. entstanden (Abb. 3). Bereits um 1600/1580 v. Chr., also rund 100 bis 170 Jahre später, wäre sie zusammen mit Schmuck, Waffen und Gerät als Hortfund vergraben worden. Wäh- rend dieser Zeitspanne wurde die Himmelsschei- be von Nebra vier Mal geradezu im Generatio- nentakt verändert (Phase I-V), was entschieden zu knapp bemessen sein dürfte. Doch meinte jüngst auch Andreas Müller-Karpe (2021, 24), dass „für die verschiedenen Umarbeitungen der Himmelsscheibe Abb. 1 Die Himmelsscheibe von Nebra und das Blatt einer Knopfsichel aus dem Hortfund von Schkopau. Ohne Maßstab. nicht mehrere Jahrhunderte anzusetzen sind, sondern – Nach: Meller, 2002, 9, Abb. 2 und Sommerfeld, 2004b, einige Generationen oder auch nur Jahre reichen.“ 119 (Fotos: Juraj Lipták, Landesamt für Denkmalpflege und Meller (2010) folgend verberge sich bereits im Archäologie Sachsen-Anhalt). „Urbild“ – abgesehen von einem Nachthimmel mit Bezug zum Erscheinen und Verschwinden der Plejaden im Sinne des bäuerlichen Jahres- Rand ist sie 1,5 mm stark, in der Mitte 4,5 mm. laufes – die Schaltregel für einen Lunisolarka- Rupert Gebhard und Rüdiger Krause (2020b, 352- lender (Phase I). Nachdem dieses komplexe „Ge- 353) haben entgegen Meller auf das Vorhanden- heimwissen“ verloren gegangen sei, wäre im Bild sein von Gusslunker hingewiesen, wonach die auf der Himmelsscheibe von Nebra schon kurze Scheibe gegossen und überschmiedet wurde. Mit- Zeit später, um 1680 v. Chr., der Lauf der Son- tels Tauschierung wurde in drei Phasen (Abb. 2) ne zwischen Winter- und Sommersonnenwende eine Reihe von Goldblechen (Stärke 0,4 mm) auf- festgehalten worden (Phase II). Wenig später, um gebracht. Unterschiedliche Zinn-/Silber- und 1650 v. Chr., hätte man außerdem ein Schiffsbild Kupfer-/Silbergehalte erhellen nämlich, dass die aufgebracht. Die Himmelsscheibe hätte nunmehr Goldbleche auf der Himmelsscheibe von Nebra jenen Mythos illustriert, in dem die Sonne auf drei verschiedenen Goldchargen zuzurechnen unterschiedlichen Schiffen durch Tag und Nacht sind (Phase I-III). Dazu kommen einzelne Überla- transportiert wurde (Phase III). Aus dem Auf- gerungen. Weil diese Überlagerungen aber nicht kommen von Schiffsbildern in Mittel- und Nord die „offiziellen“ Phasen II und III betreffen, bleibt europa erschloss Meller zugleich einen chrono- deren zeitliche Abfolge umkehrbar. Später wurde logischen Fixpunkt im Sinne eines terminus ante die Scheibe rundum gelocht (Phase IV). Zuletzt quem non für diese Phase. wurde der linke der beiden seitlichen goldenen Weil sich diese Vorstellung nicht habe durch- Bögen abgenommen (Phase V). Daraus ergibt setzen können, hätte man sich gegen bzw. um sich, dass drei Bildphasen zu unterscheiden sind 1600 v. Chr. auf ein Sonnenbild rückbesonnen, (Phase I-III), die Scheibe später noch zweimal be- die Scheibe rundum gelocht, gerahmt und die- arbeitet bzw. verändert wurde (Phase IV-V), ohne se auf einer Standarte zur Schau gestellt (Phase dass das für das Bild relevant wäre. IV). Im Zuge der Deponierung der Scheibe – nach 2
Die Himmelsscheibe von Nebra: Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts Abb. 2 Himmelsscheibe von Nebra: Die Goldauflagen entstammen drei unterschiedlichen Legierungen und damit wohl drei unterschiedlichen Bearbeitungsphasen (Phasen I-III). – Nach: Meller, 2010, 48, Abb. 15 (Grafik: Klaus Pockrandt, Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt). 3
Paul Gleirscher Meller zusammen mit einer Reihe von Beifunden, Doch diese ursprüngliche Erklärung des „Ur- die ihm einen weiteren Datierungsansatz liefern, bildes“ reicht Meller (Meller, 2010, 23, 59-62 u. 70; bereits um 1600/1580 v. Chr. – wäre schließlich 2020a, 33; 2020b, 80-82) später nicht mehr: „… einer der Horizontbögen entfernt und die Scheibe entschlüsselte Rahlf Hansen [2006; 2010] zwei Schalt- auf diese Weise rituell zerstört worden (Phase V). regeln, die es dem Schöpfer der Scheibe ermöglichten, Nach Meller wäre die geistige Entwicklung vom das längere Sonnenjahr (365 Tage) mit dem kürzeren Logos zum Mythos gegangen, nicht umgekehrt, Mondjahr (354 Tage) in Einklang zu bringen. […] Die wie man erwarten würde. Meller meint überdies, Himmelsscheibe diente somit als lunisolarer Kalender, die Ergänzungen und Umarbeitungen mit einem der die Harmonisierung von Mond- und Sonnenjahr wiederholten Besitzerwechsel verbinden zu dür- auf eine vergleichsweise einfache Art und Weise löst.“ fen, wobei die Besitzer Einzelpersonen aus der „Ein derart nüchternes Himmelsbild ohne offenkun- Elite und keine (Kult-)Gemeinschaft gewesen dige Bezüge zu mythologischen Vorstellungen ist völ- wären. Doch wird man realiter umgekehrt bei lig untypisch für die Bronzezeit. […] Die scheinbar vorrömischem Kultgerät vielmehr von einer Art einfache Anordnung der Bildelemente gibt komplexe gemeinschaftlichem Besitz auszugehen haben. himmelsmechanische Regeln mehrfach verschlüsselt wieder. Demnach symbolisieren die 32 Sterne 32 Son- Phase I: Die Plejaden am Nachthimmel nenjahre, denen – zählt man Vollmond/Sonne hinzu Betrachten wir die einzelnen Phasen und Mellers – 33 Mondjahre entsprechen, eine Schaltregel [...], die Interpretation näher. Auch er etikettiert das Bild schriftlich zum ersten Mal [...] in Mesopotamien (8./7. einleitend als „einprägsam, aber doch rätselhaft“ Jh. v. Chr.) festgehalten worden ist, aber deutlich älter (Meller, 2010, 23) und spricht zudem von einem sein kann.“ Zudem enthalte dieser lunisolare Ka- „piktogrammartigen Himmelsbild“ (Meller, 2010, lender die Möglichkeit zur indirekten Vorhersage 44), einem „Bildercode, der auf den ersten Blick sim- einer Mondfinsternis. pel anmutet. Sonne, Mond und Sterne sind für jeden „Der Schöpfer [gemeint: der Scheibe bzw. des Bild- Erdenbürger, der seinen Blick zum Himmel richtet, programmes] beschloss, das nur ihm oder einer kleinen leicht erkennbar“ (Meller, 2020a, 29). Von einer Gruppe bekannte astronomische Herrschaftswissen „simplen Sichtweise“ rückt er in seiner detaillierten über die Schaltregel für einen Lunisolarkalender als Analyse jedoch völlig ab und entfaltet eine ebenso perfektes Bild [auf die Scheibe] zu bannen. Dies gelang komplexe wie willkürliche Interpretation (Meller, ihm mehrfach codiert in virtuoser Weise. […] Das Bild 2010, 23 u. 59-70; 2020b. So auch die Forschungs- diente als Verbildlichung wichtiger astronomischer Re- gruppe um Meller: Maraszek et al., 2011, 162-174; geln, als Schriftersatz, war das geheime Regelwerk eines Pernicka et al., 2020, 90 u. 111-114), die deshalb revolutionären Lunisolarkalenders.“ Im Bild wären in ausführlichen Zitaten darzustellen und zu kom- „komplexe himmelsmechanische Regeln gekonnt ver- mentieren ist. Das „Urbild“ (Phase I; Abb. 3) zeigt, schlüsselt in einem scheinbar einfachen Bild wiederge- wie Wolfhard Schlosser (2002; 2004) erkannte, auf geben […] eine erhebliche geistige Transformationslei- dunklem Hintergrund einen Nachthimmel mit Si- stung. […] Es ist die Schöpfung eines beobachtenden, chelmond und etwas größerem Vollmond – kei- außergewöhnlich kenntnisreichen, fähigen, kühl kalku- ne Sonne – sowie 32 Sternen, von denen sieben lierenden Geistes oder eines weit gereisten „Helden“, gebündelt erscheinen und deshalb wohl die Ple- der neues Wissen in die Heimat bringt, […] erworben jaden darstellen. Wenn die Plejaden nämlich um durch eine Reise in den Vorderen Orient. […] Doch den 10. März bei jungem Mond zum letzten Mal in könnte das Wissen auch autonom in Mitteldeutsch- der Abendröte sichtbar waren, war es Zeit für die land entstanden sein, wobei der Zeitraum der Beobach- Aussaat. Gingen sie um den 17. Oktober bei Voll- tungen mindestens 40 Jahre umfasst und die Beobach- mond erstmals wieder sichtbar unter, war es Zeit tungen schriftlos archiviert und ausgewertet hätten für die Ernte. Das Verschwinden und Erscheinen werden müssen. […] Der „Schöpfer“ der Himmels- der Plejaden bei entsprechendem Mond war also scheibe brach mit allen bekannten neolithischen Tradi- eine überaus günstige Himmelskonstellation für tionen und war seinen Zeitgenossen in Bezug auf sei- die Einteilung des bäuerlichen Jahres in Europa. ne Himmelskenntnisse offensichtlich weit voraus. Die Der griechische Landmann und Dichter Hesiod Himmelsscheibe war in ihrer ersten Fassung ein klares (Werke und Tage, Z. 383-384) formulierte das im Bild rationalen Denkens, hinter dem sich in mehrfacher 8. Jahrhundert v. Chr. so: Πληιάδων Άτλαγενέων Verschlüsselung komplexe Kenntnisse verbargen. […] έπιτελλομενάων / ἄρχεσθ‘ άμήτου, άρότοιο δέ wurden diese Bildinhalte vergessen und überlagert, δυσομενάων, das heißt: „Wenn das Gestirn der Ple- ging der Weg hier vom Logos zum Mythos.“ jaden, der Atlastöchter, emporsteigt, / dann beginne „Wären diese Regeln Teil des Allgemeinwissens der den (Korn-)Schnitt; doch pflüge, wenn sie hinabgehen.“ damaligen Bevölkerung gewesen […], wäre eine auf- 4
Die Himmelsscheibe von Nebra: Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts Abb. 3 Himmelsscheibe von Nebra: Die Phasen I bis IV der Umarbeitung bzw. Bearbeitung nach Meller bzw. Gleirscher. – Grundlage: Meller, 2010, 48, Abb. 16 bzw. 35 (Grafik: Renate Jernej, basierend auf der Grafik von Klaus Pockrandt, Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt). 5
Paul Gleirscher Abb. 4 Himmelsscheibe von Nebra, Detail zum „gefiederten Bogen“ im unteren Bildbereich: Boot oder Sichel? – Nach: Meller, 2010, 65, Abb. 34 (Foto: Juraj Lipták, Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt). wendige Verschlüsselung nicht notwendig gewesen. tronomischen oder mathematischen Präzision auf, Folglich war das Urbild der Himmelsscheibe zur Be- sie ist ein Piktogramm (ausführlich Rohde, 2012).1 wahrung wertvollen Wissens geschaffen worden. Um dieses Wissen exklusiv weiterzugeben, wurde die Schei- Phase II oder III: Bögen zur Bahn der Sonne oder des be wahrscheinlich nicht öffentlich gezeigt und wenn, Mondes? dann sicherlich nur unkommentiert und somit für die Bereits um 1680 v. Chr. wäre dieses Bild, wie Gemeinschaft unverständlich. Womöglich war sie in Meller (2010, 62-65 u. 70; 2020b, 82-83. Zustim- den Händen eines Einzelnen, der sie als Kostbarkeit mit mend u. a. Müller-Karpe, 2021, 25) meint, umge- schatzähnlichem Charakter verborgen hielt. Das Wis- arbeitet worden (Phase II; Abb. 3). Dabei bleibt sen um die Schaltregeln zur Herstellung eines Luniso- die Austauschbarkeit in der Abfolge mit Phase larkalenders verlieh dem Besitzer der Himmelsscheibe III in Erinnerung zu rufen, die auch Meller an- Macht über die Zeit, konnte er doch als Einziger exakte spricht, aber nicht konsequent verfolgt. Das kom- kalendarische Bestimmungen im Sonnenjahr durch- plexe Wissen um die Schaltregeln zur Herstellung führen.“ Abgesehen von einem für die Bronzezeit eines Lunisolarkalenders wäre nach Meller – ohne Mittel- und Nordeuropas auszuschließenden as- jede Nachvollziehbarkeit – ein bis zwei Genera- tronomischen Wissen, allein schon wegen der feh- tionen nach Herstellung der Scheibe nicht mehr lenden Möglichkeiten, ein solches schriftlich fest- verstanden worden, verloren gegangen oder ab- zuhalten, und der Verkehrung des Aufkommens gelehnt worden: „… es ist anzunehmen, dass die von Logos und Mythos versteigt sich Meller auch Himmelsscheibe entweder ohne mündliche Weitergabe noch dazu, dass die Scheibe nicht öffentlich ge- der Schaltregel in unbefugte fremde Hände gelangte, zeigt worden wäre. Man darf getrost vom Gegen- oder dass der Kundige vorzeitig verstarb. […] Bei der teil ausgehen. Die Scheibe hatte in allen Phasen Übernahme der Scheibe ging das kostbare Wissen ver- in einem öffentlich vollzogenen Ritual ihren Sinn loren, die Himmelsscheibe war nun ein bloßes unver- und Platz. Ihr Bild weist keine Ansätze einer as- standenes Bild. […] Hier setzten die neuen Besitzer an 6
Die Himmelsscheibe von Nebra: Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts und fixierten altes horizontastronomisches Wissen des Phase II oder III: Sonnenbarke oder Sichelblatt? Sonnenverlaufes.“ Wiederum ein Angehöriger der Bereits eine Generation später, um 1650 v. Chr., Führungsschicht hätte nunmehr randlich zwei wäre das Bild Meller zufolge erneut umgearbeitet Bögen aufbringen lassen, die in der Regel – erneut worden (Phase III. Zu beachten bleibt die chrono- Schlosser (2010, 928-929) folgend – als Horizont- logische Austauschbarkeit mit Phase II; Abb. 3), bögen mit Sonnenbezug interpretiert werden. Ein verbunden mit einer neuerlichen radikalen Än- Stern wurde dabei versetzt, zwei andere verdeckt. derung des Inhalts hin zu einem Bildträger bron- Die beiden Bögen – von denen einer noch vor der zezeitlicher Mythologie (Meller, 2010, 65-67 u. Niederlegung (Phase V) verloren ging oder abge- 70; 2020b, 84). Dabei spricht er das, jedenfalls in nommen wurde – bilden einen Winkel von exakt einem separaten Arbeitsgang aufgebrachte und 82,7° und markieren nach Meller bzw. Schlosser aus einer speziellen Goldlegierung bestehende den Lauf der Sonne zwischen Winter- und Som- Goldblech mit zweifacher Längsrillung und „gefie- mersonnenwende, zwischen den Tag- und Nacht- dertem Rand“ (Abb. 4) einleitend zwar als das „am gleichen am 21. Juni bzw. 21. Dezember. Abgese- rätselhaftesten und schwersten zu fassende Objekt“ an, hen davon, dass erneut nicht von einer derartigen um es anschließend unter Verweis auf eigene, ver- Präzision im Bild auszugehen ist, hätten sich der meintlich klärende Überlegungen (Meller, 2002, Himmelsbeobachter und die Scheibe dann zu 10-14) und auf eine Analyse von Regine Maraszek diesem Zeitpunkt im Raum Magdeburg befinden (2010) – die ihrerseits Meller folgt – als Schiff zu müssen, etwa 70 km nördlich von Nebra (kritisiert interpretieren, mit dem unzutreffenden Zusatz von Pásztor & Roslund, 2007, 270-271). Zudem (Meller, 2010, 65; 2020a, 29), „dass die ganz über- ließen, so Meller bzw. Schlosser weiter, die Hori- wiegende Mehrheit der Kollegen darin trotz des hohen zontbögen die Vorstellung einer die Erde überwöl- Abstraktionsgrades ein Schiff sieht.“ Das Gegenteil benden Himmelskuppel vermuten. „Die Himmels- ist der Fall, wie zu zeigen ist. Das Blech ist 18,5 cm scheibe wurde nun als bloßer Bildträger des nächtlichen lang und bis zu 1,5 cm breit. Es folgt einem Kreis Sternenhimmels interpretiert. […] Vielleicht aus Ehr- mit einem Durchmesser von ca. 16 cm, bleibt aber furcht vor dem traditionellen Bild versah man die Him- im Umfang deutlich unterhalb eines Halbkreises. melsscheibe mit einem neuen Bildinhalt, der auf eige- Es zeigt zwei längsgerichtete Furchen und eine nen, seit langem tradierten Kenntnissen basierte. […] besondere Hervorhebung an den Längsseiten in Erst jetzt war die Verwendung der Himmelsscheibe auf Form einer dicht gesetzten, parallelen Kerbung dem Mittelberg sinnvoll […], wurde die Beobachtung („Fiederung“). Diese „Fiederung“ ist deshalb nicht von Sonnenauf- und Sonnenuntergangspunkt präzise als Teil des Objekts selbst zu verstehen. Es könnte auf den Kreis der Himmelsscheibe übertragen.“ Letzte- sich um eine Rahmung handeln, die dieses Objekt res steht im Gegensatz zum vermeintlich exakten von den Himmelsobjekten abhebt. Lagebezug in den Raum Magdeburg.2 Meller beruft sich bei seiner Deutung insbe- Erneut ist darauf hinzuweisen, dass dem Bild sondere auf Schiffsdarstellungen in Skandinavi- auf der Himmelsscheibe von Nebra keine derar- en – einem angrenzenden, aber durchaus eigenen tige Präzision zu unterstellen ist, es vielmehr als Kulturkreis – und verknüpft das Bild mit einem Piktogramm eines Nachthimmels zu lesen ist. Mythos, wonach die Sonne auf unterschiedlichen Wenn die beiden Bögen für die Bahn eines Him- Schiffen durch den Tag bzw. die Nacht transpor- melskörpers stehen, dann könnte das im Kontext tiert wurde. Dieser Mythos wird in Mitteleuropa der Himmelsscheibe von Nebra auf den Mond allerdings erst Jahrhunderte später im Bild der bezogen sein und damit den nördlichen und süd- Vogel-Sonnen-Barke (Abb. 5) greifbar. Die Vo- lichen Wendekreis des Mondes meinen. Dass die gel-Sonnen-Barke brachte – so wird angenommen Maße bzw. der entsprechende Winkel dann nicht – die Sonne während der Nacht vom Ort des Un- exakt wären, würde angesichts der chiffrenhaften tergangs zurück an den Ausgangspunkt, wo sie Darstellung nicht stören. An der Symbolik des wieder aufgehen konnte. Das Bild gilt als Heils- Bildes auf der Himmelsscheibe von Nebra hätte zeichen und Symbol für die lebensspendende sich bei dieser Sichtweise nichts geändert. Der Zu- Wirkung von Sonne und Wasser (u. a. Kossack, sammenhang von Neumond/Vollmond und Ple- 1999, 23-27 u. 96-99). Meller widerspricht sich jaden wäre durch einen ins Bild gesetzten Bezug schon bezüglich der Datierung, die – folgt man zu den Wendekreisen des Mondes nur verstärkt seinem Blick nach Nordeuropa – eigentlich nicht worden. Für die beiden Bögen wurde bisher kei- vor 1600 v. Chr. anzusetzen wäre (Meller, 2010, ne andere Deutungsmöglichkeit vorgeschlagen. 66-67; 2020b, 84): „Weil in Nordeuropa Schiffe frü- hestens gegen 1600 v. Chr. auftreten, ist der Beginn der Schiffssymbolik in Mitteleuropa nicht vor dem 17. 7
Paul Gleirscher nen eher früheren Ansatz innerhalb dieser Zeit- spanne favorisieren wird (Gleirscher, 2007, 32). Je nachdem, ob es sich dabei im Übrigen um Phase II oder um Phase III handelt, verschiebt sich der Zeitpunkt der Herstellung der Himmelsscheibe von Nebra mehr oder weniger weit nach hinten. Vergleicht man den „gefiederten Bogen“ auf der Himmelsscheibe von Nebra mit dem Blatt einer „Großen Knopfsichel“, so fällt zuallererst die zwei- fache Längsfurchung des Bogens ins Auge, die an die Rippen der Knopfsicheln erinnert. Wie diese hat der „gefiederte Bogen“ beidseitig einen geraden Abschluss. Zudem gibt es „Große Knopfsicheln“, die von der Krümmung des Blattes her gesehen dem „gefiederten Bogen“ weitgehend entsprechen, damit auch die „Verkippung“ erklären, die Meller Abb. 5 Bild einer spätbronzezeitlichen Vogelsonnenbarke auf mit einem Boot verband. In der schematischen der Situla von Hajdúböszömény (Ungarn). – Nach: Patay, 1990, Taf. 30, 57. Darstellung auf der Himmelsscheibe von Nebra sind bei dieser Sichtweise gewisse Abstriche be- züglich der Präzision der Darstellung zu machen. Jahrhundert v. Chr. anzusetzen. … so dass wir uns hy- Doch spricht nichts dagegen, dass die Längs- pothetisch bei der Anbringung des Schiffes nicht weit rippung als charakteristisches Merkmal einer vor 1650 v. Chr. befinden sollten.“ „Großen Knopfsichel“ hervorgehoben wurde. Die Ungeachtet dessen fährt Meller fort: „Nebra „Fiederung“, die den Bogen nur an den Längssei- stellt somit den ersten und ältesten Nachweis dieses ten umgibt, ist nicht Teil des Objekts selbst. Sie Symbols in Mitteleuropa dar und kündet gleichzeitig erscheint wie eine Art Rahmung, die den „gefie- als Vorbote von einer neuen, heraufziehenden religi- derten Bogen“ von den anderen Elementen auf der ösen Vorstellung. […] Das einst verschlüsseltes Wis- Himmelsscheibe von Nebra, die kosmischer bzw. sen tradierende Himmelsbild war zu einem funkeln- abstrakter Natur sind, abheben dürfte (Gleir- den Beiwerk des neuen Kultes verkommen. […] Mit scher, 2007, 27-28). Man wird dabei weniger an dem Übertritt in eine religiöse, mythologische Sphäre das Resultat einer eigenen Technik des Aufbrin- ist davon auszugehen, dass die Himmelsscheibe nicht gens dieses Handwerkers denken wollen. mehr auf einen kleinen, elitären Kreis beschränkt war. Die Erstfassung des Bildes der Himmelsschei- Vielmehr dürfte sie jetzt öffentlich die neue Denk- be von Nebra (Phase I) hat wegen des Plejaden- weise versinnbildlicht haben und in diesem Zuge der Mond-Bildes einen unmissverständlichen Bezug Gemeinschaft präsentiert worden sein.“ Ob hinter zu Aussaat und Ernte. Mit Blick auf das spät- dieser Änderung Nachfahren der Besitzer aus bronzezeitliche Opferbrauchtum auch in Mittel- Phase II oder neue Besitzer stehen, lasse sich nach deutschland wurde darauf hingewiesen, dass in Meller derzeit nicht feststellen. diesem Zusammenhang eine zuhauf nachgewie- Bereits 2007 habe ich die Überlegung vorge- sene Opfergabe besonders ins Auge sticht: Si- bracht (Gleirscher, 2007), ob es sich beim „gefie- chelblätter (Gleirscher, 2007, 30-31).3 Der sakrale derten Bogen“ auf der Himmelsscheibe von Nebra Charakter und der Mondbezug dieser Sichelblät- nicht um ein Sichelblatt handeln könnte, genauer ter werden verschiedentlich an aufgebrachten gesagt um das Blatt einer „Großen Knopfsichel“ Marken und Zeichen umso deutlicher. Christoph (Abb. 1). Knopfsicheln erscheinen mit der mitt- Sommerfeld (2004b) konnte diese Symbole näm- leren Bronzezeit und wurden um 1350 v. Chr. am lich zum einen als Zahlzeichen von 1 bis 29, also Beginn der Spätbronzezeit in Form der „Großen mit Bezug zum synodischen Mondumlauf erklä- Knopfsicheln“ den Zungensicheln angeglichen ren, sowie zum anderen als Bildzeichen, die mit (Primas, 1986, 49-83). Daraus ergibt sich als frü- dem Vegetationszyklus in Verbindung stehen hester Zeitpunkt für das Aufbringen dieses et- und offenbar noch in den Begriffswerten der spä- waigen Sichelsymbols auf die Himmelsschei- teren Runen wiederkehren. be von Nebra die Zeit um 1350 v. Chr. „Große Bernhard Hänsel (1997, 20) ging so weit, Si- Knopfsicheln“ waren bis in die Spätbronzezeit in cheln als Attribut einer Nacht- oder Mondgottheit Gebrauch, wonach der Datierungsrahmen bis ins einzuschätzen, die während der mittleren und 9. Jahrhundert v. Chr. reicht, auch wenn man ei- späten Bronzezeit auch in Mitteleuropa bereits 8
Die Himmelsscheibe von Nebra: Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts eine anthropomorphe Form gehabt hätte. Dem Schiffsbildern, […] allein überzeugen diese Parallelen wird man nicht vorbehaltlos folgen. Es erscheint ebenso wenig wie die Hinweise auf entsprechende hingegen als eine Möglichkeit, das Vergraben der Boote aus dem Vorderen Orient. Auch diesbezüglich Himmelsscheibe von Nebra mit dem Aufkom- bleibt der Gesamthabitus letztlich ein anderer.“ men anthropomorpher Gottesvorstellungen in Emília Pásztor und Curt Roslund (2007, 27) Mitteleuropa während der älteren Eisenzeit zu referierten zeitgleich zwar die gängige Einschät- verbinden (Gleirscher, 2007, 32; 2009, 37-66). Das zung des „gefiederten“ Bogens als Schiffsdarstel- Aufbringen eines Sichelblattes auf der Himmels- lung, hielten aber mit Bezug zu den Schiffsdar- scheibe von Nebra würde demnach eine Verstär- stellungen im Bereich der Nordischen Bronzezeit kung der Mondsymbolik sowie der bäuerlichen unmissverständlich fest: „However, these boats are Fruchtbarkeitssymbolik (Ernte) bedeuten und flat-bottomed with rising stems and sterns. No boat eine Uminterpretation von deren Sinngehalt hin with a semi-circular profile has yet been seen depicted zu einer Sonnensymbolik obsolet machen. Dage- in prehistoric Europe.“ Die Vorschläge (Pásztor & gen spricht ohnedies der Nachthimmel, der für Roslund, 2007, 271; Meller, 2010, 65; Maraszek, das Bildverständnis in allen Umarbeitungspha- 2010, 489-490; Schlosser, 2010, 928), wonach der sen relevant bleibt. „gefiederte Bogen“ die Milchstraße oder einen Re- Anders Meller (2010, 65): „Einzig P. Gleirscher genbogen wiedergeben könnte, erklärt zum einen interpretiert den Goldbogen als Sichel. Gegen diese die Rahmung (Fiederung) nicht, passt zum ande- Deutung sprechen jedoch zahlreiche chronologische ren nicht zu einem Nachthimmel. und formale Gründe.“ Diese führt er allerdings Der Einschätzung Mellers, dass sich das Motiv nicht konkret aus und wiederholt seine Einschät- des Schiffes auf der Himmelsscheibe vom Nebra zung zusammen mit einer Reihe anderer Autoren aus dem mittleren Donaugebiet herleiten lasse, – darunter die Archäologen Ralf Schwarz, Tho- hat auch Wolfgang David (2010, 442-445) in sei- mas Stöllner und Alfred Reichenberger – zehn ner Studie zu den Zeichen auf der Scheibe von Jahre später, erneut ohne nähere Begründung Nebra und dem altbronzezeitlichen Symbolgut im und ohne auf die, längst auch von anderer Seite Mitteldonau-Karpatenraum in aller Deutlichkeit vorgebrachten Zweifel an der Deutung des „gefie- widersprochen: „Bei den als Beleg für eine Deutung derten Bogens“ als Schiff einzugehen (Pernicka et als Schiff angeführten ägäischen Beispielen handelt es al., 2020, 113-114): „Paul Gleirscher’s interpretation, sich um kykladische Goldschalen, die nicht nur um who purported to be able to identify the arc as a harvest viele Jahrhunderte älter als die Scheibe von Nebra sind, sickle, does not lead any further either, since the arc sondern deren Schiffsrümpfe auch eine gänzlich andere with feather-like incisions all around definitely is not a Form als der Goldbogen von Nebra besitzen. […] Glei- sickle.“ Zu beachten bleibt, dass Meller (2020a, 29) ches gilt für die im selben Zusammenhang genannten zugleich meint: „Über das goldene Schiff kann man Schiffsdarstellungen aus dem Bereich der Nordischen streiten, für die meisten Archäologen bestehen […] Bronzezeit. […] Keines der [von Meller] zitierten Bei- aber keine Zweifel.“ spiele – vielleicht mit Ausnahme ägyptischer Barken – Mellers Vergleiche des „gefiederten Bogens“ mit besitzt einen Rumpf, an dessen Form man sich bei dem Schiffen habe ich aus mehreren Gründen zurück- Goldbogen auf der Scheibe von Nebra erinnert fühlt. gewiesen (Gleirscher, 2007, 28-29): „Dabei handelt Vielmehr besitzen die Schiffskörper eine lang gestreckte es sich mit Blick auf die skandinavischen Schiffsbilder Form mit deutlich als Bug oder Heck ausgeprägten En- um einen äußerst hinkenden Vergleich, der dadurch an den. Zudem zeigen die nordischen Beispiele nur auf ei- Wahrscheinlichkeit verliert, dass diese Boote in ihrem ner Seite Strichreihen, […] unterscheiden auch sie sich Grundhabitus ein ganz anderes Erscheinungsbild ha- deutlich von der beidseitigen Fiederung des Goldbogens ben als das Objekt auf der Scheibe von Nebra. … For- auf der Scheibe von Nebra und lassen keinen zwin- mal und chronologisch übereinstimmende Vergleiche genden ikonologischen Zusammenhang erkennen.“ sah Meller in stark stilisierten Schiffsdarstellungen auf Und David weiter: „Nach Meller sind die besten zahlreichen Klingen donauländischer Prunk- oder Ze- Parallelen für die Schiffsdarstellung auf der Scheibe remonialäxte sowie auf zwei Schwertklingen von Zajta von Nebra im mittleren Donauraum anzutreffen. […] (Ungarn). Das trifft vage für die Innenzeichnung des lässt sich eine Deutung der C-Spirale als Schiffsdar- Objektes auf der Himmelsscheibe von Nebra zu. Doch stellung jedenfalls weder anhand der Form oder des handelt es sich auch bei den Bildern auf den genannten ornamentalen Kontextes begründen, noch ergäbe sie Axtklingen durchwegs um lang gestreckte Boote mit einen Sinn. […] Alles andere als naheliegend und hochgezogenen Enden und einseitiger „Fiederung“ letztendlich als ungeeignet erweist sich die Interpreta- in Form von Punktlinien. […] Im Weiteren erwog er tion der Klingenzier des Vollgriffschwertes von Zajta eine typologische Nähe zu ägäischen und ägyptischen als Darstellung von Schiffen, einer Schiffsprozession 9
Paul Gleirscher oder gar einer Flotte sowie ihr Vergleich mit dem ge- stellten Monde verstärken, andererseits die Daten des fiederten Bogen auf der Scheibe von Nebra. […] Ab- Vegetationszyklus verdoppeln, insbesondere der Ernte solut unzulässig erscheint eine Interpretation besagter im Herbst. […] als Darstellungen sind Sicheln weder Klingenzier als Schiffsdarstellung jedoch bei Berück- auf Felsbildern des Nordens noch im Symbolgut der sichtigung des stilistischen Kontextes und kulturellen Urnenfelderzeit vertreten. [..]. Obgleich die Sicheln zu Umfeldes des Vollgriffschwertes von Zajta. […] Vor einem hervorragenden Kultgegenstand der jüngeren diesem Hintergrund lässt sich in den vermeintlichen und späten Bronzezeit besonders im Saalegebiet wur- Schiffsdarstellungen auf der anderen Klinge von Za- den, kann ein Sinnzusammenhang mit dem Himmels- jta das aus rudimentären Spiralelementen gebildete bild nicht auf erkennbare Art hergestellt werden.“ Derivat einer Girlanden- oder Rankenzier erkennen. Trotz dieser Überlegungen schätzte Maraszek […] Die Punktsäumung kann kaum als Hinweis auf (2010, 492; Maraszek et al., 2011, 168-170) Mellers Ruder oder Besatzungsmitglieder von Wasserfahr- Deutung des „gefiederten Bogens“ als stilisierte zeugen aufgefasst werden. […] Im Falle des besagten Darstellung eines Schiffes, das sich „sinnvoll aus Klingenornaments von Zajta handelt es sich somit dem mittleren Donaugebiet herleiten“ lasse, letzt- keineswegs um die Darstellung von Schiffen oder gar endlich als „überzeugend“ ein, obwohl auch sie einer Prozession. […] Da das Schwert von Zajta zu- zugleich feststellen musste, dass der „gefiederte dem jünger als die Schwerter und Beile des Depots von Bogen“ „keinem der bekannten Schiffsbilder zur Gän- Nebra sind, scheidet das punktgesäumte Rankenmotiv ze folgt […], die nordischen Schiffe der Bronzezeit ein auch aus chronologischen Gründen als mögliches Vor- andersartiges gerades Mittelteil mit deutlich abgesetz- bild für den „gefiederten Goldbogen“ auf der Schei- tem Bug und Heck haben.“ Allein eine Deutung als be von Nebra aus.“ Und auch in der Darstellung Schiff trage „den Besonderheiten des gefiederten Bo- von Himmelskörpern kann David (2010, 480-481) gens Rechnung: der schlichten Bogenform, der leich- keine weiteren Anhaltpunkte und schon gar „kei- ten Asymmetrie, der Rillung, der Fiederung und der nen Schlüssel zur „Lesung“ oder zum Verständnis der Einbettung in das Himmelsbild.“ Für diese Deutung Himmelsscheibe vom Nebra […] im Symbolgut des führt Maraszek – im Gegensatz zum möglichen südlichen und südöstlichen Mitteleuropas“ erken- Bild eines Sichelblattes – bemerkenswert weitläu- nen, die er auch aus stilistischer Perspektive „eher fige Kriterien an: „Es ist offensichtlich, dass der ge- zum Norden“ rechnen möchte. fiederte Bogen kein reales Abbild oder ein mit richtigen Zeitgleich widmete Regine Maraszek (2010), Proportionen versehenes Modell eines Schiffes dar- eine Mitarbeiterin von Harald Meller, der Deu- stellt, sondern als Zeichen verstanden werden muss. tung des „gefiederten Goldbogens“ eine Studie und Es folgt keinem der bekannten Schiffsbilder in Gänze. meinte zum einen, dass „die Ansprache als Schiffs- […] Nach eingehender Untersuchung dieser Elemente darstellung die sinnvollste Auslegung erscheint“, die bietet die Deutung als Schiff die interessanteste und in Himmelsscheibe von Nebra demnach – und im Hinblick auf das übrige Programm der Scheibe auch Sinne Mellers – den ältesten Nachweis eines kom- die sinnvollste Möglichkeit. […] Die Barke fährt zwi- plexen mythischen Weltbildes in Europa darstelle schen den Horizonten, zwischen Sonnenaufgang und (Maraszek, 2010, 487). In einer Anmerkung hielt -untergang über den Sternenhimmel. […] Das Schiff sie zum anderen zugleich fest (Maraszek, 2010, wird von Rudern bewegt – von Menschen, die rudern 488, Anm. 4), „dass die Interpretation des gefiederten […], sehen wir folglich das einzige Mal auf der Scheibe Goldbogens mit der größten Unsicherheit behaftet Menschen dargestellt (wenn auch in verschlüsselter bleibt.“ Eine überaus brüchige Voraussetzung Pose), die an der Szene direkten Anteil haben.“ Tobias also für eine so weitreichende Interpretation, zu- Mühlenbruch und Bernhard F. Steinmann (2020, mal Maraszek (2010, 490-491; vgl. auch Gebhard 187-189) haben das „Boot“ auf der Himmels- & Krause, 2020a, 341) zugleich und ohne Hinweis scheibe von Nebra kürzlich erneut Schiffsdarstel- auf meine Interpretation als Sichelblatt festhielt: lungen aus der Ägäis an die Seite gestellt und zu- „… dass auf der Suche nach bildlichen Vergleichen im dem gemeint, dass „die Besatzung und die Paddel/ archäologischen Fundgut verschiedene Gegenstände in Ruder ober- und unterhalb des Rumpfes als feine Fie- Betracht kommen. Der gefiederte Bogen ist in seiner derung wiedergeben sind.“ Wie das „Schiff“ auf der Form einer Sichel vergleichbar. […] Knopfsicheln wur- Himmelsscheibe von Nebra erhellt, wäre auch den in Mittel- und Norddeutschland mit dem Beginn der Mythos der Sonnenreise auf einem Schiff von der Urnenfelderzeit als Mondsymbol und Zeichen- Ägypten bis nach Mitteleuropa gelangt. träger regelhaftes Hortgut. […] Eine Sichel auf der Aber: Die „Fiederung“ ist nicht einmal Teil des Himmelsscheibe wäre der älteste Hinweis dieser Me- goldenen Bogens und damit vermutlich auch nicht tallform. Suchen wir nach einem Sinnzusammenhang, Teil des gesuchten Objekts. Sie dürfte den Bogen würde ein solches Abbild einerseits die schon darge- rahmen und als nicht-kosmisches Element im Bild 10
Die Himmelsscheibe von Nebra: Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts herausheben. Dementsprechend kann auch von Phase IV: Randliche Lochung einer verschlüsselten Darstellung von Menschen Wozu die umlaufende randliche Lochung der – „von Menschen angetrieben“ – keine Rede sein. Scheibe (Phase IV; Abb. 3) diente, die nach Während der Spätbronzezeit „reist die Sonne per Meller (2010, 67-68 u. 70; Meller, 2020b, 84) gegen Schiff über den Himmel – mit Hilfe von Pferd, Fisch, bzw. um 1600 v. Chr. erfolgt sei, weiß man nicht. Schlange oder Vogel“ (Maraszek et al., 2011, 170). Kam es zu einer neuen Art der Befestigung oder Als Variante zur Interpretation des „gefiederten Rahmung? Oder wurde rundherum etwas an ein- Bogens“ als Schiff verwies schließlich Anja Hell- zelnen „Fäden“ eingehängt? Auch diese Lochung muth Kramberger (2020, 187-189) wertfrei auf – sicher 38, vielleicht 39 Löcher – wurde mathe- meinen Vorschlag, darin eine Sichel zu erkennen. matisch überinterpretiert (Schmidt-Kaler, 2006, Das Sichelblatt wäre zugleich ein Datierungshin- 254-256 [Lunisolarkalender]; Schlosser, 2010, 920- weis aus der Scheibe selbst, der im Zeitraum zwi- 921 [frühes Zollmaß]).4 Meller denkt dabei an eine schen ca. 1550 und dem 850 Jahrhundert v. Chr. Standarte zur öffentlichen Präsentation. Pásztor allerdings nicht wünschenswert zu eng zu fas- und Roslund (2007, 274-276) erwogen die Befe- sen ist. Dabei bleibt zudem zu beachten, dass die stigung der Scheibe auf einen Zeremonialschild Bildphasen II und III chronologisch austauschbar und sahen zusammen mit den Waffen des – nicht sind. Ihre Betrachtungen setzen an der stark geo- gesicherten! – Hortfundes die Ausstattung eines metrisierten Verzierung zweier früh- und mittel- hochrangigen Mannes. Zugleich wäre, so Meller, bronzezeitlicher Schüsseln aus Monkodonja bei der Randbereich des ursprünglichen Bildes ver- Rovinj (Istrien) an (Hellmuth Kramberger, 2020, mutlich durch eine Rahmung verdeckt worden: 164, Abb. 3). Wären Sonnenbarken gemeint, „Ein anderer Bildbezug stand somit im Vordergrund, sollten „Sonnenscheiben“ mittig in ihnen darge- möglicherweise der eines Himmelsbildes oder aber der stellt sein; für den vorgeschlagenen Bezug zu den der Sonne, dem prominentesten und flächigsten Bild- Plejaden fehlt der Sichelmond. gegenstand auf der Himmelsscheibe, auf die man sich Die Dimension des mit einer Schiffsdeutung zurückbesann. […] Das bedeutet aber auch, dass sich – verknüpften Dilemmas wird deutlich, wenn man zumindest im Verwendungsgebiet der Himmelsscheibe bedenkt, dass Meller dem eigens für die Präsen- – die neue religiöse Idee des Sonnentransportes in Ver- tation der Himmelsscheibe von Nebra erbauten bindung mit Schiffssymbolen nicht durchsetzen konn- Museum („Besucherzentrum Arche Nebra“) eine te. Dafür spricht, dass sich im Gegensatz zum nor- Schiffsform und einen, an die biblische Arche dischen Raum die Schiffssymbolik erst Jahrhunderte Noah anspielenden Namen gegeben hat, ein Be- später ausbreitete. […] Die Implementierung einer zug, von dem man ohne Gesichtsverlust kaum neuen Religion, eines neuen Mythos war gescheitert, abrücken kann. Meller und die Forschergruppe die Scheibe erneut in die Hand neuer Besitzer geraten.“ um ihn (Pernicka et al., 2020, 114) legen nunmehr Das ist in Hinblick auf eine Schiffssymbolik nicht sogar fest, wer als „relevant specialist[s]“ einzu- weiter zu kommentieren. Klarzustellen ist erneut, schätzen sei, argumentieren selbst selektiv (Per- dass in keiner der Bildphasen auf der Himmels- nicka et al., 2020, 90 [„oberflächliche typologische scheibe von Nebra eine Sonne dargestellt war, die Diskussion“] u. 114 [„extremly selective in their argu- große Scheibe neben dem Sichelmond vielmehr mentation“], gegen Gebhard & Krause, 2020a), wie stets und zugleich einen Vollmond am Nacht- die Darstellung Mellers zur oben ausgebreiteten himmel darstellte (Gleirscher, 2007, 26; Gebhard Diskussion um das „Schiff“ gut zeigt. Das erinnert & Krause, 2020a, 337). an die Einschätzung der sozialen Einordnung des „Mannes aus dem Eis“ (Ötzi), die sich erst 20 Jah- Phase V: Entfernung eines Bogenelements und re nach der Auffindung – stillschweigend – vom Deponierung Hirten in Richtung regionaler Anführer wandel- te, obwohl schon 1992 vorgeschlagen (ausführlich Im Zuge der Deponierung der Scheibe etwa eine Gleirscher, 2014). Aber auch weitere Beispiele für Generation später, um 1600/1580 v. Chr. (Phase eine befremdliche Art der Diskussion lassen sich V; Abb. 1 u. Abb. 3), wäre – so Meller (2010, 68- unschwer finden, die Herausgebern und Peer Re- 70; 2020b, 84-85) weiter – einer der beiden Hori- viewern zu denken geben könnten (z. B. Gleir- zontbögen entfernt und die Scheibe bzw. deren scher, 2020. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Bild auf diese Weise rituell zerstört worden (be- Samida & Eggert, 2013, 76-78). zweifelt bei Gebhard & Krause, 2020a, 327-328). Die Beifunde aus dem vermeintlichen Hort, die in die Zeit um 1600 v. Chr. datieren5 und von Meller gesamthaft als zugehörig eingeschätzt werden 11
Paul Gleirscher (bezweifelt bei Gebhard & Krause, 2020a, 329- lich besser gearbeitet sind als die Himmelsscheibe 333), ließen ihn ein Naheverhältnis des letzten von Nebra. Aufhorchen lässt, dass das Kupfererz, Besitzers der Scheibe zum älteren Fürstengräber- aus dem die Himmelsscheibe gefertigt ist, auch Horizont in Mitteldeutschland erkennen. Meller gut aus Anatolien stammen könnte, wo man auch spricht wiederholt von einem „Opfer an die Göt- die frühesten Nachweise für das Applizieren von ter“, obwohl es sich bei der Scheibe – gegebenen- Ornamenten aus Edelmetallfolie kennt. Auch falls auch bei den mitgefundenen Gegenständen müsse das für die Himmelsscheibe verwende- – um Ritualgerät handelt, also nicht um Opfer- te Zinn keineswegs aus Cornwall stammen. Die gaben im eigentlichen Sinn. Darzulegen wäre so Scheibe würde so gesehen aus technischen und gesehen auch, warum das Ritualgerät geradezu lagerstättenkundlichen Überlegungen auch nach ohne „Verwendungszeit“ unmittelbar nach der Anatolien passen. In diesem Zusammenhang ist Herstellung vergraben worden wäre (Meller, festzuhalten, dass die technisch gesehen gleichar- 2010, 48-59 u. 70). Das gilt auch für die vermeint- tige Umarbeitung der Scheibe in Mitteldeutsch- lichen Beifunde, wenn man an der Einschätzung land erfolgt sein muss. eines Hortfundes festhält, die dann gesamthaft In hethitischen Texten finden Gegenstände nur als einen Terminus post quem ergeben, der aus organischen Materialen reichlich Erwähnung, sich auf Jahrhunderte beziehen kann. darunter Backwaren. So wird auf einer Tontafel Gerade bei Kultgerät ist in der Regel von einer aus Boğazköy (Hattusa) ein „Brotlaib der Nacht“ erheblichen Nutzungszeit auszugehen (Gleirscher, genannt, in dem aus separatem Teig geformt 1993, 96-97; 2007, 32). Es wird vergraben, wenn es Sterne und eine Mondsichel eingelegt sind. Brote ersetzt wird, wenn sich religiöse Vorstellungen gra- in Gestalt von Himmelsscheiben wurden bei vierend ändern, wenn es zu einem entschedendem Schwangerschafts- und Geburtsritualen genutzt, Kulturwandel kommt oder um es vor der Zerstö- was einen Mondbezug impliziert. Inventartexte rung bzw. Entweihung durch Fremde zu schützen. aus Heiligtümern nennen als Votivgaben regel- Blickt man in diesem Zusammenhang beispiels- haft Mondsicheln und Sonnen, oft im Kontext weise auf die Statuengruppe um den Jüngling vom mit Kleidungsstücken und Accessoires, denen Magdalensberg in Kärnten, so wurde dieser in au- sie demnach (auch) zuzurechnen sind. Aber auch gusteischer Zeit geschaffen und im ausgehenden 4. von Kultbildern, die den Himmel oder einzelne Jahrhundert zum Schutz vor Zerstörung durch die Himmelskörper darstellen, ist die Rede. Mond- Christen rituell deponiert (Gleirscher, 1993, 97). Die sicheln und Sonnenscheiben aus Kupfer zierten Deponierung der Himmelsscheibe von Nebra sollte Kultbilder von Berggöttern. so gesehen nicht vor der frühen Eisenzeit erfolgt Auch wird eine Art Kupferschale als Him- sein, als sich vom mediterranen Raum aus anthro- melsschale beschrieben, plattiert mit einer Mond- pomorphe Gottesvorstellungen über weite Teile sichel aus Gold und Sternen in Form funkelnder Europas verbreitet haben (Gleirscher, 2009, 37-66. Edelsteine. In diesem Zusammenhang ist von Vgl. auch oben). Dabei bleibt zu beachten, dass Interesse, dass das Zeichen für Himmel in den mit Aussaat und Ernte zwar ein lebenswichtiger anatolischen Hieroglyphen eine flache, nach oben Bereich betroffen ist, nicht aber ein theologischer geöffnete Schale („Teller“) ist, mit vier kleinen Kernbereich. So gesehen kann die Verwendung Kreisen drinnen, in denen schon die Plejaden der Himmelsscheibe von Nebra vielleicht sogar bis vermutet wurden. Die ansatzweise nachweisbare in die spätere Eisenzeit gereicht haben (Gebhard & Kenntnis von Konstellationen von Himmelskör- Krause, 2020a, 341), als am Mittelberg eine Siedlung pern erklärt sich bei den Hethitern aus deren (Meller, 2010, 42-47) bestand. Kontakt mit Mesopotamien. Wie Meller (2002, 7–20, bes. 16) meint auch Müller-Karpe (2021, 27), dass die europäischen Nebra und Anatolien? Bronzezeitkulturen nicht nur einen gewissen Güter- und Techniktausch mit Anatolien betrie- Andreas Müller-Karpe (2021, bes. 11-15 u. 65) ben – was außer Streit steht, von Fall zu Fall aber hat kürzlich Indizien zusammengetragen, die mit Blick auf die Überlieferungskette zu analysie- eine Herkunft der Himmelsscheibe von Nebra zu ren ist –, sondern auch kosmologische Konzepte Anatolien aufzeigen könnten. Mit Blick auf die Eingang in deren Weltbild fanden. Müller-Karpe Herstellungstechnik und die verwendeten Roh- (2021, 25 u. relativierend 65) hält es zugleich für materialien der Himmelsscheibe von Nebra weist unmöglich, dass man in Mitteleuropa während er darauf hin, dass bronzezeitliche Metallgegen- der Bronzezeit ohne Schrift einen lunisolaren Ka- stände aus Mitteldeutschland handwerklich deut- lender erarbeiten hätte können. 12
Die Himmelsscheibe von Nebra: Stand der Deutung und Datierung eines schillernden Ritualgeräts Weil die Himmelsscheibe in ihrem kultu- achten. Bleibt auch aus methodischer Sicht auf rellen Umfeld als Fremdkörper erscheint und die Analyseergebnisse darauf hinzuweisen, dass handwerkliche Details (Machart, Applikation) mittlerweile auch vergleichbare Werte für anato- wie auch textliche Überlieferungen nach Anato- lische Kupferlagerstätten vorliegen (Müller-Kar- lien weisen, war auch der Frage der Herstellung pe, 2021, 17, Anm. 52). der Himmelsscheibe in Anatolien nachzugehen, Betrachtet man das Bild auf der Himmels- zumal dies auch die Rohmaterialien erlauben scheibe von Nebra, so wurden bezüglich der (Müller-Karpe, 2021, 65). Das träfe umso mehr Datierungsfrage drei Überlegungen beigebracht. zu, wenn sich dahinter tatsächlich ein lunisolarer Auf der Suche nach einer, dem Himmelsbild Kalender verberge, was für die Himmelsscheibe möglichst exakt entsprechenden Konstellation von Nebra aber auszuschließen ist. Müller-Karpe zwischen Vollmond, Sichelmond und Plejaden (2021, 15) hält dementsprechend selbst fest, dass hat Wolfhard Schlosser (2010, 930, Abb. 26) auf zwar ein Bezug der Himmelsscheibe nach Anato- das Jahr 1713 v. Chr. verwiesen. Ein solcher Rück- lien gesehen werden kann, allerdings ohne dass schluss führt allerdings ins Leere, wenn man – diesen letztlich allgemeinen Beobachtungen der- wie an dieser Stelle – das Bild als Chiffre bzw. weil eine Beweiskraft zukommt. Piktogramm versteht. Meller (2010, 66-67; 2020b, 84) gelangte mit seiner Interpretation des „gefie- derten Bogens“ als Schiff zur Einschätzung, dass Datierung dieses „nicht weit vor 1650 v. Chr.“ aufgebracht worden sein konnte. Ist in Phase II oder III aber Bezüglich der Datierung der Himmelsscheibe nicht ein Schiff, sondern das Blatt einer „Großen von Nebra aus sich selbst heraus verwies Meller Knopfsichel“ dargestellt, wie hier vorgeschlagen, (2010, 62) schon 2010 auf die neueren Forschun- so ließe sich daraus für diese Phase ein spätbron- gen von Thomas Stöllner zur Blütezeit des Kup- zezeitlicher Datierungsansatz zwischen ca. 1350 ferbergbaus am Mitterberg in Salzburg, von wo und 850 v. Chr. ableiten (Gleirscher, 2007, 30). das Kupfer zur Herstellung der Himmelsscheibe Man könnte in diesem Zusammenhang angeblich stammt. Andreas Müller-Karpe (2021, schließlich noch die Frage stellen, ob es zwischen 49-62) hat auf die mit der Zuordnung von Ob- der Entstehung oder einer der Umarbeitungspha- jekten aus Kupfer und Bronze zu bestimmten sen des Bildes auf der Himmelsscheibe von Ne- Lagerstätten verbundene Brüchigkeit der Daten bra und jenen klimatischen Veränderungen im 2. hingewiesen. Geht man für die Himmelsschei- Jahrtausend v. Chr., die sich auf die Ernteerträge be von Nebra weiterhin von einer Herkunft des ausgewirkt haben, einen Zusammenhang geben Kupfers vom Mitterberg aus, bleibe – so Stöllner – könnte. Dabei ist zum einen der verheerende Vul- auch nach diesen Untersuchungen „die Datierung kanausbruch von Santorin (Thera) um 1600/1630 der Produktionsanlagen methodisch schwierig […], v. Chr. in Erinnerung zu rufen (Meller, 2020b, 85. gibt es Hinweise auf ein erweitertes Datierungsspek- Zum Vulkanausbruch Mühlenbruch, 2017). Zum trum, das bereits in der Kupferzeit beginnen könnte.“ anderen ist diese Frage generell mit den Auswir- Meller folgerte daraus zunächst, „dass die Herstel- kungen jener Klimaverschlechterung in Mittel- lung der Himmelsscheibe zwischen 1750 und 1700 v. europa (Löbben-Schwankung) auf die Landwirt- Chr. anzusetzen sei, ein früherer Ansatz aber derzeit schaft verknüpft, die zwischen ca. 1500 und 1200 nicht auszuschließen ist.“ Bezüglich des Abbaus v. Chr. angesetzt ist (Billamboz, 1997). Beides ist der Kupfererze am Mitterberg wird nunmehr an- nicht zu beantworten und schon gar keiner der genommen (Pernicka et al., 2020, 109-111; Meller Bildphasen zuzuordnen. 2020b, 79. Kritisch Gebhard & Krause, 2020a, 335; Rupert Gebhard und Rüdiger Krause (2020a, 2020b, 352), dass die Blütezeit zwischen dem 15. 337-341) haben demgegenüber Überlegungen und 13./11. Jahrhundert v. Chr. lag, dieser im 18. vorgebracht, wonach das Bild auf der Himmels- Jahrhundert v. Chr. einsetzte und für die Eisen- scheibe von Nebra erst in der Eisenzeit entstanden zeit als gering einzustufen sei. Von einem bereits sein könnte. So wurde im Bild auf einer goldenen kupferzeitlichen Abbau ist nicht mehr die Rede. Schale aus Altstetten bei Zürich wiederholt die Zu diesen Daten passen jene zum Goldberg- Darstellung von Sonne, Mond und Sternen ver- bau in Cornwall, von wo das Gold – vermutlich mutet. Wegen des Tierfrieses ist die Schale wohl (!) – stammt (skeptisch Müller-Karpe, 2021, 17). erst eisenzeitlich zu datieren (Gebhard & Krau- Der Aspekt der Nutzung der entsprechenden se, 2020a, 337; zur Datierung SPM III, 255-256, Bergbaureviere ist in der Frage der Herstellung Abb. 120; so auch Meller, 2010, 68). Weil dort der Himmelsscheibe von Nebra jedenfalls zu be- zwar Sichelmonde und Kreise – Vollmond und/ 13
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