DIE MACHT Guardini-Tag 2020 - Katholische Akademie Bayern
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Jahrgang 51 | Heft 1/2021 B 215 75 F DIE MACHT Guardini-Tag 2020 UKRAINE „FRATELLI TUTTI“. WAS STEHT DRIN? DER TRAUM Die Orthodoxe Kirche Kardinal Reinhard Marx, Anna Noweck Unser nächtlicher Ausnahme- vor einem Schisma? und Markus Vogt zur Enzyklika zustand in Kultur und Religion
Inhalt der Printausgabe Liebe Leserinnen und Leser, dass Romano Guardini keine Berührungsängste DIE MACHT zu zeitgenössischer Kunst und Kultur hatte, ist bekannt. Ob ihm unsere Titelgrafik gefallen hätte, 4 Begrüßung und Einleitung hingegen nicht. Die amerikanische Popart-Szene Achim Budde war gewiss nicht seine Welt. Dennoch regt deren Spiel mit der Wahrnehmung zum Nach- 6 Ambivalenzen der Macht Markus Vogt denken an: über die Macht der Wiedergabe und des Framings, über Reproduktion und Massen- verbreitung, über Pop, Kult, Konsum und die 11 Menschlichkeit und Machtgefahr. Überlegungen zu zwei Begriffen Wirkmacht plakativ gefärbter Rezeption. Romano Guardinis Wir haben Guardini die Kennfarben unse- Michael Seewald rer sechs Themen-Sparten verpasst. Und das hat einen doppelten Sinn: Denn einerseits hat 15 Macht und Ethik – Im Dienst der er als Universalgelehrter mit einer katholischen Menschen: um einen verantwortlichen – also auf das Ganze bezogenen – Perspektive Gebrauch der Macht zu allen unseren „Segmenten“ etwas zu sagen. Michele Nicoletti Und andererseits können umgekehrt Menschen verschiedener fachlicher Ausrichtung ganz Unter- schiedliches in ihm sehen. Er wird damit leben müssen, dass die Ikone Ro- UKRAINE: DIE ORTHODOXE KIRCHE mano Guardini seine historische Person zuweilen VOR EINEM SCHISMA? überfärbt. Das hat Weltruhm, und das hat auch ein Seligsprechungsverfahren so an sich. Es ist eine 21 Begrüßung und Einleitung Achim Budde Facette kraftvoll überzeugender Ausstrahlung. Unser Auftrag – als Hüter seines literarischen Œeuvres – ist es, Guardinis Gedanken Verbrei- 23 Zur Situation der Orthodoxen Kirche in der Ukraine tung, aber auch Vertiefung zu verschaffen, weil Johannes Oeldemann sein Denken uns auch Jahrzehnte nach seinem leiblichen Tod Deutungen anbietet, um un- 28 Auf dem Weg zu einer offenen sere Gegenwart zu verstehen. Die Tagung zur Orthodoxie „Macht“ (vgl. S. 4–20 der Print- und S. 65–70 Erzpriester Georgij Kovalenko der Online-Ausgabe) hatte genau diesen Impe- tus. Auch die Einrichtung einer Guardini-Studi- 31 Eine Bestandsaufnahme der Krise in der ukrainischen Orthodoxie enbibliothek (vgl. debatte 4/2020, S. 48) dient der Sergii Bortnyk Bergung ungehobener Schätze ins Heute. Unser Grafiker hat übrigens gezielt sichtbar gemacht, dass seine Bearbeitung nicht im Siebdruck, son- 34 Was bedeutet das Schisma für ein dezentrales Verständnis von Einheit? dern am Bildschirm entstanden ist: mit der Maus Jennifer Wasmuth gezogene Flächen mit Kanten, Überschneidungen und Zwischenräumen … auch dies die Aktuali- sierung eines Klassikers nach ca. 60 Jahren. In unserem Akademieprogramm eifern wir 36 EIN ABEND ZU PAUL CELAN Guardini nach, indem wir das Ganze der Wirk- Kurzbericht mit Verweisen lichkeit in den Blick nehmen und jeweils aus einer kirchlich-theologischen Sicht zu deuten und wenn möglich auch zu befruchten versuchen. Die Vielfalt der Wahrnehmungen gehört dazu. 37 ERNST ODER SPIEL? Kurzbericht vom Digitalen Salon Anregende Lektüre wünscht PD Dr. Achim Budde, Akademiedirektor Theologie | Kirche | Spiritualität Geschichte Naturwissenschaften | Medizin | Technik Kunst | Kultur
Online-Teil „FRATELLI TUTTI“. WAS STEHT DRIN? Die folgenden Artikel sind nur in der Online-Ausgabe der Zeitschrift zur debatte enthalten, die Sie auf unserer 38 „Fratelli tutti“. Zentrale Stellen Homepage finden und über unseren Newsletter abon- kommentiert nieren können (s. u.). Anna Noweck DIE MACHT 41 KIND SEIN IN ZEITEN VON CORONA 65 Mächte und Gewalten. Kurzbericht mit Verweisen Auseinandersetzung mit dem Phäno- men der Macht Jean Greisch EIN BAYER IN BOLLYWOOD 42 Wenn Briefe Geschichte(n) erzählen: Karl UKRAINE: DIE ORTHODOXE KIRCHE Graf von Spretis Schreiben aus Indien VOR EINEM SCHISMA? Jörg Zedler 71 Die Konsequenzen des Kirchen- konflikts für die Ökumene – eine katholische Perspektive 50 PHILOSOPHIE SOIREE Bischof Gerhard Feige Kurzbericht 74 Die Konsequenzen des Kirchen- konflikts für die Ökumene – im Hinblick auf die Diaspora 51 THEOLOGISCHES TERZETT Bischof Andrej Ćilerdžić Kurzbericht mit Verweisen DER TRAUM: UNSER NÄCHTLICHER 52 USA NACH DER WAHL AUSNAHMEZUSTAND Kurzbericht mit Verweisen 77 Die biblische Josephsgeschichte und ihre Rezeption in Thomas Manns „Josephs“-Roman DER TRAUM: UNSER NÄCHTLICHER Karl-Josef Kuschel AUSNAHMEZUSTAND 86 Traumkritik in der Bibel Martin Meiser 53 Warum träumen? Eine Einführung Dominik Fröhlich 54 Thomas Manns „Joseph“-Roman – ! in einer Stunde! Dirk Heißerer 29 Extra-Seiten Die debatte erscheint ab sofort in zwei Va- rianten: print und online. Die Online-Ausgabe 58 COMMUNITY ist bis Seite 64 identisch mit der Print-Ausgabe. Ab Seite 65 folgen zusätzliche Artikel, die in 64 Programmvorschau und Impressum der gedruckten Fassung keinen Platz mehr fan- den. Außerdem führen zahlreiche Links direkt aus dem PDF zu Videos und Audios auf unseren You-Tube-Kanälen und ergänzen so die Dokumen- tation. Mehr zum Relaunch auf Seite 63. Abonnieren Sie die Online-Ausgabe über den Newsletter der Akademie! Über 4.000 Leser(innen) können jedes neue Heft so bereits Wochen vor dem Papier-Versand lesen oder bequem auf DIN A4 ausdrucken. Gesellschaft | Wirtschaft | Politik Philosophie | Humanwissenschaften YouTube-VIDEO-Kanal YouTube-AUDIO-Kanal
Die Macht PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN Guardini-Tag 2020 in Verbindung mit der Guardini Stiftung Berlin Die Guardini Stiftung Berlin und die Katho- verschieden Aspekte des Begriffs. Rund lische Akademie in Bayern befassten sich vom 150 Interessierte nahmen am Symposium 30. Januar bis zum 1. Februar ausführlich mit teil, dessen Titel der Schrift Die Macht dem Thema Macht. Beim Guardini-Tag, der entlehnt ist, die Romano Guardini vor fast zum ersten Mal in Kooperation der beiden 70 Jahren verfasste. Institutionen stattfand und auch zum ersten Mal in München, analysierten Wissenschaftler Begrüßung und Einleitung von Achim Budde M eine sehr verehrten Damen und Herren, ich zu sondieren. Gestern vor einem Jahr waren sie hier und begrüße Sie sehr herzlich heute Abend hier boten mir an, ihren traditionellen Berliner Guardini-Tag im großen Saal der Katholischen Akade- in diesem Jahr als Kooperationsveranstaltung durchzu- mie in Bayern, und der Blick in diesen Saal führen – und zwar hier löst dabei eine gewisse Rührung in mir aus. Dass rund bei uns im München. Im 150 Personen zusammenkommen, um sich drei Tage April kam dann eine De- Gottes Macht ist nicht lang mit Romano Guardini zu befassen, ist keine Selbst- legation, der auch die wis- verständlichkeit. Und ich werte das als eine gewisse Be- senschaftlichen Mitarbeiter einfach Überbietung stätigung für das Experiment, das wir heute wagen: Zwei der Stiftung, Frau Dr. Patri- menschlicher Macht, Einrichtungen, die dem cia Löwe und Herr Andreas sondern immer auch Erbe Guardinis verpflich- Öhler, angehörten, um in tet sind, veranstalten zum Zusammenarbeit mit unse- ein Gegenmodell. ersten Mal gemeinsam eine rem Studienleiter Stephan solche Tagung! Höpfinger das Konzept zu Als ich vor gut einem dieser Tagung auszuarbeiten. Das erste, was ich heute Abend Jahr mein Amt als Direk- sagen möchte, ist ein großes Dankeschön an die Guardini tor antrat, da gehörte es zu Stiftung für diese Offenheit, dieses Entgegenkommen und den ersten Kontaktaufnah- die Initiative, unsere beiden Einrichtungen in Kontakt zu men überhaupt, dass Prof. bringen. Die Zusammenarbeit hat so reibungslos und er- Michael Rutz und Frau freulich funktioniert, dass man sich fast fragt, warum das Mariola Lewandowska, nicht immer schon so war. Präsident und Geschäfts- Thema unserer Tagung ist „die Macht“, ein Phänomen, führerin der Berliner das für die Geschicke der Menschheit von schlechterdings Guardini Stiftung, mit dem fundamentaler Bedeutung ist; ein Phänomen, das aber Vorschlag an mich heran- auch aus der religiösen Überlieferung nicht wegzudenken traten, gemeinsam nach ist − haben sich die Menschen doch Gott und seinen Hof- München zu kommen, um staat lange Zeit als Überbietung menschlicher (konkret: vor- sich mir vorzustellen und derorientalischer) Herrschaftsformen vorgestellt. In dessen PD Dr. Achim Budde, Direktor der Katho miteinander nach Mög- Machtbereich einzutreten, verhieß auch konkrete Vorteile lischen Akademie in Bayern lichkeiten der Kooperation im irdischen Machtkampf. Es hat in der Religionsgeschichte 4 zur debatte 1/2021
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN eine Weile gedauert, bis dessen Lösung alles, nicht Menschen zur Einsicht ge- nur Wohlfahrt oder Not, langten, dass Gottes Macht sondern Leben oder Un- im Kern nicht einfach eine tergang abhängen wird, Überbietung menschli- ist die Macht. Nicht ihre cher Macht sein kann, son- Steigerung, die geht von dern immer auch eine Art selbst vor sich; wohl „Gegenmodell“ zum oft aber ihre Bändigung, missbräuchlichen mensch- ihr rechter Gebrauch.“ lichen Gebrauch der (Das Ende der Neuzeit, 10. Macht entwirft. Für uns Aufl. 1986, S. 77) Christen hat dieser Ge- Kann der Mensch im danke in der Inkarnation Gebrauch der Macht und der Ohnmacht Christi als Mensch bestehen? am Kreuz ihren tiefsten Guardini formuliert seine Ausdruck gefunden. Hoffnung, er schreibt: „Es Es ist ein Grundphä- geht die Hoffnung dar- nomen menschlichen auf, ein neuer Menschen- Daseins, mit dem sich typus sei im Werden, Romano Guardini in der den freigesetzten seiner 1951 erschiene- Mächten nicht verfällt, nen Schrift „Die Macht. sondern sie zu ordnen Versuch einer Wegwei- vermag. Der fähig ist, nicht sung“ auseinandergesetzt nur Macht auszuüben hat. Für ihn ist Macht über die Natur, sondern eine anthropologische auch Macht über seine Konstante. Das Streben eigene Macht; das heißt, nach Macht bildet einen sie dem Sinn des Men- Grundt rieb des mensch- schenlebens und Men - lichen Wesens. Machtaus- Das bekannteste Porträt von Romano Guardini: Es entstand im Jahr 1955, schenwerkes unterzuord übung ist Verwirklichung zwei Jahre vor Gründung der Katholischen Akademie in Bayern. nen … soll nicht alles der eigenen Person, in Gewalt und Chaos zu als Macht über die Natur ist sie Kern von Kultur. Al- Grunde gehen.“ (Die Macht, 7. Auflage 1986, S. 168) lerdings bewirkt die Ausübung von Macht immer So schrieb Romano Guardini vor fast 70 auch ein Bestimmt-Werden durch die Macht, und da- Jahren, und wir sind eingeladen, uns mit seinen Ana- mit verbunden die Gefahr des Missbrauchs der Macht. lysen auseinanderzusetzen, auch um zu sehen, wo wir Schon in seinem ein Jahr zuvor erschienenen Werk sie für unsere heutige Zeit fruchtbar machen kön- „Das Ende der Neuzeit“ reflektierte Guardini die Di- nen. Jetzt wünsche ich also unserer Tagung einen gu- mensionen dieser Gefahr. Er schrieb: „Das Kernprob- ten Verlauf, viele fruchtbringende Erkenntnisse lem, um das die künftige Kulturarbeit kreisen, und von und interessante Gespräche. PRESSE KNA Münchner Kirchenzeitung 31. Januar 2020. Einen veränderten 19. Januar 2020. Mit dem Thema Katholisch.de Umgang mit Macht in der katholi- „Macht“ hat sich Romano Guardini 31. Januar 2020. Interview-Frage an schen Kirche fordert der Münch- (1885–1968) mehrfach, vor allem in Professor Markus Vogt: Das Thema ner Sozialethiker Markus Vogt. seiner Schrift „Die Macht. Versuch Macht spielt auch eine entscheidende Notwendig seien mehr Mitbestim- einer Wegweisung“ (1951), auseinan- Rolle beim Synodalen Weg. Wie mung von Laien auf allen Ebenen, dergesetzt. Die damaligen Analysen blicken Sie auf die Reformdebatte? eine Dezentralisierung und mehr des Theologen und Religionsphiloso- Antwort: Das Thema Macht ver- Gewicht für das von der katholi- phen Guardini über die Macht zeigen bindet alle Themen, um die es da- schen Kirche eingeforderte Prinzip viele Bezüge zu heutigen Entwicklun- bei geht und bündelt sie: sexueller der Subsidiarität, also eine Stär- gen auf. So warnt er vor dem Typus Missbrauch, Geschlechtergerechtig- kung der jeweils unteren Instanzen Mensch, der aus dem Augenblick lebt, keit in der Kirche, Gefälle zwischen gegenüber den höheren Ebenen der einen beängstigenden Charakter be- Laien und Klerikern, der Umgang Hierarchie, sagte der Professor für liebiger Vertretbarkeit bekommt und mit Ämtern. Christliche Sozialethik. dem Zugriff der Macht bereitsteht. zur debatte 1/2021 5
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN Ambivalenzen der Macht von Markus Vogt I. Zur Aktualität des Themas Aspekt der Macht ermöglicht eine ge- geht es im Letzten nicht mehr um die Macht in Kirche und Gesellschaft wisse Abstraktion und kann hilfreiche Steigerung der Macht, [...], sondern D Kriterien für ihre Bewältigung bereit- um deren Bändigung. Den Sinnmit- as Thema Macht ist der- stellen. Die bedrängende Frage lautet: telpunkt der Epoche wird die Aufgabe zeit in Kirche und Ge- Ist die Kirche durch Sakralisierungen bilden, die Macht so einzuordnen, dass sellschaft von besonderer der Macht für ihren Missbrauch be- der Mensch in ihrem Gebrauch als Brisanz und ermöglicht sonders anfällig? Mensch bestehen kann.“ Heute stehen einen fokussierten Blick auf zentrale (b) Auch gesellschaftlich ist das wir am Beginn eines Epochenwandels, Umbrüche und Debatten der Gegen- Machtproblem derzeit von besonde- wart. Drei Aspekte sind dabei beson- rer Bedeutung: Seit ca. zehn Jahren ders virulent. breiten sich autoritäre Regime und (a) Macht ist das Querschnitts- Herrschaftsformen zulasten der De- Autoritäre Regime und thema des Synodalen Weges. Es ist mokratien weltweit aus. Nicht selten Herrschaftsformen sind dasjenige, das die drei anderen Foren wird die Macht des Rechts durch das zulasten der Demokratien analytisch miteinander verbindet: Bei Recht der Macht ersetzt. Der „Neo- den Themenfeldern Sexualität/sexuel- realismus“ hat dies schon früh kom- auf dem Vormarsch. ler Missbrauch, priesterliche Existenz/ men sehen und den vermeintlich na- Verhältnis Kleriker und Laien, Frauen iven Idealismus kosmopolitischer in Diensten und Ämtern/Geschlech- Ethik ethisch-politisch kritisiert. Als dessen humanes Gelingen von einem tergerechtigkeit handelt es sich je- sozial-ethische Frage ergibt sich da- Paradigmenwechsel im Umgang mit weils um asymmetrische Machtgefälle. raus: Wie kann der nüchterne Blick der Macht abhängt. In diesem Sinne Diese haben zu Gewalt, Exklusion für die Härte gegenwärtiger und künf- postuliert Papst Franziskus (der stark oder mangelnder Partizipationsmög- tig zu erwartender Machtkonflikte in von Guardini geprägt ist) eine „kul- lichkeit geführt bzw. werden als Ursa- der Weltpolitik mit dem Aufrechter- turelle Revolution“ und schlägt als che dafür vermutet. Die Analyse der halten moralischer Standards inter- Kompass hierfür das Konzept der Problemzusammenhänge unter dem nationaler Kooperation, Fairness und „ganzheitlichen Ökologie“ vor. Friedenssicherung ver- knüpft werden? II. Ambivalenzen der Macht (c) Ein dritter As- pekt der besonderen Leitthese meiner Ausführungen ist, Aktualität des The- dass eine Bändigung der Macht nur mas ergibt sich aus der gelingen kann, wenn man ihre Ambi- ökologischen Diagnose valenzen im Blick hat, also sowohl ihre der Gegenwart: Die Ex- negativen wie ihre positiven Seiten. Oft pansion der Macht des wird die konstruktive Seite der Macht Menschen über die Na- vergessen: Medial geprägt durch Nega- tur war in den vergan- tivschlagzeilen von Machtmissbrauch, genen Jahrhunderten Gewalt und Korruption, übersehen und Jahrzehnten so er- wir, dass unser Alltag ebenso von zahl- folgreich, dass sie in ihr losen Beispielen positiver Machtaus- Gegenteil umzukippen übung geprägt ist: Sie ermöglicht und droht. Der Klimawan- strukturiert das gesellschaftliche Zu- del veranschaulicht sammenleben. Ohne Macht ist kein dies besonders bedrän- Handeln möglich. Jeder, der ein Amt gend. Guardinis Diag- innehat, übt Macht aus. nose vom Ende der Um es mit Guardinis Gegensatz- Neuzeit scheint sich lehre zu sagen: Leben spielt sich stets hier in einer Weise zu im Spannungsgefüge von Macht und bestätigen, die er selbst Ohnmacht, im Wechselspiel von herr- so radikal vermutlich schen und beherrscht werden, ab. nicht geahnt hat. Je- Macht ist ein konstitutiver Teil des Le- denfalls ist seine These bendig-Konkreten. Wer nur ihre Zerr- Dieses gezeichnete Porträt Romano Guardinis fertigte aktueller denn je: „Für bilder wahrnimmt, hat vom Leben Hans Jürgen Kallmann an. die kommende Epoche ebenso wenig begriffen wie derjenige, 6 zur debatte 1/2021
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN der Machtkonflikte idealisierend über- oppressiver Macht nicht den Blick für sieht. Macht ist Potenzial und Gefähr- ihre positive Seite als einem integralen dung zugleich. Macht ist ambivalent. Bestandteil von Handlungsfähigkeit Es gilt, ihre Janusköpfigkeit zu entzif- zu verstellen. Erst die Idee einer legi- fern, ihr Gesicht der Stärke und Hand- timen und verantwortlichen Hand- lungsmacht, aber auch ihr Gesicht von habung von Macht verleiht der Kritik Gewalt und Missbrauch. Nur wer die ihre Kontur. Der Titel meines Vortrags Ambivalenzen der Macht kennt, kann „Ambivalenzen der Macht“ zielt auf ihre Schattenseiten bändigen. Die Pa- die Gleichzeitigkeit von konstruktiver role der anarchistischen Punkband und kritischer Perspektive. Ton Steine Scherben „Keine Macht für niemand“ ist also nicht das Motto, dem Die philosophische Entdeckung ich folge. Denn man braucht Macht, der Macht um die Macht zu bändigen. Die Macht als philosophisches Prob- lem ist eine sophistische Entdeckung. In Platons Dialogen äußert der Sophist III. Begriffsbestimmung Trasymmachos die These, dass gerecht Ein relationaler und handlungs sei, was den Mächtigen nutzt. Platon bezogener Begriff Prof. Dr. Markus Vogt, Professor für setzt dagegen, dass die Macht ihrem Macht ist ein relationaler Begriff: Sie Christliche Sozialethik an der LMU München Wesen nach vernunftbestimmt sei. ist an die Beziehung zwischen der Der alte Streit kehrt in der Geschichte „Quelle“ (der machtausübenden Per- setzt – so Guardini – einen Willen vor- in vielfältigen Neuauflagen immer son) und dem „Ziel“ gebunden. Ei- aus, der Ziele setzt. Zu ihr gehört Sinn- wieder, so z. B. bei Machiavelli, dessen nige Autoren unterscheiden zwischen gebung. Von daher ist der Begriff nicht Position derjenigen der Sophisten äh- Macht und Einfluss. Macht wird meist sinnvoll auf Naturgewalten anwend- nelt, oder gegenwärtig bei den Neore- als Potential, beabsichtigte Wirkungen bar. Macht ist ein spezifisch mensch- alisten, deren Deutung der Politik als zu erzielen, gesehen. Einfluss ist dann liches Phänomen. Ränkespiel der Macht nach dem Mus- die Aktualisierung der Macht. Sie ist Macht prägt soziale Gemeinschaften ter einer self fulfilling prophecy zugleich ein Relationsgefüge, das Akteuren bzw. und ordnet das Zusammenleben. Dabei zur Ursache dafür wird. Systemen einen Dispositionsspielraum können die Formen, in denen Macht gibt, auf andere sowie auf Prozesse ausgeübt wird, ganz unterschied- Einfluss auszuüben. lich sein. Macht ist Bestandteil aller Etymologisch ist Macht ein auf menschlichen Beziehungen, prägt un- Aristoteles grenzt die Handlungsfähigkeit bezogener und seren Alltag, strukturiert unser Zusam- Herrschaft von Freien damit positiv besetzter Begriff (der menleben, verleiht Handlungsfähigkeit über andere Freie von der deutsche Begriff leitet sich ab vom go- oder führt zu Abhängigkeiten. Jeder, der tischen magan, können, mögen, ver- Macht besitzt, muss mit ihr umgehen Sklaverei ab. mögen). Von diesem Wortfeld her können und Entscheidungen treffen. meint Macht also wesentlich ein Ver- Gerade weil die wechselseitige Be- mögen, eine Potenz oder die Fähigkeit, einflussung von Menschen allgegen- Aristoteles entwickelt als erster eine ein gesetztes Ziel zu erreichen. Alltags- wärtig ist, bergen Reflexionen zum politische Theorie der Herrschaft (ar- sprachlich wird Macht oft ähnlich ver- Begriff der Macht die Gefahr, in einer ché). Er definiert diese als Herrschaft wendet wie Kraft, Stärke, Autorität unbestimmten Weite zu zerfasern und von Freien über Freie und grenzt sie oder auch Befugnis, Vollmacht, Herr- auszufransen. Deshalb gewinnt der von der Sklaverei ab. Dadurch wird schaft, Einfluss, Gewalt. Sie ist das Ver- Begriff nur dann eine wissenschaftli- die Fähigkeit, im Diskurs Zustim- mögen einer Person oder Gruppe, ihre che Kontur und Aussagekraft, wenn mung zu erringen, zum entscheiden- Ziele gegen Widerstände durchzuset- er als Konfliktbegriff verstanden wird: den Mittel der Macht. Diese ist nicht zen, etwa äußere Umstände, den Wil- Macht wird dann zum Thema, wenn mehr oppressiv konstituiert, sondern len Dritter oder Widerstände in der der Einfluss einer Person oder Insti- konsensual. eigenen Person. tution als ungerecht empfunden wird. Cicero unterscheidet zwischen po- Eine hierzu passende recht präg- Machtprobleme haben in der Regel mit testas im Sinne der Amtsgewalt und nante Definition der Macht bietet Gu- Kompetenzüberschreitungen in asym- auctoritas im Sinne personaler Auto- ardini, wenn er diese als die Fähigkeit, metrischen Beziehungen zu tun: Eine rität. In seinem Lebensbericht schreibt Realität zu bewegen, beschreibt. Sie Seite nutzt ihre Überlegenheit, um an- er, dass er trotz gleicher Amtsgewalt dere zu unterdrücken. alle Kollegen an Ansehen (auctoritas) Die Kunst einer angemessenen weit übertroffen habe. Daran knüpft Handhabung des Begriffs als Analy- später die Unterscheidung zwischen Macht ist ein konstitutiver Teil seinstrument für soziale Beziehungen weltlicher Macht und geistlicher Macht des Lebendig-Konkreten. besteht jedoch darin, in der Ausein- an, wobei letztere in der Tradition der andersetzung mit den Problemen von auctoritas verstanden wird. zur debatte 1/2021 7
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN Die beiden Veranstalter des Guardini-Tags: PD Dr. Achim Budde, Das Team der Guardini Stiftung: Kuratorin Frizzi Krella, Pressereferent An- Direktor der Katholischen Akademie in Bayern (li.), und Professor dreas Öhler, Dr. Patricia Löwe, wiss. Referentin, Geschäftsführerin Mariola Michael Rutz, Präsident der Guardini Stiftung, Berlin. Lewandowska und Sylwester Lewandowski, Personal u. Finanzen (v. l. n. r.). Glaube im Zeichen des tung, sondern Folge der Sünde. In der ste Typus der legalen Herrschaft ist für Macht-Ohnmacht-Gefälles Politischen Theologie hat es allerdings Max Weber die Bürokratie, die ihre Religion ist nach Schleiermacher das sehr lange gedauert, bis man sich kon- behördlichen Vertreter – oft Beamte Bewusstsein, von einer höheren Macht sequent von dem Modell der Berufung – durch Wahl oder Berufung einsetzt. abhängig zu sein. Demnach hat Theo- auf Gott als Legitimation menschlicher logie zentral mit dem Thema Macht bzw. kirchlicher oder politischer Herr- Macht durch kommunikatives zu tun. Der Übermächtigkeit Gottes schaft verabschiedet hat. Viele tun sich Handeln bzw. der Götter entspricht auf Seiten bis heute schwer, geistliche Macht ra- Ein Machtverständnis, das sich deut- des Menschen als Kreatur das Ge- dikal von der Freiheit her zu denken. lich von Max Webers Konzept der Un- fühl der Abhängigkeit. Im Glauben terwerfung unter den eigenen Willen sind Menschen mit einer Macht kon- Macht als Fähigkeit, andere dem unterscheidet, hat Hannah Arendt frontiert, die sie einerseits überschrei- eigenen Willen zu unterwerfen entwickelt. Für sie ist Macht etwas, tet, die sie andererseits als den Grund Max Weber hat die Analyse sich histo- das in Kommunikation und Verstän- ihrer eigenen Existenz und damit als risch wandelnder Konstellationen von digung entsteht. So geschieht es in der schöpferische Lebensmacht erfahren. Macht als soziologische Methode er- Demokratie, wo Menschen einer Idee Religionen ermächtigen, indem sie an schlossen. Er definiert Macht als Mög- folgen, weil sie gemeinsam von dieser den Grenzen des Lebens sinnstiftende lichkeit, andere dem eigenen Willen Idee überzeugt sind. Um diese Idee Deutungsmodelle bereitstellen. Diese zu unterwerfen. Dabei geht er von ei- durchzusetzen, wählen sie Vertreter, Ermächtigung geschieht aber immer nem teleologischen Handlungsmodell die für eine bestimmte Zeit ihre In- im gleichzeitigen Bewusstsein der ei- aus: Ein einzelnes Subjekt oder eine teressen repräsentieren. Arendt geht genen Ohnmacht. Gottesfürchtige Gruppe hat sich einen Zweck gesetzt von einem kommunikativen Hand- Anerkennung der überlegenen Macht und wählt geeignete Mittel, um ihn zu lungsmodell aus: „Macht entspringt Gottes gilt der Bibel als Basis der Weis- realisieren. Soweit der Handlungser- der menschlichen Fähigkeit, nicht nur heit. Zugleich ist sie Grundlage der folg vom Verhalten eines anderen Sub- zu handeln oder etwas zu tun, sondern Freiheit, da die Bindung an das Un- jektes abhängt, muss der Akteur über sich mit anderen zusammenzuschlie- endliche Freiheit gegenüber dem End- Mittel verfügen, die den anderen zum ßen und im Einvernehmen mit ihnen lichen schafft. gewünschten Verhalten veranlassen. zu handeln.“ Das Grundphänomen Die Gläubigen suchen Anteil an Macht ist die Verfügungsgewalt über der Macht ist nicht die Instrumentali- der göttlichen Macht zu gewinnen. In- Mittel, den Willen eines anderen zu sierung eines fremden Willens für ei- sofern die Kirche Vermittler zwischen beeinflussen. gene Zwecke, sondern die Formierung Mensch und Gott ist, geht diese Macht In seiner historischen Analyse der eines gemeinsamen Willens in einer auf sie über. Geistliche Autorität ist das Transformation von Herrschaftsver- auf Verständigung gerichteten Kom- Handeln in der Vollmacht Gottes, nicht hältnissen unterscheidet Weber zwi- munikation. Die Mobilisierung von als Machtgewinn über Menschen, son- schen der Legitimation von Macht Zustimmung erzeugt die Macht, die dern in der Achtung ihrer Freiheit als durch Tradition, durch Charisma oder gesellschaftlich in bindende Entschei- Erhöhung ihrer Eigenständigkeit, durch formale Verfahren. Charismati- dungen transformiert wird. Selbstwirksamkeit und Liebesfähig- sche Herrschaft ist durch persönliche Versucht man aus der hier nur keit. Augustinus postuliert, dass der Kompetenz legitimiert. Im Feudalis- sehr knapp skizzierten Begriffsge- Mensch nach Gottes Willen eigentlich mus wurde sie traditionell als gottge- schichte ein Resümee zu ziehen und niemals über den Menschen herrschen geben betrachtet. In der Neuzeit gilt einen Bezug zu Guardini herzustel- solle (non hominem homini dominari). sie als sozial bedingt und damit hin- len, sticht als prägendes Element das Sklaverei sei keine natürliche Einrich- terfragbar und veränderbar. Der rein- polare Spannungsgefüge zwischen 8 zur debatte 1/2021
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN idealistischen und realistischen Zu- Das aus der Tiefe christlichen Glau- entdeckt und zu nutzen gewusst, in- gängen ins Auge: Macht durch kom- bens erwachsende Ethos der Gewalt- dem er durch Bilder und Zeitungs- munikatives Handeln versus die losigkeit meint „eine aktiv-wandelnde, berichte von der rohen Gewalt der Macht durch Gewalt oder formale das Böse des Menschen in seiner Wur- Besatzungsmacht gegen ihn und seine Legitimation; die Macht lieben- zel angreifende und überwindende Mitkämpfer gezielt das Rechtsbewusst- der Hingabe versus Kampf in harten Kraft.“ Bedingung für die Vereinbar- sein der Briten ansprach. Gandhi war Machtkonflikten; das paradoxe Inei- keit von kämpferischer und gewaltlo- kämpferisch, aber nicht im Vertrauen nander von Macht und Ohnmacht als ser Gesinnung ist die Bereitschaft, dem auf die Macht der rohen Gewalt, son- ein Kern der christlichen und viel- Unrecht nicht auf Kosten anderer aus- dern im Vertrauen auf die überlegene leicht jeder Gotteserfahrung. Dies zuweichen, sich nicht mit den Herr- Macht des Rechts und des Normbe- kommt Guardinis Konzeption po- schenden, sondern mit den Leidenden wusstseins. Man kann dies dem Po- larer Spannungsgegensätze als einer zu solidarisieren. Historische Beispiele litikverständnis von Hannah Arendt Grundstruktur des Lebendig-Kon- hierfür sind die sozialen Kämpfe von zuordnen: Macht durch kommunika- kreten entgegen. So erstaunt es nicht, Mahatma Gandhi, Martin Luther King tive Verständigung. dass das Thema Macht für sein Den- und Berta von Suttner. Auch die Ge- Gandhi und seine Mitkämpfer wa- ken eine Schlüsselbedeutung hat. schwister Scholl sind ein leuchtendes ren bereit, den Preis auf dem Weg Beispiel für die Macht der Machtlosen, dorthin zu zahlen und sich lieber nie- die letztlich auch durch ihre Hinrich- derknüppeln zu lassen, als zu Waffen IV. Die Macht der Machtlosen tung nicht gebrochen werden konnte. zu greifen. Letztlich waren sie erfolg- Feindesliebe als weltfremde Igno- Bis in die Gegenwart erleiden zahllose reich. Sie haben das Gewissen der Be- ranz gegenüber Machtkonflikten? christliche Märtyrer lieber den Tod, als satzungsmacht und der Öffentlichkeit Für Friedrich Nietzsche ist Feindes- sich durch Verleugnung ihres Glaubens herausgefordert und dabei mit gro- liebe ein Ausdruck von Schwäche der Macht zu beugen. Auch wenn dies ßem Geschick strategisch die Medien- und feiger Konfliktvermeidung. Sie oft vergeblich und sinnlos erscheint, berichte und -bilder genutzt. Das war zu postulieren widerspreche dem Ge- ist das Martyrium um des Glaubens an keine feige Unterordnung, sondern ein setz des Lebens, in dem sich der Stär- Freiheit und Gerechtigkeit willen doch unbeugsamer Mut innerer Freiheit und kere durchsetzt, was zwar oft hart und eine Form des geistigen Widerstandes, Friedensbereitschaft im konsequenten grausam sei, aber am Ende der evo- der in seiner Bedeutung nicht unter- Vertrauen auf die Macht des Rechts. lutionären Höherentwicklung diene. schätzt werden sollte. Wer sich im gewaltlosen Kampf der Sigmund Freud greift dies auf und Macht des Feindes ausliefert, braucht kommt in seinen psychologischen Strategien des gewaltlosen ein Höchstmaß an Mut. Er oder sie Analysen zu dem Schluss, dass die Widerstandes muss mit Grausamkeit, Folter und Ge- durch Moralgebote unterdrückte Ag- Inspiriert u. a. von der Bergpredigt fangenschaft rechnen. Die Methode gression sich nicht selten unbewusst hat Mahatma Gandhi diese Macht der des gewaltlosen Widerstandes hat sich und unkontrolliert an anderen Stel- Machtlosen mit seiner Strategie des jedoch in Indien und seither unzäh- len, z. B. in Kriegen, entlade. Ist uner- gewaltlosen Widerstandes sehr erfolg- lige Male als revolutionäre und frie- bittlicher Machtkampf das Gesetz des reich angewendet. Hier liegt ein Poten- densstiftende Kraft bewährt. Aber es Lebens? Ist das Gebot der Feindesliebe tial für den versöhnenden Umgang mit ist auch nüchtern zu realisieren, dass naiv und weltfremd? dies bei weitem nicht jedes Mal ge- Es lohnt sich, genauer auf den bib- lingt. So wurden beispielsweise am lischen Befund zu schauen: Der Ver- Platz des Himmlischen Friedens in Pe- such einer Entschärfung des Konfliktes Viele in der Kirche tun sich king 1989 über zweitausend Demonst- dadurch, dass man die Feindesliebe schwer, geistliche Macht ranten, die gewaltlos zum Widerstand nur als Hochethos für die religiösen radikal von der Freiheit her aufriefen, ermordet. Möglicherweise „Leistungssportler“ wie Mönche oder ist das Scheitern des gewaltfreien Wi- Heilige eingrenzt, ist unzureichend. zu denken. derstandes häufiger als der Erfolg. Joachim Gnilka bezeichnet das Gebot Auch der Widerstand der Geschwister der Feindesliebe als Kulmination der Scholl 1943 ist ein Beispiel des Schei- Ethik Jesu. Sie begegnet dem Feind Macht, das bisher in der Christlichen terns. Nicht jedoch der Wirkungs- nicht in der Form des aggressiven Sozialethik kaum systematisch er- losigkeit: Ohne das Blutzeugnis der Kräftemessens, sondern in der Bereit- schlossen ist. Gandhi hat die Methode Widerstandskämpfer gegen den Na- schaft zu Versöhnung, Gewaltverzicht des gewaltlosen Widerstandes zu einer tionalsozialismus wäre das Vertrauen und der Schonung. Die Gesinnung zivilgesellschaftlichen Strategie entfal- der Alliierten nach dem Zweiten Welt- der Feindesliebe bleibt jedoch nur so- tet. Sie durchbricht den Kreislauf der krieg, Deutschland als politisches Ge- lange moralisch qualifiziert, als sie sich Gewalt durch den konsequenten Ver- füge nicht zu zerschlagen, sondern von Resignation und passiv-wehrloser zicht auf bewaffnete Macht und lässt ihm beim Wiederaufbau zu helfen, Schicksalsergebenheit unterscheidet. so die Gewalt des Gegners als Unrecht kaum denkbar gewesen. Feindesliebe zielt auf Entfeindung und sichtbar werden. Ein positives Beispiel für die Macht Versöhnung. Sie entspringt einer eige- Gandhi war durchaus machtbe- des gewaltlosen Zeugnisses für die Ge- nen Art von Mut und Stärke. wusst: Er hat die Macht der Medien rechtigkeit sind die Dissidenten und zur debatte 1/2021 9
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN Märtyrer der ehemaligen Ostblock- rientierte Handeln in die Linie von o staaten, die mit ihrem Widerstand Hannah Arendt einordnen. Subsidiarität setzt auf einen Keimzellen für den Zusammenbruch Auch Guardini steht in dieser Tra- kommunikativen Machtbegriff, der totalitären Systeme geschaffen ha- dition: Für ihn ist Demut die „erlö- ben. So begründete Václav Havel sein sende Antwort auf das Problem der der diejenigen, die Hilfe freiwilliges Verbleiben im Land, das Macht, die das Christentum gibt“. brauchen, nicht dominiert. für ihn die Inkaufnahme jahrelanger „Gott selbst tritt in die Welt und wird Gefängnisaufenthalte bedeutete, mit Mensch. Jesu ganzes Dasein ist Über- dem Willen, von seinem Glauben an setzung der Macht in Demut.“ Demut mehrung von Machtressourcen der die Gerechtigkeit Zeugnis abzulegen. ist der Mut zu dienen. Die Grundbe- untergeordneten oder marginali- Die totalitären Machthaber fühlten wegung des christlichen Glaubens ist sierten Gesellschaftsmitglieder. Die sich davon provoziert und bedroht. nicht der Aufstieg des Menschen zu massive Machtasymmetrie in der Havel selbst spricht vom Sieg in den Macht und Herrschaft, sondern das Katholischen Kirche zugunsten der „Niederlagen mehrjährigen Gefäng- Herabsteigen Gottes zum Menschen Männer wird von vielen als ein Ver- nisses“ und vergleicht dies mit dem und den Abgründen des Daseins. De- stoß gegen Subsidiarität und Gerech- Sieg des Kreuzes. 1989 ist die fried- mut ist die erlösende Antwort auf das tigkeit empfunden. Auch die massive liche Revolution in den osteuropäi- Problem der Macht. Machtasymmetrie zwischen Kleri- schen Ländern gelungen. kern und Laien ist oft nicht durch Auch der Kampf gegen die Apart- Subsidiarität: Wegweiser für eine überlegene „auctoritas“ gedeckt. heid in Südafrika ist ein erfolgreiches Organisation der Macht als Dienst Subsidiarität zielt darauf, dass so- Beispiel für die Macht der Macht- Aus sozialethischer Sicht genügt es lidarische Hilfe nicht paternalistisch losen: Nelsen Mandela hat nach 27 nicht, auf die Tugend der Demut zu zur Erzeugung von Abhängigkeit und Jahren Gefängnis ganz ohne Verbit- verweisen, um den Missbrauch der damit zur Ausnutzung von Machtpo- terung die politische Versöhnung Macht zu bändigen. Es braucht auch sitionen genutzt wird. Sie setzt auf ei- zwischen Schwarzen und Weißen zu strukturelle Lösungen. Der wichtigste nen kommunikativen Machtbegriff, seinem zentralen politischen Ziel er- Weg hierzu ist Gewaltenteilung, das der diejenigen, die Hilfe brauchen, klärt. Dass der Weg zu einem wirk- heißt die wechselseitige Kontrolle nicht dominiert, sondern sie so un- lichen Neuanfang durch „healing of von Gesetzgebung, Rechtsprechung terstützt, dass ihre eigenen Potenziale memories“ und Gerechtigkeit gegen- und Verwaltung. Gewaltenteilung ist aktiviert werden. Sie ist Maßstab und ein Korrektiv gegen die Zentralisie- Weg eines freiheitszentrierten Ge- rung von Macht. Hilfreich hierfür ist brauchs der Macht. Mit dem Postulat auch das sozialethische Prinzip der einer „heilsamen Dezentralisierung“ Die Versöhnung zwischen Subsidiarität. Es ist ein wegweisen- hat Papst Franziskus eine zentrale ek- Schwarzen und Weißen war der Kompass gegen die Entmündi- klesiologische Umsetzung der Subsi- das zentrale politische Ziel gung der Vielen durch die Zentren diarität ins Gespräch gebracht. Sie der Macht. Es wird in der Kirche bis- versteht Katholizismus als „Einheit Nelsen Mandelas. her allerdings nur wenig und unvoll- in Vielfalt“ und Partizipation statt ständig rezipiert. Subsidiarität ist für Obrigkeitszentrierung. Subsidiari- die Kirche gerade aufgrund ihrer hi- tät versteht Amtsmacht konsequent über den Opfern ein langer und stei- erarchischen Struktur von besonde- als Dienst. niger Weg ist, sollte allerdings nicht rer Bedeutung. Sie zielt auf Einheit Die Einheit des polaren Spannun- vergessen werden. in Vielfalt, auf einen gesunden Plu- gefüges von Macht und Dienst kann Letztlich sind all diese Beispiele ralismus und schlanke Hierarchien. – so Guardini – nur dann geistig ge- nicht denkbar ohne Menschen, die Sie schützt Eigenverantwortung und lingen, wenn sie „durch die personale unter Einsatz ihres Lebens auf die Partizipation der untergeordne- Mitte geht“. Das braucht lebendige Kraft der Versöhnung und des kom- ten Einheiten. Subsidiarität zielt auf Aneignung, echte Überzeugung und munikativen Handelns setzen. Dies ein mündiges Christentum in einer inneres Einstehen auch für Leitungs- hat mit dem Kern der biblischen selbstbewussten Kirche. verantwortung. Ein verantwortlicher Überlieferung zu tun: Alle Propheten Subsidiaritätsprinzip ist ein Kom- Gebrauch der Macht wird jedoch nur haben aus der Position der Schwä- petenzanmaßungsverbot, das die dem gelingen, der sich stets ihrer che heraus für das Recht gekämpft. Intervention und Macht der über- Ambivalenz und Missbrauchsgefahr Dem biblisch fundierten Ethos des geordneten Instanzen auf das Maß bewusst ist und sich täglich neu da- gewaltlosen Widerstandes liegt ein begrenzt, das für die untergeord- rum müht, sie menschen- wie sach- kommunikatives Verständnis von neten Einheiten zur Erhöhung ih- gerecht auszuüben. Es geht um Macht Macht zugrunde. Das findet sich rer Handlungsfähigkeit hilfreich im Dienst der Sorge. Auch in dem aber keineswegs nur im Christen- ist. Macht wird in den Dienst der weltweiten Erstarken autoritärer Po- tum, sondern beispielsweise auch bei Befähigung zu möglichst eigen- litikmuster entfernen wir uns derzeit Laotse, wenn er formuliert, „Weich ständiger Problemlösung in den von diesem Ideal. besiegt hart“. Politiktheoretisch Dienst genommen. Subsidiarität lässt sich das auf Verständigung hin zielt auf Empowerment, also Ver- 10 zur debatte 1/2021
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN Menschlichkeit und Machtgefahr Überlegungen zu zwei Begriffen Romano Guardinis von Michael Seewald D as Thema „Macht“ ist theologisch und kirchen- dieser beiden epochalen politisch derzeit en vogue. Dafür gibt es gute Schwerpunkte. Das Selbst- Gründe. Man sollte jedoch nicht den Fehler verhältnis und das Gottes- begehen, die eigenen, zeitgenössischen Prob- verhältnis des Menschen lemstellungen einfach in die Vergangenheit hinein zu trans- adäquat miteinander in ponieren, um sich von Denkern Antworten zu erhoffen, die eine Vermittlung zu brin- andere Fragen in einem anderen Kontext stellten als wir gen, wäre für Guardini die dies heute tun. Die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger geistesgeschichtliche Auf- formuliert in ihrem Band zur Theorie der Ideengeschichte: gabe der Neuzeit gewesen „Je mehr historisiert, je mehr kontextualisiert, je mehr von – eine Aufgabe, der diese der jeweiligen Kultur abhängig, desto weniger unmittelbar jedoch nicht in zufrieden- handlungsrelevant ist vergangenes Denken für uns heute.“ stellender Weise nachge- (Barbara Stollberg-Rilinger, Was heißt Ideengeschichte?, in: kommen sei. Dies. [Hg.], Ideengeschichte, Stuttgart 2010, 8-42, hier: 42) Stattdessen habe die Man könnte sagen: Je mehr wir über Romano Guardini, Neuzeit „in einer bis dahin seine biografischen Prägungen und die zeitgeschichtlichen unbekannten Wirklich- Bedingungen seines Arbeitens wissen, desto weniger un- keitsnähe des Verstandes mittelbar können wir auf sein Denken in aktualisierender und der Technik nach der Weise zugreifen. Daraus folgt aber nicht, dass Guardini Welt“ gegriffen und sich Prof. Dr. Michael Seewald, Professor für kein interessanter Gesprächspartner wäre. Mittelbar, aus so „Macht über die Natur“ Dogmatik und Dogmengeschichte an der der respektvollen Beachtung einer historischen Distanz (97) angeeignet. „In im- Universität Münster heraus, die, obwohl es sich nur um wenige Jahrzehnte han- mer rascherem Vordrin- delt, beträchtlich ist, hat Guardini Anregendes für die Ge- gen nimmt der Mensch forschend, planend und technisch genwart zu bieten. Das gilt vor allem mit Blick auf seine gestaltend die Dinge in Besitz.“ (97) Dieses machtförmige Überlegungen zum Wesen der Macht. Verhältnis zur Natur ist für Guardini nicht grundsätzlich negativ. Man brauche nur an den Bereich der Medizin und I. ihrer Heilungsmöglichkeiten zu denken, um sich bewusst zu werden, wie sehr eine gewisse Herrschaft über die Natur Guardini entwickelte seine Theorie der Macht vor dem Hin- zum Wohl des Menschen eingesetzt werden könne. Den- tergrund einer bestimmten Philosophie der Geschichte, die noch steht Guardini dem selbstermächtigenden Zugriff des der triadischen Periodisierung in Antike, Mittelalter und Menschen auf seine Umwelt skeptisch gegenüber. In die- Neuzeit Themenschwerpunkte zuordnete, in denen Kunst ser Skepsis, die er nicht allein hegte, sondern die auch an- und Architektur, Dichtung und Philosophie, Praxis und dere seiner Zeitgenossen zum Ausdruck brachten – man Theorie, so Guardinis Idealvorstellung, übereingekommen denke nur an Horkheimers und Adornos Dialektik der Auf- seien. Die Antike klärung oder an die Technikkritik Heideggers –, erblickte habe sich vornehm- Guardini eine Epochenzäsur, die er unter dem Schlagwort lich für das „Bild Das Ende der Neuzeit verhandelte. „Die Neuzeit“, so seine Romano Guardini steht des wohlgeschaffe- These, „ist im Wesentlichen zu Ende gegangen.“ (97) Die dem selbstermächtigen- nen Menschen“ inte- Neuzeit habe „jede Zunahme an wissensmäßig-techni- den Zugriff des Menschen ressiert, während im scher Macht einfachhin als Gewinn empfunden; daß diese auf seine Umwelt skeptisch Mittelalter „die Be- ziehung zum über- stieg, hat ihr ohne weiteres Fortschritt zu entschiedenerer Sinn-Erfüllung und höherem Wertreichtum des Daseins be- gegenüber. weltlichen Gott“ im deutet. Die Sicherheit dieser Überzeugung ist erschüttert, Zentrum des Den- und ebendas zeigt den Beginn einer neuen Epoche an. […] kens gewesen sei (Ro- Die Macht ist uns fragwürdig geworden.“ (98) mano Guardini, Die Macht. Versuch einer Wegweisung, in: Ders., Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung II. – Die Macht. Versuch einer Wegweisung [Romano Guar- dini Werke], Mainz u. a. 1986, 97. Die folgenden Angaben in Guardinis Geschichtsphilosophie wirkt auf mich be- Klammern beziehen sich auf die Seitenzahlen dieser Ausgabe). fremdlich. Die grundsätzliche Diagnose aber, dass wir Trotz der Bewunderung, die Guardini für Antike und Mit- in einer Zeit leben, in der die Sensibilität für Machtge- telalter aufbrachte, sah er die Notwendigkeit einer Synthese brauch und Machtmissbrauch gestiegen ist, erscheint mir zur debatte 1/2021 11
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN nachvollziehbar und ungebrochen aktuell. Die von Guar- dem die zur Erreichung dieses Zwecks erforderlichen Mit- dini beschriebene Tendenz hat sich sogar noch verstärkt. tel handlungswirksam aufgeboten werden und sich auch Die Problematisierung der menschlichen Macht über die gegen Widerstände durchzusetzen vermögen. Diese Be- Natur gewinnt gegenwärtig in den Diskussionen um den stimmung enthält vier Aspekte. anthropogenen Klimawandel an Erstens: Macht ist an und für sich weder gut noch Dramatik. In bioethischen Kon- schlecht. Sie erhält ihre sittliche Qualität von dem Willen, Guardinis Problemati- texten wird die Frage gestellt, wie der Mensch mit der Dis- der die zu erreichenden Zwecke und die dafür aufgebotenen Mittel bestimmt. Zweitens: Die Fähigkeit zur Setzung von sierung der menschli- krepanz zwischen Können und Zwecken setzt eine reflexive Distanz zum durch Kausalitä- chen Macht über die Dürfen umgehen solle. Er kann, ten bestimmten Weltverlauf voraus. Wer sich einen Zweck etwa durch Eingriffe in geneti- setzt, will etwas erreichen, das nicht ebenso gut auch ohne Natur gewinnt heute sches Material, immer mehr – Zwecksetzungen eintreten würde. Diese Distanz zum Welt- an Dramatik. darf er aber auch tun, was er zu verlauf bezeichnet Guardini als „Geist“. Drittens: Der Geist tun vermag? Die Fragwürdigkeit erweist sich in dem Maße als mächtig, in dem er von ihm der Macht, wie Guardini sie be- gesteckten Zielen auch Handlungen folgen lassen kann, die schrieb, erstreckt sich ebenso auf den Bereich des Sozialen, als Mittel zur Erreichung dieser Ziele dienen. Diese Hand- in dem eine geordnete Machtausübung sich als Herrschaft lungen greifen in die Kausalität der Welt ein und lenken sie manifestiert. Dabei wird die Idee einer Herrschaft über die zweckmäßig um (oder versuchen es zumindest) hin zur Er- Natur insofern dekonstruiert, als die Kategorie des Natür- reichung des definierten Ziels. Viertens: Geist und Freiheit, lichen im gesellschaftlichen Kontext immer prekärer er- also die aus der re- scheint. Was ist schon eine natürliche Ordnung? Gibt es flexiven Weltdistanz überhaupt gottgegebene Ordnungen, seien sie nun in der erwachsende Fähig- Natur oder dem, was die Theologie Offenbarung nennt, keit des Menschen Für Guardini gehören hinterlegt? All dies sind Fragen, die Guardinis These einer zur Zwecksetzung Macht und Verantwortung grundsätzlichen Fragwürdigkeit der Macht plausibilisieren und die aus der ak- unlösbar zusammen. und radikalisieren. tiven Weltinvolviert- heit erwachsende Fähigkeit des Men- III. schen zur zweckorientierten Handlungssetzung, begründen Was genau versteht Guardini unter dem Begriff der Macht? Verantwortung. Der Mensch ist als Urheber seiner Zwecke Von Macht dürfe man nur sprechen, „wenn zwei Elemente und Definitor seiner Mittel verantwortlich für das, was er gegeben sind: Einmal reale Energien, die an der Wirk- erstrebt und tut. lichkeit der Dinge Veränderungen hervorbringen, ihre Für Guardini gehören Macht und Verantwortung unlös- Zustände und wechselseitigen Beziehungen bestimmen bar zusammen. „Es gibt keine nicht-verantwortete Macht. können. Dazu aber ein Bewußtsein, das ihrer inne ist; ein Es gibt die unverantwortete Naturenergie – richtiger gesagt, Wille, der Ziele setzt; ein Vermögen, welches die Kräfte auf die nicht im Bereich der Verantwortung, sondern in dem dieses Ziel hin in Bewegung bringt. Das alles setzt Geist vo- der Naturnotwendigkeit wirksame Energie; nicht gibt es die raus, jene Wirklichkeit im Menschen, die fähig ist, aus dem unverantwortete Menschenmacht.“ (103f.) Guardini spricht unmittelbaren Zusammenhang der Natur herauszutreten also nicht von naturhaften Mächten und Gewalten, sondern und in Freiheit über sie zu verfügen.“ (102) Etwas tech- von Macht als einem Geist, Freiheit und Verantwortung im- nischer und in meinen Worten ausgedrückt: Macht ist die plizierenden, spezifisch menschlichen Zugriff auf die als Na- Fähigkeit, einen selbst gesteckten Zweck zu erreichen, in- tur erlebte, aber auch auf die soziale Welt. Prof. Dr. Hans Otto Seitschek, apl. Professor für Philosophie an der Mariola Lewandowska von der Guardini Stiftung im Gespräch LMU München (li.), hatte die Moderation für einen Teil der Veranstal- mit Teilnehmern. tung übernommen. 12 zur debatte 1/2021
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN matisiert werden können. Bereits die Genesiserzählung deu- tet Guardini in diesem Sinne. In der „Machtbegabung, in der Fähigkeit, sie zu gebrauchen, und in der daraus erwachsen- den Herrschaft besteht die natürliche Gottebenbildlichkeit des Menschen. […] Der Mensch kann nicht Mensch sein und außerdem Macht üben oder es auch nicht tun; sondern sie zu üben ist ihm wesentlich.“ Anders gesagt: Geist, Frei- heit und Verantwortung sind dem Menschen nicht nur an- geboten, sondern auferlegt. Der Mensch wurde, so drückt es Guardini aus, von Gott mit Macht „belehnt“. Die Macht des Menschen ist daher lediglich eine Lehensmacht. „Er ist Herr von Gnaden, und soll seine Herrschaft in Verantwor- tung gegen Den ausüben, der Herr von Wesen ist.“ (112f.) Dr. Johannes Modesto, Postulator für die Seligsprechung, legte den In dieser Dualität – „Herr von Gnaden“ zur Bestimmung gegenwärtigen Stand im Verfahren dar. des Menschlichen und „Herr aus eigener Kraft“ als Inbegriff dessen, was Gott denn Gott sein lässt – bestimmt Guardini die Idee der Sünde. Sünde sei es, wenn der Mensch sich des Lehenscharakters seiner Macht zu entledigen versuche, um IV. – dem trügerischen eritis sicut Deus folgend – Herr aus eige- Was dieser menschliche Zugriff anrichten kann, musste Gu- ner Vollmacht und damit Beherrscher seiner Mitmenschen ardini in der Zeit des Nationalsozialismus erfahren. Im Jahr zu sein. Das Wirken der menschlichen Natur Christi wird 1939 wurden sowohl Burg Rothenfels geschlossen als auch demgegenüber soteriologisch von Guardini als Wiederher- Guardinis Lehrstuhl in Berlin aufgelöst. Die Begründung stellung verantworteter Macht durch die Rückverwandlung lautete, dass der Staat selbst eine Weltanschauung vertrete, von Herrschaft in Dienst verstanden. „Jesu ganzes Dasein ist neben der eine andere, etwa die katholische Weltanschau- Übersetzung der Macht in die Demut. Aktiv gesagt: in den ung (so die Denomination von Guardinis Lehrstuhl), nicht Gehorsam des Vaters […] Die Annahme der ‚Knechtsge- zulässig sei. Guardini, schreibt Hanna-Barbara Gerl-Falko- stalt‘ bedeutet aber nicht Schwäche, sondern Kraft.“ (122f.) vitz in ihrer Biografie des Gelehrten, habe, nachdem ihm Diese Kraft bleibe dort erfahrbar, wo in der Nachfolge Jesu die Auflösung seines Lehrstuhls mitgeteilt worden sei, vor Macht als Dienst wahrgenommen werde. dem Humboldt-Denkmal der damaligen Friedrich-Wil- helms-Universität zu Berlin gestanden und gesagt: „Wie VI. ist es menschenmöglich?“ – eine Frage, die angesichts von Guardinis Überlegungen über das spezifisch Menschli- Guardinis Ausführungen besitzen mittelbar etwas Aktu- che der Macht eine abgründige Tiefe gewinnt. Wie ist es elles. Traditionsgehalte des christlichen Glaubens, wie die menschenmöglich? Idee der Gottebenbildlichkeit, werden von ihm machtsen- Guardini vermochte offenbar in der Machtentfaltung sibel reinterpretiert. Es darf jedoch nicht aus dem Blick ge- des NS-Staates nichts Menschliches mehr zu erkennen, raten, dass Guardinis Ansatz auch Probleme aufweist. Zwei weil die Handlungsträger sich als – im be- seien exemplarisch benannt: die bereits schriebenen Sinne des Wortes – geistlos kritisch erwähnte Geschichtsphiloso- erwiesen und ihre Verantwortung hin- phie und die soeben skizzierte Dialektik ter einer bürokratischen Maschinerie zu 1939 wurden sowohl von Macht und Dienst, die für sich ge- verstecken suchten. Jenes Auseinander- Burg Rothenfels nommen zwar Richtiges zum Ausdruck driften von ausgeübter Macht und zu- geschlossen als auch bringt, aber manipulationsanfällig ist. rechenbarer Verantwortung bezeichnete Zunächst zur Philosophie der Ge- Guardini durch den Begriff der „Macht- Guardinis Lehrstuhl in schichte. Wenn man Guardini vorwerfen gefahr“. Machtgefahr sei dort vorhanden, Berlin aufgelöst. würde, dass seine Epochencharakterisie- wo „kein ansprechbarer Wille, keine ant- rung – der zufolge es in der Antike um wortende Person mehr steht, sondern die angemessene Deutung des Men- nur eine anonyme Organisation, in welcher jeder durch schen, im Mittelalter um das rechte Verhältnis zu Gott und benachbarte Instanzen geleitet, überwacht und dadurch – in der Neuzeit um die maximale Herrschaft über die Na- scheinbar – der Verantwortung enthoben ist. […] Dann tur gegangen sei – zu grob bleibe, könnte er dem vermut- nimmt die Macht einen Charakter an, der letztlich nur von lich zustimmen. Guardini betonte immer wieder, er wolle der Offenbarung her charakterisiert werden kann: sie wird nicht idealisieren und nicht generalisieren, sondern ledig- dämonisch.“ (106) lich Tendenzen benennen. Diese Tendenzen führen jedoch zu Epochenwertungen, die problematisch sind. Antike und Mittelalter dienen Guardini als positive Gegenfolien seiner V. vornehmlich negativ gefärbten Sicht der Neuzeit. Vorneu- Die christliche Offenbarung und ihre Tradierung im Glau- zeitliche Kulturen seien „dadurch charakterisiert, daß der ben der Kirche bieten für Guardini einen Raum, in dem Mensch das, was er theoretisch erkannte und handwerklich geglückte und missglückte Formen der Machtausübung the- vollbrachte, auch erleben konnte. zur debatte 1/2021 13
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