DIE MACHT Guardini-Tag 2020 - Katholische Akademie Bayern

Die Seite wird erstellt Damian Wunderlich
 
WEITER LESEN
DIE MACHT Guardini-Tag 2020 - Katholische Akademie Bayern
Jahrgang 51 | Heft 1/2021                                                 B 215 75 F

                              DIE MACHT
                              Guardini-Tag 2020

UKRAINE                „FRATELLI TUTTI“. WAS STEHT DRIN?     DER TRAUM
Die Orthodoxe Kirche   Kardinal Reinhard Marx, Anna Noweck   Unser nächtlicher Ausnahme-
vor einem Schisma?     und Markus Vogt zur Enzyklika         zustand in Kultur und Religion
DIE MACHT Guardini-Tag 2020 - Katholische Akademie Bayern
Inhalt der Printausgabe
Liebe Leserinnen und Leser,

dass Romano Guardini keine Berührungsängste                   DIE MACHT
zu zeitgenössischer Kunst und Kultur hatte, ist
bekannt. Ob ihm unsere Titelgrafik gefallen hätte,       4    Begrüßung und Einleitung
hingegen nicht. Die amerikanische Popart-Szene                Achim Budde
war gewiss nicht seine Welt. Dennoch regt
deren Spiel mit der Wahrnehmung zum Nach-                6    Ambivalenzen der Macht
                                                              Markus Vogt
denken an: über die Macht der Wiedergabe und
des Framings, über Reproduktion und Massen-
verbreitung, über Pop, Kult, Konsum und die
                                                        11    Menschlichkeit und Machtgefahr.
                                                              Überlegungen zu zwei Begriffen
Wirkmacht plakativ gefärbter Rezeption.                       Romano Guardinis
    Wir haben Guardini die Kennfarben unse-                   Michael Seewald
rer sechs Themen-Sparten verpasst. Und das
hat e­inen doppelten Sinn: Denn einerseits hat          15    Macht und Ethik – Im Dienst der
er als Universalgelehrter mit einer katholischen              Menschen: um einen verantwortlichen
– also auf das Ganze bezogenen – Perspektive                  Gebrauch der Macht
zu ­allen unseren „Segmenten“ etwas zu sagen.                 Michele Nicoletti
Und andererseits können umgekehrt Menschen
verschiedener fachlicher Ausrichtung ganz Unter-
schiedliches in ihm sehen.
    Er wird damit leben müssen, dass die Ikone Ro-            UKRAINE: DIE ORTHODOXE KIRCHE
mano Guardini seine historische Person zuweilen               VOR EINEM SCHISMA?
überfärbt. Das hat Weltruhm, und das hat auch
ein Seligsprechungsverfahren so an sich. Es ist eine    21    Begrüßung und Einleitung
                                                              Achim Budde
Facette kraftvoll überzeugender Ausstrahlung.
    Unser Auftrag – als Hüter seines literarischen
Œeuvres – ist es, Guardinis Gedanken Verbrei-
                                                        23    Zur Situation der Orthodoxen Kirche
                                                              in der Ukraine
tung, aber auch Vertiefung zu verschaffen, weil               Johannes Oeldemann
sein Denken uns auch Jahrzehnte nach seinem
leiblichen Tod Deutungen anbietet, um un-               28    Auf dem Weg zu einer offenen
sere Gegenwart zu verstehen. Die Tagung zur                   Orthodoxie
„Macht“ (vgl. S. 4–20 der Print- und S. 65–70                 Erzpriester Georgij Kovalenko
der Online-Ausgabe) hatte genau diesen Impe-
tus. Auch die Einrichtung einer Guardini-Studi-         31    Eine Bestandsaufnahme der Krise in
                                                              der ukrainischen Orthodoxie
enbibliothek (vgl. debatte 4/2020, S. 48) dient der
                                                              Sergii Bortnyk
Bergung ungehobener Schätze ins Heute. Unser
Grafiker hat übrigens gezielt sichtbar gemacht,
dass seine Bearbeitung nicht im Siebdruck, son-
                                                        34    Was bedeutet das Schisma für ein
                                                              dezentrales Verständnis von Einheit?
dern am Bildschirm entstanden ist: mit der Maus               Jennifer Wasmuth
gezogene Flächen mit Kanten, Überschneidungen
und Zwischenräumen … auch dies die Aktuali-
sierung eines Klassikers nach ca. 60 Jahren.
    In unserem Akademieprogramm eifern wir              36    EIN ABEND ZU PAUL CELAN
Guardini nach, indem wir das Ganze der Wirk-                  Kurzbericht mit Verweisen
lichkeit in den Blick nehmen und jeweils aus einer
kirchlich-theologischen Sicht zu deuten und wenn
möglich auch zu befruchten versuchen.
    Die Vielfalt der Wahrnehmungen gehört dazu.         37    ERNST ODER SPIEL?
                                                              Kurzbericht vom Digitalen Salon
Anregende Lektüre wünscht

PD Dr. Achim Budde,
Akademiedirektor

   Theologie | Kirche | Spiritualität      Geschichte    Naturwissenschaften | Medizin | Technik     Kunst | Kultur
DIE MACHT Guardini-Tag 2020 - Katholische Akademie Bayern
Online-Teil

              „FRATELLI TUTTI“. WAS STEHT DRIN?                                 Die folgenden Artikel sind nur in der Online-Ausgabe
                                                                                der Zeitschrift zur debatte enthalten, die Sie auf unserer
    38        „Fratelli tutti“. Zentrale Stellen                                Homepage finden und über unseren Newsletter abon-
              kommentiert                                                       nieren können (s. u.).
              Anna Noweck

                                                                                   DIE MACHT

    41        KIND SEIN IN ZEITEN VON CORONA                               65      Mächte und Gewalten.
              Kurzbericht mit Verweisen                                            Auseinandersetzung mit dem Phäno-
                                                                                   men der Macht
                                                                                   Jean Greisch

              EIN BAYER IN BOLLYWOOD

   42         Wenn Briefe Geschichte(n) erzählen: Karl                             UKRAINE: DIE ORTHODOXE KIRCHE
              Graf von Spretis Schreiben aus Indien                                VOR EINEM SCHISMA?
              Jörg Zedler
                                                                           71      Die Konsequenzen des Kirchen-
                                                                                   konflikts für die Ökumene – eine
                                                                                   katholische Perspektive
    50        PHILOSOPHIE SOIREE                                                   Bischof Gerhard Feige
              Kurzbericht
                                                                           74      Die Konsequenzen des Kirchen-
                                                                                   konflikts für die Ökumene – im
                                                                                   Hinblick auf die Diaspora
    51        THEOLOGISCHES TERZETT                                                Bischof Andrej Ćilerdžić
              Kurzbericht mit Verweisen

                                                                                   DER TRAUM: UNSER NÄCHTLICHER
    52        USA NACH DER WAHL                                                    AUSNAHMEZUSTAND
              Kurzbericht mit Verweisen
                                                                           77      Die biblische Josephsgeschichte und
                                                                                   ihre Rezeption in Thomas Manns
                                                                                   „Josephs“-Roman
              DER TRAUM: UNSER NÄCHTLICHER                                         Karl-Josef Kuschel
              AUSNAHMEZUSTAND
                                                                           86      Traumkritik in der Bibel
                                                                                   Martin Meiser
    53        Warum träumen? Eine Einführung
              Dominik Fröhlich

   54         Thomas Manns „Joseph“-Roman –

                                                                                !
              in einer Stunde!
              Dirk Heißerer                                                       29 Extra-Seiten
                                                                                        Die debatte erscheint ab sofort in zwei Va-
                                                                                        rianten: print und online. Die Online-Ausgabe
   58         COMMUNITY                                                                 ist bis Seite 64 identisch mit der Print-Ausgabe.
                                                                                        Ab Seite 65 folgen zusätzliche Artikel, die in
   64         Programmvorschau und Impressum                                            der gedruckten Fassung keinen Platz mehr fan-
                                                                                        den. Außerdem führen zahlreiche Links direkt
                                                                                  aus dem PDF zu Videos und Audios auf unseren
                                                                                  You-Tube-Kanälen und ergänzen so die Dokumen-
                                                                                  tation. Mehr zum Relaunch auf Seite 63. Abonnieren
                                                                                  Sie die Online-Ausgabe über den Newsletter der
                                                                                  Akademie! Über 4.000 Leser(innen) können jedes
                                                                                  neue Heft so bereits Wochen vor dem Papier-Versand
                                                                                  lesen oder bequem auf DIN A4 ausdrucken.

Gesellschaft | Wirtschaft | Politik    Philosophie | Humanwissenschaften            YouTube-VIDEO-Kanal               YouTube-AUDIO-Kanal
DIE MACHT Guardini-Tag 2020 - Katholische Akademie Bayern
Die Macht
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN

                                    Guardini-Tag 2020 in Verbindung mit der
                                    Guardini Stiftung Berlin

                                    Die Guardini Stiftung Berlin und die Katho-      verschieden Aspekte des Begriffs. Rund
                                    lische Akademie in Bayern befassten sich vom     150 Interessierte nahmen am Symposium
                                    30. Januar bis zum 1. Februar ausführlich mit    teil, dessen Titel der Schrift Die Macht
                                    dem Thema Macht. Beim Guardini-Tag, der          entlehnt ist, die Romano Guardini vor fast
                                    zum ersten Mal in Kooperation der beiden         70 Jahren verfasste.
                                    Institu­tionen stattfand und auch zum ersten
                                    Mal in München, analysierten Wissenschaftler

                                    Begrüßung und Einleitung
                                    von Achim Budde

                                    M
                                   eine sehr verehrten Damen und Herren, ich           zu sondieren. Gestern vor einem Jahr waren sie hier und
                                   begrüße Sie sehr herzlich heute Abend hier          boten mir an, ihren traditionellen Berliner Guardini-Tag
                                   im großen Saal der Katholischen Akade-              in diesem Jahr als Kooperationsveranstaltung durchzu-
                                   mie in Bayern, und der Blick in diesen Saal         führen – und zwar hier
                   löst dabei eine gewisse Rührung in mir aus. Dass rund               bei uns im München. Im
                   150 Personen zusammenkommen, um sich drei Tage                      April kam dann eine De- Gottes Macht ist nicht
                   lang mit Romano Guardini zu befassen, ist keine Selbst-             legation, der auch die wis-
                   verständlichkeit. Und ich werte das als eine gewisse Be-            senschaftlichen Mitarbeiter einfach Überbietung
                   stätigung für das Experiment, das wir heute wagen: Zwei             der Stiftung, Frau Dr. Patri- menschlicher Macht,
                                                       Einrichtungen, die dem          cia Löwe und Herr Andreas sondern immer auch
                                                       Erbe Guardinis verpflich-       Öhler, angehörten, um in
                                                                                       ­
                                                       tet sind, veranstalten zum      Zusammenarbeit mit unse- ein Gegenmodell.
                                                      ersten Mal gemeinsam eine        rem Studienleiter Stephan
                                                     ­solche Tagung!                   Höpfinger das Konzept zu
                                                          Als ich vor gut einem        dieser Tagung auszuarbeiten. Das erste, was ich heute Abend
                                                      Jahr mein Amt als Direk-         sagen möchte, ist ein großes Dankeschön an die Guardini
                                                      tor antrat, da gehörte es zu     Stiftung für diese Offenheit, dieses Entgegenkommen und
                                                      den ersten Kontaktaufnah-        die Initiative, unsere beiden Einrichtungen in Kontakt zu
                                                      men überhaupt, dass Prof.        bringen. Die Zusammenarbeit hat so reibungslos und er-
                                                      Michael Rutz und Frau            freulich funktioniert, dass man sich fast fragt, warum das
                                                      Mariola Lewandowska,             nicht immer schon so war.
                                                      Präsident und Geschäfts-             Thema unserer Tagung ist „die Macht“, ein Phänomen,
                                                      führerin der Berliner            das für die Geschicke der Menschheit von schlechterdings
                                                      ­Guardini Stiftung, mit dem      fundamentaler Bedeutung ist; ein Phänomen, das aber
                                                       Vorschlag an mich heran-        auch aus der religiösen Überlieferung nicht wegzudenken
                                                       traten, gemeinsam nach          ist − haben sich die Menschen doch Gott und seinen Hof-
                                                       München zu kommen, um           staat lange Zeit als Überbietung menschlicher (konkret: vor-
                                                       sich mir vorzustellen und       derorientalischer) Herrschaftsformen vorgestellt. In dessen
        PD Dr. Achim Budde, Direktor der Katho­        miteinander nach Mög-           Machtbereich einzutreten, verhieß auch konkrete Vorteile
        lischen Akademie in Bayern                     lichkeiten der Kooperation      im irdischen Machtkampf. Es hat in der Religionsgeschichte

        4                           zur debatte 1/2021
DIE MACHT Guardini-Tag 2020 - Katholische Akademie Bayern
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN

eine Weile gedauert, bis                                                                        dessen ­Lösung alles, nicht
Menschen zur Einsicht ge-                                                                       nur Wohlfahrt oder Not,
langten, dass Gottes Macht                                                                      sondern Leben oder Un-
im Kern nicht einfach eine                                                                      tergang abhängen wird,
Überbietung menschli-                                                                           ist die Macht. Nicht ihre
cher Macht sein kann, son-                                                                      Steigerung, die geht von
dern immer auch eine Art                                                                        selbst vor sich; wohl
„Gegenmodell“ zum oft                                                                           aber ihre Bändigung,
missbräuchlichen mensch-                                                                        ihr rechter Gebrauch.“
lichen Gebrauch der                                                                             (Das Ende der Neuzeit, 10.
Macht entwirft. Für uns                                                                         Aufl. 1986, S. 77)
Christen hat ­  dieser Ge-                                                                         Kann der Mensch im
danke in der Inkarnation                                                                        Gebrauch der Macht
und der Ohnmacht Christi                                                                        als Mensch bestehen?
am Kreuz ihren tiefsten
­                                                                                               Guardini formuliert seine
Ausdruck gefunden.                                                                              Hoffnung, er schreibt: „Es
   Es ist ein Grundphä-                                                                         geht die Hoffnung dar-
nomen       menschlichen                                                                        auf, ein neuer Menschen-
Daseins, mit dem sich                                                                           typus sei im Werden,­
Romano Guardini in                                                                              der den freigesetzten
seiner 1951 erschiene-                                                                          Mächten nicht verfällt,
nen Schrift „Die Macht.                                                                         sondern sie zu ordnen
Versuch einer Wegwei-                                                                           vermag. Der fähig ist, nicht
sung“ auseinandergesetzt                                                                        nur Macht auszuüben
hat. Für ihn ist Macht                                                                          über die Natur, sondern
eine anthropologische                                                                           auch Macht über seine
Konstante. Das Streben                                                                          eigene Macht; das heißt,
nach Macht bildet einen                                                                         sie dem Sinn des Men-
Grund­t rieb­ des mensch-                                                                       schenlebens und Men­       -
lichen Wesens. Machtaus- Das bekannteste Porträt von Romano Guardini: Es entstand im Jahr 1955, schenwerkes unterzuord­
übung ist Verwirklichung zwei Jahre vor Gründung der Katholischen Akademie in Bayern.           nen … soll nicht alles
der eigenen Person,                                                                             in Gewalt und Chaos zu
als Macht über die Natur ist sie Kern von Kultur. Al- Grunde gehen.“ (Die Macht, ­7. Auflage 1986, S. 168)
lerdings bewirkt die Ausübung von Macht immer                     So schrieb Romano Guardini vor fast 70
auch ein Bestimmt-Werden durch die Macht, und da- Jahren, und wir sind eingeladen, uns mit seinen Ana-
mit verbunden die Gefahr des Missbrauchs der Macht. lysen auseinanderzusetzen, auch um zu sehen, wo wir
Schon in seinem ein Jahr zuvor erschienenen Werk sie für unsere heutige Zeit fruchtbar machen kön-
„Das Ende der Neuzeit“ reflektierte Guardini die Di- nen. Jetzt wünsche ich also unserer Tagung einen gu-
mensionen dieser Gefahr. Er schrieb: „Das Kernprob- ten Verlauf, viele fruchtbringende Erkenntnisse
lem, um das die künftige Kulturarbeit kreisen, und von und interessante Gespräche.

 PRESSE                                      KNA                                      Münchner Kirchenzeitung
                                          31. Januar 2020. Einen veränderten       19. Januar 2020. Mit dem Thema
    Katholisch.de                         Umgang mit Macht in der katholi-         „Macht“ hat sich Romano Guardini
 31. Januar 2020. Interview-Frage an      schen Kirche fordert der Münch-          (1885–1968) mehrfach, vor allem in
 Professor Markus Vogt: Das Thema         ner Sozialethiker Markus Vogt.           seiner Schrift „Die Macht. Versuch
 Macht spielt auch eine entscheidende     Notwendig seien mehr Mitbestim-          einer Wegweisung“ (1951), auseinan-
 Rolle beim Synodalen Weg. Wie            mung von Laien auf allen Ebenen,         dergesetzt. Die damaligen Analysen
 blicken Sie auf die Reformdebatte?       eine Dezentralisierung und mehr          des Theologen und Religionsphiloso-
 Antwort: Das Thema Macht ver-            Gewicht für das von der katholi-         phen Guardini über die Macht zeigen
 bindet alle Themen, um die es da-        schen Kirche eingeforderte Prinzip       viele Bezüge zu heutigen Entwicklun-
 bei geht und bündelt sie: sexueller      der Subsidiarität, also eine Stär-       gen auf. So warnt er vor dem Typus
 Missbrauch, Geschlechtergerechtig-       kung der jeweils unteren Instanzen       Mensch, der aus dem Augenblick lebt,
 keit in der Kirche, Gefälle zwischen     gegenüber den höheren Ebenen der         einen beängstigenden Charakter be-
 Laien und Klerikern, der Umgang          Hierarchie, sagte der Professor für      liebiger Vertretbarkeit bekommt und
 mit Ämtern.                              Christliche Sozialethik.                 dem Zugriff der Macht bereitsteht.

                                                                                                       zur debatte 1/2021      5
DIE MACHT Guardini-Tag 2020 - Katholische Akademie Bayern
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN

       Ambivalenzen der Macht
        von Markus Vogt

        I. Zur Aktualität des Themas                  Aspekt der Macht ermöglicht eine ge-         geht es im Letzten nicht mehr um die
        Macht in Kirche und Gesellschaft              wisse Abstraktion und kann hilfreiche        Steigerung der Macht, [...], sondern

        D
                                                      Kriterien für ihre Bewältigung bereit-       um deren Bändigung. Den Sinnmit-
                    as Thema Macht ist der- stellen. Die bedrängende Frage lautet:                 telpunkt der Epoche wird die Aufgabe
                    zeit in Kirche und Ge- Ist die Kirche durch Sakralisierungen                   bilden, die Macht so einzuordnen, dass
                    sellschaft von besonderer der Macht für ihren Missbrauch be-                   der Mensch in ihrem Gebrauch als
                    Brisanz und ermöglicht sonders anfällig?                                       Mensch bestehen kann.“ Heute stehen
        einen fokussierten Blick auf zentrale             (b) Auch gesellschaftlich ist das        wir am Beginn eines Epochenwandels,
        Umbrüche und Debatten der Gegen- Machtproblem derzeit von besonde-
        wart. Drei Aspekte sind dabei beson- rer Bedeutung: Seit ca. zehn Jahren
        ders virulent.                                breiten sich autoritäre Regime und
           (a) Macht ist das Querschnitts- Herrschaftsformen zulasten der De-
                                                                                                   Autoritäre Regime und
        thema des Synodalen Weges. Es ist mokratien weltweit aus. Nicht selten                     Herrschaftsformen sind
        dasjenige, das die drei anderen Foren wird die Macht des Rechts durch das                  zulasten der Demokratien
        analytisch miteinander verbindet: Bei Recht der Macht ersetzt. Der „Neo-
        den Themenfeldern Sexualität/sexuel- realismus“ hat dies schon früh kom-
                                                                                                   auf dem Vormarsch.
        ler Missbrauch, priesterliche Existenz/ men sehen und den vermeintlich na-
        Verhältnis Kleriker und Laien, Frauen iven Idealismus kosmopolitischer
        in Diensten und Ämtern/Geschlech- Ethik ethisch-politisch kritisiert. Als                  dessen humanes Gelingen von einem
        tergerechtigkeit handelt es sich je- sozial-ethische Frage ergibt sich da-                 Paradigmenwechsel im Umgang mit
        weils um asymmetrische Machtgefälle. raus: Wie kann der nüchterne Blick                    der Macht abhängt. In diesem Sinne
        Diese haben zu Gewalt, Exklusion für die Härte gegenwärtiger und künf-                     postuliert Papst Franziskus (der stark
        oder mangelnder Partizipationsmög- tig zu erwartender Machtkonflikte in                    von Guardini geprägt ist) eine „kul-
        lichkeit geführt bzw. werden als Ursa- der Weltpolitik mit dem Aufrechter-                 turelle Revolution“ und schlägt als
        che dafür vermutet. Die Analyse der halten moralischer Standards inter-                    Kompass hierfür das Konzept der
        Problemzusammenhänge unter dem nationaler Kooperation, Fairness und                        „ganzheitlichen Ökologie“ vor.
                                                                      Friedenssicherung ver-
                                                                      knüpft werden?
                                                                                                   II. Ambivalenzen der Macht
                                                                         (c) Ein dritter As-
                                                                      pekt der besonderen          Leitthese meiner Ausführungen ist,
                                                                      Aktualität des The-          dass eine Bändigung der Macht nur
                                                                      mas ergibt sich aus der      gelingen kann, wenn man ihre Ambi-
                                                                      ökologischen Diagnose        valenzen im Blick hat, also sowohl ihre
                                                                      der Gegenwart: Die Ex-       negativen wie ihre positiven Seiten. Oft
                                                                      pansion der Macht des        wird die konstruktive Seite der Macht
                                                                      Menschen über die Na-        vergessen: Medial geprägt durch Nega-
                                                                      tur war in den vergan-       tivschlagzeilen von Machtmissbrauch,
                                                                      genen Jahrhunderten          Gewalt und Korruption, übersehen
                                                                      und Jahrzehnten so er-       wir, dass unser Alltag ebenso von zahl-
                                                                      folgreich, dass sie in ihr   losen Beispielen positiver Machtaus-
                                                                      Gegenteil umzukippen         übung geprägt ist: Sie ermöglicht und
                                                                      droht. Der Klimawan-         strukturiert das gesellschaftliche Zu-
                                                                      del veranschaulicht          sammenleben. Ohne Macht ist kein
                                                                      dies besonders bedrän-       Handeln möglich. Jeder, der ein Amt
                                                                      gend. Guardinis Diag-        innehat, übt Macht aus.
                                                                      nose vom Ende der               Um es mit Guardinis Gegensatz-
                                                                      Neuzeit scheint sich         lehre zu sagen: Leben spielt sich stets
                                                                      hier in einer Weise zu       im Spannungsgefüge von Macht und
                                                                      bestätigen, die er selbst    Ohnmacht, im Wechselspiel von herr-
                                                                      so radikal vermutlich        schen und beherrscht werden, ab.
                                                                      nicht geahnt hat. Je-        Macht ist ein konstitutiver Teil des Le-
                                                                      denfalls ist seine These     bendig-Konkreten. Wer nur ihre Zerr-
        Dieses gezeichnete Porträt Romano Guardinis fertigte          aktueller denn je: „Für      bilder wahrnimmt, hat vom Leben
        Hans Jürgen Kallmann an.                                      die kommende Epoche          ebenso wenig begriffen wie derjenige,

6       zur debatte 1/2021
DIE MACHT Guardini-Tag 2020 - Katholische Akademie Bayern
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN

   der Machtkonflikte idealisierend über-                                                    oppressiver Macht nicht den Blick für
   sieht. Macht ist Potenzial und Gefähr-                                                    ihre positive Seite als einem integralen
   dung zugleich. Macht ist ambivalent.                                                      Bestandteil von Handlungsfähigkeit
   Es gilt, ihre Janusköpfigkeit zu entzif-                                                  zu verstellen. Erst die Idee einer legi-
   fern, ihr Gesicht der Stärke und Hand-                                                    timen und verantwortlichen Hand-
   lungsmacht, aber auch ihr Gesicht von                                                     habung von Macht verleiht der Kritik
   Gewalt und Missbrauch. Nur wer die                                                        ihre Kontur. Der Titel meines Vortrags
   Ambivalenzen der Macht kennt, kann                                                        „Ambivalenzen der Macht“ zielt auf
   ihre Schattenseiten bändigen. Die Pa-                                                     die Gleichzeitigkeit von konstruktiver
   role der anarchistischen Punkband                                                         und kritischer Perspektive.
   Ton Steine Scherben „Keine Macht für
   niemand“ ist also nicht das Motto, dem                                                    Die philosophische Entdeckung
   ich folge. Denn man braucht Macht,                                                        der Macht
   um die Macht zu bändigen.                                                                 Die Macht als philosophisches Prob-
                                                                                             lem ist eine sophistische Entdeckung.
                                                                                             In Platons Dialogen äußert der Sophist
   III. Begriffsbestimmung
                                                                                             Trasymmachos die These, dass gerecht
   Ein relationaler und handlungs­                                                           sei, was den Mächtigen nutzt. Platon
   bezogener Begriff                            Prof. Dr. Markus Vogt, Professor für         setzt dagegen, dass die Macht ihrem
   Macht ist ein relationaler Begriff: Sie      Christliche Sozialethik an der LMU München   Wesen nach vernunftbestimmt sei.
   ist an die Beziehung zwischen der                                                         Der alte Streit kehrt in der Geschichte
   „Quelle“ (der machtausübenden Per-           setzt – so Guardini – einen Willen vor-      in vielfältigen Neuauflagen immer
   son) und dem „Ziel“ gebunden. Ei-            aus, der Ziele setzt. Zu ihr gehört Sinn-    wieder, so z. B. bei Machiavelli, dessen
   nige Autoren unterscheiden zwischen          gebung. Von daher ist der Begriff nicht      Position derjenigen der Sophisten äh-
   Macht und Einfluss. Macht wird meist         sinnvoll auf Naturgewalten anwend-           nelt, oder gegenwärtig bei den Neore-
   als Potential, beabsichtigte Wirkungen       bar. Macht ist ein spezifisch mensch-        alisten, deren Deutung der Politik als
   zu erzielen, gesehen. Einfluss ist dann      liches Phänomen.                             Ränkespiel der Macht nach dem Mus-
   die Aktualisierung der Macht. Sie ist           Macht prägt soziale Gemeinschaften        ter einer self fulfilling prophecy zugleich
   ein Relationsgefüge, das Akteuren bzw.       und ordnet das Zusammenleben. Dabei          zur Ursache dafür wird.
   Systemen einen Dispositionsspielraum         können die Formen, in denen Macht
   gibt, auf andere sowie auf Prozesse          ausgeübt wird, ganz unterschied-
   Einfluss auszuüben.                          lich sein. Macht ist Bestandteil aller
      Etymologisch ist Macht ein auf            menschlichen Beziehungen, prägt un-
                                                                                             Aristoteles grenzt die
   Handlungsfähigkeit bezogener und             seren Alltag, strukturiert unser Zusam-      Herrschaft von Freien
   damit positiv besetzter Begriff (der         menleben, verleiht Handlungsfähigkeit        über andere Freie von der
   deutsche Begriff leitet sich ab vom go-      oder führt zu Abhängigkeiten. Jeder, der
   tischen magan, können, mögen, ver-           Macht besitzt, muss mit ihr umgehen
                                                                                             Sklaverei ab.
   mögen). Von diesem Wortfeld her              können und Entscheidungen treffen.
   meint Macht also wesentlich ein Ver-            Gerade weil die wechselseitige Be-
   mögen, eine Potenz oder die Fähigkeit,       einflussung von Menschen allgegen-              Aristoteles entwickelt als erster eine
   ein gesetztes Ziel zu erreichen. Alltags-    wärtig ist, bergen Reflexionen zum           politische Theorie der Herrschaft (ar-
   sprachlich wird Macht oft ähnlich ver-       Begriff der Macht die Gefahr, in einer       ché). Er definiert diese als Herrschaft
   wendet wie Kraft, Stärke, Autorität          unbestimmten Weite zu zerfasern und          von Freien über Freie und grenzt sie
   oder auch Befugnis, Vollmacht, Herr-         auszufransen. Deshalb gewinnt der            von der Sklaverei ab. Dadurch wird
   schaft, Einfluss, Gewalt. Sie ist das Ver-   Begriff nur dann eine wissenschaftli-        die Fähigkeit, im Diskurs Zustim-
   mögen einer Person oder Gruppe, ihre         che Kontur und Aussagekraft, wenn            mung zu erringen, zum entscheiden-
   Ziele gegen Widerstände durchzuset-          er als Konfliktbegriff verstanden wird:      den Mittel der Macht. Diese ist nicht
   zen, etwa äußere Umstände, den Wil-          Macht wird dann zum Thema, wenn              mehr oppressiv konstituiert, sondern
   len Dritter oder Widerstände in der          der Einfluss einer Person oder Insti-        konsensual.
   eigenen Person.                              tution als ungerecht empfunden wird.            Cicero unterscheidet zwischen po-
      Eine hierzu passende recht präg-          Machtprobleme haben in der Regel mit         testas im Sinne der Amtsgewalt und
   nante Definition der Macht bietet Gu-        Kompetenzüberschreitungen in asym-           auctoritas im Sinne personaler Auto-
   ardini, wenn er diese als die Fähigkeit,     metrischen Beziehungen zu tun: Eine          rität. In seinem Lebensbericht schreibt
   Realität zu bewegen, beschreibt. Sie         Seite nutzt ihre Überlegenheit, um an-       er, dass er trotz gleicher Amtsgewalt
                                                dere zu unterdrücken.                        alle Kollegen an Ansehen (auctoritas)
                                                   Die Kunst einer angemessenen              weit übertroffen habe. Daran knüpft
                                                Handhabung des Begriffs als Analy-           später die Unterscheidung zwischen
Macht ist ein konstitutiver Teil                seinstrument für soziale Beziehungen         weltlicher Macht und geistlicher Macht
des Lebendig-Konkreten.                         besteht jedoch darin, in der Ausein-         an, wobei letztere in der Tradition der
                                                andersetzung mit den Problemen von           auctoritas verstanden wird.

                                                                                                                   zur debatte 1/2021      7
DIE MACHT Guardini-Tag 2020 - Katholische Akademie Bayern
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN

        Die beiden Veranstalter des Guardini-Tags: PD Dr. Achim Budde,         Das Team der Guardini Stiftung: Kuratorin Frizzi Krella, Pressereferent An-
        Direktor der Katholischen Akademie in Bayern (li.), und Professor      dreas Öhler, Dr. Patricia Löwe, wiss. Referentin, Geschäftsführerin Mariola
        Michael Rutz, Präsident der Guardini Stiftung, Berlin.                 Lewandowska und Sylwester Lewandowski, Personal u. Finanzen (v. l. n. r.).

        Glaube im Zeichen des                             tung, sondern Folge der Sünde. In der          ste Typus der legalen Herrschaft ist für
        Macht-Ohnmacht-Gefälles                           Politischen Theologie hat es allerdings        Max Weber die Bürokratie, die ihre
        Religion ist nach Schleiermacher das              sehr lange gedauert, bis man sich kon-         behördlichen Vertreter – oft Beamte
        Bewusstsein, von einer höheren Macht              sequent von dem Modell der Berufung            – durch Wahl oder Berufung einsetzt.
        abhängig zu sein. Demnach hat Theo-               auf Gott als Legitimation menschlicher
        logie zentral mit dem Thema Macht                 bzw. kirchlicher oder politischer Herr-        Macht durch kommunikatives
        zu tun. Der Übermächtigkeit Gottes                schaft verabschiedet hat. Viele tun sich       Handeln
        bzw. der Götter entspricht auf Seiten             bis heute schwer, geistliche Macht ra-         Ein Machtverständnis, das sich deut-
        des Menschen als Kreatur das Ge-                  dikal von der Freiheit her zu denken.          lich von Max Webers Konzept der Un-
        fühl der Abhängigkeit. Im Glauben                                                                terwerfung unter den eigenen Willen
        sind Menschen mit einer Macht kon-                Macht als Fähigkeit, andere dem                unterscheidet, hat Hannah Arendt
        frontiert, die sie einerseits überschrei-         eigenen Willen zu unterwerfen                  entwickelt. Für sie ist Macht etwas,
        tet, die sie andererseits als den Grund           Max Weber hat die Analyse sich histo-          das in Kommunikation und Verstän-
        ihrer eigenen Existenz und damit als              risch wandelnder Konstellationen von           digung entsteht. So geschieht es in der
        schöpferische Lebensmacht erfahren.               Macht als soziologische Methode er-            Demokratie, wo Menschen einer Idee
        Religionen ermächtigen, indem sie an              schlossen. Er definiert Macht als Mög-         folgen, weil sie gemeinsam von dieser
        den Grenzen des Lebens sinnstiftende              lichkeit, andere dem eigenen Willen            Idee überzeugt sind. Um diese Idee
        Deutungsmodelle bereitstellen. Diese              zu unterwerfen. Dabei geht er von ei-          durchzusetzen, wählen sie Vertreter,
        Ermächtigung geschieht aber immer                 nem teleologischen Handlungsmodell             die für eine bestimmte Zeit ihre In-
        im gleichzeitigen Bewusstsein der ei-             aus: Ein einzelnes Subjekt oder eine           teressen repräsentieren. Arendt geht
        genen Ohnmacht. Gottesfürchtige                   Gruppe hat sich einen Zweck gesetzt            von einem kommunikativen Hand-
        Anerkennung der überlegenen Macht                 und wählt geeignete Mittel, um ihn zu          lungsmodell aus: „Macht entspringt
        Gottes gilt der Bibel als Basis der Weis-         realisieren. Soweit der Handlungser-           der menschlichen Fähigkeit, nicht nur
        heit. Zugleich ist sie Grundlage der              folg vom Verhalten eines anderen Sub-          zu handeln oder etwas zu tun, sondern
        Freiheit, da die Bindung an das Un-               jektes abhängt, muss der Akteur über           sich mit anderen zusammenzuschlie-
        endliche Freiheit gegenüber dem End-              Mittel verfügen, die den anderen zum           ßen und im Einvernehmen mit ihnen
        lichen schafft.                                   gewünschten Verhalten veranlassen.             zu handeln.“ Das Grundphänomen
           Die Gläubigen suchen Anteil an                 Macht ist die Verfügungsgewalt über            der Macht ist nicht die Instrumentali-
        der göttlichen Macht zu gewinnen. In-             Mittel, den Willen eines anderen zu            sierung eines fremden Willens für ei-
        sofern die Kirche Vermittler zwischen             beeinflussen.                                  gene Zwecke, sondern die Formierung
        Mensch und Gott ist, geht diese Macht                In seiner historischen Analyse der          eines gemeinsamen Willens in einer
        auf sie über. Geistliche Autorität ist das        Transformation von Herrschaftsver-             auf Verständigung gerichteten Kom-
        Handeln in der Vollmacht Gottes, nicht            hältnissen unterscheidet Weber zwi-            munikation. Die Mobilisierung von
        als Machtgewinn über Menschen, son-               schen der Legitimation von Macht               Zustimmung erzeugt die Macht, die
        dern in der Achtung ihrer Freiheit als            durch Tradition, durch Charisma oder           gesellschaftlich in bindende Entschei-
        Erhöhung ihrer Eigenständigkeit,                  durch formale Verfahren. Charismati-           dungen transformiert wird.
        Selbstwirksamkeit und Liebesfähig-                sche Herrschaft ist durch persönliche             Versucht man aus der hier nur
        keit. Augustinus postuliert, dass der             Kompetenz legitimiert. Im Feudalis-            sehr knapp skizzierten Begriffsge-
        Mensch nach Gottes Willen eigentlich              mus wurde sie traditionell als gottge-         schichte ein Resümee zu ziehen und
        niemals über den Menschen herrschen               geben betrachtet. In der Neuzeit gilt          einen Bezug zu Guardini herzustel-
        solle (non hominem homini dominari).              sie als sozial bedingt und damit hin-          len, sticht als prägendes Element das
        Sklaverei sei keine natürliche Einrich-           terfragbar und veränderbar. Der rein-          polare Spannungsgefüge zwischen

8       zur debatte 1/2021
DIE MACHT Guardini-Tag 2020 - Katholische Akademie Bayern
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN

idealistischen und realistischen Zu-             Das aus der Tiefe christlichen Glau-    entdeckt und zu nutzen gewusst, in-
gängen ins Auge: Macht durch kom-            bens erwachsende Ethos der Gewalt-          dem er durch Bilder und Zeitungs-
munikatives Handeln versus die               losigkeit meint „eine aktiv-wandelnde,      berichte von der rohen Gewalt der
Macht durch Gewalt oder formale              das Böse des Menschen in seiner Wur-        Besatzungsmacht gegen ihn und seine
Legitimation; die Macht lieben-              zel angreifende und überwindende            Mitkämpfer gezielt das Rechtsbewusst-
der Hingabe versus Kampf in harten           Kraft.“ Bedingung für die Vereinbar-        sein der Briten ansprach. Gandhi war
Machtkonflikten; das paradoxe Inei-          keit von kämpferischer und gewaltlo-        kämpferisch, aber nicht im Vertrauen
nander von Macht und Ohnmacht als            ser Gesinnung ist die Bereitschaft, dem     auf die Macht der rohen Gewalt, son-
ein Kern der christlichen und viel-          Unrecht nicht auf Kosten anderer aus-       dern im Vertrauen auf die überlegene
leicht jeder Gotteserfahrung. Dies           zuweichen, sich nicht mit den Herr-         Macht des Rechts und des Normbe-
kommt Guardinis Konzeption po-               schenden, sondern mit den Leidenden         wusstseins. Man kann dies dem Po-
larer Spannungsgegensätze als einer          zu solidarisieren. Historische Beispiele    litikverständnis von Hannah Arendt
Grundstruktur des Lebendig-Kon-              hierfür sind die sozialen Kämpfe von        zuordnen: Macht durch kommunika-
kreten entgegen. So erstaunt es nicht,       Mahatma Gandhi, Martin Luther King          tive Verständigung.
dass das Thema Macht für sein Den-           und Berta von Suttner. Auch die Ge-             Gandhi und seine Mitkämpfer wa-
ken eine Schlüsselbedeutung hat.             schwister Scholl sind ein leuchtendes       ren bereit, den Preis auf dem Weg
                                             Beispiel für die Macht der Machtlosen,      dorthin zu zahlen und sich lieber nie-
                                             die letztlich auch durch ihre Hinrich-      derknüppeln zu lassen, als zu Waffen
IV. Die Macht der Machtlosen
                                             tung nicht gebrochen werden konnte.         zu greifen. Letztlich waren sie erfolg-
Feindesliebe als weltfremde Igno-            Bis in die Gegenwart erleiden zahllose      reich. Sie haben das Gewissen der Be-
ranz gegenüber Machtkonflikten?              christliche Märtyrer lieber den Tod, als    satzungsmacht und der Öffentlichkeit
Für Friedrich Nietzsche ist Feindes-         sich durch Verleugnung ihres Glaubens       herausgefordert und dabei mit gro-
liebe ein Ausdruck von Schwäche              der Macht zu beugen. Auch wenn dies         ßem Geschick strategisch die Medien-
und feiger Konfliktvermeidung. Sie           oft vergeblich und sinnlos erscheint,       berichte und -bilder genutzt. Das war
zu postulieren widerspreche dem Ge-          ist das Martyrium um des Glaubens an        keine feige Unterordnung, sondern ein
setz des Lebens, in dem sich der Stär-       Freiheit und Gerechtigkeit willen doch      unbeugsamer Mut innerer Freiheit und
kere durchsetzt, was zwar oft hart und       eine Form des geistigen Widerstandes,       Friedensbereitschaft im konsequenten
grausam sei, aber am Ende der evo-           der in seiner Bedeutung nicht unter-        Vertrauen auf die Macht des Rechts.
lutionären Höherentwicklung diene.           schätzt werden sollte.                          Wer sich im gewaltlosen Kampf der
Sigmund Freud greift dies auf und                                                        Macht des Feindes ausliefert, braucht
kommt in seinen psychologischen              Strategien des gewaltlosen                  ein Höchstmaß an Mut. Er oder sie
Analysen zu dem Schluss, dass die            Widerstandes                                muss mit Grausamkeit, Folter und Ge-
durch Moralgebote unterdrückte Ag-           Inspiriert u. a. von der Bergpredigt        fangenschaft rechnen. Die Methode
gression sich nicht selten unbewusst         hat Mahatma Gandhi diese Macht der          des gewaltlosen Widerstandes hat sich
und unkontrolliert an anderen Stel-          Machtlosen mit seiner Strategie des         jedoch in Indien und seither unzäh-
len, z. B. in Kriegen, entlade. Ist uner-    gewaltlosen Widerstandes sehr erfolg-       lige Male als revolutionäre und frie-
bittlicher Machtkampf das Gesetz des         reich angewendet. Hier liegt ein Poten-     densstiftende Kraft bewährt. Aber es
Lebens? Ist das Gebot der Feindesliebe       tial für den versöhnenden Umgang mit        ist auch nüchtern zu realisieren, dass
naiv und weltfremd?                                                                      dies bei weitem nicht jedes Mal ge-
    Es lohnt sich, genauer auf den bib-                                                  lingt. So wurden beispielsweise am
lischen Befund zu schauen: Der Ver-                                                      Platz des Himmlischen Friedens in Pe-
such einer Entschärfung des Konfliktes
                                             Viele in der Kirche tun sich                king 1989 über zweitausend Demonst-
dadurch, dass man die Feindesliebe           schwer, geistliche Macht                    ranten, die gewaltlos zum Widerstand
nur als Hochethos für die religiösen         radikal von der Freiheit her                aufriefen, ermordet. Möglicherweise
„Leistungssportler“ wie Mönche oder                                                      ist das Scheitern des gewaltfreien Wi-
Heilige eingrenzt, ist unzureichend.
                                             zu denken.                                  derstandes häufiger als der Erfolg.
Joachim Gnilka bezeichnet das Gebot                                                      Auch der Widerstand der Geschwister
der Feindesliebe als Kulmination der                                                     Scholl 1943 ist ein Beispiel des Schei-
Ethik Jesu. Sie begegnet dem Feind           Macht, das bisher in der Christlichen       terns. Nicht jedoch der Wirkungs-
nicht in der Form des aggressiven            Sozialethik kaum systematisch er-           losigkeit: Ohne das Blutzeugnis der
Kräftemessens, sondern in der Bereit-        schlossen ist. Gandhi hat die Methode       Widerstandskämpfer gegen den Na-
schaft zu Versöhnung, Gewaltverzicht         des gewaltlosen Widerstandes zu einer       tionalsozialismus wäre das Vertrauen
und der Schonung. Die Gesinnung              zivilgesellschaftlichen Strategie entfal-   der Alliierten nach dem Zweiten Welt-
der Feindesliebe bleibt jedoch nur so-       tet. Sie durchbricht den Kreislauf der      krieg, Deutschland als politisches Ge-
lange moralisch qualifiziert, als sie sich   Gewalt durch den konsequenten Ver-          füge nicht zu zerschlagen, sondern
von Resignation und passiv-wehrloser         zicht auf bewaffnete Macht und lässt        ihm beim Wiederaufbau zu helfen,
Schicksalsergebenheit unterscheidet.         so die Gewalt des Gegners als Unrecht       kaum denkbar gewesen.
Feindesliebe zielt auf Entfeindung und       sichtbar werden.                                Ein positives Beispiel für die Macht
Versöhnung. Sie entspringt einer eige-          Gandhi war durchaus machtbe-             des gewaltlosen Zeugnisses für die Ge-
nen Art von Mut und Stärke.                  wusst: Er hat die Macht der Medien          rechtigkeit sind die Dissidenten und

                                                                                                              zur debatte 1/2021    9
DIE MACHT Guardini-Tag 2020 - Katholische Akademie Bayern
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN

        Märtyrer der ehemaligen Ostblock-         ­ rientierte Handeln in die Linie von
                                                  o
        staaten, die mit ihrem Widerstand         Hannah Arendt einordnen.                   Subsidiarität setzt auf einen
        Keimzellen für den Zusammenbruch              Auch Guardini steht in dieser Tra-     kommunikativen Machtbegriff,
        der totalitären Systeme geschaffen ha-    dition: Für ihn ist Demut die „erlö-
        ben. So begründete Václav Havel sein      sende Antwort auf das Problem der          der diejenigen, die Hilfe
        freiwilliges Verbleiben im Land, das      Macht, die das Christentum gibt“.          brauchen, nicht dominiert.
        für ihn die Inkaufnahme jahrelanger       „Gott selbst tritt in die Welt und wird
        Gefängnisaufenthalte bedeutete, mit       Mensch. Jesu ganzes Dasein ist Über-
        dem Willen, von seinem Glauben an         setzung der Macht in Demut.“ Demut         mehrung von Machtressourcen der
        die Gerechtigkeit Zeugnis abzulegen.      ist der Mut zu dienen. Die Grundbe-        untergeordneten oder marginali-
        Die totalitären Machthaber fühlten        wegung des christlichen Glaubens ist       sierten Gesellschaftsmitglieder. Die
        sich davon provoziert und bedroht.        nicht der Aufstieg des Menschen zu         massive Machtasymmetrie in der
        Havel selbst spricht vom Sieg in den      Macht und Herrschaft, sondern das          Katholischen Kirche zugunsten der
        „Niederlagen mehrjährigen Gefäng-         Herabsteigen Gottes zum Menschen           Männer wird von vielen als ein Ver-
        nisses“ und vergleicht dies mit dem       und den Abgründen des Daseins. De-         stoß gegen Subsidiarität und Gerech-
        Sieg des Kreuzes. 1989 ist die fried-     mut ist die erlösende Antwort auf das      tigkeit empfunden. Auch die massive
        liche Revolution in den osteuropäi-       Problem der Macht.                         Machtasymmetrie zwischen Kleri-
        schen Ländern gelungen.                                                              kern und Laien ist oft nicht durch
           Auch der Kampf gegen die Apart-        Subsidiarität: Wegweiser für eine          überlegene „auctoritas“ gedeckt.
        heid in Südafrika ist ein erfolgreiches   Organisation der Macht als Dienst              Subsidiarität zielt darauf, dass so-
        Beispiel für die Macht der Macht-         Aus sozialethischer Sicht genügt es        lidarische Hilfe nicht paternalistisch
        losen: Nelsen Mandela hat nach 27         nicht, auf die Tugend der Demut zu         zur Erzeugung von Abhängigkeit und
        Jahren Gefängnis ganz ohne Verbit-        verweisen, um den Missbrauch der           damit zur Ausnutzung von Machtpo-
        terung die politische Versöhnung          Macht zu bändigen. Es braucht auch         sitionen genutzt wird. Sie setzt auf ei-
        zwischen Schwarzen und Weißen zu          strukturelle Lösungen. Der wichtigste      nen kommunikativen Machtbegriff,
        seinem zentralen politischen Ziel er-     Weg hierzu ist Gewaltenteilung, das        der diejenigen, die Hilfe brauchen,
        klärt. Dass der Weg zu einem wirk-        heißt die wechselseitige Kontrolle         nicht dominiert, sondern sie so un-
        lichen Neuanfang durch „healing of        von Gesetzgebung, Rechtsprechung           terstützt, dass ihre eigenen Potenziale
        memories“ und Gerechtigkeit gegen-        und Verwaltung. Gewaltenteilung ist        aktiviert werden. Sie ist Maßstab und
                                                  ein Korrektiv gegen die Zentralisie-       Weg eines freiheitszentrierten Ge-
                                                  rung von Macht. Hilfreich hierfür ist      brauchs der Macht. Mit dem Postulat
                                                  auch das sozialethische Prinzip der        einer „heilsamen Dezentralisierung“
        Die Versöhnung zwischen                   Subsidiarität. Es ist ein wegweisen-       hat Papst Franziskus eine zentrale ek-
        Schwarzen und Weißen war                  der Kompass gegen die Entmündi-            klesiologische Umsetzung der Subsi-
        das zentrale politische Ziel              gung der Vielen durch die Zentren          diarität ins Gespräch gebracht. Sie
                                                  der Macht. Es wird in der Kirche bis-      versteht Katholizismus als „Einheit
        Nelsen Mandelas.                          her allerdings nur wenig und unvoll-       in Vielfalt“ und Partizipation statt
                                                  ständig rezipiert. Subsidiarität ist für   Obrigkeitszentrierung. Subsidiari-
                                                  die Kirche gerade aufgrund ihrer hi-       tät versteht Amtsmacht konsequent­
        über den Opfern ein langer und stei-      erarchischen Struktur von besonde-         als Dienst.
        niger Weg ist, sollte allerdings nicht    rer Bedeutung. Sie zielt auf Einheit           Die Einheit des polaren Spannun-
        vergessen werden.                         in Vielfalt, auf einen gesunden Plu-       gefüges von Macht und Dienst kann
           Letztlich sind all diese Beispiele     ralismus und schlanke Hierarchien.         – so Guardini – nur dann geistig ge-
        nicht denkbar ohne Menschen, die          Sie schützt Eigenverantwortung und         lingen, wenn sie „durch die personale
        unter Einsatz ihres Lebens auf die        Partizipation der untergeordne-            Mitte geht“. Das braucht lebendige
        Kraft der Versöhnung und des kom-         ten Einheiten. Subsidiarität zielt auf     Aneignung, echte Überzeugung und
        munikativen Handelns setzen. Dies         ein mündiges Christentum in einer          inneres Einstehen auch für Leitungs-
        hat mit dem Kern der biblischen           selbstbewussten Kirche.                    verantwortung. Ein verantwortlicher
        Überlieferung zu tun: Alle Propheten          Subsidiaritätsprinzip ist ein Kom-     Gebrauch der Macht wird jedoch nur
        haben aus der Position der Schwä-         petenzanmaßungsverbot, das die             dem gelingen, der sich stets ihrer
        che heraus für das Recht gekämpft.        Intervention und Macht der über-           Ambivalenz und Missbrauchsgefahr
        Dem biblisch fundierten Ethos des         geordneten Instanzen auf das Maß           bewusst ist und sich täglich neu da-
        gewaltlosen Widerstandes liegt ein        begrenzt, das für die untergeord-          rum müht, sie menschen- wie sach-
        kommunikatives Verständnis von            neten Einheiten zur Erhöhung ih-           gerecht auszuüben. Es geht um Macht
        Macht zugrunde. Das findet sich           rer Handlungsfähigkeit hilfreich           im Dienst der Sorge. Auch in dem
        aber keineswegs nur im Christen-          ist. Macht wird in den Dienst der          weltweiten Erstarken autoritärer Po-
        tum, sondern beispielsweise auch bei      Befähigung zu möglichst eigen-             litikmuster entfernen wir uns derzeit
        Laotse, wenn er formuliert, „Weich        ständiger Problemlösung in den             von diesem Ideal.
        besiegt hart“. Politiktheoretisch         Dienst genommen. Subsidiarität
        lässt sich das auf Verständigung hin      zielt auf Empowerment, also Ver-

10      zur debatte 1/2021
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN

   Menschlichkeit und Machtgefahr
    Überlegungen zu zwei Begriffen Romano Guardinis
    von Michael Seewald

    D
                as Thema „Macht“ ist theologisch und kirchen-       dieser beiden epochalen
                politisch derzeit en vogue. Dafür gibt es gute      Schwerpunkte. Das Selbst-
                Gründe. Man sollte jedoch nicht den Fehler          verhältnis und das Gottes-
                begehen, die eigenen, zeitgenössischen Prob-        verhältnis des Menschen
    lemstellungen einfach in die Vergangenheit hinein zu trans-     adäquat miteinander in
    ponieren, um sich von Denkern Antworten zu erhoffen, die        eine Vermittlung zu brin-
    andere Fragen in einem anderen Kontext stellten als wir         gen, wäre für Guardini die
    dies heute tun. Die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger     geistesgeschichtliche Auf-
    formuliert in ihrem Band zur Theorie der Ideengeschichte:       gabe der Neuzeit gewesen
    „Je mehr historisiert, je mehr kontextualisiert, je mehr von    – eine Aufgabe, der diese
    der jeweiligen Kultur abhängig, desto weniger unmittelbar       jedoch nicht in zufrieden-
    handlungsrelevant ist vergangenes Denken für uns heute.“        stellender Weise nachge-
    (Barbara Stollberg-Rilinger, Was heißt Ideengeschichte?, in:    kommen sei.
    Dies. [Hg.], Ideengeschichte, Stuttgart 2010, 8-42, hier: 42)      Stattdessen habe die
       Man könnte sagen: Je mehr wir über Romano Guardini,          Neuzeit „in einer bis dahin
    seine biografischen Prägungen und die zeitgeschichtlichen       unbekannten Wirklich-
    Bedingungen seines Arbeitens wissen, desto weniger un-          keitsnähe des Verstandes
    mittelbar können wir auf sein Denken in aktualisierender        und der Technik nach der
    Weise zugreifen. Daraus folgt aber nicht, dass Guardini         Welt“ gegriffen und sich Prof. Dr. Michael Seewald, Professor für
    kein interessanter Gesprächspartner wäre. Mittelbar, aus        so „Macht über die Natur“ Dogmatik und Dogmengeschichte an der
    der respektvollen Beachtung einer historischen Distanz          (97) angeeignet. „In im- Universität Münster
    heraus, die, obwohl es sich nur um wenige Jahrzehnte han-       mer rascherem Vordrin-
    delt, beträchtlich ist, hat Guardini Anregendes für die Ge-     gen nimmt der Mensch forschend, planend und technisch
    genwart zu bieten. Das gilt vor allem mit Blick auf seine       gestaltend die Dinge in Besitz.“ (97) Dieses machtförmige
    Überlegungen zum Wesen der Macht.                               Verhältnis zur Natur ist für Guardini nicht grundsätzlich
                                                                    negativ. Man brauche nur an den Bereich der Medizin und
    I.                                                              ihrer Heilungsmöglichkeiten zu denken, um sich bewusst
                                                                    zu werden, wie sehr eine gewisse Herrschaft über die Natur
   Guardini entwickelte seine Theorie der Macht vor dem Hin-        zum Wohl des Menschen eingesetzt werden könne. Den-
   tergrund einer bestimmten Philosophie der Geschichte, die        noch steht Guardini dem selbstermächtigenden Zugriff des
   der triadischen Periodisierung in Antike, Mittelalter und        Menschen auf seine Umwelt skeptisch gegenüber. In die-
   Neuzeit Themenschwerpunkte zuordnete, in denen Kunst             ser Skepsis, die er nicht allein hegte, sondern die auch an-
   und Architektur, Dichtung und Philosophie, Praxis und            dere seiner Zeitgenossen zum Ausdruck brachten – man
   Theorie, so Guardinis Idealvorstellung, übereingekommen          denke nur an Horkheimers und Adornos Dialektik der Auf-
                                         seien. Die Antike          klärung oder an die Technikkritik Heideggers –, erblickte
                                         habe sich vornehm-         Guardini eine Epochenzäsur, die er unter dem Schlagwort
                                         lich für das „Bild         Das Ende der Neuzeit verhandelte. „Die Neuzeit“, so seine
Romano Guardini steht                    des wohlgeschaffe-         These, „ist im Wesentlichen zu Ende gegangen.“ (97) Die
dem selbstermächtigen-                   nen Menschen“ inte-        Neuzeit habe „jede Zunahme an wissensmäßig-techni-
den Zugriff des Menschen                 ressiert, während im       scher Macht einfachhin als Gewinn empfunden; daß diese
auf seine Umwelt skeptisch Mittelalter                „die Be-
                                         ziehung zum über-
                                                                    stieg, hat ihr ohne weiteres Fortschritt zu entschiedenerer
                                                                    Sinn-Erfüllung und höherem Wertreichtum des Daseins be-
gegenüber.                               weltlichen Gott“ im        deutet. Die Sicherheit dieser Überzeugung ist erschüttert,
                                         Zentrum des Den-           und ebendas zeigt den Beginn einer neuen Epoche an. […]
                                         kens gewesen sei (Ro-      Die Macht ist uns fragwürdig geworden.“ (98)
   mano Guardini, Die Macht. Versuch einer Wegweisung, in:
   Ders., Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung
                                                                    II.
   – Die Macht. Versuch einer Wegweisung [Romano Guar-
   dini Werke], Mainz u. a. 1986, 97. Die folgenden Angaben in      Guardinis Geschichtsphilosophie wirkt auf mich be-
   Klammern beziehen sich auf die Seitenzahlen dieser Ausgabe).     fremdlich. Die grundsätzliche Diagnose aber, dass wir
   Trotz der Bewunderung, die Guardini für Antike und Mit-          in einer Zeit leben, in der die Sensibilität für Machtge-
   telalter aufbrachte, sah er die Notwendigkeit einer Synthese     brauch und Machtmissbrauch gestiegen ist, erscheint mir

                                                                                                            zur debatte 1/2021          11
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN

       nachvollziehbar und ungebrochen aktuell. Die von Guar-                    dem die zur Erreichung dieses Zwecks erforderlichen Mit-
       dini beschriebene Tendenz hat sich sogar noch verstärkt.                  tel handlungswirksam aufgeboten werden und sich auch
       Die Problematisierung der menschlichen Macht über die                     gegen Widerstände durchzusetzen vermögen. Diese Be-
       Natur gewinnt gegenwärtig in den Diskussionen um den                      stimmung enthält vier Aspekte.
                                 anthropogenen Klimawandel an                       Erstens: Macht ist an und für sich weder gut noch
                                 Dramatik. In bioethischen Kon-                  schlecht. Sie erhält ihre sittliche Qualität von dem Willen,
Guardinis Problemati- texten             wird die Frage gestellt,
                                 wie der Mensch mit der Dis-
                                                                                 der die zu erreichenden Zwecke und die dafür aufgebotenen
                                                                                 Mittel bestimmt. Zweitens: Die Fähigkeit zur Setzung von
sierung der menschli- krepanz zwischen Können und                                Zwecken setzt eine reflexive Distanz zum durch Kausalitä-
chen Macht über die              Dürfen umgehen solle. Er kann,                  ten bestimmten Weltverlauf voraus. Wer sich einen Zweck
                                 etwa durch Eingriffe in geneti-                 setzt, will etwas erreichen, das nicht ebenso gut auch ohne
Natur gewinnt heute              sches Material, immer mehr –                    Zwecksetzungen eintreten würde. Diese Distanz zum Welt-
an Dramatik.                     darf er aber auch tun, was er zu                verlauf bezeichnet Guardini als „Geist“. Drittens: Der Geist
                                 tun vermag? Die Fragwürdigkeit                  erweist sich in dem Maße als mächtig, in dem er von ihm
                                 der Macht, wie Guardini sie be-                 gesteckten Zielen auch Handlungen folgen lassen kann, die
       schrieb, erstreckt sich ebenso auf den Bereich des Sozialen,              als Mittel zur Erreichung dieser Ziele dienen. Diese Hand-
       in dem eine geordnete Machtausübung sich als Herrschaft                   lungen greifen in die Kausalität der Welt ein und lenken sie
       manifestiert. Dabei wird die Idee einer Herrschaft über die               zweckmäßig um (oder versuchen es zumindest) hin zur Er-
       Natur insofern dekonstruiert, als die Kategorie des Natür-                reichung des definierten Ziels. Viertens: Geist und Freiheit,
       lichen im gesellschaftlichen Kontext immer prekärer er-                   also die aus der re-
       scheint. Was ist schon eine natürliche Ordnung? Gibt es                   flexiven Weltdistanz
       überhaupt gottgegebene Ordnungen, seien sie nun in der                    erwachsende Fähig-
       Natur oder dem, was die Theologie Offenbarung nennt,                      keit des Menschen Für Guardini gehören
       hinterlegt? All dies sind Fragen, die Guardinis These einer               zur Zwecksetzung Macht und Verantwortung
       grundsätzlichen Fragwürdigkeit der Macht plausibilisieren                 und die aus der ak- unlösbar zusammen.
       und radikalisieren.                                                       tiven Weltinvolviert-
                                                                                 heit     erwachsende
                                                                                 Fähigkeit des Men-
         III.
                                                                                 schen zur zweckorientierten Handlungssetzung, begründen
         Was genau versteht Guardini unter dem Begriff der Macht?                Verantwortung. Der Mensch ist als Urheber seiner Zwecke
         Von Macht dürfe man nur sprechen, „wenn zwei Elemente                   und Definitor seiner Mittel verantwortlich für das, was er
         gegeben sind: Einmal reale Energien, die an der Wirk-                   erstrebt und tut.
         lichkeit der Dinge Veränderungen hervorbringen, ihre                       Für Guardini gehören Macht und Verantwortung unlös-
         Zustände und wechselseitigen Beziehungen bestimmen                      bar zusammen. „Es gibt keine nicht-verantwortete Macht.
         können. Dazu aber ein Bewußtsein, das ihrer inne ist; ein               Es gibt die unverantwortete Naturenergie – richtiger gesagt,
         Wille, der Ziele setzt; ein Vermögen, welches die Kräfte auf            die nicht im Bereich der Verantwortung, sondern in dem
         dieses Ziel hin in Bewegung bringt. Das alles setzt Geist vo-           der Naturnotwendigkeit wirksame Energie; nicht gibt es die
         raus, jene Wirklichkeit im Menschen, die fähig ist, aus dem             unverantwortete Menschenmacht.“ (103f.) Guardini spricht
         unmittelbaren Zusammenhang der Natur herauszutreten                     also nicht von naturhaften Mächten und Gewalten, sondern
         und in Freiheit über sie zu verfügen.“ (102) Etwas tech-                von Macht als einem Geist, Freiheit und Verantwortung im-
         nischer und in meinen Worten ausgedrückt: Macht ist die                 plizierenden, spezifisch menschlichen Zugriff auf die als Na-
         Fähigkeit, einen selbst gesteckten Zweck zu erreichen, in-              tur erlebte, aber auch auf die soziale Welt.

         Prof. Dr. Hans Otto Seitschek, apl. Professor für Philosophie an der    Mariola Lewandowska von der Guardini Stiftung im Gespräch
         LMU München (li.), hatte die Moderation für einen Teil der Veranstal-   mit Teilnehmern.
         tung übernommen.

12       zur debatte 1/2021
PHILOSOPHIE | HUMANWISSENSCHAFTEN

                                                                     matisiert werden können. Bereits die Genesiserzählung deu-
                                                                     tet Guardini in diesem Sinne. In der „Machtbegabung, in der
                                                                     Fähigkeit, sie zu gebrauchen, und in der daraus erwachsen-
                                                                     den Herrschaft besteht die natürliche Gottebenbildlichkeit
                                                                     des Menschen. […] Der Mensch kann nicht Mensch sein
                                                                     und außerdem Macht üben oder es auch nicht tun; sondern
                                                                     sie zu üben ist ihm wesentlich.“ Anders gesagt: Geist, Frei-
                                                                     heit und Verantwortung sind dem Menschen nicht nur an-
                                                                     geboten, sondern auferlegt. Der Mensch wurde, so drückt
                                                                     es Guardini aus, von Gott mit Macht „belehnt“. Die Macht
                                                                     des Menschen ist daher lediglich eine Lehensmacht. „Er ist
                                                                     Herr von Gnaden, und soll seine Herrschaft in Verantwor-
                                                                     tung gegen Den ausüben, der Herr von Wesen ist.“ (112f.)
Dr. Johannes Modesto, Postulator für die Seligsprechung, legte den
                                                                         In dieser Dualität – „Herr von Gnaden“ zur Bestimmung
gegenwärtigen Stand im Verfahren dar.                                des Menschlichen und „Herr aus eigener Kraft“ als Inbegriff
                                                                     dessen, was Gott denn Gott sein lässt – bestimmt Guardini
                                                                     die Idee der Sünde. Sünde sei es, wenn der Mensch sich des
                                                                     Lehenscharakters seiner Macht zu entledigen versuche, um
IV.
                                                                     – dem trügerischen eritis sicut Deus folgend – Herr aus eige-
Was dieser menschliche Zugriff anrichten kann, musste Gu-            ner Vollmacht und damit Beherrscher seiner Mitmenschen
ardini in der Zeit des Nationalsozialismus erfahren. Im Jahr         zu sein. Das Wirken der menschlichen Natur Christi wird
1939 wurden sowohl Burg Rothenfels geschlossen als auch              demgegenüber soteriologisch von Guardini als Wiederher-
Guardinis Lehrstuhl in Berlin aufgelöst. Die Begründung              stellung verantworteter Macht durch die Rückverwandlung
lautete, dass der Staat selbst eine Weltanschauung vertrete,         von Herrschaft in Dienst verstanden. „Jesu ganzes Dasein ist
neben der eine andere, etwa die katholische Weltanschau-             Übersetzung der Macht in die Demut. Aktiv gesagt: in den
ung (so die Denomination von Guardinis Lehrstuhl), nicht             Gehorsam des Vaters […] Die Annahme der ‚Knechtsge-
zulässig sei. Guardini, schreibt Hanna-Barbara Gerl-Falko-           stalt‘ bedeutet aber nicht Schwäche, sondern Kraft.“ (122f.)
vitz in ihrer Biografie des Gelehrten, habe, nachdem ihm             Diese Kraft bleibe dort erfahrbar, wo in der Nachfolge Jesu
die Auflösung seines Lehrstuhls mitgeteilt worden sei, vor           Macht als Dienst wahrgenommen werde.
dem Humboldt-Denkmal der damaligen Friedrich-Wil-
helms-Universität zu Berlin gestanden und gesagt: „Wie
                                                             VI.
ist es menschenmöglich?“ – eine Frage, die angesichts von
Guardinis Überlegungen über das spezifisch Menschli- Guardinis Ausführungen besitzen mittelbar etwas Aktu-
che der Macht eine abgründige Tiefe gewinnt. Wie ist es elles. Traditionsgehalte des christlichen Glaubens, wie die
menschenmöglich?                                             Idee der Gottebenbildlichkeit, werden von ihm machtsen-
    Guardini vermochte offenbar in der Machtentfaltung sibel reinterpretiert. Es darf jedoch nicht aus dem Blick ge-
des NS-Staates nichts Menschliches mehr zu erkennen, raten, dass Guardinis Ansatz auch Probleme aufweist. Zwei
weil die Handlungsträger sich als – im be-                                     seien exemplarisch benannt: die bereits
schriebenen Sinne des Wortes – geistlos                                        kritisch erwähnte Geschichtsphiloso-
erwiesen und ihre Verantwortung hin-                                           phie und die soeben skizzierte Dialektik
ter einer bürokratischen Maschinerie zu
                                              1939 wurden sowohl               von Macht und Dienst, die für sich ge-
verstecken suchten. Jenes Auseinander- Burg Rothenfels                         nommen zwar Richtiges zum Ausdruck
driften von ausgeübter Macht und zu- geschlossen als auch                      bringt, aber manipulationsanfällig ist.
rechenbarer Verantwortung bezeichnete                                             Zunächst zur Philosophie der Ge-
Guardini durch den Begriff der „Macht-
                                              Guardinis Lehrstuhl in schichte.           Wenn man Guardini vorwerfen
gefahr“. Machtgefahr sei dort vorhanden, Berlin aufgelöst.                     würde, dass seine Epochencharakterisie-
wo „kein ansprechbarer Wille, keine ant-                                       rung – der zufolge es in der Antike um
wortende Person mehr steht, sondern                                            die angemessene Deutung des Men-
nur eine anonyme Organisation, in welcher jeder durch schen, im Mittelalter um das rechte Verhältnis zu Gott und
benachbarte Instanzen geleitet, überwacht und dadurch – in der Neuzeit um die maximale Herrschaft über die Na-
scheinbar – der Verantwortung enthoben ist. […] Dann tur gegangen sei – zu grob bleibe, könnte er dem vermut-
nimmt die Macht einen Charakter an, der letztlich nur von lich zustimmen. Guardini betonte immer wieder, er wolle
der Offenbarung her charakterisiert werden kann: sie wird nicht idealisieren und nicht generalisieren, sondern ledig-
dämonisch.“ (106)                                            lich Tendenzen benennen. Diese Tendenzen führen jedoch
                                                             zu Epochenwertungen, die problematisch sind. Antike und
                                                             Mittelalter dienen Guardini als positive Gegenfolien seiner
V.
                                                             vornehmlich negativ gefärbten Sicht der Neuzeit. Vorneu-
Die christliche Offenbarung und ihre Tradierung im Glau- zeitliche Kulturen seien „dadurch charakterisiert, daß der
ben der Kirche bieten für Guardini einen Raum, in dem Mensch das, was er theoretisch erkannte und handwerklich
geglückte und missglückte Formen der Machtausübung the- vollbrachte, auch erleben konnte.

                                                                                                               zur debatte 1/2021    13
Sie können auch lesen