Sonderheft 2020 Wie Macht gemacht wird - März 2020 Wien und Kleve
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Dieses Sonderheft wurde auf Initiative von und zusammen mit Dominik Meier und Dr. Christian Blum, Miller & Meier Consulting, erstellt. 2
PSCA Sonderheft (März 2020) – ISSN 2306-5907 POLITICAL SCIENCE APPLIED Zeitschrift für angewandte Politikwissenschaft Sonderheft März 2020 Wie Macht gemacht wird Herausgeber Prof. Dr. Jakob Lempp, Hochschule Rhein-Waal jakob.lempp@hochschule-rhein-waal.de Dr. Angela Meyer, Organization for International Dialogue and Conflict Management angela.meyer@idialog.eu Dr. Jan Niklas Rolf, Hochschule Rhein-Waal jan-niklas.rolf@hochschule-rhein-waal.de Mitherausgeber dieser Ausgabe Dominik Meier, Miller & Meier Consulting dmeier@miller-meier.de Dr. Christian Blum, Miller & Meier Consulting cblum@miller-meier.de Redaktionsteam Dr. Reinhard Brandl, Mitglied des Deutschen Bundestages Prof. Dr. Alexander Brand, Hochschule Rhein-Waal Dr. Stephan Dreischer, Sächsischer Landtag Gregor Giersch, Organisation for International Dialogue and Conflict Management Dr. Elsa Hackl, Universität Wien Dr. Frieder Lempp, IÉSEG School of Management Paris Dominik Meier, de'ge'pol – Deutsche Gesellschaft für Politikberatung Prof. Dr. Werner J. Patzelt, Professor Emeritus Dr. Thomas Pfister, Zeppelin Universität Friedrichshafen Dr. Hermann van Boemmel, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit Kontaktadresse: Organisation for International Dialogue and Conflict Management, Mumbgasse 6/27, 1020 Vienna, Austria Frei verfügbar unter: www.psca.eu 3
PSCA Sonderheft (März 2020) – ISSN 2306-5907 Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder vergleichbare Verwendung der gesamten Zeitschrift oder einzelner Artikel ist auch in Auszügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung der Herausgeber gestattet. PSCA-Artikel unterliegen einem Begutachtungsverfahren durch das Redaktionsteam. Sie geben ausschließlich die persönliche Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder. © IDC, 2020 ISSN 2306-5907 IDC Organisation for International Dialogue and Conflict Management Mumbgasse 6/27 1020 Wien, Österreich www.idialog.eu www.psca.eu editors@psca.eu Herausgeber: Prof. Dr. Jakob Lempp Dr. Angela Meyer Dr. Jan Niklas Rolf 4
PSCA Sonderheft (März 2020) – ISSN 2306-5907 Editorial: Fürchtet euch nicht! Warum wir keine Angst vor der Macht haben sollten1 Macht macht Angst. Sie verdirbt den Charakter. Sie korrumpiert. Sie ist unterdrückerisch. Wer nach ihr strebt, macht sich moralisch verdächtig. Diese Vormeinungen prägen seit jeher den gesellschaftlichen Diskurs, vor allem in Europa. Der Traum von der herrschaftsfreien Gesellschaft und ihrer Losung „Keine Macht für nie- mand!“ wird nicht erst seit den 1970ern geträumt. Schon in seinen 1905 posthum veröffent- lichten Weltgeschichtlichen Betrachtungen hielt der Schweizer Kulturhistoriker Jakob Burck- hardt fest: „Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Behar- ren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muss also an- dere unglücklich machen.“2 Dabei ist Macht für sich besehen ethisch neutral, ihre Valenz eine Frage des Kontexts:3 Wer übt sie gegenüber wem aus, wie und mit welchen Gründen? Ein Missverständnis wie das burckhardt‘sche wäre ärgerlich, wenn es nicht so tragisch wäre. Denn dort, wo der Umgang mit Macht angstbehaftet ist, wuchern nicht nur Mythen, Missverständnisse und utopische Erwartungen an die herrschaftsfreie Gestaltung von Politik, Wirtschaft, Religion und Wissen- schaft. Vor allem führt die Furcht vor der Macht dazu, dass kaum ein Mensch offen nach ihr strebt oder sich zu ihr bekennt. Die verkrampfte Elitendebatte in Deutschland ist ein Beispiel für diesen Missstand.4 Keiner will öffentlich dazugehören, niemand will elitäre Bildungs- und Rekrutierungsmechanismen unterstützen. Die Folge ist eine klandestine Elitenbildung, die keinem öffentlichen Wettstreit der Besten mehr unterworfen ist. Je mehr Menschen vor der Macht zurückschrecken, desto größer wird der Einfluss jener wenigen, die keine Berührungsängste mit ihr haben. Das scha- det der demokratischen Gesellschaft. Nicht grundlos schwindet seit Jahren das Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen der parlamentarischen Demokratie.5 Was können wir gegen diese verheerende Machtangst tun? Eine der Macht gegenüber auf- geschlossene öffentliche Kultur, wie man sie in den USA oder China erleben kann, lässt sich – zum Glück – nicht einfach in den deutsch-europäischen Raum übertragen. Aber ein erster, wichtiger Schritt ist das Brechen des Tabus: über Macht zu sprechen, statt über Macht zu schweigen. Nur eine aufrichtige Debatte über Erwerb, Rechtfertigung und Gestaltung von Macht, über das Ringen um Einfluss in den großen Gesellschaftsfeldern führt dazu, dass Macht künftig besser gemacht wird. 1 Es wird darauf hingewiesen, dass aus Gründen der besseren und flüssigeren Lesbarkeit im gesamten Journal auf eine genderspezifische Schreibweise verzichtet wird. Alle Bezeichnungen gelten sinngemäß für beide Ge- schlechter. 2 Burckhardt, Jakob (2000): Kritische Gesamtausgabe, Bd. 10: Ästhetik der bildenden Kunst, Über das Studium der Geschichte, hg. von Peter Ganz, München: C.H. Beck, S. 205. 3 Siehe Meier, Dominik & Blum, Christian (2018): Logiken der Macht. Politik und wie man sie beherrscht. Berlin: Tectum. 4 Hartmann, Michael (2018): Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden, Frankfurt: Campus und Rothkopf, David (2008): Superclass: The Global Power Elite and the World They Are Making, New York: Farrar Straus & Giroux. 5 So das Ergebnis einer Umfrage des Allensbach-Instituts vom November 2019, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wie-die-grosse-koalition-das-vertrauen-in-die-stabilitaet-zerstoerte- 16493444.html. 5
PSCA Sonderheft (März 2020) – ISSN 2306-5907 Für diese Sonderausgabe von Political Science Applied haben wir ausgewiesene Machtkenner aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft als Autoren gewonnen – erfahrene Praktiker und Theoretiker, die keine Scheu haben, darüber zu schreiben, mit welchen In- strumenten Macht errungen und verteidigt wird, wie sie gerechtfertigt wird und was sie mit uns macht. Im ersten Teil stellen sich Bodo Hombach, Anette Schavan, Rüdiger Lentz, und Ralf Tils der Frage nach dem Zusammenhang von Macht und Verantwortung. Ihre Beiträge nehmen die gegenwärtige Krise der traditionellen repräsentativen Demokratie zum Anlass, um neu über die ethische Legitimation und Machtverteilung in der liberalen Gesellschaft zu reflektieren. Der zweite Teil fokussiert das praktisch-politische Rüstzeug für Machterwerb und Machter- halt. Jörg Hofmann, Erich Vad und Christian Blum werfen einen Blick hinter die Kulissen in den Maschinenraum der Macht. Aus unterschiedlichen Perspektiven diskutieren sie Strate- geme, Taktiken und Instrumente im gesellschaftlichen Ringen um Einfluss. Im dritten Teil geht es um die großen gesellschaftlichen Felder der Macht. Hier kommen Bu- siness-Leader ebenso zu Wort wie Politiker, Forschungsexperten und Soziologen. Jürgen Trittin diskutiert die Bedeutung von Interessenvertretung für die Demokratie. Sigrid Nikutta, Peter Imbusch und Rebecca Endtricht beleuchten das Themenfeld Macht und Wirtschaft aus praktischer bzw. theoretischer Sichtweise. Wilhelm Krull analysiert das Machtverhältnis zwi- schen Wissenschaft und Politik, und wir widmen uns als Herausgeber dieses Sonderhefts der spannungsreichen Beziehung zwischen Kunst, Ästhetik und Macht. Der vierte und letzte Teil wagt schließlich einen Rück- und Ausblick auf Herkunft und Zukunft der Macht. Peter Scholz analysiert mit der römischen Republik eine frühe Blüteform von Macht- und Herrschaftskunst, die unser politisches Denken bis heute prägt. Alexandre Ma- lafaye und Xavier Dupont hingegen fassen nichts Geringeres in den Blick als die egalitäre Machtordnung der Zukunft. Allen Autoren sind wir zu großem Dank für ihre inspirierenden Beiträge verpflichtet. Bedan- ken wollen wir uns zudem bei Karoline Tippelt-Wohl für die präzise und gewissenhafte re- daktionelle Arbeit an diesem Band und natürlich beim Gutachterteam von Political Science Applied für die scharfsinnigen Kommentare und Hinweise. Dominik Meier & Christian Blum 6
PSCA Sonderheft (März 2020) – ISSN 2306-5907 Inhalt Editorial: Fürchtet euch nicht! Warum wir keine Angst vor der Macht haben sollten S. 5 Dominik Meier & Christian Blum I. Macht und Verantwortung Bodo Hombach S. 9 Wie Macht gemacht wird. Ein Selbstgespräch Annette Schavan S. 13 Über den Wert des Kompromisses in der politischen Kultur Rüdiger Lentz S. 16 Macht – Verantwortung – Freiheit: Ein Kompass zu neuem Denken Ralf Tils S. 19 Individuum, Macht und Demokratie II. Machterwerb und Machterhalt Jörg Hoffmann S. 22 Die Macht der Vielen: Solidarität als zentrale Ressource von Gewerkschaftsmacht Erich Vad S. 27 Politische Macht. Worauf es ankommt Christian Blum S. 31 Macht und Strategie. Die universellen Grundlagen der Politikberatung III. Felder der Macht: Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst Jürgen Trittin S. 35 Die Macht und die Lobby. Vom Unterschied zwischen Regieren und Macht Sigrid Nikutta S. 37 Mit welchen Strategien und Taktiken wird in Wirtschaft und Politik Macht errungen – und wie verteidigt man sie? Peter Imbusch & Rebecca Endtricht S. 39 Wirtschaft Macht Politik! Wilhelm Krull S. 44 Wissenschaft und Politik in der Wissenschaftspolitik. Spannungen, Widersprüche und Dynamiken des Gestaltens von Veränderungen Dominik Meier & Christian Blum S. 49 Die Kunst im Auge der Macht 7
PSCA Sonderheft (März 2020) – ISSN 2306-5907 IV. Herkunft und Zukunft der Macht Peter Scholz S. 53 Vita honesta – Politik als Lebensform. Formen der Macht und Herrschaftspraxis der Senatsaristokratie in der späten römischen Republik Alexandre Malafaye & Xavier Dupont S. 60 Building a New Governance 8
PSCA Sonderheft (März 2020) – ISSN 2306-5907 Wie Macht gemacht wird. sen unterscheiden sich. Verstand ist ungleich Ein Selbstgespräch verteilt. Fäuste sind stark oder schwach. Was Bodo Hombach also soll geschehen? Wer hat den Überblick? Wer übernimmt Verantwortung? Wer setzt Der Dipl.-Sozialwissenschaftler Bodo Hombach sich durch, vielleicht durch Überzeugungskraft (geb. 1952) war nach verschiedenen Tätigkei- und Gefolgschaft? – Macht ist das Vermögen, ten in Gewerkschaften und der PREUSSAG AG realisierbare Entscheidungen zu treffen. SPD-Landesgeschäftsführer in Nordrhein- Macht ist elementare Konstante jeder Gesell- Westfalen, Abgeordneter des Landtags, NRW- schaft. Aber sie ist ambivalent. Sie kann Gutes Minister für Wirtschaft und Mittelstand, Bun- bewirken, und man kann sie missbrauchen. Sie desminister für bes. Aufgaben (Kabinett ist an Menschen gebunden. Diese können eine Gerhard Schröder) und Sonderkoordinator des Situation richtig einschätzen und vernünftige Stabilitätspaktes im Auftrag von G9, NATO Ziele haben. Sie können sich aber auch irren und EU. Ab 2002 war Bodo Hombach zehn und von Partikularinteressen oder blinder Jahre Geschäftsführer der WAZ- Leidenschaft leiten lassen. Man kann das Mediengruppe, Essen, ist seit 2011 im Vor- Grundproblem der Macht nicht beseitigen, stand der Brost-Stiftung, Honorarprofessor der verbieten oder ignorieren. Man kann es nur Universität Bonn und FH Bonn-Rhein-Sieg so- managen. Man kann versuchen, positive Wir- wie Präsident der Akademie für Forschung und kungen zu fördern und negative möglichst Lehre praktischer Politik (BAPP), Bonn. einzuhegen. Drei Grundmuster… „Ein jeder Mensch hat das Recht, wenn er … zeichnen sich ab und haben den Lauf der allein auf einem Rasen liegt, die Beine auszu- Geschichte bestimmt: Die Organisation der strecken und hinzulegen, wo und so breit er Macht ist charismatisch, autokratisch oder will. Will er aber, damit ihn bei Nacht der Wolf demokratisch. nicht störe oder um anderer Vorteile willen, Die charismatische Methode ist die älteste. Sie als Bürger, das ist in Gesellschaft, liegen, so waltet in natürlichen Gemeinschaften (Fami- hat der nach wie vor das Recht, die Beine aus- lie, Stamm). Sie begründet sich durch Traditi- zustrecken und hinzulegen, wo und so breit er on („Handauflegen“) oder Religion („Es steht will. Aber die anderen haben das Recht auch! geschrieben“). Vater und Mutter, Häuptling, Und weil nun auf dem Rasen für alle Beine Oberpriester, Gott-König fungieren als Stell- nicht Platz ist, so muss er sich zu einer ande- vertreter und Interpreten natürlicher Gesetze ren Lage bequemen. Und das Geheimnis und oder überirdischer Mächte. Sie verwalten die Güte der Einrichtung besteht darin: dass uraltes Erfahrungswissen, können es aber für alle Beine gesorgt werde und einige nicht durchaus für eigene Interessen manipulieren. zu eng und krumm und andere nicht zu weit Die autokratische Methode ist vulgär und ge- und gerade liegen.“ (Matthias Claudius).1 fährlich. Einer schwingt sich zum Alleinherr- scher auf („Alles hört auf mein Kommando!“). Was ist Macht… Kontrolle, etwa durch eine freie Presse, ist nicht möglich. Kommunikationsmittel sind ... und wie geht man damit um? Allein auf der gleichgeschaltet. Sie dienen der Verlautbarung einsamen Insel ist diese Frage obsolet. Robin- und Propaganda. Selbstüberschätzung und son kann tun und lassen, was er will. Ist man Wirklichkeitsverlust des Machthabers begüns- zu zweit oder gar zu vielen, entsteht das Prob- tigen irrationales Handeln. Unvermeidliche lem der Macht. Jeder hat einen Teil davon, er Fehlentscheidungen sind unkorrigierbar, denn hat Interessen, Verstand und Fäuste. Interes- Widerspruch wird nicht geduldet. Minderhei- ten werden unterdrückt und verfolgt. Am En- 1 Claudius, Matthias (1976): „Zwischenbetrachtun- de stehen Gewalt, Revolution und Krieg. gen über die Bekanntmachung der Menschenrech- te“. Werke in einem Band. München S. 424-431. 9
PSCA Sonderheft (März 2020) – ISSN 2306-5907 Die demokratische Methode versucht, das Ringsum verdüstert sich der Horizont. Kriege- Dilemma der Macht rational zu regeln. Regie- rische Spannungen erhitzen sich in der Ukrai- rungsgewalt entsteht auf der Basis eines Ge- ne, am Golf, in Kaschmir. Antidemokratische- sellschaftsvertrags. Sie ist dem Gemeinwohl Staatslenker kommen legal an die Macht. verpflichtet und muss über ihre Arbeit Re- Wichtige Bündnisse und mühsam ausgehan- chenschaft ablegen. Die Bürgerinnen und Bür- delte Abkommen zerfallen per Federstrich und ger wählen Parteien, die ihre Interessen ver- Twitter. Am Pulverfass Naher und Mittlerer treten sollen. Die Regierung arbeitet in Bin- Osten glimmt die Lunte. Silberrücken in dung an Verfassung und geschriebene Geset- Washington, Teheran, Moskau, Ankara, Riad, ze. Gewaltenteilung (Legislative, Exekutive, London und anderswo halten nicht mehr viel Judikative) sorgt für gegenseitige Kontrolle von Diplomatie und internationalen Beziehun- und verhindert Übergriffe. Turnusmäßig ist gen. Sie brettern durch jeden Porzellanladen, „Zahltag“ in der Wahlkabine. Ein Regierungs- der sich ihnen bietet. Im Zeichen von Brexit, wechsel vollzieht sich unblutig, weil nach fes- Eurokrise und Handelskonflikten ist auch die ten Regeln. Die Gesellschaft kann sich frei Weltwirtschaft im Sinkflug. All das vor dem entwickeln und im öffentlichen Diskurs artiku- Hintergrund globaler Klimakrise, dringlicher lieren. Auch Minderheiten kommen zu Wort. Flüchtlingsfrage und drohendem Finanz-Crash, Das ergibt einen Überfluss an Alternativen. der aus der Lehman-Pleite ein Ereignis seligen Man kann die – vielleicht – beste wählen und Angedenkens machen könnte. Fehlentscheidungen korrigieren, bevor sie Eigentlich sind das gute Zeiten, das Gemein- großen Schaden stiften. same zu suchen. Innehalten. Durchatmen. Selbstredend: In diesen idealtypischen Schub- Burgfrieden. Aber da ist wenig Bereitschaft. Im laden verbergen sich zahlreiche Varianten und Gegenteil: Das Vertrauen in die Ehrbarkeit der Mischformen. Sie sind historischen Prozessen Führungsetagen in Wirtschaft und Politik ist unterworfen. Die Schwankungsbreite reicht nachhaltig zerrüttet. Ängste – begründet oder von subtil bis brutal. Auch Monarchie und kampagnenmäßig geschürt – machen sich Diktatur können sich auf die Zustimmung vie- breit. Disruptive Innovationen erzeugen ein ler Untertanen stützen. Unfreiheit erzeugt Gefühl von Kontrollverlust und Orientie- keinen Leidensdruck, wenn man sich damit rungsmangel. Schützende Milieus lösen sich abfindet. Auch die demokratische Gesellschaft galoppierend auf. Hochkomplexe Systeme der ist nur so frei wie es die Wähler wollen. Die technischen Zivilisation werden asymmetrisch beste Verfassung ist wertlos, wenn sie nicht attackiert. Mit geringem Aufwand können im Bewusstsein der Bürger verankert ist. Diese Cyber-Kriminelle und Terroristen immensen müssen ihre Freiheiten kennen und beanspru- Schaden anrichten. Das Kartell digitaler Su- chen. Das Rechtswesen muss sie schützen. Da permächte ohne demokratische Legitimation der heutige Säugling nicht klüger ist als der wie Facebook, Apple, Microsoft teilt die Welt neugeborene Neandertaler, sind historische unter sich auf. Klassische Instrumente staatli- Errungenschaften kein gesicherter Besitz. Sie cher oder marktwirtschaftlicher Regulierung geraten in Vergessenheit und bleiben somit scheinen zu versagen. Ein Heer von Lobbyisten „work in progress“. Im Wandel der Verhältnis- versucht, die politischen Entscheidungen im se sind sie immer wieder neu zu buchstabie- Sinne der Auftraggeber zu konditionieren. ren. Destruktive Kräfte können sie diffamieren Die Parteienlandschaft zersplittert. Die Verun- und angreifen. sicherung der Mitte verstärkt die Ränder. An- Als die Aufklärer des 17. und 18. Jahrhunderts tidemokratische Emporkömmlinge und extre- den modernen Verfassungsstaat erdachten, mistische Ideologen nutzen ihre Chancen. waren sie überzeugt, das demokratische Kon- Tradierte Großgruppen, Parteien, Kirchen zept werde sich im Licht der Vernunft ausbrei- klammern sich an Lebenslügen. Ein angstbe- ten und zum Weltstandard werden. Das war setzter Reformstau fürchtet eher die Risiken voreilig. Dazu genügt… als die verpassten Chancen. Lagerdenken und Segmentierung blockieren das Bearbeiten … ein Blick in die Gegenwart. wenigstens von Teilproblemen. 10
PSCA Sonderheft (März 2020) – ISSN 2306-5907 Das machen sich interessierte Gruppen zunut- Man staunte über den Pragmatismus, auch ze, um die politische Willensbildung zu mani- über den Patriotismus, mit dem es immer pulieren. Im Vorfeld demokratischer Wahlen wieder gelang, die Spannungen in der Bevöl- kauften sie von Netzwerkbetreibern große kerung zu überbrücken. Heute weigern sich Datenmengen, welche sich durch geeignete Menschen, mit anderen zu essen, weil sie die Algorithmen zu passgenauen Persönlichkeits- Farbe oder das Muster von deren Krawatte profilen verdichten lassen. Dann adressierte unerträglich an ein gegnerisches Parteisymbol man gezielte Botschaften vor allem an unent- erinnert. Mit Trump hat die amerikanische schiedene Wähler. Das war erst ein Anfang. Gesellschaft nicht den Präsidenten, den sie zur Der Wahrheitsgehalt ist unerheblich, solange Versöhnung bräuchte, aber den, der wohl sie nur die persönliche Befindlichkeit bedienen noch ausreichend Unterstützung für seine und sich als die Stimme der Mehrheit gebär- Machtabsicherung mobilisieren kann. den. Nachweislich mischen sich auf diese Wei- Das vornehme Lächeln Obamas und das Kräu- se auch ausländische Regierungen in die Ange- tergärtchen seiner Frau am Weißen Haus wa- legenheiten anderer Länder. Gleichzeitig kor- ren Lichtjahre entfernt vom Zorn der Abge- rodiert die… hängten im Rost-Belt. Diese empfinden Trumps Ausfälle nicht als peinlich, sondern als … politische Kultur. Befreiung. Es geht also nicht um das merk- würdige Verhalten eines Präsidenten, sondern Mit dem Smartphone hat Jedermann einen um das System, das ihn ins Zentrum der Weltempfänger und einen Weltsender in der Weltmacht gebracht hat. Hosentasche. Aus dem Hinterhalt einer einge- Ein demokratisches System, das sich nicht bildeten Anonymität zerfällt das Selbstge- aufgeben will, begnügt sich nicht mit der Di- spräch der Gesellschaft in Hassbotschaften agnose aktueller Defizite. Es sucht nach ei- und „shitstorms“. Aus verbaler wird brachiale ner… Gewalt. In einer Atmosphäre von Beschimp- fung und existenzieller Bedrohung schwindet … Therapie, die Bereitschaft, sich für ein öffentliches Amt zur Verfügung zu stellen und Verantwortung die auch kommenden Generationen eine hu- zu übernehmen. Eine Presse, die unter dem mane Zukunft verspricht, indem sie allen Fehl- Druck vernichtender Konkurrenz und schwä- entwicklungen mit klarer Ansage entgegen- chelnder wirtschaftlicher Grundlagen ihrer- tritt. seits auf Erregungskampagnen und Skandalie- Politisches Handeln muss wieder lernen, zu- ren setzt, fördert diesen Trend, anstatt ihn sammenzuführen, Interessen zu bündeln und durch Sachlichkeit und ausgewogene Kom- Ausgleich zu schaffen. Soziale Sicherheit und mentare zu bremsen. innere Sicherheit gehören zusammen, Öko- Wer Spaltung sät, erntet Zerrissenheit. Die nomie und Ökologie bedingen einander. Nicht Leute haben jedoch nicht den Wunsch, als dass Entweder-oder, sondern dass Sowohl-als- Mosaiksteinchen in einer Welt zu leben, die auch muss gelten. Konsensbildung ist möglich, kein Bild mehr ergibt. Sie wollen Bestandteil sowohl am Gartenzaun als auch auf den Füh- eines sinnvollen Zusammenhangs sein, in dem rungsebenen. Sie sucht nach Gemeinsamkei- sie ihren definierten Platz haben. Hier wurzelt ten und betont nicht die Gegensätze. Sie ist das neue Interesse an changierenden Begrif- intellektuell, emotional und kreativ bestrebt, fen wie Heimat, Patriotismus und Nation. Da- Bündnisse der Vernunft zu schmieden. bei führt die Suche nach Gemeinsamkeiten Der große Hermeneutiker Hans Georg Gada- teilweise nach Absurdistan. Rechtsextreme mer glaubte an Wege statt an Sackgassen. Gruppen und Parteien propagieren plötzlich „Ein Gespräch führen heißt, sich unter die wieder völkische Ideologien, wo Identitätsbil- Führung der Sache stellen, auf die die Ge- dung als Abgrenzung gegen alles Fremde, An- sprächspartner gerichtet sind. Ein Gespräch dere, Neue verstanden wird. führen verlangt, den anderen nicht niederzu- Früher kehrte man von einer Amerika-Reise argumentieren, sondern im Gegenteil das mit einem Gefühl der Bewunderung zurück. sachliche Gewicht der anderen Meinung wirk- 11
PSCA Sonderheft (März 2020) – ISSN 2306-5907 lich zu erwägen. […] Wer die ‚Kunst‘ des Fra- Menschen sind kein eindeutiges Ich. Sie haben gens besitzt, ist einer, der sich gegen das Nie- viele Seelen in ihrer Brust. Sie sind Familienva- dergehaltenwerden des Fragens durch die ter, Hobbygärtner, Elektromeister, CDU- herrschende Meinung zu erwehren weiß. Wer Wähler und Schützenkönig. Sie haben einen diese Kunst besitzt, wird selber nach allem bestimmten Erfahrungshorizont, ein Werte- suchen, was für eine Meinung spricht. Dialek- system, individuelle Ängste und Hoffnungen. tik besteht darin, dass man das Gesagte nicht Und über Nacht kann sich ihr Blickwinkel än- in seiner Schwäche zu treffen versucht, son- dern. Eben noch begeisterter Apostel der dern es erst selbst zu seiner wahren Stärke Energiewende, protestiert er morgen gegen bringt.“2 die Stromtrasse, die seinem Vorgärtchen zu Das liest sich wie ein zartes Gewächs aus einer nahekommt. anderen Welt. Welcher Politiker wäre über- Kommunikation beabsichtigt ein gegenseitiges haupt noch in der Lage, solche Sätze bis zum und zugleich gemeinsames Deuten und Ver- Punkt zu lesen und gar sie in Demut und Ge- stehen. Sie versucht, die Erscheinungen der duld zu bedenken? Wenn ein Mann wie Welt in einen sinnvollen Zusammenhang zu Gadamer dreimal nachgedacht hat, bevor er bringen. Das gelingt nur mit einer pragmati- sie niederschrieb, sollte man sie zweimal le- schen Komponente. sen, um sie einmal zu verstehen. Aktivisten wollen gern die Welt retten. Immer Im Bundestag wird zu viel geredet und zu we- geht es ums Ganze. Aber die Pose ist sachlich nig debattiert. Man muss nicht über jedes falsch. Ob es uns gibt, ist der „Welt“ und auch Stöckchen springen. Streiten gehört zum poli- der Erde ziemlich egal. Es geht um das Wohl- tischen Alltag. Es ist ein Handwerk, manchmal ergehen von siebeneinhalb Milliarden Men- eine Kunst. Um Grundfragen wird länger und schen. Mehr nicht. Gewiss ist das eine gewal- heftiger gestritten. Umbruchszeiten bringen tige Aufgabe. Übertreibungen sind jedoch schroffen Charakteren und munteren Tempe- kontraproduktiv. Die Verwendung des Wortes ramenten einen Selektionsvorteil. In jedem „Menschheit“ steht für Denkfaulheit. Wer Parlament müssen unterschiedliche Leute immer nur die Welt rettet, hat keine Kraft zusammenfinden. Das erschwert den Konsens, mehr für das Notwendige, das jetzt und hier belebt aber die Debatte. möglich ist und getan werden kann. „Is it good Im Tunnelblick der Interessenvertreter, Funk- enough for now? Is it safe enough to try?“ tionäre oder Parteistrategen erscheint jeder Man braucht nicht die perfekte Lösung, son- Kompromiss als „faul“. Wichtige Entwicklun- dern eine, die man ausprobieren könnte. Das gen verzögern sich durch Rangkämpfe und geschieht nicht im „großen Wurf“, sondern in Imponiergehabe. Man verzichtet auf viele einzelnen Schritten. So entsteht Macht, die Fortschritte, weil „der“ absolute Fortschritt diesen Namen verdient, weil sie Zukunft nicht erreichbar ist. Eine Errungenschaft er- macht und nicht zerstört. scheint nur als Beute attraktiv. Oft bestimmt nicht der pragmatische Konsens im weiten Horizont der Möglichkeiten die Geschichte, sondern das törichte Beharren auf den per- sönlichen Standpunkt. Gute Politik… … geht vom zugegebenen Irrtum zum kleine- ren Irrtum auf die Wahrheit zu. Für sie ist der Umweg oft die kürzere Verbindung. Sie kann mit Widersprüchen leben und weiß: Auch das Gegenteil der Wahrheit ist nie ganz falsch. 2 Gadamer, Hans-Georg (1960): Wahrheit und Methode. Tübingen 1975. S. 349. 12
Über den Wert des Kompromisses selten aus anhaltender Sturheit, wohl eher aus in der politischen Kultur1 der Fähigkeit, mit Interessen und Empfindlich- Annette Schavan keiten, mit Vielfalt und Gegensätzen umzuge- hen. Annette Schavan *1955 war von 1998-2012 eine der stellvertretenden Vorsitzenden der II. CDU Deutschlands. Sie wirkte von 1995-2005 als Ministerin für Kultus, Jugend und Sport in Was gemeint ist, wird manchmal an Beispielen Baden-Württemberg, von 2005-2013 als Bun- deutlich, die wir alle im Gedächtnis haben. So desministerin für Bildung und Forschung und bietet sich dazu die Zeit vom Fall der Mauer von 2014-2018 als Botschafterin Deutschlands am 9. November 1989 bis zur Wiedervereini- beim Heiligen Stuhl. Sie war Mitglied im Land- gung Deutschlands und Europas am 3. Okto- tag von Baden-Württemberg von 2001-2005 ber an. Was damals möglich wurde, hat zu- sowie des Deutschen Bundestages von 2005- nächst eine lange Vorgeschichte. Sie dauerte 2014. Seit 2014 lehrt sie als Gastprofessorin an etwa eine Dekade. So lange wirkten – ausge- der Shanghai International Studies University. hend von der polnischen Gewerkschaftsbewe- gung Solidarność – Menschen in den Ländern Mittel- und Osteuropas an der friedlichen I. Revolution. Die polnischen Gewerkschaftler fühlten sich nach der ersten Reise des neu Kompromisse sind derzeit nicht beliebt. Sie gewählten polnischen Papstes Johannes Paul II gelten als Ausweis von mangelnder politischer 1979 in seine Heimat von ihm bestärkt. In der Leidenschaft, als Zeichen fehlender Durchset- Nikolaikirche beteten 10 Jahre lang Mitglieder zungsfähigkeit und als Verlust von program- der Gemeinde um die Freiheit, die Versöh- matischer Klarheit. Wer sich in der Politik auf nung und darum, dass die Revolution friedlich einen Kompromiss einlässt, verzichtet danach bleiben möge. Joachim Jauer beschreibt in auf etwas, auf das er oder sie nicht hätte ver- seinem Buch URBI ET GORBI3, wie erfolgreich zichten dürfen. Im Mittelpunkt steht dabei Christen und christliche Gemeinden im Osten nicht so sehr die Frage, ob der gefundene Deutschlands und Europas in dieser friedli- Kompromiss in der Sache richtig sein könnte. chen Revolution gewirkt haben. Angela Mer- Diskutiert wird darüber, dass die eigene Posi- kel hat in ihrer Rede zum 3. Oktober 2019 an tion Schaden genommen hat. Suggeriert wird, den Mut der Menschen erinnert, die in Bewe- dass nur eine Position jenseits des Kompro- gung gebracht haben, was dann zum Einsturz misses zu verantworten ist. der Mauer geführt hat. Wer sich die politi- Kompromisse werden von ihren Verächtern schen Akteure von damals in Erinnerung ruft, erst gar nicht versucht. Sich darum zu bemü- dem kommen auch wieder Bilder in den Sinn. hen, setzt ja bereits den ernsthaften politi- Dazu gehört das Bild des damaligen Bundes- schen Willen voraus, Probleme zu lösen und kanzlers Helmut Kohl in Strickjacke mit dem das Gemeinwesen zu gestalten. Es ist keines- russischen Präsidenten Michael Gorbatschow wegs selbstverständlich, dass darin die Kunst in Pullover an dessen Jagdhütte im Kaukasus. der Politik gesehen wird. Max Weber fand, Das Bild war Teil einer guten Kommunikation. dass Politik damit zu tun habe, dicke Bretter Hinter den Kulissen war es hart zur Sache ge- zu bohren. Manche sprechen auch vom langen gangen. Nichts wäre möglich gewesen ohne Atem und von anhaltender Geduld, die es Kompromisse in dieser Zeit. Das galt ebenso braucht, um politisch zu gestalten und etwas für die Begegnungen mit Margret Thatcher, zu erreichen2. Schließlich erwächst Macht Francois Mitterand und George Bush. Was uns heute – 30 Jahre danach – immer noch be- rührt und schon manches Mal als Wunder 1 Der vorliegende Essay ist auch online publiziert auf: https://annette-schavan.de/news/wert-des- 3 kompromisses/. Joachim Jauer (2008). Urbi et Gorbi. Christen als 2 Max Weber (1999). Politik als Beruf. Ausgabe Wegbereiter der Wende. Herder: Freiburg im Büchergilde Gutenberg: Frankfurt am Main. Breisgau. 13
PSCA Sonderheft (März 2020) – ISSN 2306-5907 bezeichnet wurde, wäre mit Sturheit und kommt. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums Kompromissunfähigkeit niemals zustande trug und trägt bis heute, besonders in den gekommen. Helmut Kohl war ein Meister des vielen familiengeführten Unternehmen, zu Kompromisses, damals und in manch anderer erheblichem Einsatz im Gemeinwesen bei. Situation. Er wurde dafür in seiner aktiven Zeit Eine funktionierende Sozialpartnerschaft kann nicht als Politiker der Beliebigkeit wahrge- auch als Ergebnis guter Balancen gewertet nommen. werden. Balancen aber sind nicht das Ergebnis von Sturheit. Sie werden möglich, wo klare III. Standpunkte mit der Fähigkeit und dem Willen zum Kompromiss verbunden werden. Die poli- Was hat dazu geführt, den Wert des Kompro- tische Kultur der Bundesrepublik Deutschland misses für die politische Kultur gering zu ist über Jahrzehnte stark geprägt gewesen schätzen? Ich greife zwei mögliche Ursachen davon, dass der Kompromiss anerkannt war heraus: als eine integrierende, ausbalancierende Kraft, die zum Erfolg des Gemeinwesens stark bei- - biographische Prägungen der politi- trägt. Auch die Rhetorik der politischen Akteu- schen Akteure re – quer durch die Parteien – war davon ge- - die gewachsene Bedeutung des Indivi- prägt. Vielleicht ist auch deshalb in Deutsch- dualismus in der Politik land in vielen Bereichen „der dritte Weg“ so beliebt, weil er in der Regel das Ergebnis von Biographien sind für die Politik bedeutsamer Balancen und Kompromissen ist. Jenseits der als oft gedacht – näherhin biographische Prä- Extreme liegt das Gelingen. Um kein Missver- gungen. Sie spielen eine Rolle für die Motive, ständnis aufkommen zu lassen: ich beschreibe in die Politik zu gehen; sie beeinflussen pro- damit keine vergangene Welt, gleichwohl ei- grammatische Positionen; sie wirken sich auf ne, die es immer schwerer hat. In den vergan- Stil, Sprache und Habitus aus; sie prägen poli- genen 30 Jahren hat es eine Reihe von Ent- tisches Selbstverständnis. wicklungen gegeben, die von immer mehr Das alles ist besonders gut zu beschreiben an Menschen – auch in Deutschland – als kompli- der Generation, die in den ersten 40 Jahren ziert und schwer durchschaubar erfahren des Bestehens der Bundesrepublik Deutsch- werden. War das kulturelle Gedächtnis der land Politik gestaltet hat. Ich beschränke mich politischen Akteure zuvor davon geprägt, um auf Deutschland, wenngleich sich Varianten das Unheil zu wissen, dass die großen Verein- auch im Kontext europäischer und internatio- facher in die Welt gebracht hatten, so schwin- naler Politik ausmachen lassen. Schon bei der det dieser Teil des Gedächtnisses heute zu- Rede vom Individualismus aber stoßen inter- gunsten des Wunsches, Eindeutigkeit, ver- nationale Vergleiche an Grenzen. Bleiben wir meintliche Klarheit und einfache Formeln zu also in Deutschland und einer Generation finden. Die biographischen Prägungen haben nach 1949, die geprägt war von den vielfach sich grundlegend verändert. Programmatische beschriebenen Erfahrungen eines Landes in Positionen ebnen den Weg in die Politik weni- Trümmern nach der Nazibarbarei und einer ger als die Fähigkeit zum Netzwerk. Das ist inneren und äußeren Verwüstung. Das war die zeitraubend und anstrengend. Es erfordert stärkste und allgegenwärtige Prägung dieser permanente Präsenz. Es lässt selbst Klausurta- Generation der Gründungsväter und -mütter. gungen zu Kurzzeitveranstaltungen und Sie hat lange nachgewirkt und auch das politi- Crashkursen werden. Wichtiger als eigene sche Selbstverständnis nachfolgender Genera- Beiträge in einer Klausur ist eine Meldung aus tionen bestimmt. Politische Rede war gleich- der Sitzung per Twitter, um in den Medien ermaßen ermutigend und fordernd. Zu den vorzukommen. Was kompliziert ist, muss ein- landläufigen Überzeugungen gehörte jene, fach werden. Das ist nicht grundsätzlich neu wonach das Gemeinwesen Schutz gewährt und empfiehlt sich für Kommunikationsstrate- und deshalb auch schätzenswert ist. Es gelan- gien; für die Lösung von Problemen und für gen damals wichtige Balancen wie die, die in die Kunst des Politischen, die auch Zukunfts- der sozialen Marktwirtschaft zum Ausdruck perspektiven vermittelt, ist es eindeutig zu 14
PSCA Sonderheft (März 2020) – ISSN 2306-5907 wenig. Da bleibt – mag unsere Welt noch so Habitus sind übrigens leicht erkennbar. Es liegt schnelllebig sein – das Bohren dicker Bretter darin kein Fokus auf dem Gemeinwesen oder unvermeidlich. Da ist auch zwingend, Zeiten dem Gemeinwohl. Davon zu sprechen wirkt des Schweigens zu haben, in denen nicht die fast altmodisch. Es gibt auch keine Zumutun- Indiskretion belohnt wird. Die Generationen gen. Es wird überall der Eindruck erweckt, als politischer Akteure, die aus Zeiten der Stabili- müsse eigentlich möglich werden, was gefor- tät und des fortgesetzten Wohlstands kom- dert wird. Diese Haltung, diese Rhetorik und men, entwickeln eine Rhetorik des Bewahrens dieser Habitus könnte die Hauptursache für und einer fast nostalgischen Betrachtung des den Autoritätsverfall der Politik sein. Kom- Erreichten, das es zu verteidigen gilt – auch promisse kommen da nicht vor, weil die Kraft wenn die Gesellschaft schon längst woanders zur Integration der vielen individuellen Inte- ist. Teile dieser Gesellschaft wiederum lassen ressen in eine auf das Gemeinwesen hin orien- sich in ihrer eigenen Unsicherheit darüber, wie tierte Perspektive nicht vorhanden ist. sich die Welt entwickelt und immer kompli- zierter präsentiert, von neuen Vereinfachern IV. ansprechen. Der Wert des Kompromisses be- steht aber gerade darin, nicht zu vereinfachen, Wert und Würde des Kompromisses werden vielmehr komplizierte Sachlagen und wider- anerkannt, wo Komplexität zugegeben wird streitende Interesse wahrzunehmen und um und der Wille vorhanden ist, die Reduktion der einen bestmöglichen Ausgleich bemüht zu Komplexität nicht über schlichte Vereinfa- sein. In diesem Verständnis von politischer chung in Wort und Tat zu versuchen, vielmehr Kultur gibt es nicht Sieger und Besiegte oder über die Mühen der Ebene – will heißen, über Gewinner und Verlierer. Mit dem Wert des eine Durchdringung des Komplizierten, so dass Kompromisses ist verbunden, dass gefunden klarer wird, worum es geht, worüber zu ver- wird und sich alle Beteiligten in der gefunde- handeln ist und was alles zu berücksichtigen nen Lösung wieder finden. Genau dies verach- ist. Das klingt mühsam und ist es auch. Nach- ten am meisten jene, denen es gar nicht um haltige politische Lösungen sind nur so mög- eine politische Lösung geht, die ausschließlich lich. Klarheit zu behaupten, wo es sie nicht die einfache Formel und Frage derer kennen, gibt, ist fahrlässig. Eindeutigkeit zu fordern, die mit ihnen über Verlust und Undurch- wenn daraus überhaupt keine politische Lö- schaubarkeit klagen und letztlich Zuschauer sung erwächst, schafft Politik ab. Kompromiss- des politischen Geschehens bleiben. Diese fähigkeit ist eine zwingende Haltung, wenn Entwicklung ist nach meiner festen Überzeu- eine wachsende Vielfalt in unserer Gesell- gung die größte Herausforderung und letztlich schaft respektiert und daraus ein Gemeinwe- auch Provokation für jene, die politisch gestal- sen gestaltet werden soll. Der Zeitpunkt dafür ten wollen. Sie ist es vor allem für jene, die am ist nicht schlecht, weil die Themen unserer Gedanken der Volksparteien festhalten. Tage – die Bewahrung der Schöpfung gehört Damit bin ich beim Einzug des Individualismus dazu – dem Individualismus neue Grenzen in die Politik. Er war absehbar. Eine durch und setzt. Vielleicht auch deshalb, weil eine junge durch individualisierte Gesellschaft verlangt Generation spürt, dass eine neue Balance über kurz oder lang immer häufiger die Durch- zwischen Individualismus und Gemeinwohl setzung von individuellen Interessen und nicht wichtig wird für die Zukunftsfähigkeit des Ge- den Interessenausgleich. Das ist einmal mehr meinwesens. die Stunde der Netzwerker, die eine Fürspra- che solcher Interessen zusagen. Wenn sie nicht erreichen, was sie zugesagt haben – das ist die Regel – dann sind es immer die ande- ren, die das vermasselt haben. So werden auch zunehmend innerparteiliche Auseinan- dersetzungen geführt. Vertiefende Debatten erübrigen sich für diesen politischen Stil des Individualismus. Die Sprache, der Stil und der 15
Macht – Verantwortung – Freiheit: sollten Sie ihm nicht über den Weg trauen. Ein Kompass zu neuem Denken Entweder er lügt, oder aber er weiß es nicht Rüdiger Lentz besser. In beiden Fällen Vorsicht! Politik ist Machtausübung und muss Macht- Rüdiger Lentz ist Direktor des Aspen Institute ausübung bleiben, allerdings kommt es dabei Germany, einer transatlantischen Denkfabrik, darauf an, welche Ziele durchgesetzt werden die sich der Förderung von wertebasierter sollen, mit welchen Mitteln und in wie weit Führung und dem offenen Diskurs zu gesell- Weg und Ziel demokratisch legitimiert und schaftlichen, politischen und globalen Heraus- kontrolliert sind. Nehmen Sie den Journalis- forderungen widmet. In seiner Laufbahn war mus. Auch er übt die Macht des Wortes aus. Lentz unter anderem Offizier der Bundeswehr, Medienkampagnen können Politiker hoch- Militärkorrespondent des Spiegel, Redaktions- schreiben, runterschreiben und zerstören. Der leiter und Korrespondent der ARD, Chefredak- ehemalige Bundespräsident Wulff weiß davon teur des RIAS und langjähriger Studioleiter der ein Lied zu singen. Und in den USA, wo sich die Deutschen Welle in Brüssel und in Washing- wirtschaftliche Macht seit Jahrzehnten immer ton. Er ist Mitglied der Atlantik-Brücke und der offener durch den Einkauf in Medienunter- Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik nehmen auch der medialen Macht bedient, sowie Gründungsmitglied des German Ameri- hat diese unheilvolle Verbindung erheblich mit can Business Council in Washington. dazu beigetragen, dass Trump als Präsident gewählt werden konnte. Ein Beispiel für über- große Machtkonzentration in den Händen Lassen Sie mich mit einem persönlichen Be- Weniger, die damit gewissenlos umgehen. kenntnis beginnen. Als ich jung war, hatte ich Und in der Wirtschaft? Hier hat man manch- die Ambivalenz der Macht noch nicht begrif- mal den Eindruck, als ob unsere heutige Ma- fen. Meine Helden waren Friedrich der Große, nagerkaste so in ihrem auf Zahlen basierenden Napoleon und später dann Bismarck. Monar- Shareholder-Value-Denken verhaftet ist, dass chen und Staatenlenker, die viel bewegt hat- sie sich gar nicht darüber im Klaren ist, welche ten. Nicht nur Gutes – aber das fiel mir erst Macht sie ausübt, wenn sie an den Stell- sehr viel später auf. Für mich war Friedrich der schrauben ihres Unternehmens dreht. Das Große als aufgeklärter Monarch ein Mensch, Beispiel von Siemens und der geplanten der seine Macht zu einem guten Zweck ein- Schließung des Turbinenwerkes in Görlitz aus setzte und erfolgreich war; Napoleon beein- allein marktwirtschaftlichen und unterneh- druckte mich als Reformer wie als Feldherr, menspolitischen Gründen hat gezeigt, wohin den Rest begrub ich unter meiner jugendli- eine sozial losgelöste, kalte Marktwirtschaft chen Begeisterung für das Außergewöhnliche führen kann. Auch hier wurde übersehen oder und Heroische. Und Bismarck habe ich als negiert, dass Macht eben auch gesellschaftli- Schöpfer des Deutschen Kaiserreiches verehrt, che Verantwortung bedeutet und ihre An- das er zwar mit Eisen und Schwert zusam- wendung Auswirkungen hat, die man vorher mengeführt hatte, aber dann mit einer klugen mit einkalkulieren muss. und aus heutiger Sicht maßvollen Politik mit- Doch nicht immer muss die Verbindung von geholfen hat in die Moderne zu führen. Zu Macht und Geld negativ sein. Ein positiver allen dreien habe ich heute ein wesentlich Leuchtturm ist Bill Gates, der mit dem Einsatz aufgeklärteres und ambivalentes Verhältnis. seiner fast unbegrenzten Geldmittel eine Afri- Allerdings hat das meine Einstellung zur politi- kapolitik zur Bekämpfung von Hunger, Armut schen Machtausübung nicht negativ beein- und Aids initiiert hat und damit der Welt ein flusst. Denn ohne Macht, ohne Machtaus- positives Beispiel geliefert hat, wie man die übung, ohne den Willen zur Macht und ohne Macht des Geldes sinnvoll einsetzen kann. Er die demokratische Legitimation von Macht hat damit viele Staaten dieser Welt und deren und ihrer Regulierung wäre auch unsere heu- begrenzte Hilfsprogramme für Afrika nicht nur tige Welt nicht denkbar. Wenn Ihnen heute übertrumpft, sondern beschämt. Und das hat ein Politiker sagt, er wolle nur Gutes tun und mitgeholfen, auch diese anderen nationalen Machtanwendung sei dabei nicht im Spiel, Player an ihre Verantwortung zu erinnern. 16
PSCA Sonderheft (März 2020) – ISSN 2306-5907 Warum aber haben gerade wir Deutschen ein und gelenktem Staatskapitalismus. Zeit, sich solch gebrochenes Verhältnis zur Macht? Die zu entscheiden und den eigenen Standort zu Antwort darauf ist, dass Deutschland während bestimmen. der Nazi-Diktatur die Anwendung verbrecheri- Die Demokratie braucht ein robustes Mandat scher Macht durch den Beginn von Angriffs- zur Selbstbehauptung. Ich bin überzeugt: Wir kriegen und die Vernichtung der Juden mit müssen unser Postulat der „wehrhaften De- einer bisher nie gekannten und inhumanen mokratie“ ernst nehmen und umsetzen.1 Das Perfektion betrieben hat. Dass sich das deut- reicht von der offensiven Auseinandersetzung sche Volk, das sich seiner klassischen Bildung und Bekämpfung illiberaler und populistischer und seines hohen Zivilisationsstandes rühmte Tendenzen in der Innenpolitik bis hin zu einer und dafür – zum Teil jedenfalls – weltweit robusten Verteidigungs- und Abschreckungs- geachtet und anerkannt war, dem Machtmiss- politik nach außen. brauch so total verschrieben hat, bleibt noch Mehr Verantwortung in der Welt für Deutsch- heute eines der Phänomene der modernen land – das seit Jahren postulierte aber nicht Geschichte. umgesetzte Credo der deutschen Außenpolitik Macht, damit sie nicht verbrecherisch und – gibt es nicht zum Nulltarif! Das ist mit Kosten gegen andere Menschen oder Staaten einge- und Risiken verbunden. Und notfalls auch mit setzt werden kann, braucht Gegenmacht, der Androhung und dem Einsatz militärischer braucht Kontrolle, braucht verantwortungsvol- Macht und Mittel. le Führer. In einer Welt, in der gegenwärtig Und nach innen? Jeder Einzelne ist aufgefor- Autokraten und Diktatoren, sogenannte dert, den gesellschaftlichen Diskurs und Dialog „Strong Men“, an Macht und Einfluss gewin- mit den populistischen und illiberalen Kräften nen und obendrein Gesellschaftsmodelle pro- zu suchen und offensiv zu führen. Und eine pagieren, die offensichtlich auch in unseren schonungslose Analyse unserer gegenwärtigen westlichen demokratischen Gesellschaften Situation muss auch die Benennung von Fak- zunehmend als Alternative gesehen werden, toren mit beinhalten, was kämpferische De- kommt es darauf an, die Macht nicht nur zu mokratie heißt: zuvorderst geistige Führung verteufeln und ihre negativen Seiten zu kriti- und die Bewahrung und Durchsetzung von sieren, sondern sie im Politischen wie Wirt- Regeln. Ihre Durchsetzung – notfalls auch ge- schaftlichen und Militärischen als das zu be- gen die Partikularinteressen von Minderheiten greifen, was sie ist: ein Mittel zum Zweck, um – sichert die Freiheit für die Mehrheit. Inso- positiv gesetzte Ziele zu erreichen – sei es bei fern schließen sich Macht und Freiheit nicht der NATO durch militärische Abschreckung aus. Macht ist geradewegs eine Voraussetzung und militärische Macht andere davon zu hin- von Freiheit, weil sie die Bedingungen der dern uns ihren Willen politisch oder militärisch Möglichkeit ihrer Entfaltung sichert. aufzuzwingen; sei es in der Wirtschaft durch Und denjenigen, die qua Amt legitimiert sind, ein machtvolles „Umsteuern“ in Bereichen, wo Macht auszuüben? Ihnen sei ins Stammbuch Reformen längst überfällig und notwendig geschrieben, es handelt sich immer um eine sind; oder in der Politik, wo geistige wie politi- demokratisch verliehene Macht. Sie muss sche Führung heute mehr denn je notwendig immer wieder erworben und durch Leistung ist. wie Überzeugung ständig legitimiert werden. Macht-Verantwortung-Freiheit: in diesem Das unterscheidet unsere offenen liberalen Dreiklang spielt der eigene Kompass, die eige- Gesellschaften vom Gotteskönigstum und der ne individuelle Werteverortung eine entschei- „alleinseligmachenden“ Machtausübung von dende Rolle: Religionen und Kirchen. In Zeiten zunehmender Illiberalität, der welt- Wer keine Macht anstrebt und nicht bereit ist, weiten Bedrohung werte- und regelbasierter Macht auszuüben, taugt nicht als Führer. Er Ordnung ist es Zeit, die eigene Verantwortung muss sich allerdings dabei auch der Risiken neu zu bestimmen: Zwischen Individualität 1 und Zwangskollektivierung, zwischen offenen Thiel, Markus (Hrsg.) (2003): Wehrhafte Demo- und geschlossenen Gesellschaftssystemen, kratie. Beiträge über die Regelungen zum Schutze zwischen kapitalistischen Wirtschaftsmodellen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag. 17
PSCA Sonderheft (März 2020) – ISSN 2306-5907 klar sein, die damit verbunden sind. Macht muss immer wieder infrage gestellt werden. Wer Macht hat, muss auch bereit sein, sie wieder abzugeben. Auch das gehört zum de- mokratischen Prozess. Ein deutscher Politiker, der immer Macht angestrebt hat, sie aber maßvoll und für überzeugende und mehrheits- fähige Ziele eingesetzt hat, war Helmut Schmidt. Unvergessen ist, wie er als Innense- nator Hamburgs bei der Flutkatastrophe 1962, ohne dafür legitimiert zu sein, weder vom Senat noch vom ersten Bürgermeister noch von den Gesetzesgrundlagen, die Bundeswehr per persönlicher Order zum Rettungseinsatz verpflichtet hat und damit seine Kompetenzen weit überschritten hat. Er hatte Macht usur- piert, aus der Notlage heraus gesehen, was notwendig war und dann das Richtige getan. Hätte er gezögert und sich auf die Gesetzesla- ge allein berufen, wären möglicherweise Tau- sende von Menschen ertrunken. Das Gegenbeispiel ist das Massaker von Srebrenica 1995. Dort hatte das niederländi- sche Bataillon DutchBat sein UN- Schutzmandat restriktiv ausgelegt und es da- mit geschehen lassen, dass Tausende von bosnischen Männern und Jugendlichen durch die serbische Soldateska abgeschlachtet wur- den. Humanität und Auftrag hätten es dem holländischen Kommandeur und seinen Solda- ten geboten, die Schutzmachtfunktion für die bosnischen Flüchtlinge offensiv, d.h. auch durch die Anwendung militärischer Gewalt, auszuüben. Stattdessen leisteten sie einem Völkermord Vorschub. Es gibt sie also, diese Ambivalenz der Anwen- dung oder Nichtanwendung von Macht. Letzt- lich hängt es von dem inneren Kompass und dem Wertekanon des Einzelnen ab, wie, zu welchem Ziel und v.a. mit welcher Legitimati- on Macht eingesetzt wird. 18
Individuum, Macht und Demokratie Begriff des Einflusses trennen, bedeutet sie Ralf Tils aktive Wirk- und Durchsetzungsmöglichkeit in sozialen Interaktionen – auch und vor allem Ralf Tils lehrt als außerplanmäßiger Professor gegen Widerstand.2 Dazu braucht es mobili- Politikwissenschaft an den Universitäten Lü- sierbare Ressourcen als Machtmittel, seien sie neburg und Bremen. Als Mitinhaber der Agen- materieller (Geld, Infrastruktur) oder immate- tur für Politische Strategie (APOS) berät und rieller (Wissen, Rhetorik, Entscheidungsbefug- trainiert er politische Akteure in Strategiefra- nis) Natur. Macht zielt auf die Realisierung gen. eigener Präferenzen gegen Widerstreben aus der Umwelt. Worauf sich diese Präferenzen beziehen, bleibt offen. Es können Eigeninte- ressen oder Interessen eines Kollektivs bzw. Donald Trump, Boris Johnson, Victor Orbán der Allgemeinheit sein. Das aber macht einen sind nur ein paar Namen von individuellen Unterschied ums Ganze. Akteuren, die aktuell zeigen, wie schnell auch Kollektive Akteure prägen demokratische poli- in etablierten Demokratien die Verselbständi- tische Systeme. Das gilt sowohl für präsidenti- gung von ausschließlich selbstbezüglicher elle wie auch für parlamentarische Demokra- Machtorientierung bei Spitzenpolitikern zu tien. Immer sind es Kollektive als Regierungen, einem Problem für die gesamte politische Parteien oder Parlamente, über die sich Ent- Ordnung werden kann. Individuelle Machtego- scheidungen und Macht in Demokratien reali- isten greifen grundlegende Strukturprinzipien sieren – mit je nach System unterschiedlichen funktionierender Demokratien wie Gewalten- Einfluss- und Machtmöglichkeiten des einzel- teilung zwischen Exekutive und Parlament, nen Individuums. Der zentrale Mechanismus Rechtsstaatsprinzip oder Pressefreiheit an, um der Übertragung individuellen Handelns auf ihre eigenen Machtbedürfnisse zu befriedigen. den Kollektivzusammenhang ist Zurechnung. Sie versuchen, die eingespielten Balancen Nur im Wege der Zurechnung wird das Han- zwischen individueller Macht und kollektiver Demokratie in ihrem Sinne auszuhebeln – mit deln von Spitzenakteuren zum Handeln der potenziell gefährlichen Folgen für die Gesamt- übergeordneten Einheit. Kollektivakteure handeln vermittelt über ihre Repräsentanten. arithmetik des politischen Systems. So werden Diese agieren und kommunizieren als Stellver- in Ländern wie den Vereinigten Staaten von treter der gesamten Einheit und konstruieren Amerika, Großbritannien oder Ungarn demo- damit erst die Realität eines Gesamtakteurs. kratische Funktionsprinzipien und politische Von den beteiligten Individuen werden Institutionen wie Parlamente, Gerichte, Par- Machtmittel für die interne Entscheidungs- teien vor ernsthafte Belastungsproben ge- durchsetzung, Mobilisierung oder Sicherung stellt. Das, so viel steht schon jetzt fest, ver- von Unterstützung eingesetzt. Argumentieren, formt eingeführte demokratische Spielregeln überreden, versprechen, drohen, anweisen, und politische Kulturelemente negativ. Ge- fährliche Entwicklungen wie diese sind Anlass sanktionieren, belohnen, verhandeln, tau- schen sind dabei positive bzw. negative Steue- genug, einmal über das grundlegende Ver- rungsmittel, die ihre „Kraft“ aus dem Inneha- hältnis von Individuen und Macht in etablier- ben von Positionen und den damit verbunde- ten Demokratien nachzudenken. nen Verteilungsressourcen, kommunikativen Macht ist ein universelles Medium der Politik.1 Fähigkeiten oder Informationsasymmetrien Will man Macht analytisch vom konturenlosen beziehen. Bevor also Zurechnung von draußen 1 greifen kann, kämpfen Individuen drinnen um Weiß, Ulrich 1995: Macht, in: Nohlen, Diet- er/Schultze, Rainer-Olaf (Hg.), Lexikon der Politik, Macht. Deswegen ist die Unterscheidung von Band 1: Politische Theorien, München: Beck, 305- Macht nach innen und Macht nach außen so 315. Wiesenthal, Helmut 2006: Gesellschaftssteue- wichtig. Einmal geht es im Binnenverhältnis rung und gesellschaftliche Selbststeuerung. Eine Einführung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwis- 2 senschaften. Meier, Dominik/Blum, Christian 2018: Weber, Max 1980: Wirtschaft und Gesellschaft. Logiken der Macht. Politik und wie man sie be- Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Auflage, herrscht, Baden-Baden: Tectum. Tübingen: Mohr. 19
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