Die neue Kriminalisierungswelle der Solidarität und Rettung in Italien
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Palermo, 09. März 2021 Staatsanwalts von Ragusa der politischen Aus- richtung der Regierung zu entsprechen, so- 1. Die Seenotrettung wohl der amtierenden als auch der vorange- gangenen. Diese scheinen nicht davon abzu- Die Forderung nach einem sicheren Hafen weichen, dass "sich das Prinzip der Rettung kann ganz bestimmt nicht als Versuch gesehen von Migrant*innen vor Libyern nicht durchset- werden, eine Regierung zu erpressen. Denn es zen darf.“ sind mit Sicherheit nicht die Schiffe der NGOs, die diesen Druck ausüben – es ist das interna- Etienne und Mare Jonio: Geld gegen Transfer? tionale Recht, dass einen sicheren Hafen für Schiffbrüchige vorschreibt. Doch nur zu gern Ein neuer absurder Höhepunkt der Kriminali- wird dies ignoriert, ist es doch viel bequemer – sierungsdebatte wurde mit dem Vorwurf der und wahlwirksamer –, den schwarzen Peter Staatsanwaltschaft von Ragusa am 1. März denjenigen zuzuschieben, die die politische 2021 erreicht. Diese gab eine Pressemitteilung Suppe der bilateralen, unmenschlichen Ver- heraus, in der sie über die Vollstreckung des träge auslöffeln. Die Öffentlichkeit, so der Asyl- Dekrets der "persönlichen und lokalen Durch- rechtsexperte Fulvio Vassallo Paleologo, ist suchung und Beschlagnahme" gegen einige seit Jahren darauf gedrillt, die Schuld den Or- Personen, die der Plattform Mediterranea an- ganisationen zuzuschieben, die Menschenle- gehören, informiert. Vorgeworfen wird ihnen ben auf See retten. Bisher ist nicht ein Fall ge- Straftatbestand der "Beihilfe zur illegalen Ein- gen eine NGO wirklich beendet worden, doch reise". Angeblich soll Mediterranea von der die Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung dänischen Container-Tankerfirma MAERSK im Zentralen Mittelmeer erlebt gerade ein Geld für die Übernahme von 27 Geretteten auf neues Hoch. deren Schiff Etienne erhalten haben. Der Fall der Open Arms 2018 waren der Kapitän und die Missionsleite- rin der Open Arms von der Staatsanwaltschaft Ragusa wegen Beihilfe zur illegalen Einreise an- geklagt worden. Sie hatten am 15. März 2018 auf ausdrücklichen Wunsch der italienischen Seenotrettungsleitstelle 218 Personen in inter- nationalen Gewässern gerettet und diese dann nach Pozzallo auf Sizilien gebracht. Der Richter in der Vorverhandlung entschied Anfang No- vember 2020 jedoch, dass es keinen Straftat- Foto: Kai von Kotze/Sea-Watch.org bestand gebe. Am 29. Januar 2021 legte die Staatsanwaltschaft von Ragusa Berufung ge- Die Rettung der Etienne im August 2020 ging in gen das Urteil ein: Wenn das Prinzip, dass Mig- die Geschichte als längster so genannter rant*innen nicht nur vor einem möglichen „stand off“ von Schiffen ein, die auf die Zuwei- Schiffbruch, sondern auch vor den Libyern ge- sung eines sicheren Hafen für gerettete Mig- rettet werden müssen, durchgesetzt wird, be- rant*innen warten. steht die Gefahr, dass sich jeder organisieren könnte, um Migrant*innen nach Italien zu brin- Am 4. August hatte die Seenotrettungsleit- gen. Und dies nicht unbedingt zu ausschließlich stelle Malta die Etienne aufgefordert, zur Ret- humanitären Zwecken". Nun wird der Fall also tung zu eilen, dem diese auch sofort nachkam. wieder aufgerollt. Fulvio Vassallo Paleologo Doch seitdem saßen die Geretteten 38 Tage bringt dies in Zusammenhang mit der Haltung auf der Etienne fest, bis die Mare Jonio sie- der italienischen Regierungen: „Unabhängig übernahm und nach Pozzallo brachte. Volodi- vom Ausgang dieser Berufung aus verfahrens- mir Yeroshkin, der Kapitän der Etienne, ver- rechtlicher Sicht scheint die Position des langte nach vier Wochen des Wartens per Vi- deo endlich eine Lösung zu finden, da niemand 2
an Bord des Tankers ausgebildet sei, die Geret- punkt finanzielle Absprachen für die Über- teten medizinisch und psychisch zu betreuen. nahme der Geretteten gegeben habe. Die an- Die Pressemitteilungen der Staatsanwaltschaft gebliche Straftat: die nun unter Anklage ste- Ragusa am 1. März sind mehr als kryptisch, erst henden Vertreter von Mediterranea, A- mit einer nachfolgenden Erklärung von Medi- lessandro Metz und Giuseppe Caccia (ebenso terranea wird klarer, worum es sich eigentlich angeklagt sind Luca Casarini und Pietro handelt: „Heute im Morgengrauen wurde eine Marrone), hatten einen Monat nach der An- groß angelegte Polizeiaktion gegen Mediter- kunft der 27 Geflüchteten Vertreter der MA- ranea Saving Humans gestartet. Die Staatsan- ERSK Tankers getroffen. Die Tageszeitung waltschaft von Ragusa hat die Durchsuchun- Avvenire zitiert: „Das Zusammentreffen hat gen koordiniert, die von Dutzenden von sich "im Rahmen von Zusammenkünften mit Agent*innen in ganz Italien durchgeführt wur- den Vertretungsorganisationen der dänischen den, in Wohnungen, Firmenbüros und auf dem und europäischen Reeder ereignet, mit denen Schiff Mare Jonio. Die Anschuldigungen sind wir die Probleme der Handelsschiffe bespre- schwerwiegend, aber in Wirklichkeit zielen sie chen wollen, die im Mittelmeer fahren. Es ging darauf ab, die zivile Seenotrettung zu treffen, um eine gemeinsame Forderung, damit die eu- die Mediterranea seit 2018 (…) durchführt. (…) ropäischen Staaten die relativen Verpflichtun- Der Staatsanwalt von Ragusa hat mehrmals öf- gen zur Koordination der Rettungen und der fentlich seinen Kreuzzug gegen NGOs nach au- Ausschiffung der im Meer geborgenen Perso- ßen getragen und ist dabei so weit gegangen, nen respektieren". zu behaupten, dass "es notwendig ist, die Idee, Die Ermittler hingegen behaupten, dass sie Migrant*innen aus den Händen der Libyer zu über Elemente verfügen, aus denen eine Ver- befreien, nicht einreißen zu lassen". Es handelt ständigung vor der Umladung als "plausibel" sich heute um ein echtes "juristisches Theo- angesehen werden kann.“ rem", bei dem davon ausgegangen wird, dass Interessant und wichtig ist die Auslegung des die Rettungs- und Bergungsaktivitäten mit Ge- Juristen Stefano Zirulia der Staatlichen Univer- winnstreben verbunden sind. Die unterstellte sität in Mailand: „Die Staatsanwaltschaft von "Intrige" ist so surreal, dass es offensichtlich Ragusa eröffnete ein Verfahren wegen Beihilfe ist, was das erste und wahre Ziel dieser Opera- zur illegalen Einreise und behauptete, Beweise tion ist: Diese "Schlamm-Maschinerie" zu dafür zu haben, dass die Überführung der schaffen, die wir so oft in unserem Land in Ak- schiffbrüchigen Migrant*innen von dem däni- tion gesehen haben (…). Mit den Durchsuchun- schen Schiff auf das italienische Schiff auf der gen sollten "Beweise" gefunden werden, aber in Wirklichkeit basiert die Anklage, trotz tau- Grundlage einer kommerziellen Vereinbarung sender Stunden von Telefonabhörungen, nur erfolgte, bei der der Eigentümer des dänischen auf Vermutungen, die bald wie Schnee in der Schiffes eine hohe Geldsumme für die von dem Sonne schmelzen werden". italienischen Schiff erbrachte Leistung zahlte. Unbeschadet der Tatsache, dass das tatsächli- che Geschehen in der Gerichtsverhandlung festgestellt werden muss, erscheint die Beto- nung wirtschaftlicher Aspekte objektiv unver- hältnismäßig und lenkt letztlich von den ei- gentlichen Fragen ab. In Italien hängt die straf- rechtliche Verantwortlichkeit für das Verbre- chen der Beihilfe zur irregulären Einwande- rung nämlich nicht davon ab, dass man aus Ge- winnstreben gehandelt hat; sie hängt vielmehr davon ab, dass man undokumentierte Mig- Foto: Mediterranea Saving Humans rant*innen illegal nach Italien transportiert hat Kis Soegaard, Pressesprecher der MAERKS Tan- (Artikel 12 des Einwanderungsgesetzes).“ kers, lässt verlauten, dass es zu keinem Zeit- Sprich: der Tatbestand des gewinnorientierten Handelns ist ein erschwerender Fakt, er kann, 3
muss aber nicht mit dem Straftatbestand der Vorwand bot der Staatsanwaltschaft in Beihilfe zur illegalen Einreise einhergehen. Und Catania, die seit Jahren für die Kriminalisierung hier kommt es laut Zirulia zum Problem der Kri- der Seenotrettung bekannt ist, endlich eine minalisierung der Solidarität, denn auf der An- Möglichkeit, das Schiff der beiden Organisatio- klagebank landen gleichermaßen Angeklagte, nen aus dem Verkehr zu ziehen. Der Prozess die aus Gewinnstreben gehandelt haben wie soll im November 2021 beginnen. Angeklagt sind letztendlich drei Mitarbeiter von MSF und auch diejenigen, die uneigennützig handelten. ein Mitarbeiter einer Müllentsorgungsfirma. Interessant und ein Vorreiter in dieser Diskus- Das Verfahren könnte noch auf weitere zehn sion ist das Urteil des Kassationsgerichtshofes Personen ausgedehnt werden, die derzeit we- im Falle der Kapitänin der Sea-Watch3, Carola gen Verfahrensfehlern nicht belangt werden Rackete, die dem „stand off“ der Geretteten konnten. auf ihrem Schiff mit der Einfahrt in den Hafen Ebenfalls am 2. März wurde auch das Gericht von Lampedusa ein Ende setzte. Das Gericht in Trapani, welches wegen angeblicher Beihilfe erklärte, dass der Transport von Schiffbrüchi- zur illegalen Einreise ermittelt, gegen MSF ak- gen nach Italien nicht als "illegal" angesehen tiv. MSF dazu: "Nach jahrelangen Ermittlungen werden kann, auch dann nicht, wenn es sich haben wir gestern von der Staatsanwaltschaft um Menschen ohne Papiere handele: Die Trapani den Bescheid über die Einstellung der Pflicht zur Rettung von Menschenleben in Ge- Ermittlungen wegen Beihilfe zur illegalen Ein- fahr, die durch die Seerechtskonventionen reise [und damit zum Auftakt der Prozessfüh- (Unclos, Sar und Solas) sanktioniert wird, über- rung, Anm. der Red.] zusammen mit anderen wiegen gegen das staatliche Interesse am humanitären Schiffen erhalten. Vom Ermitt- Schutz der Grenzen. Damit wurde Carola Ra- lungsrichter Catanias kam die Entscheidung ckete vom höchsten italienischen Gericht frei- des Beginns eines Verfahrens wegen illegalen gesprochen. Auch im Falle der Mare Jonio/Eti- Müllhandels", betont Ärzte ohne Grenzen. enne verhalte es sich so, erklärt Zirulia. Es gehe „Die Entscheidungen der Justiz in wenigen um die Einhaltung der Pflicht der internationa- Stunden verlängern die Liste der zahlreichen len Konventionen. Wenn es jedoch keine Bei- Versuche, die Seenotrettung zu kriminalisie- hilfe zur illegalen Einreise gibt kann es auch ren. Bis heute konnte keine der Anklagen be- keinen erschwerenden Tatsachenbestand des stätigt werden, doch haben sie die Rettungs- Gewinnstrebens geben. Das sei „wie die Vor- einsätze gefährlich schwächen können." stellung, ein Haus einzurichten, das noch kein Dach und keine Wände hat: Unsinn.“ Die Staatsanwaltschaft von Ragusa ist sich dessen sicher bewusst, bleibt also die Frage, warum, wenn nicht politisch motiviert, sie so handelt. Die Klagen gegen Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée Während die Staatsanwaltschaft von Ragusa gegen die Mediterranea vorgeht entschied das Gericht in Catania am selben Tag, den Prozess Foto: Iuventa10 gegen MSF (Ärzte ohne Grenzen)/SOS Médi- terranée zu beginnen. Vor mehr als zwei Jah- Der Fall der IUVENTA ren, im November 2018, hatten die Behörden Das Klageverfahren gegen MSF in Trapani be- das Schiff der beiden Organisationen, die trifft auch damalige Crewmitglieder der Iu- Aquarius, festgelegt, was letztendlich zur Auf- venta (Jugend rettet) und die Organisation gabe des Schiffes führte. Angeblich hätten die Save the Children. Organisationen den Müll des Schiffes, vor al- lem den Sondermüll, falsch entsorgt. Dieser 4
Es geht auf Rettungsfälle aus den Jahren 2016 schlussendlich die Bekämpfung dieser Men- und 2017 zurück. Am 02. August wurde die IU- schen selbst. Wir müssen uns fragen: Was für VENTA zum Einlaufen in den Hafen von Lampe- ein Europa ist das, in dem das Retten und Un- dusa gezwungen. Es war die letzte Fahrt des terstützen von Menschen in Not bestraft wird, Rettungsschiffs im Mittelmeer, da es präventiv während gewaltvolle Pushbacks und das Ster- beschlagnahmt und die Besatzung der Beihilfe benlassen von Menschen zur Normalität er- von zur illegalen Einreise und Kontakte zu klärt werden?“ Menschenschmugglern angeklagt wurde. Diese haltlosen Behauptungen sollen an drei Die Freilassung der Sea Watch 4 Rettungsaktionen (eine am 10. September 2016 und zwei am 18. Juni 2017) festgemacht Kaum zu glauben ist hingegen die Wendung im werden, an denen die Besatzung angeblich mit Fall der Sea Watch 4. Sie war am 19. Septem- libyschen Schmugglern kommunizierte. Trotz ber 2020 nach einer Rettung im Hafen von Pa- der minutiösen Aufarbeitung von Foto- und Vi- lermo festgesetzt worden, nun kam sie nach deomaterial der Rettungsaktionen durch Fo- fast einem halben Jahr der Untätigkeit endlich rensic Architecture, die die Anklagepunkte aus frei. Die italienischen Behörden hatten die Sea- dem Weg räumt, wurden der Einspruch beim Watch 4 nach einer Hafenstaatkontrolle unter zuständigen Gericht, sowie der darauffolgende fadenscheinigen Gründen festgesetzt. Zu viele Widerspruch beim Kassationsgericht abge- [sic!] Rettungswesten seien an Bord war eine lehnt. Das Ermittlungsverfahren wurde Anfang dieser Begründungen. Am 2. März hat das Ver- März 2021 beendet und das Gericht wird nun waltungsgericht in Palermo, das seit Dezember einen Prozess einleiten. 21 Personen und drei 2020 auf eine Entscheidung des Europäischen Organisationen sind angeklagt, darunter bis- Gerichtshofes in diesem Fall wartete, die Fest- her vier Mitglieder der Iuventa10 sowie MSF setzung vorläufig aufgehoben. Bleibt abzuwar- und Save the Children , die 2017 das Rettungs- ten, was der EuGH entscheidet. schiff Vos Hestia betrieben. Den Besatzungs- mitgliedern, die der „Beihilfe zur illegalen Ein- wanderung“ angeklagt werden, drohen im Falle einer Verurteilung bis zu 20 Jahre Gefäng- nis. In einer Presseerklärung von Solidarity at Sea /Iuventa10 schreibt Francesca Cancellaro, Anwältin der Iuventa10: “Menschenleben zu retten ist niemals ein Verbrechen. Wir werden beweisen, dass alle Einsätze der Iuventa völlig legal waren. Die Freiwilligen der Iuventa sta- chen zu einer Zeit in See, in der sich die EU aus dem Mittelmeer zurückzog und es damit zu ei- Die Sea Watch im Hafen von Palermo, Foto: Giuseppe nem Massengrab für Europas Unerwünschte Mazzola machte. Sie stachen in See, um nichts weniger als das Recht auf Leben und das Recht, Asyl zu Das Schiff läuft unter deutscher Flagge und die beantragen, zu schützen – so wie es das Völ- Feststellungen der angeblichen Mängel der kerrecht, aber vor allen Dingen mitmenschli- Hafenstaatkontrolle bedeuten auch, dass der che Solidarität fordert.” Michel Brandt, MdB Flaggenstaat seine Arbeit nicht richtig macht. und Obmann der Fraktion DIE LINKE im Aus- Die deutschen Behörden bestätigten daher ge- schuss für Menschenrechte und Humanitäre genüber Sea-Watch wiederholt, dass die Sea- Hilfe und stellvertretender Vorsitzender des Watch4 alle Sicherheitsvorgaben erfülle. In der Migrationskomitees im Europarat, zur Anklage Presseerklärung von Sea-Watch heißt es: „Die von Seenotretter*innen durch die Staatsan- Richterin stellte klar, dass die Sicherheit der waltschaft in Trapani: „Die Anklage ist Teil ei- ner gezielten Diffamierungs- und Kriminalisie- Schiffe auch im Falle von Notsituationen durch rungskampagne. Ziel ist die Bekämpfung jeder den Flaggenstaat und den Schiffskapitän ge- Solidarität mit Menschen auf der Flucht und währleistet ist. Sie betonte zudem, dass – in je- 5
dem Fall – der Transport von geretteten Perso- da, wo die Regierung untätig bleibt bzw. be- nen an Bord auf die Zeit beschränkt ist, die für wusst Unterstützung versagt. ihre Anlandung an einem sicheren Ort unbe- In den letzten Monaten wurden zusätzlich die dingt erforderlich ist.“ Grenzkontrollen intensiviert: die ankommen- 2. Solidarität an Land – die Kriminalisie- den Menschen wurden entweder direkt in Ge- ung der Arbeit von Linea d’Ombra in Triest wahrsam genommen, meist ohne jegliche Er- klärung oder Informationen zu bekommen, borderline-europe, 05. März 2021: Am Morgen oder illegal von der Grenzpolizei nach Slowe- des 23. Februars 2021 führte ein Sonderkom- nien zurückgeschoben. Dies verursacht eine mando der italienischen Staatspolizei eine Raz- Kettenreaktion, bei der die Pushbacks über zia im Haus von Lorena Fornasir, einer 68-jäh- Slowenien durch Kroatien zurück bis nach Bos- rigen Psychotherapeutin, und Gian Andrea Franchi, einem 84-jährigen ehemaligen Philo- nien und Herzegowina reichen, wo die Ge- sophielehrer, durch. Seit Jahren setzen sich flüchteten teilweise unter unmenschlichen Be- beide in der Hafenstadt Triest, Italien, für die dingungen ausharren müssen. Italien streitet Rechte Geflüchteter und Migrant*innen ein. jedoch ab, dass es sich hierbei um illegale Im Jahr 2019 gründeten sie die Freiwilligenor- Pushbacks handelt. Zu dem Zeitpunkt der Raz- ganisation "Linea d'Ombra", die finanzielle zia kam eine iranisch-kurdische Familie bei Mittel zur Unterstützung von Schutzsuchen- Gian Andrea unter, der er half. Gegen Gian An- den sammelt. Bei der Ankunft der Menschen drea Franchi läuft nun ein Ermittlungsverfah- an den Grenzen stellen sie ihnen Nahrung, Klei- ren, welches ihn der Beihilfe zur illegalen Ein- dung und medizinische Versorgung zur Verfü- wanderung beschuldigt. Das durchsuchte Pri- gung. Außerdem reisen sie monatlich nach vathaus der beiden bildete ebenfalls die Zent- Bosnien, um dort Migrant*innen und Akti- rale des Vereins "Linea d'Ombra". Es wurden vist*innen vor Ort zu helfen. Die Hafenstadt ist nur wenige Kilometer von der slowenischen dabei private Telefone, Geschäftsbücher und Grenze entfernt und für viele Menschen auf etliche Materialien beschlagnahmt, die nun als der Flucht lediglich eine Etappe auf einem be- Beweismaterialien behandelt werden. Wäh- schwerlichen Weg über die Balkanroute, die rend die Europäischen Staaten systematisch sie zu ihrem Zielort bringen soll. die Rechte Schutzsuchender ignorieren und verletzen, verfolgen sie außerdem diejenigen, die nicht weg-, sondern hinschauen. Die Akti- vist*innen Gian Andrea Franchi und Lorena Fornasir werden nun für ihre solidarische Hilfe kriminalisiert. Ihre Handlungen werden von der Regierung in der Öffentlichkeit diskredi- tiert und zur Zielscheibe polizeilicher Ermitt- lungstätigkeit gemacht. Europaweit fand am 6. März aus dem Anlass der Anklagen gegen Gian Andra Franchi und Aktion 06. März 2021 in Palermo, Foto: Alessandro Lupa- Lorena Fornasir ein Aktionstag gegen die Krimi- rello nalisierung der Solidarität statt. Während des COVID-19 Ausbruchs im letzten Jahr steckten viele Menschen in der Stadt fest, Weitere Texte zum Thema: da die Grenzen nacheinander geschlossen ECRE: Italy Steps up Criminalisation of the Civil wurden. Bis zu 200 Menschen befanden sich in Fleet as Dozens Die at Sea, 05.03.2021 der Stadt, die nach der langen Fluchtroute am Ende ihrer Kräfte waren, keine Unterkunft hat- ADIF: Perché si devono “salvare i migranti dai ten und Hilfe benötigten. Organisationen wie libici”, e dai governi europei, 03.03.2021. "Linea d'Ombra" unterstützten die Menschen 6
Eine deutsche Übersetzung dieses Grundla- Kontakt gen-Artikels findet sich hier. borderline-europe Menschenrecht ohne Grenzen e.V. Il Fatto Quotidiano: I racconti dei migranti re- https://www.borderline-europe.de/ spinti a Trieste: “Ho gridato ‘siamo in Slove- mail@borderline-europe.de nia’. Il poliziotto italiano mi ha afferrato e jg@borderline-europe.de detto ‘tu scendi per primo’”, 08.03.2021 borderline-europe: Video internationaler Akti- onstag gegen die Kriminalisierung der Solidari- tät, Aktion in Berlin 06.03.2021 Forum Antirazzista di Palermo: Video interna- tionaler Aktionstag gegen die Kriminalisierung der Solidarität, Aktion in Plaermo 06.03.2021 Un ponte di corpi: Video internationaler Akti- onstag gegen die Kriminalisierung der Solidari- tät, Zusammenstellung aus 35 Städten, 06.03.2021 Aktion 06. März 2021 in Palermo, Eine Brücke der Körper. Foto: Giuseppe Mazzola Titel: Aktion 06. März 2021 in Palermo Foto: Alessandro Luparello 7
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