Kein großer Wurf Muriel Asseburg - Stiftung Wissenschaft und Politik

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Arbeitspapier
Forschungsgruppe
Naher/Mittlerer Osten und Afrika
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale
Politik und Sicherheit

                                        Muriel Asseburg

                                        Kein großer Wurf
                                        Eine vorläufige Bilanz europäischer Politik in
                                        Nordafrika seit Beginn der
                                        Transformationsprozesse

                                        Vortrag bei der 2. Mittelmeerkonferenz der
                                        Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit
                                        „Zwischen Fortschritt und Stagnation. Handlungs-
                                        felder und Erfordernisse deutscher und europäi-
                                        scher Mittelmeerpolitik“, 25. April 2013

                                        FG6-AP Nr. 1/2013
                                        August 2013
                                        Berlin
Inhalt

                               Einführung 3
SWP
Stiftung Wissenschaft und      Zum Stand der Transformationsprozesse 4
Politik
Deutsches Institut für         Europäische Politik und Maßnahmen 6
Internationale Politik und     EU-Reaktion auf den Umbruch 6
Sicherheit
                               Eine neue ENP 7
Ludwigkirchplatz 3­4           EU-Krisen- bzw. -Konfliktmanagement 9
10719 Berlin
                               Haupthürden effektiver europäischer Politik in der
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100          Region 11
www.swp-berlin.org
                               Haupthürden effektiver europäischer Politik in der
swp@swp-berlin.org
                               Region 11
Arbeitspapiere sind Arbeiten   Die Europäische Finanz- und Schuldenkrise 11
im Feld der Forschungs-        Beschränkte Gestaltungs- und Transformationskraft
gruppe, die nicht              der EU 12
als SWP-Papiere heraus-        Die Partnerseite 12
gegeben werden. Dabei kann     Ägypten: Ein sperriger Partner 12
es sich um Vorstudien zu
späteren SWP-Arbeiten          Schlussfolgerungen und Politikempfehlungen 15
handeln oder um Arbeiten,
die woanders veröffentlicht
werden. Kritische Kommen-
tare sind den Autoren in
jedem Fall willkommen.
Einführung                                                  Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden
                                                         der Frage „Wie haben sich die europäischen Maßnah-
                                                         men zur Stabilisierung der Transformationsländer, die
                                                         aufgestockten Finanzmittel im Rahmen der Europäi-
                                                         schen Nachbarschaftspolitik (ENP) und die Sonderpro-
Der sogenannte Arabische Frühling hat nicht nur die      gramme zur Unterstützung des Demokratisierungs-
Region nachhaltig verändert, er hat sich auch auf die    prozesses ausgewirkt?“ auf den Grund gehen. Dazu
Perzeption der arabischen Länder in Europa und auf       möchte ich im Folgenden auf vier Punkte eingehen:
die europäische Politik ausgewirkt. In Europa trafen     1.     Wo stehen die Transformationsprozesse heute?
die jungen Araberinnen und Araber, die die Proteste      2.     Welche Maßnahmen sind von Seiten der EU
angeführt haben, mit ihren Forderungen auf enorme               und ihrer Mitgliedstaaten ergriffen worden?
Empathie. Die Bürgerproteste in der arabischen Welt             Und welchen Effekt haben diese gehabt?
haben das Bild der Region in den europäischen Medi-      3.     Was sind die Haupthürden effektiver europäi-
en, Öffentlichkeiten und in der politischen Klasse              scher Politik in der Region?
verändert. Dabei war die, wenn auch von Land zu          4.     Welche Folgerungen lassen sich daraus ablei-
Land unterschiedlich starke, Beteiligung von Frauen             ten?
an den mutigen Protestaktionen ein wichtiges Ele-
ment. Die Proteste wurden in Europa, zumindest ganz
überwiegend, als auf der richtigen Seite der Geschich-
te und als Bekräftigung derjenigen Werte interpre-
tiert, die auch den Europäerinnen und Europäern
wichtig sind: Freiheit, Demokratie, Pluralismus,
Rechtstaatlichkeit und gute Regierungsführung.
   Allerdings erlitt diese positive Sichtweise schon
bald einen ersten Einbruch: Vor dem Hintergrund
rapide ansteigender Flüchtlingszahlen zu Beginn der
Umbrüche in Tunesien und Libyen, einem Erstarken
von Kräften des politischen Islam sowie bewaffneten
Auseinandersetzungen in Libyen, Jemen und Syrien,
gewannen in Europa schnell Sorgen vor Destabilisie-
rung und vor negativen Auswirkungen auf die eige-
nen geopolitischen Interessen die Oberhand. Bereits
im März 2011 war deshalb vermehrt vom Ende des
Arabischen Frühlings die Rede. Heute ist der ur-
sprüngliche Enthusiasmus – trotz beachtlicher Fort-
schritte in einigen Ländern der Region – deutlich
abgeflaut; nicht nur die neuen Führungen und Bevöl-
kerungen sondern auch die Europäer stehen vor den
„Mühen der Ebene“: den Herausforderungen langwie-
riger, komplexer Transformationsprozesse, deren
Richtung, Tiefe und Endpunkt nach wie vor keines-
wegs feststehen, die von Polarisierung und Auseinan-
dersetzungen statt von bunten Bildern und Gemein-
schaftsgefühl gekennzeichnet, die aber zugleich mit
enormen Erwartungen von Seiten der Bevölkerungen
konfrontiert sind – Erwartungen hinsichtlich einer
schnellen sozioökonomischen Verbesserung, der Wie-
derherstellung von Sicherheit und Ordnung, der Mög-
lichkeit der politischen Beteiligung und der Bekämp-
fung von Korruption und Vetternwirtschaft.

                                                                                                      SWP-Berlin
                                                                                                Kein großer Wurf
                                                                                                     August 2013

                                                                                                               3
Zum Stand der                                                   Wahlen gut ab. Allerdings gewannen sie in keinem
                                                                der Länder eine Sitzmehrheit; in Libyen wurden sie
Transformationsprozesse                                         nicht einmal zur stärksten Partei. Dies zwang bzw.
                                                                zwingt sie dazu, in Koalitionen zu regieren (wie in
                                                                Tunesien) oder ihren Kurs in einer schwierigen politi-
                                                                schen Umgebung zu navigieren, in der sie sich nicht
                                                                nur gegenüber den mehr oder weniger säkularen oder
Seit dem Beginn des Arabischen Frühlings Mitte De-
                                                                liberalen Kräften, sondern auch gegenüber den
zember 2010 in Tunesien hat sich die Situation im
                                                                Salafisten durchsetzen müssen, ebenso wie gegenüber
Nahen/Mittleren Osten und in Nordafrika drastisch
                                                                den Kräften des alten Regimes und des „deep state“.
verändert. Proteste und Revolten haben die ganze
                                                                   Seit der politischen Öffnung sind in den Umbruch-
arabische Welt, mit einigen wenigen Ausnahmen,
                                                                staaten auch unzählige zivilgesellschaftliche Organi-
erschüttert. Regime, die zwar als autoritär und kor-
                                                                sationen und Initiativen entstanden; damit ist auch
rupt aber auch als überwiegend stabil und anpas-
                                                                ein Schritt in Richtung Bürgergesellschaften gemacht
sungsfähig galten, sind zumindest teilweise zusam-
                                                                worden. In Tunesien und Ägypten haben sich verfas-
mengebrochen bzw. hinweggefegt worden. Herrscher
                                                                sungsgebende Versammlungen auf neue Verfassungen
die seit 20, 30 oder gar 40 Jahren an der Macht waren
                                                                geeinigt – freilich mit einem sehr unterschiedlichen
– wie Präsident Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien,
                                                                Grad an Inklusion und Bürgerbeteiligung. In Ägypten
Präsident Hosni Mubarak in Ägypten oder Revoluti-
                                                                ist die neue Verfassung bereits per Referendum ange-
onsführer Muammar al-Gaddafi in Libyen – sind ge-
                                                                nommen worden. Dabei fokussierten die Debatten in
flohen, getötet oder vor Gericht gestellt worden. Im
                                                                beiden Ländern zu einem nicht geringen Teil auf die
Jemen ist mit dem Rücktritt von Präsident Ali Abdal-
                                                                Rolle des Islam in Gesellschaft, Staat und Politik. Dies
lah Saleh ein zweijähriger Übergangsprozess eingelei-
                                                                hat in beiden Ländern zu einer starken gesellschaftli-
tet worden, dessen Endpunkt alles andere als klar
                                                                chen und politischen Polarisierung geführt, die insbe-
definiert ist.
                                                                sondere Ägypten an den Rand der Unregierbarkeit
   In Syrien ist die friedliche Protestbewegung durch
                                                                gebracht hat. 2
die Repression des Regimes zu einem bewaffneten
                                                                   Nicht in allen vier Staaten, in denen das Staats-
Aufstand geworden und in einen umfassenden Bür-
                                                                oberhaupt bzw. der oberste Entscheidungsträger abge-
gerkrieg mit starker regionaler und internationaler
                                                                löst worden ist, hat auch ein Regimewechsel stattge-
Dimension abgeglitten. Ein baldiges Ende der Gewalt
                                                                funden bzw. findet ein solcher statt. Nicht in allen vier
ist nicht absehbar. 1 In Bahrain ist die Protestbewegung
                                                                Staaten hat ein umfassender Wandel in den politisch
mit Hilfe der Intervention der Golfkooperationsstaa-
                                                                relevanten Eliten stattgefunden oder zeichnet sich ein
ten unterdrückt worden, doch die Situation ist kei-
                                                                solcher ab. So sind zwar Köpfe ausgetauscht worden,
neswegs befriedet. Nach wie vor kommt es regelmäßig
                                                                aber bislang kaum umfassende institutionelle Refor-
zu Zusammenstößen zwischen Protestierenden und
                                                                men eingeleitet worden – dies gilt vor allem für die
Regimekräften – wie zuletzt anlässlich der Formel 1
                                                                Sicherheitsapparate, die Innenministerien und die
Mitte April 2013.
                                                                Justiz. Insbesondere im Jemen und in Ägypten haben
   In Tunesien, Ägypten und Libyen ist der erste
                                                                tragende Säulen des ancién regime nach wie vor ent-
Schritt in Richtung offenerer, inklusiverer und ge-
                                                                scheidenden Einfluss. Ein umfassender Prozess der
rechterer Ordnungen gemacht worden. In den drei
                                                                Übergangsjustiz ist nirgendwo eingeleitet worden.
nordafrikanischen Ländern haben erste weitgehend
                                                                Auch haben sich die Menschenrechtslage und politi-
freie und faire Wahlen stattgefunden, an denen zahl-
                                                                sche und bürgerliche Freiheiten nur teilweise verbes-
reiche neue Kräfte teilgenommen haben. Die
                                                                sert bzw. beginnt sich der politische Raum bereits
Muslimbrüder in ihrer jeweiligen nationalen Ausfor-
                                                                wieder zu verengen oder ist dies zumindest absehbar.
mung, die unter den vorherigen Regimen – wenn
                                                                   Auch hat sich die Sicherheitssituation in einigen
auch in unterschiedlichem Maße – unterdrückt wor-
                                                                Ländern drastisch verschlechtert. In Libyen kämpft die
den waren, profitierten besonders von den neuen
                                                                Regierung nach wie vor damit, angesichts der Vielzahl
politischen Freiheiten und schnitten bei den ersten

    1 Vgl. Muriel Asseburg/Heiko Wimmen, „Der Bürgerkrieg in      2 Vgl. Nagwan El Ashwal, Ägypten am Rande der Unregierbarkeit,
    Syrien und die Ohnmacht der internationalen Politik“, in:     Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 28.2.2013. (SWP
    Friedensgutachten 2013, Berlin 2013, S. 236-250.              Kurz gesagt)

SWP-Berlin
Kein großer Wurf
August 2013

4
von Milizen, Armeeinheiten und der großen Verbrei-          Konflikt in Syrien hat zudem zu einer immensen Ver-
tung von Kleinwaffen, ein Gewaltmonopol zu errich-          stärkung konfessionell-ethnischer Polarisierung in der
ten, Gewaltkonflikte einzudämmen und die tiefen             Gesamtregion geführt. Nicht zuletzt mit der kurdi-
Gräben zu versöhnen, die der Bürgerkrieg aufgerissen        schen Frage sind auch Grenzfragen und das nah-
hat. In der Tat steht Libyen vor besonders großen Her-      /mittelöstliche Staatensystem, wie es sich nach dem
ausforderungen, die zum größten Teil eher in den            Zusammenbruch des Osmanischen Reiches herausge-
Bereich von Staatsbildung als von politischer und           bildet hat, potentiell wieder geöffnet worden.
ökonomischer Transformation fallen, da viele staatli-
che Institutionen ganz neu etabliert und aufgebaut
werden müssen.
   Die politische Instabilität hat einen negativen Ef-
fekt auf die wirtschaftliche Entwicklung gezeitigt und
einen dramatischen Rückgang des Wachstums, des
Tourismus, ausländischer Direktinvestitionen sowie
rückläufige Staatseinnahmen und ausländische Reser-
ven mit sich gebracht – Libyen ist hier die bemer-
kenswerte Ausnahme. Dies impliziert wiederum wei-
tere politische Instabilität: Schließlich war es die Ver-
schlechterung der sozioökonomischen Situation, die
die Protestbewegung entscheidend befeuert hatte.
Nun hat sich genau diese Situation seit dem Abtreten
der autoritären Führer weiter verschlechtert, statt
verbessert: hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere Ju-
gendarbeitslosigkeit, zunehmende soziale Ungleich-
heit, Mangel an Job- und Lebensperspektiven.
   Mittel- bis langfristig gibt es zwar durchaus Chan-
cen, dass verantwortliche Regierungen ihre Politik
nicht nur auf Wirtschaftswachstum ausrichten, son-
dern auch stärker an den Bedürfnissen der Bevölke-
rung orientieren und daher dringend notwendige
Reformen einleiten, die nicht nur auf Wirtschafts-
wachstum setzen, sondern auch auf Beschäftigung;
die Subventionen und aufgeblähte öffentliche Sekto-
ren zurückfahren und solche Maßnahmen zugleich
sozial abfedern; und die Nepotismus und Korruption
angehen. Kurzfristig dürften die Erwartungen auf
rasche Verbesserungen allerdings eher enttäuscht
werden, da z.B. in Ägypten anstehende Wahlen die
Führungen von solchen schmerzhaften Reformen
abhalten.
   Last but not least hat der Arabische Frühling nicht
nur innenpolitische Veränderungen mit sich ge-
bracht, sondern enorme Auswirkungen auf die regio-
nale Machtbalance gezeitigt und die bisherige regio-
nale Ordnung in Frage gestellt. In Folge sind Allianzen
(etwa Türkei-Iran, Türkei-Israel), aber auch jahrzehnte-
lange Feindschaften (Iran-Ägypten) aufgerüttelt wor-
den. Bewaffnete Konflikte und Bürgerkriege haben
enorme Spill-over-Effekte (in Form von Flüchtlingen,
Kampfhandlungen, ökonomischen Ausfällen und der
Verstärkung von lokalen Spannungen) gezeitigt. Der

                                                                                                          SWP-Berlin
                                                                                                    Kein großer Wurf
                                                                                                         August 2013

                                                                                                                   5
Europäische Politik und                                                    und Rückkoppelungen zwischen den Ländern und
                                                                           Gesellschaften der arabischen Welt.
Maßnahmen                                                                     Zeitgleich, aber keineswegs in Reaktion auf den
                                                                           Arabischen Frühling, wurden bestehende Politikan-
                                                                           sätze wie die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP)
                                                                           revidiert. Dabei blieb es bei einer zaghaften Anpas-
                                                                           sung bisheriger Politik und kam nicht zu einer grund-
Nach einer kurzen Periode der Konfusion – wir erin-
                                                                           legenden Überarbeitung der Ansätze. Zudem fiel es
nern uns z.B. an das Angebot der damaligen französi-
                                                                           den EU-Mitgliedsstaaten schwer, eine gemeinsame
schen Außenministerin vom Januar 2011, Sicherheits-
                                                                           Politik vorzulegen, um mit den destabilisierenden
kräfte nach Tunesien zu entsenden, um dabei zu hel-
                                                                           Effekten der Umbrüche umzugehen. Der große Auf-
fen, die Proteste zu unterdrücken – hießen europäi-
                                                                           bruch blieb definitiv aus.
sche Offizielle (in Brüssel und den Mitgliedstaaten)
                                                                              Lassen Sie mich im Folgenden drei Punkte etwas
den Arabischen Frühling enthusiastisch willkommen
                                                                           genauer ausführen: a) die Ausweitung europäischer
und kündigten großzügige Unterstützung an. Damit
                                                                           Unterstützung; b) die neue ENP; und c) europäisches
begriffen die EU und ihre Mitgliedstaaten den Um-
                                                                           Krisen- und Konfliktmanagement.
bruch als Chance, die südlichen Nachbarn effektiver
bei einer umfassenden Transformation der politi-
schen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ver-
                                                                           EU-Reaktion auf den Umbruch
hältnisse zu unterstützen. Dies sollte dazu beitragen,
die betreffenden Staaten – nicht zuletzt im europäi-
                                                                           Neben bilateralen Initiativen der EU-Mitgliedsstaaten
schen Interesse – nachhaltig zu stabilisieren. Außer-
                                                                           zur Unterstützung der Transformation – so hat
dem versprach man sich auf EU-Seite eine Vertiefung
                                                                           Deutschland zum Beispiel sogenannte Transformati-
der europäisch-arabischen Beziehungen. 3 Gleichzeitig
                                                                           onspartnerschaften eingerichtet – ergriff auch Brüssel
wurde vermehrt die bisherige Politik hinterfragt. Ins-
                                                                           ein Bündel an Maßnahmen. Dabei griff die EU insbe-
besondere galt dies für die bislang mehr oder weniger
                                                                           sondere auf ihr altgedientes Instrumentarium zurück.
unkonditionierte (bzw. nur auf dem Papier und nicht
                                                                           So setzte die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und
in der Praxis konditionierte) Zusammenarbeit mit
                                                                           Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, im Juni 2011
autoritären Herrschern im Mittelmeerraum, von der
                                                                           eine Task Force für den südlichen Mittelmeerraum ein
sich die politische Elite Europas nunmehr vehement
                                                                           und ernannte im Juli 2011 den spanischen Diploma-
distanzierte.
                                                                           ten Bernardino León Gross zum Sonderbeauftragten
   Insgesamt aber wurden im Folgenden viele Maß-
                                                                           für die Region. Im September 2011 wurde das soge-
nahmen eher durch den vorhandenen Instrumenten-
                                                                           nannte SPRING-Programm (Support to Partnership,
kasten der EU als durch eine Analyse der konkreten
                                                                           Reform and Inclusive Growth) aufgelegt, in dessen
Erfordernisse vor Ort bestimmt. Dabei haben sich die
                                                                           Rahmen 2011-2013 rund 540 Millionen Euro für Ad-
Europäer auf den südlichen und östlichen Mittelmeer-
                                                                           hoc-Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden sol-
raum (insbesondere die arabischen Transformations-
                                                                           len, um die sozioökonomischen Nebenwirkungen der
staaten, zu denen die EU auch Marokko und Jordanien
                                                                           Umbrüche abzufedern und den Übergang zur Demo-
zählt) konzentriert und die schon bestehenden Koope-
                                                                           kratie zu unterstützen. Im September 2011 wurde eine
rationsformate fortgeführt: Euro-Mediterrane Partner-
                                                                           Tunesien-Task-Force eingerichtet, im Februar 2012
schaft (EMP), the Europäische Nachbarschaftspolitik
                                                                           eine Task-Force für Jordanien, im November 2012 eine
(ENP) and Union für den Mittelmeerraum (UfM). Da-
                                                                           für Ägypten. Im Oktober 2011 entsandte die EU
durch hatten sie zwar einen Startvorteil, brachten
                                                                           Wahlbeobacher für die ersten freien Wahlen nach
aber auch die Schwächen der alten Formate mit und
                                                                           Tunesien, in Folge auch nach Libyen und Jordanien.
ignorierten vor allem die „arabische Dimension” des
                                                                              Zudem kündigte Ashton an, die EU wolle die Trans-
Arabischen Frühlings, also die engen Verflechtungen
                                                                           formation mit „3 Ms“, also mit Geld, Marktzugang
                                                                           und erhöhter Mobilität (money, market access, mobili-
                                                                           ty) unterstützen. 4 Allerdings zeigte sich schnell, dass
    3 Vgl. ausführlich Muriel Asseburg, Der Arabische Frühling.
    Herausforderung und Chance für die deutsche und europäische Politik,
    Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Juli 2011 (SWP-               4 Catherine Ashton, „What Next in North Africa?“, in: Interna-
    Studie 17/2011).                                                         tional Herald Tribune, 18.3.2011.

SWP-Berlin
Kein großer Wurf
August 2013

6
die EU-Mitgliedsstaaten zögerlich waren, diese 3 Ms                In Reaktion auf den Arabischen Frühling wurden
mit konkreten Angeboten zu unterfüttern. Dies lag               auch die Finanzmittel für die Nachbarschaftspolitik
nicht nur daran, dass Europa mit seinen eigenen Prob-           aufgestockt. Im Rahmen der ENP sollen im Zeitraum
lemen, allen voran der Finanz- und Schuldenkrise, voll          2011-2013 neben den bereits vorgesehenen 5,7 Milli-
ausgelastet war, sondern auch daran, dass es zwischen           arden Euro weitere Mittel von bis zu 1,24 Milliarden
den Mitgliedsstaaten – und zum Teil auch zwischen               Euro zur Verfügung gestellt werden – allerdings für
verschiedenen Ressorts einzelner Mitgliedsstaaten – in          den gesamten Nachbarschaftsraum, d.h. neben den
wichtigen Fragen keinen Konsens gab. Dies galt vor              Mittelmeerländern auch für Armenien, Aserbaid-
allem im Hinblick auf einen erleichterten Marktzu-              schan, Georgien, Moldawien, die Ukraine und, zumin-
gang für Agrarprodukte, gegen den sich die südlichen            dest prinzipiell, Weißrussland. Diese Gelder sollen vor
EU-Staaten sperrten. So kam es zwar zu einer (teils             allem dazu dienen, die Partnerschaft mit den Bevölke-
temporären) Erhöhung von Exportmengen und zum                   rungen in der Region weiter auszubauen, die soziale
Abbau einiger Handelsschranken; die Veränderungen               und wirtschaftliche Entwicklung zu fördern (ein-
blieben aber deutlich beschränkt. 5                             schließlich ländlicher Entwicklung und Regionalent-
    Es traf aber auch für Visumserleichterungen für             wicklung), Institutionsaufbau zu unterstützen und die
Studierende, Geschäftsleute und Arbeitnehmerinnen               UN-Millenniums-Entwicklungsziele voranzubringen.
und Arbeitnehmer zu. In der Realität wurde Mobilität            Zudem wurde das Operationsgebiet der Europäischen
aus der Region zunächst kaum erhöht. Die sprunghaf-             Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) auf
te Zunahme von Bootsflüchtlingen in den ersten Mo-              die Transformationsstaaten im Mittelmeerraum aus-
naten der Umstürze in Tunesien und Libyen wurde                 geweitet und die Kreditvergabe der Europäischen
vielmehr seitens Europa mit einer Verschärfung der              Investitionsbank (EIB) für die Region um eine Milliar-
Grenzkontrollen, dem teilweisen Außerkraftsetzen                de Euro erhöht. Damit könnte die EIB im Zeitraum
der Schengen-Regulierungen, dem Ausbau der EU-                  2011-2013 nahezu sechs Milliarden Euro an Krediten
Grenzbehörde Frontex und hastigen Verhandlungen                 zur Verfügung stellen.
mit Übergangsregierungen über die Kontrolle irregu-                Die EU hat darüber hinaus begonnen, (Vor-
lärer Migration beantwortet. Seitdem hat es durchaus            )Verhandlungen mit Tunesien, Jordanien, Marokko
Visumserleichterungen, vor allem für Studierende                und Ägypten über sogenannte „Deep and
und um den wissenschaftlichen Austausch zu fördern,             Comprehensive Free Trade Agreements“ (DCFTAs) zu
sowie Pilotprojekte im Bereich von Arbeitsmigration             führen, die die derzeitigen Assoziierungsabkommen
gegeben. Auch werden derzeit Abkommen über soge-                ersetzen sollen.
nannte Mobilitätspartnerschaften ausgehandelt. Dabei
handelt es sich um Rahmenvereinbarungen, durch die
Mobilität besser gesteuert, die Zusammenarbeit im               Eine neue ENP
Bereich von Migration und Entwicklung verstärkt,
illegale Einwanderung effektiver bekämpft und ein               Außerdem erfolgte im Frühjahr 2011 eine Revision
besserer Rechtsschutz für Flüchtlinge gewährleistet             der ENP – die bereits vor dem Arabischen Frühling
werden soll. Mit Marokko ist eine gemeinsame Erklä-             initiiert, deren Notwendigkeit aber durch die Proteste
rung zu einer Mobilitätspartnerschaft unterschrifts-            in der arabischen Welt noch untermauert worden
reif; mit Tunesien laufen die Verhandlungen, mit                war. 6 Denn seit Einführung der ENP im Jahre 2004
Jordanien Vorsondierungen. Ägypten hat bislang we-              waren Erfolge bei der angestrebten Etablierung eines
nig Interesse an einer solchen Partnerschaft gezeigt.           „Rings von verantwortungsvoll regierten Staaten“ 7
Durch die Abkommen verpflichten sich die europäi-
schen Unterzeichnerstaaten nicht, mehr Migration
                                                                  6 Europäische Kommission/Hohe Vertreterin der Europäi-
zuzulassen. Dies wird vielmehr autonom und unter                  schen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Gemeinsame
Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage durch den                   Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen
jeweiligen Aufnahmestaat festgelegt.                              Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ei-
                                                                  ne neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel, KOM(2011)
                                                                  303, Brüssel, 25.5.2011.
                                                                  7 Rat der Europäischen Union, Ein sicheres Europa in einer besse-
  5 Allerdings werden bereits heute rund 80% der Agrarexporte     ren Welt, Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel, 12.12.2003; Eu-
  aus der MENA-Region zollfrei oder zollbegünstigt in die EU      ropäische Kommission, Mitteilung der Kommission, Europäi-
  importiert.                                                     sche Nachbarschaftspolitik, Strategiepapier, KOM(2004) 373,

                                                                                                                          SWP-Berlin
                                                                                                                    Kein großer Wurf
                                                                                                                         August 2013

                                                                                                                                     7
weitgehend ausgeblieben. Damit hatte sich die ENP        der EU-Strukturen operieren, um die gewünschte Fle-
trotz der bilateralen Aushandlung von individuellen      xibilität zu erlauben. Bis heute hat es allerdings seine
Aktionsplänen mit den Partnerländern, die Zielvorga-     Arbeit noch nicht aufgenommen. Unklar ist bislang
ben und Indikatoren zu deren Überprüfung enthiel-        zudem, welchen Mehrwert die beiden neuen Elemente
ten, auch nicht als zielführender als die bereits 1995   gegenüber den bereits bestehenden europäischen
etablierte Euro-Mediterrane Partnerschaft (EMP oder      Instrumenten und Institutionen wie dem European
Barcelona-Prozess) erwiesen. Zwar sahen die Aktions-     Instrument for Democracy and Human Rights
pläne durchaus auch Verbesserungen bei der Regie-        (EIDHR), der Governance Facility oder den deutschen
rungsführung, bei Menschenrechten und hinsichtlich       bzw. anderen europäischen politischen Stiftungen
der Erweiterung der politischen Teilhabe vor, die kon-   bieten bzw. wie sich die Aufgaben und Kompetenzen
kreten Bezugspunkte markierten aber vor allem öko-       der unterschiedlichen Instrumente zur Förderung der
nomische und administrative Reformen.                    Zivilgesellschaft voneinander abgrenzen.
   In der neuen ENP soll nun die Konditionalität von        Die Revision der europäischen Politik gegenüber
Unterstützung zu einem wichtigeren Prinzip als bis-      den arabischen Ländern ist letztlich – trotz der enthu-
lang werden. Finanzielle Hilfen und andere Anreize       siastischen rhetorischen Unterstützung für die Pro-
wie eine neue Generation umfassender Handelsab-          testbewegungen – sehr beschränkt geblieben. Letztlich
kommen (die oben genannten DCFTAs), erleichterter        folgt die neue ENP dem Ansatz, dass nur konsequenter
Marktzugang und erhöhte Mobilität sollen künftig –       umgesetzt werden müsse, was bislang schon europäi-
nach dem Motto „mehr für mehr“ – verstärkt von           sche Politik war bzw. europäische Politik hätte sein
Fortschritten und Reformen im Bereich Demokratie,        sollen, was also die entsprechenden Dokumente als
Menschenrechten und guter Regierungsführung ab-          europäische Politik postuliert hatten. Eine kritische
hängen. In der Tat enthalten die neuen Aktionspläne,     Auseinandersetzung mit den bisherigen Ansätzen und
die mittlerweile mit Marokko, Tunesien, den Palästi-     den Ursachen für ihr Misslingen hat jedoch kaum
nensern und dem Libanon ausgehandelt wurden,             stattgefunden. Um zu einer effektiveren Politik ge-
mittlerweile auch konkrete Benchmarks in diesen          genüber der Region zu gelangen, bedarf es aber genau
Bereichen. Nach Angaben der EU wurde das „more for       einer solchen kritischen Bestandsaufnahme. 8
more“-Prinzip auch bereits bei der Mittelzuweisung        Die Auseinandersetzung mit bisherigen Blockaden
im Rahmen des SPRING-Programms angewendet. Al-              und widersprüchlichen Effekten im Rahmen von
lerdings sind Kriterien, Prozess und Auswirkungen           EMP, ENP und der 2008 etablierten Union für den
dieser Anwendung aufgrund mangelnder Transparenz            Mittelmeerraum (UfM): Hierzu gehören insbesonde-
nicht nachzuvollziehen.                                     re die virulenten Konflikte in der Region und ihre
   Zudem soll künftig stärkeres Gewicht auf die Förde-      negativen Folgen für multilaterale Zusammenar-
rung zivilgesellschaftlicher Strukturen gelegt werden.      beit, regionale Integration und für Transformation
Dazu wurden eine Civil Society Facility (mit einem          (durch fehlgeleitete Ressourcenzuteilung, die starke
Finanzvolumen von 22 Millionen Euro für den Zeit-           Rolle des Militärs, ein investitionsunfreundliches
raum 2011-2013) und ein European Endowment for              Klima, schwache Staatlichkeit und einflussreiche
Democracy (EED) (derzeit gibt es Zusagen von rund 15        nicht-staatliche Gewaltakteure). 9 Die zentrale Frage
Millionen Euro) eingerichtet. Durch die Civil Society       lautet hier, was die EU tun kann und sollte, um zu
Facility sollen insbesondere Kapazitäten im Bereich         einer nachhaltigen Regelung „alter Konflikte“, wie
der Zivilgesellschaft gefördert werden, so dass letztere    den arabisch-israelischen Konflikt, aber auch inner-
stärker als bislang eine Aufsichtsfunktion über Regie-
rungshandeln sowie EU-Programme im Lande ausfül-            8 Vgl. ausführlicher meinen Vortrag bei der 1. Fachkonferenz
                                                            zur Mittelmeerpolitik, „Den „Arabischen Frühling als Chance
len kann. Das EED soll als flexibleres und unbürokra-
                                                            nutzen – Bilanz und Perspektiven deutscher Mittelmeerpoli-
tischeres Instrument auch die Kooperation mit sol-          tik“, der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit im Ok-
chen zivilgesellschaftlichen Organisationen ermögli-        tober 2011.
chen, die nicht von ihren Regierungen lizenziert sind,      9 Vgl. ausführlich Muriel Asseburg, „Euro-Mediterranean co-
eventuell auch die Kooperation mit Parteien. Im De-         operation and protracted conflicts in the region. The Israeli-
                                                            Palestinian predicament“, in: Muriel Asseburg/Paul Salem
zember 2011 wurde seine Einrichtung zwar grund-
                                                            (Hrsg.), No Euro-Mediterranean Community without Peace, Par-
sätzlich beschlossen; es soll nun als Fonds außerhalb       is/Brussels, September 2009 (EU Institute for Security Studies /
                                                                  European Institute for the Mediterranean IEMed, 10 Papers
    Brüssel, 12.5.2004.                                           for Barcelona 2010, No. 1), S.13-27.

SWP-Berlin
Kein großer Wurf
August 2013

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staatlicher Auseinandersetzungen mit immensen                           umgehen (Nahostfriedensprozess, Israels Sicher-
  regionalen Rückwirkungen (wie beispielsweise in                         heit, irreguläre Migration, Energieversorgung, …),
  Syrien) beizutragen.                                                    die verhindern, dass Konditionierung von europäi-
 Die Auseinandersetzung mit dem räumlichen Kon-                          scher Seite konsequent angewandt wird? 2) Wie mit
  zept, das der südlichen Nachbarschaft, dem südli-                       selbstbewussteren neuen Führungen und Gesell-
  chen Mittelmeerraum bzw. der UfM unterliegt:                            schaften in der Region umgehen? Denn es stößt in
  Denn es handelt sich hier keineswegs um Räume                           der Region auf Unverständnis, warum die Bewer-
  mit einer gemeinsamen Identität. Die 16 südlichen                       tung von Fortschritten in Brüssel statt im Land
  Mitglieder der UfM etwa – von der Türkei über Isra-                     selbst stattfinden sollte. Auch sollten Führungen
  el, die arabischen Länder und den Balkan – verbin-                      gegenüber ihren eigenen Bevölkerungen bzw. ge-
  den wenige kulturell-identitäre, wirtschaftliche                        wählten Parlamenten, nicht einer europäischen In-
  oder politische Gemeinsamkeiten. Auch unter-                            stitution Rechenschaft ablegen. Zudem steht kondi-
  scheiden sich ihre jeweiligen Beziehungen zur EU                        tionierte Zusammenarbeit im Widerspruch zum
  deutlich, manche sind bereits Beitrittskandidaten,                      partnerschaftlichen Ansatz der EU und zu Bezie-
  anderen steht der Beitritt zumindest prinzipiell of-                    hungen auf Augenhöhe. Gerade solche Beziehun-
  fen, wieder anderen – u.a. den arabischen Staaten –                     gen aber, die die Interessen beider Seiten gleicher-
  ist er verwehrt. Der „Arabische Frühling“ hat zu-                       maßen berücksichtigen, fordern die neuen Kräfte
  dem einmal mehr deutlich gemacht, dass es eine                          in den Umbruchstaaten ein. 3) Wie mit den relativ
  wesentlich engere, vor allem gesellschaftliche Ver-                     geringen Mitteln, die für die ENP zur Verfügung
  flechtung zwischen arabischen Ländern gibt, als                         stehen, und der begrenzten Bereitschaft zu Angebo-
  von Europa bislang wahrgenommen.                                        ten der EU-Mitgliedstaaten (was Mobilität und
 Hinzu kommt die Tatsache, dass die EU in der                            Marktöffnung angeht) umgehen? Wie können den-
  Region nicht ohne Konkurrenz aktiv ist: Auch an-                        noch effektive Anreize gesetzt und damit Kosten-
  dere Akteure, die von Europa nicht als Teil der Re-                     Nutzen-Kalküle von Eliten in der Region effektiv be-
  gion betrachtet werden (beispielsweise Saudi-                           einflusst werden? 4) Und, in diesem Zusammen-
  Arabien, Qatar, die Türkei und der Iran), haben Ein-                    hang: wie mit ressourcenreichen Staaten umgehen,
  fluss und nutzen diesen im Mittelmeerraum. Damit                        etwa mit Algerien oder Libyen, die auf finanzielle
  bilden die Räume auch nicht das gesamte jeweilige                       Unterstützung nicht angewiesen sind?
  Konfliktsystem ab. Wie kann Europa mit dieser
  Konkurrenz erfolgreich umgehen? Was bedeutet
  dies für europäische Politikansätze, zum Beispiel                     EU-Krisen- bzw. -Konfliktmanagement
  für die Konditionierung von Unterstützung? Inwie-
  fern existieren widersprüchliche Ansätze von Ver-                     Auch wenn europäische Dokumente immer wieder
  bündeten wie den USA, beispielsweise bezüglich                        betonen, dass die Politik gegenüber der Region aus
  der US-Militärhilfe für Ägypten, und inwiefern wer-                   einem Guss ist – dies ist nicht der Fall. Insbesondere
  den diese von der EU und ihre Mitgliedstaaten in                      bieten weder die überarbeitete ENP noch die Europäi-
  ihre Politik einbezogen?                                              sche Außen- und Sicherheitspolitik Mittel und In-
 Die Auseinandersetzung mit den bisherigen Erfah-                      strumente, um effektiv mit Krisen und Konflikten in
  rungen im Bereich der Demokratieförderung: Die                        der Region umzugehen. In den Fällen, in denen die
  Revision der ENP betont das Prinzip der positiven                     Proteste zu bewaffneten Konflikten geführt haben, hat
  Konditionierung als Mittel der Demokratieförde-                       die EU (als EU) entsprechend auch keine erwähnens-
  rung – statt genauer zu analysieren: Was funktio-                     werte Rolle gespielt und war nicht in der Lage, effektiv
  niert in welchem Kontext? Dabei ist fraglich, ob                      zu Konfliktprävention oder –management beizutra-
  Konditionierung auf der Basis von „deep democra-                      gen. Dabei war die Ursache nicht, dass Europäer
  cy“ 10 erfolgreich sein kann. Denn mindestens vier                    grundsätzlich kriegsmüde gewesen wären, sondern
  Fragen sind in Bezug auf Konditionierung ungelöst:                    dass sie keinen Konsens bezüglich militärischer Inter-
  1) Wie mit geopolitischen europäischen Interessen                     vention auf Seite der Protestbewegungen in Libyen
                                                                        und Syrien erzielen konnten oder bezüglich deren
   10 The EU Response to the Arab Spring. Remarks by EU High Repre-
                                                                        Unterstützung mit militärischer Ausrüstung.
   sentative Catherine Ashton delivered at the Brookings Institution,      Gleichzeitig waren die Europäer nachlässig dahin-
   Washington DC, 12.7.2011.                                            gehend, die (absehbaren) Spill-over-Effekte der Gewalt

                                                                                                                       SWP-Berlin
                                                                                                                 Kein großer Wurf
                                                                                                                      August 2013

                                                                                                                                9
in Libyen einzudämmen – erst nach der französischen
Militärintervention in Mali im Frühjahr 2013 trieben
sie die Vorbereitungen für eine EU-Mission dort ernst-
haft voran. Ich erwähne dies hier insbesondere des-
halb, weil es sich nicht um bedauerliche Einzelfälle
handelt, sondern weil diese Gewaltkonflikte – zusätz-
lich zu den sog. „protracted conflicts“ in der Westsa-
hara und in Palästina – erhebliche negative Auswir-
kungen auf Stabilitität, Sicherheit und Transformati-
on in der Region haben. Das heißt aber eben auch,
dass die EU ohne eine effektive Außen- und Sicher-
heitspolitik weder in der Lage sein wird, Transforma-
tion in der Region effektiv zu beeinflussen, noch ihre
eigenen geopolitischen Interessen zu sichern.
   Insgesamt lässt sich festhalten, dass die EU und ihre
Mitgliedstaaten zwar eine Vielzahl an Einzelprojekten
in Transformationsstaaten (insbesondere in Tunesien)
durchgeführt haben bzw. durchführen; dass sie zu-
dem die Grundlage für die Intensivierung der Bezie-
hungen in verschiedenen Bereichen (Handel, Mobili-
tät) gelegt haben; dass es ihnen aber nicht gelungen
ist, entscheidenden Einfluss auf die erste Phase der
Transformationsprozesse auszuüben. Daran waren
nicht nur die Eurozonenkrise schuld und ein Europäi-
scher Auswärtiger Dienst, der sich noch im Aufbau
befand, sondern auch, dass die Europäer sich auf die
Fortschreibung ihrer alten Ansätze und Formate ver-
lassen haben. Hinzu kam allerdings auch, dass ihre
Unterstützung nicht überall in der Region willkom-
men geheißen wurde, und dass die Partner nicht wil-
lens oder in der Lage waren, die Unterstützung anzu-
nehmen. Lassen Sie mich einige dieser Punkte ausfüh-
ren: Was also waren bzw. sind die Haupthürden effek-
tiver europäischer Unterstützung von Transformation
in der Region?

SWP-Berlin
Kein großer Wurf
August 2013

10
Haupthürden effektiver                                                     Kontext des „Arabischen Frühlings“ trotz aller Rheto-
                                                                           rik nur begrenzten Einfluss entfalten konnten – was
europäischer Politik in der                                                übrigens für Staaten wie die USA oder die Türkei eben-
                                                                           falls gilt –, liegt in erster Linie an anderen Faktoren.
Region                                                                     Bei den materiellen Standardangeboten der EU – mo-
                                                                           netäre Hilfe, Marktöffnung und Mobilität – haben die
                                                                           Mitgliedstaaten den südlichen Nachbarn gegenüber
                                                                           keine großen Schritte gewagt, obwohl sie gerade hier
Die Europäische Finanz- und Schuldenkrise 11                               eine besonders effektive Reaktion auf den Wandel in
                                                                           Aussicht gestellt hatten. Der große Aufbruch blieb
Angesichts der Finanz- und Schuldenkrise in der EU                         damit aus. Doch, und das wird manchmal übersehen:
wird vielfach konstatiert bzw. prognostiziert, dass die                    Die EU ruderte eben auch nicht zurück, obwohl sie
wirtschaftlich-politische Schwäche der Union auch ihr                      von der Finanz- und Schuldenkrise gebeutelt wurde.
auswärtiges Handeln beschränke. Dadurch verliere die                       Sie stockte die eigenen Ressourcen sogar kurzfristig
EU im östlichen wie im südlichen Umfeld an Gestal-                         auf, und für den Zeitraum 2014–2020 schrieben die
tungskraft und strategischem Gewicht. 12                                   EU-Mitglieder die Mittel für die ENP auf höherem
   Analysiert man allerdings die EU-Politik gegenüber                      Niveau fest.
der südlichen Nachbarschaft, so zeichnet sich bislang                         Allerdings sind auf Ebene der Mitgliedstaaten teil-
nur ein schwacher Zusammenhang ab zwischen der                             weise gegenläufige Entwicklungen zu registrieren.
Krise in der EU und ihrer Nachbarschaftspolitik. So                        Denn die europäische Finanz- und Schuldenkrise hat
hat die Finanz- und Schuldenkrise weit weniger als                         protektionistische Tendenzen in einzelnen EU-Staaten
behauptet auf die „soft power“ der EU, ihre normative                      verstärkt. Ursächlich ist hier insbesondere die krisen-
Ausstrahlungskraft, in der südlichen Nachbarschaft                         hafte Zuspitzung der wirtschaftlichen und sozialen
durchgeschlagen. Gesicherte Fakten, etwa in Form                           Situation in den südlichen Mitgliedstaaten. Daher
repräsentativer Umfragen in der Region, liegen hierzu                      verpufften auch Appelle, wie der von Italiens ehemali-
nicht vor. Einen gewissen Aufschluss bietet das im                         gem Außenminister Franco Frattini, schnell, der einen
Auftrag der EU erstellte EU Neighbourhood Barome-                          Marshall-Plan für die Transitionsländer gefordert hat-
ter. Demnach hat sich das Image der EU in der südli-                       te – also ein Maßnahmenpaket, das deutlich über die
chen Nachbarschaft zwischen einer ersten Befragung                         Ad-hoc-Sonderprogramme und das ENPI-Budget (Euro-
im Frühjahr 2012 und einer zweiten im Herbst 2012                          pean Neighbourhood Policy Instrument) hinausgehen
sogar leicht verbessert: Im Herbst 2012 hatten 42 Pro-                     sollte. 14
zent der Befragten (in allen Ländern der südlichen                            Außerdem bewirkt die Eurozonen-Krise bei den am
Nachbarschaft mit Ausnahme Syriens) ein positives                          stärksten betroffenen Staaten, etwa Spanien, dass sie
oder überwiegend positives Bild von der EU, im Früh-                       ihre Mittel für den bilateralen Austausch kürzen, die
jahr 2012 waren es 40 Prozent. 13                                          Präsenz in der Region verringern, sich auf traditionel-
   Europas gegenwärtige Krise ist auch nicht ursäch-                       le Partner konzentrieren und eigene Interessen beto-
lich für die mangelnde Gestaltungsfähigkeit der EU in                      nen, etwa beim Schutz vor Terrorismus und irregulä-
der südlichen Nachbarschaft. Dass die Europäer im                          rer Migration. 15 Die Unterstützung von Transformati-
                                                                           on und Demokratisierung in den Ländern des Südens
  11 Vgl. ausführlich Muriel Asseburg / Barbara Lippert, „Die              gerät dabei einmal mehr deutlich in den Hintergrund.
  EU und die südliche Nachbarschaft: weder Aufbruch, noch                     Insgesamt ist zu konstatieren, dass die Finanz- und
  Rückschritt“, in: Ronja Kempin / Marco Overhaus (Hg.), EU-               Schuldenkrise die Gestaltungsfähigkeit europäischer
  Außenpolitik in Zeiten der Finanz- und Schuldenkrise, Berlin: Stif-
                                                                           Politik in der südlichen Nachbarschaft weiter
  tung Wissenschaft und Politik, April 2013 (SWP-Studie
  9/2013), S. 20-29.                                                       schwächt. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil die
  12 Vgl. u.a. Bruce Stokes, The Foreign and Security Policy, Implica-
  tions of the Eurozone Crisis. Testimony before the U.S. Senate Commit-     14 EU Neighbourhood Info Center, Union for the Mediterranean
  tee on Foreign Relations, Washington, D.C. 2011; Michael Emer-             Assembly Calls for a ›Marshall Plan‹ for Transition Countries, Rom,
  son, Implications of the Eurozone Crisis for EU Foreign Policy: Costs      4.3.2011.
  and Opportunities, Brüssel: Centre for European Policy Studies,            15 Vgl. Jordi Vaquer i Fanés/Eduard Soler i Lecha, Spain and the
  2012 (CEPS Commentary); Justin Vaisse, „The Sick Man of Eu-                New Mediterranean: Overlapping Crises, Washington, D.C./Rom:
  rope Is Europe“, in: Foreign Policy, 16.2.2012.                            The German Marshall Fund of the United States/Istituto Affari
  13 ENPI, EU Neighbourhood Barometer, Herbst 2012, hier S. 15.              Internazionali, 2012.

                                                                                                                                    SWP-Berlin
                                                                                                                              Kein großer Wurf
                                                                                                                                   August 2013

                                                                                                                                             11
Mitgliedstaaten die EU-Ebene nicht aktiver unterstüt-                      lung profitiert. Zugleich wünschen sich die Befragten
zen. Eine Trendwende, die Öffnung vor Abschottung                          ein stärkeres europäisches Engagement in den Feldern
und Demokratisierung vor interessenbezogene Koope-                         Frieden und Sicherheit, Armutsbekämpfung und
ration setzen würde, ist durch die Krise eher noch                         Handel. 18
unwahrscheinlicher geworden.                                                   Dass die EU kaum als politischer Akteur gesehen
                                                                           wird, liegt auch am geringen Erfolg bisheriger Koope-
                                                                           rationsformate. So erbrachten die seit 1995 anhalten-
Beschränkte Gestaltungs- und Trans-                                        den Bemühungen der EU im Rahmen von EMP, ENP
formationskraft der EU                                                     und UfM, eine politische und wirtschaftliche Öffnung
                                                                           der Region zu fördern und gleichzeitig die eigenen
Doch auch unabhängig von der Krise ist die Gestal-                         Beziehungen dorthin zu vertiefen, kaum Fortschrit-
tungsfähigkeit der EU in der südlichen Nachbarschaft                       te. 19
als eher gering zu veranschlagen. Zwar wickeln alle
Länder der Region einen beträchtlichen Teil ihres
Handels mit der EU ab, und für viele von ihnen, etwa                       Die Partnerseite
Ägypten, ist sie sogar der größte Handelspartner. 16
Entgegen vielen Prognosen und Annahmen ist das                             Eine Rolle spielen dabei aber auch Entwicklungen auf
Handelsvolumen mit Staaten der südlichen Nachbar-                          der Partnerseite: Ungleichzeitigkeiten zwischen den
schaft in letzten Jahren nicht zurückgegangen, son-                        Akteuren, entstanden durch Verzögerungen bei der
dern (zumindest bis 2010, also vor dem „Arabischen                         Bildung demokratisch legitimierter und damit ver-
Frühling“) weiter angestiegen. Dennoch war und ist                         handlungsfähiger Regierungen; ein neues Selbstbe-
die EU in der Region nur ein Akteur unter vielen; ihr                      wusstsein, in einigen Ländern verbunden mit der
Einfluss und ihre Anreize sind begrenzt. Direktinvesti-                    Ablehnung äußerer „Einmischung“, die als neokoloni-
tionen etwa kommen zu beträchtlichen Anteilen aus                          al gewertet wird; und eine teils beträchtliche Immuni-
den arabischen Golfstaaten oder anderen Drittstaa-                         tät gegenüber Bedingungen, an die Unterstützung
ten. 17 Aus dem Golfkooperationsrat (GKR) fließt zu-                       geknüpft wird – sei es aufgrund von Ressourcenreich-
dem finanzielle Unterstützung in Form von Entwick-                         tum (wie etwa in Libyen) oder dank geopolitischer
lungsprojekten, Budgethilfen und Absicherung der                           Bedeutung (wie in Ägypten).
Devisenreserven. Und bei den nichtregionalen Akteu-                           Ich möchte diese Faktoren gerne anhand der Ent-
ren überragt nach wie vor der politische Einfluss der                      wicklungen in Ägypten illustrieren.
USA und ihre sicherheitspolitische Kooperation, etwa
mit Ägypten, bei weitem selbst die relativ profilierten
Beziehungen, wie sie Frankreich, Großbritannien,                           Ägypten: Ein sperriger Partner
Italien und Spanien mit einzelnen Ländern der Region
pflegen.                                                                   Nach dem Sturz des Mubarak-Regimes im Februar
   In den Staaten der südlichen Nachbarschaft wird                         2011 bemühten sich die Europäer mit vielfältigen
die EU denn auch im Wesentlichen als Handelspartne-                        Maßnahmen darum, Ägypten zu stabilisieren und den
rin und Geberin wahrgenommen, nicht als zentraler                          Übergang des Landes zu einer demokratisch-
politischer Akteur. Laut EU Neighbourhood Barometer                        marktwirtschaftlichen Ordnung zu unterstützen.
geben Befragte in der südlichen Nachbarschaft an, ihr                      Gleichwohl konnten sie nur geringen Einfluss auf den
Land habe von der EU-Politik vor allem in den Berei-                       bisherigen Pfad der Transformation entfalten. Im
chen Handel, Tourismus und ökonomische Entwick-                            Frühjahr 2013 ist Ägypten vielmehr, u.a. infolge eines
                                                                           unglücklich verlaufenen Verfassungsprozesses, stark
     16.Umgekehrt beläuft sich für die EU der Handel mit der Re-           polarisiert und destabilisiert. Die Volkswirtschaft
     gion auf weniger als 5 Prozent ihres gesamten Außenhandels.
     Zum Handel zwischen Ägypten und der EU siehe                            18 Vgl. Fn. 13, hier S. 19.
     .                                                           Unterstützung wirtschaftlicher und politischer Öffnung im
     17 The World Bank, From Political to Economic Awakening in the          südlichen Mittelmeerraum vgl. Muriel Asseburg, „Demokra-
     Arab World. The Path of Economic Integration. A Trade and Foreign       tieförderung in der arabischen Welt. Hat der partnerschaftli-
     Direct Investment Report for the Deauville Partnership, Washington,     che Ansatz der Europäer versagt?“, in: Orient, 46 (2005) 2, S.
     D.C. 2013, S. 43–58.                                                    272–290.

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Kein großer Wurf
August 2013

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steckt in einer tiefen Krise; die Zukunft des Übergangs                nen eingestellt. Dies schränkt nicht nur Europas „soft
liegt im Ungewissen. 20                                                power“ deutlich ein, sondern auch die konkreten
   Dies liegt zuerst am Problem der Ungleichzeitig-                    Möglichkeiten, zivilgesellschaftliche Aktivitäten in
keit, das die Effektivität und den Output europäischer                 Ägypten zu fördern. Betroffen waren dabei insbeson-
Politik beträchtlich eingeschränkt hat. Die EU hätte                   dere die deutschen politischen Stiftungen, die eigent-
gerne von Anfang an die Transformation unterstützt                     lich hervorragend positioniert gewesen wären, um die
und stabilisierend gewirkt; dementsprechend war sie                    Transformation des Landes konstruktiv zu begleiten.
auch bereit, mehr Mittel zur Verfügung zu stellen. Die                 Doch im Februar 2012 lancierten Kräfte des alten
ägyptischen Übergangsautoritäten dagegen lehnten                       Regimes ein Gerichtsverfahren gegen die Konrad-
mittelfristige Festlegungen und Verhandlungen ab                       Adenauer-Stiftung (KAS) und amerikanische Organisa-
und unterbrachen zunächst alle formalen bilateralen                    tionen (National Democratic Institute, Freedom Hou-
Dialoge mit der EU (Assoziierungsrat, Assoziierungs-                   se, etc.). Die Ermittlungen gingen einher mit Drohun-
ausschuss und sektorale Unterausschüsse). Diese Koo-                   gen gegen andere Nichtregierungsorganisationen und
perationsformate ließen sich erst wieder aktivieren,                   trafen in der Bevölkerung auf ein Klima, das von gro-
nachdem in Kairo eine demokratisch legitimierte                        ßem Misstrauen gegenüber unterstellten „foreign
Regierung eingesetzt worden war – und damit rund                       agendas“ geprägt ist und dass eine effektive Stiftungs-
eineinhalb Jahre nach dem Umsturz. Erst im Septem-                     arbeit verhinderte. Anlässlich des Besuchs von Präsi-
ber 2012 reiste Präsident Mohammed Mursi nach                          dent Mursi in Berlin Ende Januar 2013 konnte zwar
Brüssel; erst Mitte November 2012 fand das erste Tref-                 der künftige Rechtsstatus der KAS (sowie der anderen
fen der EU-Egypt Task-Force statt. Es eröffnete – im                   politischen Stiftungen) in Ägypten geklärt werden.
Zusammenhang mit dem vorläufigen IWF-Abkommen                          Offen sind jedoch nach wie vor der Ausgang des Ge-
von November 2012 – eine substantielle Ausweitung                      richtsprozesses und der legale Rahmen für zivilgesell-
der europäischen Hilfe für Ägypten. Zu den ursprüng-                   schaftliches Engagement (NGO-Gesetzgebung).
lich für 2011–2013 vorgesehenen Budgetposten von                          Am Fall Ägyptens lässt sich auch die Problematik
450 Millionen Euro für Demokratieförderung und die                     einer effektiven Konditionierung gemäß dem „Mehr
Unterstützung von Wettbewerbsfähigkeit und nach-                       für Mehr“-Prinzip verdeutlichen. Nachdem Präsident
haltiger Entwicklung 21 sollen nun weitere 800 Millio-                 Mursi im November 2012 Dekrete erlassen hatte, die
nen Euro an Zuschüssen und Krediten kommen. Zu-                        die Macht des ägyptischen Präsidenten (wenn auch
dem soll Ägypten die Möglichkeit haben, Kredite der                    nur vorübergehend) beträchtlich ausweiteten, und die
Europäischen Investitionsbank (EIB) und der Europäi-                   Verfassung in einer Marathonsitzung der verfas-
schen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung                            sungsgebenden Versammlung durchgedrückt worden
(EBRD) in Anspruch zu nehmen. 22 Allerdings war der                    war, forderten Vertreter des Europäischen Parlaments
IWF-Deal Ende April 2013 noch immer nicht unter-                       eine Aussetzung der EU-Hilfen. Im Dezember 2012
zeichnet; als Folge wurde auch der Großteil der euro-                  wurde dann Ägyptens neue Verfassung durch ein
päischen Zusagen zunächst nicht in Zahlungen um-                       Referendum angenommen; seitdem steht die europäi-
gewandelt. Damit aber kommen die Mittel deutlich zu                    sche Politik vor der Frage, wie sie die Lage im Land
spät, um noch einen Einfluss auf die erste, wichtige                   bewerten und gegebenenfalls sanktionieren soll.
Phase der Transformation entfalten und stabilisierend                  Schließlich ist der Verfassungsprozess formal demo-
wirken zu können.                                                      kratisch korrekt zu Ende gebracht worden, auch wenn
   In Ägypten zeigt sich zudem eine weitere Hürde für                  die ägyptische Opposition seine mangelnde
Unterstützung aus Europa: Gesellschaft und politische                  Inklusivität verurteilt. Es wäre demnach folgerichtig,
Klasse sind extrem kritisch gegenüber den Aktivitäten                  den Prozess als Fortschritt zu werten. Dies gilt unab-
internationaler, insbesondere westlicher Organisatio-                  hängig davon, dass die Verfassung in einigen Berei-
                                                                       chen als deutlich defizitär anzusehen ist, etwa hin-
  20 Vgl. u.a. Egypt. The Uprising Two Years On, Sonderheft von        sichtlich einer demokratischen Kontrolle des Sicher-
  Middle East Report, Januar 2013 (Heft Nr. 265).                      heitsapparates oder der Gleichstellung der Geschlech-
  21 Europäische Kommission, ENPI. Arab Republic of Egypt Na-          ter.
  tional Indicative Programme 2011–2013, hier S. 7.
                                                                          Dabei stellt sich nicht zuletzt die Frage nach den
  22 EU-Egypt Task Force, Co-chairs Conclusions, 14.11.2012, S. 7ff,
  
  (Zugriff am 1.2.2013).

                                                                                                                      SWP-Berlin
                                                                                                                Kein großer Wurf
                                                                                                                     August 2013

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tie“. 23 Zu klären ist, welche Kriterien gelten sollen, um
etwa Verfassung und Verfassungsprozess zu beurtei-
len: universelle Menschenrechte bzw. international
kodifizierte politische und bürgerliche Freiheiten oder
die Werte des sozialkonservativen Mainstreams in
Ägyptens Bevölkerung, zusammen mit dem dort weit-
verbreiteten Bedürfnis, die Übergangsperiode mög-
lichst rasch abzuschließen, selbst wenn die Transition
zunächst nur unvollständig bleibt. Letztlich steht die
EU einmal mehr vor einem Dilemma: Einerseits lässt
der ägyptische Transformationsprozess bislang ernste
Ansätze zum Aufbau nachhaltiger demokratischer
Strukturen vermissen. Andererseits kann Druck auf
die ägyptische Führung kontraproduktiv sein, da ex-
terne „Einmischung“ auch von weiten Teilen der Be-
völkerung abgelehnt wird. Zudem liegt es nicht im
europäischen Interesse, Unterstützungsleistungen zu
streichen. Denn dies würde in einer ohnehin schon
prekären Situation die Gefahr weiter verstärken, dass
das bevölkerungsreichste arabische Land nachhaltig
destabilisiert wird.

     23 Für das Konzept „vertiefte Demokratie“ vgl. Europäische
     Kommission/Hohe Vertreterin, Gemeinsame Mitteilung: Eine
     neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel, KOM(2011) 303,
     Brüssel, 25.5.2011, hier S. 2f.

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Kein großer Wurf
August 2013

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Schlussfolgerungen und Politik-                                          rufen) oder diese stehen unmittelbar bevor (Ärzte,
                                                                         Kranken-/Altenpfleger, Erzieher); in Hotellerie und
empfehlungen                                                             Gastronomie gibt es saisonale Engpässe. Unter-
                                                                         nehmen zeigen daher großes Interesse an Zuwan-
                                                                         derung, auch aus dem nordafrikanischen Raum,
                                                                         zur Fachkräftesicherung. Sie sehen diese aber durch
                                                                         qualifikatorische, rechtliche und verwaltungstech-
Die Erfahrungen haben gezeigt, dass umfassende
                                                                         nische Hürden behindert. Die Studie zeigt auch
Transformation weder von außen angestoßen, noch
                                                                         sektorspezifische Anknüpfungspunkte für Ägypten,
von außen in Länder hineingetragen werden kann.
                                                                         Marokko und Tunesien auf, inklusive erforderlicher
Neben der Unterstützung der Transformationsprozes-
                                                                         Weiterbildungs-/Trainingsmaßnahmen sowie von
se in den Staaten, in denen ein Führungswechsel be-
                                                                         Pilotprojekten.
reits stattgefunden hat, sind daher Bescheidenheit
                                                                        Darüber hinaus gilt es, deutlich stärker als bislang
und Konsistenz gute Ratgeber für europäische Politik
                                                                         die Förderung von Freihandel durch soziale Kohäsi-
gegenüber der Region. Dennoch kann und sollte Eu-
                                                                         on zu ergänzen. Dabei sollte die EU erstens auf
ropa seinen Einfluss geltend machen, um ein günsti-
                                                                         entwicklungs- und beschäftigungsorientiertes
ges Umfeld für freiere, gerechtere und pluralistischere
                                                                         Wachstum drängen und zweitens ein besonderes
Systeme zu schaffen. Dabei geht es weniger um eine
                                                                         Augenmerk auf die sozialen Anpassungskosten von
Ausweitung finanzieller Unterstützung, sondern ge-
                                                                         Wirtschaftsreformen haben und dabei helfen, diese
rade um das Überkommen von Abhängigkeiten und
                                                                         effektiv abzufedern.
von Strukturen, wie sie mit Rentierstaatlichkeit und
                                                                        Es besteht die dringende Notwendigkeit für effizi-
Vetternwirtschaft einhergehen.
                                                                         entes Krisenmanagement im Mittelmeerraum.
   Zudem sollen hier vier Punkte hervorgehoben wer-
                                                                         Hierzu bedarf es vor allem eines wesentlich ernst-
den:
                                                                         hafteren und konsistenteren europäischen Enga-
 Der Fokus der Zusammenarbeit sollte auf der ge-
                                                                         gements für die Regelung alter und neuer gewalttä-
   sellschaftlichen Dimension liegen. Dabei geht es
                                                                         tiger Konflikte und ihrer „Nebenwirkungen“. Ge-
   nicht nur um die Förderung der (organisierten) Zi-
                                                                         fragt ist von der EU ein deutlich stärkeres diploma-
   vilgesellschaft, sondern vor allem um die Unter-
                                                                         tisches und zivil-militärisches Engagement, das in
   stützung von Bildung und Ausbildung, um mensch-
                                                                         einer konfliktreichen Region umfassende Trans-
   liche Entwicklung und um einen interessenbasier-
                                                                         formation und nachhaltige Stabilisierung über-
   ten Austausch zwischen Bevölkerungs- und Berufs-
                                                                         haupt erst ermöglicht.
   gruppen dies- und jenseits des Mittelmeers. Auch
   sollte die Eigenverantwortung der Gesellschaften
   gestärkt werden, indem Monitoring und Evaluie-
   rung der Transformationsprozesse vor Ort und un-
   ter Einbindung von Parlamenten und Zivilgesell-
   schaft vorgenommen und über Kriterien, Bewer-
   tungen und Auswirkungen Transparenz hergestellt
   wird.
 Wichtig ist auch, die Mobilität von Arbeitskräften
   und Dienstleistern zu erhöhen – über die zaghaften
   Maßnahmen hinaus, die bislang in diesem Bereich
   ergriffen wurden. Eine Studie des Centrums für in-
   ternationale Migration und Entwicklung vom Juni
   2012 zeigt zum Beispiel für Deutschland: 24 In eini-
   gen Teilarbeitsmärkten bestehen bereits jetzt er-
   hebliche Fachkräfteengpässe (z.B. in Ingenieursbe-

   24 Anna Goos, Entwicklungspolitische Potenziale der Migration von
   Fachkräften aus Nordafrika nach Deutschland, Frankfurt am Main,
   Juni 2012 (Centrum für internationale Migration und Ent-
   wicklung).

                                                                                                                     SWP-Berlin
                                                                                                               Kein großer Wurf
                                                                                                                    August 2013

                                                                                                                            15
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