Kein großer Wurf Muriel Asseburg - Stiftung Wissenschaft und Politik
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Arbeitspapier Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Muriel Asseburg Kein großer Wurf Eine vorläufige Bilanz europäischer Politik in Nordafrika seit Beginn der Transformationsprozesse Vortrag bei der 2. Mittelmeerkonferenz der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit „Zwischen Fortschritt und Stagnation. Handlungs- felder und Erfordernisse deutscher und europäi- scher Mittelmeerpolitik“, 25. April 2013 FG6-AP Nr. 1/2013 August 2013 Berlin
Inhalt Einführung 3 SWP Stiftung Wissenschaft und Zum Stand der Transformationsprozesse 4 Politik Deutsches Institut für Europäische Politik und Maßnahmen 6 Internationale Politik und EU-Reaktion auf den Umbruch 6 Sicherheit Eine neue ENP 7 Ludwigkirchplatz 34 EU-Krisen- bzw. -Konfliktmanagement 9 10719 Berlin Haupthürden effektiver europäischer Politik in der Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-100 Region 11 www.swp-berlin.org Haupthürden effektiver europäischer Politik in der swp@swp-berlin.org Region 11 Arbeitspapiere sind Arbeiten Die Europäische Finanz- und Schuldenkrise 11 im Feld der Forschungs- Beschränkte Gestaltungs- und Transformationskraft gruppe, die nicht der EU 12 als SWP-Papiere heraus- Die Partnerseite 12 gegeben werden. Dabei kann Ägypten: Ein sperriger Partner 12 es sich um Vorstudien zu späteren SWP-Arbeiten Schlussfolgerungen und Politikempfehlungen 15 handeln oder um Arbeiten, die woanders veröffentlicht werden. Kritische Kommen- tare sind den Autoren in jedem Fall willkommen.
Einführung Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden der Frage „Wie haben sich die europäischen Maßnah- men zur Stabilisierung der Transformationsländer, die aufgestockten Finanzmittel im Rahmen der Europäi- schen Nachbarschaftspolitik (ENP) und die Sonderpro- Der sogenannte Arabische Frühling hat nicht nur die gramme zur Unterstützung des Demokratisierungs- Region nachhaltig verändert, er hat sich auch auf die prozesses ausgewirkt?“ auf den Grund gehen. Dazu Perzeption der arabischen Länder in Europa und auf möchte ich im Folgenden auf vier Punkte eingehen: die europäische Politik ausgewirkt. In Europa trafen 1. Wo stehen die Transformationsprozesse heute? die jungen Araberinnen und Araber, die die Proteste 2. Welche Maßnahmen sind von Seiten der EU angeführt haben, mit ihren Forderungen auf enorme und ihrer Mitgliedstaaten ergriffen worden? Empathie. Die Bürgerproteste in der arabischen Welt Und welchen Effekt haben diese gehabt? haben das Bild der Region in den europäischen Medi- 3. Was sind die Haupthürden effektiver europäi- en, Öffentlichkeiten und in der politischen Klasse scher Politik in der Region? verändert. Dabei war die, wenn auch von Land zu 4. Welche Folgerungen lassen sich daraus ablei- Land unterschiedlich starke, Beteiligung von Frauen ten? an den mutigen Protestaktionen ein wichtiges Ele- ment. Die Proteste wurden in Europa, zumindest ganz überwiegend, als auf der richtigen Seite der Geschich- te und als Bekräftigung derjenigen Werte interpre- tiert, die auch den Europäerinnen und Europäern wichtig sind: Freiheit, Demokratie, Pluralismus, Rechtstaatlichkeit und gute Regierungsführung. Allerdings erlitt diese positive Sichtweise schon bald einen ersten Einbruch: Vor dem Hintergrund rapide ansteigender Flüchtlingszahlen zu Beginn der Umbrüche in Tunesien und Libyen, einem Erstarken von Kräften des politischen Islam sowie bewaffneten Auseinandersetzungen in Libyen, Jemen und Syrien, gewannen in Europa schnell Sorgen vor Destabilisie- rung und vor negativen Auswirkungen auf die eige- nen geopolitischen Interessen die Oberhand. Bereits im März 2011 war deshalb vermehrt vom Ende des Arabischen Frühlings die Rede. Heute ist der ur- sprüngliche Enthusiasmus – trotz beachtlicher Fort- schritte in einigen Ländern der Region – deutlich abgeflaut; nicht nur die neuen Führungen und Bevöl- kerungen sondern auch die Europäer stehen vor den „Mühen der Ebene“: den Herausforderungen langwie- riger, komplexer Transformationsprozesse, deren Richtung, Tiefe und Endpunkt nach wie vor keines- wegs feststehen, die von Polarisierung und Auseinan- dersetzungen statt von bunten Bildern und Gemein- schaftsgefühl gekennzeichnet, die aber zugleich mit enormen Erwartungen von Seiten der Bevölkerungen konfrontiert sind – Erwartungen hinsichtlich einer schnellen sozioökonomischen Verbesserung, der Wie- derherstellung von Sicherheit und Ordnung, der Mög- lichkeit der politischen Beteiligung und der Bekämp- fung von Korruption und Vetternwirtschaft. SWP-Berlin Kein großer Wurf August 2013 3
Zum Stand der Wahlen gut ab. Allerdings gewannen sie in keinem der Länder eine Sitzmehrheit; in Libyen wurden sie Transformationsprozesse nicht einmal zur stärksten Partei. Dies zwang bzw. zwingt sie dazu, in Koalitionen zu regieren (wie in Tunesien) oder ihren Kurs in einer schwierigen politi- schen Umgebung zu navigieren, in der sie sich nicht nur gegenüber den mehr oder weniger säkularen oder Seit dem Beginn des Arabischen Frühlings Mitte De- liberalen Kräften, sondern auch gegenüber den zember 2010 in Tunesien hat sich die Situation im Salafisten durchsetzen müssen, ebenso wie gegenüber Nahen/Mittleren Osten und in Nordafrika drastisch den Kräften des alten Regimes und des „deep state“. verändert. Proteste und Revolten haben die ganze Seit der politischen Öffnung sind in den Umbruch- arabische Welt, mit einigen wenigen Ausnahmen, staaten auch unzählige zivilgesellschaftliche Organi- erschüttert. Regime, die zwar als autoritär und kor- sationen und Initiativen entstanden; damit ist auch rupt aber auch als überwiegend stabil und anpas- ein Schritt in Richtung Bürgergesellschaften gemacht sungsfähig galten, sind zumindest teilweise zusam- worden. In Tunesien und Ägypten haben sich verfas- mengebrochen bzw. hinweggefegt worden. Herrscher sungsgebende Versammlungen auf neue Verfassungen die seit 20, 30 oder gar 40 Jahren an der Macht waren geeinigt – freilich mit einem sehr unterschiedlichen – wie Präsident Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien, Grad an Inklusion und Bürgerbeteiligung. In Ägypten Präsident Hosni Mubarak in Ägypten oder Revoluti- ist die neue Verfassung bereits per Referendum ange- onsführer Muammar al-Gaddafi in Libyen – sind ge- nommen worden. Dabei fokussierten die Debatten in flohen, getötet oder vor Gericht gestellt worden. Im beiden Ländern zu einem nicht geringen Teil auf die Jemen ist mit dem Rücktritt von Präsident Ali Abdal- Rolle des Islam in Gesellschaft, Staat und Politik. Dies lah Saleh ein zweijähriger Übergangsprozess eingelei- hat in beiden Ländern zu einer starken gesellschaftli- tet worden, dessen Endpunkt alles andere als klar chen und politischen Polarisierung geführt, die insbe- definiert ist. sondere Ägypten an den Rand der Unregierbarkeit In Syrien ist die friedliche Protestbewegung durch gebracht hat. 2 die Repression des Regimes zu einem bewaffneten Nicht in allen vier Staaten, in denen das Staats- Aufstand geworden und in einen umfassenden Bür- oberhaupt bzw. der oberste Entscheidungsträger abge- gerkrieg mit starker regionaler und internationaler löst worden ist, hat auch ein Regimewechsel stattge- Dimension abgeglitten. Ein baldiges Ende der Gewalt funden bzw. findet ein solcher statt. Nicht in allen vier ist nicht absehbar. 1 In Bahrain ist die Protestbewegung Staaten hat ein umfassender Wandel in den politisch mit Hilfe der Intervention der Golfkooperationsstaa- relevanten Eliten stattgefunden oder zeichnet sich ein ten unterdrückt worden, doch die Situation ist kei- solcher ab. So sind zwar Köpfe ausgetauscht worden, neswegs befriedet. Nach wie vor kommt es regelmäßig aber bislang kaum umfassende institutionelle Refor- zu Zusammenstößen zwischen Protestierenden und men eingeleitet worden – dies gilt vor allem für die Regimekräften – wie zuletzt anlässlich der Formel 1 Sicherheitsapparate, die Innenministerien und die Mitte April 2013. Justiz. Insbesondere im Jemen und in Ägypten haben In Tunesien, Ägypten und Libyen ist der erste tragende Säulen des ancién regime nach wie vor ent- Schritt in Richtung offenerer, inklusiverer und ge- scheidenden Einfluss. Ein umfassender Prozess der rechterer Ordnungen gemacht worden. In den drei Übergangsjustiz ist nirgendwo eingeleitet worden. nordafrikanischen Ländern haben erste weitgehend Auch haben sich die Menschenrechtslage und politi- freie und faire Wahlen stattgefunden, an denen zahl- sche und bürgerliche Freiheiten nur teilweise verbes- reiche neue Kräfte teilgenommen haben. Die sert bzw. beginnt sich der politische Raum bereits Muslimbrüder in ihrer jeweiligen nationalen Ausfor- wieder zu verengen oder ist dies zumindest absehbar. mung, die unter den vorherigen Regimen – wenn Auch hat sich die Sicherheitssituation in einigen auch in unterschiedlichem Maße – unterdrückt wor- Ländern drastisch verschlechtert. In Libyen kämpft die den waren, profitierten besonders von den neuen Regierung nach wie vor damit, angesichts der Vielzahl politischen Freiheiten und schnitten bei den ersten 1 Vgl. Muriel Asseburg/Heiko Wimmen, „Der Bürgerkrieg in 2 Vgl. Nagwan El Ashwal, Ägypten am Rande der Unregierbarkeit, Syrien und die Ohnmacht der internationalen Politik“, in: Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, 28.2.2013. (SWP Friedensgutachten 2013, Berlin 2013, S. 236-250. Kurz gesagt) SWP-Berlin Kein großer Wurf August 2013 4
von Milizen, Armeeinheiten und der großen Verbrei- Konflikt in Syrien hat zudem zu einer immensen Ver- tung von Kleinwaffen, ein Gewaltmonopol zu errich- stärkung konfessionell-ethnischer Polarisierung in der ten, Gewaltkonflikte einzudämmen und die tiefen Gesamtregion geführt. Nicht zuletzt mit der kurdi- Gräben zu versöhnen, die der Bürgerkrieg aufgerissen schen Frage sind auch Grenzfragen und das nah- hat. In der Tat steht Libyen vor besonders großen Her- /mittelöstliche Staatensystem, wie es sich nach dem ausforderungen, die zum größten Teil eher in den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches herausge- Bereich von Staatsbildung als von politischer und bildet hat, potentiell wieder geöffnet worden. ökonomischer Transformation fallen, da viele staatli- che Institutionen ganz neu etabliert und aufgebaut werden müssen. Die politische Instabilität hat einen negativen Ef- fekt auf die wirtschaftliche Entwicklung gezeitigt und einen dramatischen Rückgang des Wachstums, des Tourismus, ausländischer Direktinvestitionen sowie rückläufige Staatseinnahmen und ausländische Reser- ven mit sich gebracht – Libyen ist hier die bemer- kenswerte Ausnahme. Dies impliziert wiederum wei- tere politische Instabilität: Schließlich war es die Ver- schlechterung der sozioökonomischen Situation, die die Protestbewegung entscheidend befeuert hatte. Nun hat sich genau diese Situation seit dem Abtreten der autoritären Führer weiter verschlechtert, statt verbessert: hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere Ju- gendarbeitslosigkeit, zunehmende soziale Ungleich- heit, Mangel an Job- und Lebensperspektiven. Mittel- bis langfristig gibt es zwar durchaus Chan- cen, dass verantwortliche Regierungen ihre Politik nicht nur auf Wirtschaftswachstum ausrichten, son- dern auch stärker an den Bedürfnissen der Bevölke- rung orientieren und daher dringend notwendige Reformen einleiten, die nicht nur auf Wirtschafts- wachstum setzen, sondern auch auf Beschäftigung; die Subventionen und aufgeblähte öffentliche Sekto- ren zurückfahren und solche Maßnahmen zugleich sozial abfedern; und die Nepotismus und Korruption angehen. Kurzfristig dürften die Erwartungen auf rasche Verbesserungen allerdings eher enttäuscht werden, da z.B. in Ägypten anstehende Wahlen die Führungen von solchen schmerzhaften Reformen abhalten. Last but not least hat der Arabische Frühling nicht nur innenpolitische Veränderungen mit sich ge- bracht, sondern enorme Auswirkungen auf die regio- nale Machtbalance gezeitigt und die bisherige regio- nale Ordnung in Frage gestellt. In Folge sind Allianzen (etwa Türkei-Iran, Türkei-Israel), aber auch jahrzehnte- lange Feindschaften (Iran-Ägypten) aufgerüttelt wor- den. Bewaffnete Konflikte und Bürgerkriege haben enorme Spill-over-Effekte (in Form von Flüchtlingen, Kampfhandlungen, ökonomischen Ausfällen und der Verstärkung von lokalen Spannungen) gezeitigt. Der SWP-Berlin Kein großer Wurf August 2013 5
Europäische Politik und und Rückkoppelungen zwischen den Ländern und Gesellschaften der arabischen Welt. Maßnahmen Zeitgleich, aber keineswegs in Reaktion auf den Arabischen Frühling, wurden bestehende Politikan- sätze wie die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) revidiert. Dabei blieb es bei einer zaghaften Anpas- sung bisheriger Politik und kam nicht zu einer grund- Nach einer kurzen Periode der Konfusion – wir erin- legenden Überarbeitung der Ansätze. Zudem fiel es nern uns z.B. an das Angebot der damaligen französi- den EU-Mitgliedsstaaten schwer, eine gemeinsame schen Außenministerin vom Januar 2011, Sicherheits- Politik vorzulegen, um mit den destabilisierenden kräfte nach Tunesien zu entsenden, um dabei zu hel- Effekten der Umbrüche umzugehen. Der große Auf- fen, die Proteste zu unterdrücken – hießen europäi- bruch blieb definitiv aus. sche Offizielle (in Brüssel und den Mitgliedstaaten) Lassen Sie mich im Folgenden drei Punkte etwas den Arabischen Frühling enthusiastisch willkommen genauer ausführen: a) die Ausweitung europäischer und kündigten großzügige Unterstützung an. Damit Unterstützung; b) die neue ENP; und c) europäisches begriffen die EU und ihre Mitgliedstaaten den Um- Krisen- und Konfliktmanagement. bruch als Chance, die südlichen Nachbarn effektiver bei einer umfassenden Transformation der politi- schen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ver- EU-Reaktion auf den Umbruch hältnisse zu unterstützen. Dies sollte dazu beitragen, die betreffenden Staaten – nicht zuletzt im europäi- Neben bilateralen Initiativen der EU-Mitgliedsstaaten schen Interesse – nachhaltig zu stabilisieren. Außer- zur Unterstützung der Transformation – so hat dem versprach man sich auf EU-Seite eine Vertiefung Deutschland zum Beispiel sogenannte Transformati- der europäisch-arabischen Beziehungen. 3 Gleichzeitig onspartnerschaften eingerichtet – ergriff auch Brüssel wurde vermehrt die bisherige Politik hinterfragt. Ins- ein Bündel an Maßnahmen. Dabei griff die EU insbe- besondere galt dies für die bislang mehr oder weniger sondere auf ihr altgedientes Instrumentarium zurück. unkonditionierte (bzw. nur auf dem Papier und nicht So setzte die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und in der Praxis konditionierte) Zusammenarbeit mit Sicherheitspolitik, Catherine Ashton, im Juni 2011 autoritären Herrschern im Mittelmeerraum, von der eine Task Force für den südlichen Mittelmeerraum ein sich die politische Elite Europas nunmehr vehement und ernannte im Juli 2011 den spanischen Diploma- distanzierte. ten Bernardino León Gross zum Sonderbeauftragten Insgesamt aber wurden im Folgenden viele Maß- für die Region. Im September 2011 wurde das soge- nahmen eher durch den vorhandenen Instrumenten- nannte SPRING-Programm (Support to Partnership, kasten der EU als durch eine Analyse der konkreten Reform and Inclusive Growth) aufgelegt, in dessen Erfordernisse vor Ort bestimmt. Dabei haben sich die Rahmen 2011-2013 rund 540 Millionen Euro für Ad- Europäer auf den südlichen und östlichen Mittelmeer- hoc-Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden sol- raum (insbesondere die arabischen Transformations- len, um die sozioökonomischen Nebenwirkungen der staaten, zu denen die EU auch Marokko und Jordanien Umbrüche abzufedern und den Übergang zur Demo- zählt) konzentriert und die schon bestehenden Koope- kratie zu unterstützen. Im September 2011 wurde eine rationsformate fortgeführt: Euro-Mediterrane Partner- Tunesien-Task-Force eingerichtet, im Februar 2012 schaft (EMP), the Europäische Nachbarschaftspolitik eine Task-Force für Jordanien, im November 2012 eine (ENP) and Union für den Mittelmeerraum (UfM). Da- für Ägypten. Im Oktober 2011 entsandte die EU durch hatten sie zwar einen Startvorteil, brachten Wahlbeobacher für die ersten freien Wahlen nach aber auch die Schwächen der alten Formate mit und Tunesien, in Folge auch nach Libyen und Jordanien. ignorierten vor allem die „arabische Dimension” des Zudem kündigte Ashton an, die EU wolle die Trans- Arabischen Frühlings, also die engen Verflechtungen formation mit „3 Ms“, also mit Geld, Marktzugang und erhöhter Mobilität (money, market access, mobili- ty) unterstützen. 4 Allerdings zeigte sich schnell, dass 3 Vgl. ausführlich Muriel Asseburg, Der Arabische Frühling. Herausforderung und Chance für die deutsche und europäische Politik, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Juli 2011 (SWP- 4 Catherine Ashton, „What Next in North Africa?“, in: Interna- Studie 17/2011). tional Herald Tribune, 18.3.2011. SWP-Berlin Kein großer Wurf August 2013 6
die EU-Mitgliedsstaaten zögerlich waren, diese 3 Ms In Reaktion auf den Arabischen Frühling wurden mit konkreten Angeboten zu unterfüttern. Dies lag auch die Finanzmittel für die Nachbarschaftspolitik nicht nur daran, dass Europa mit seinen eigenen Prob- aufgestockt. Im Rahmen der ENP sollen im Zeitraum lemen, allen voran der Finanz- und Schuldenkrise, voll 2011-2013 neben den bereits vorgesehenen 5,7 Milli- ausgelastet war, sondern auch daran, dass es zwischen arden Euro weitere Mittel von bis zu 1,24 Milliarden den Mitgliedsstaaten – und zum Teil auch zwischen Euro zur Verfügung gestellt werden – allerdings für verschiedenen Ressorts einzelner Mitgliedsstaaten – in den gesamten Nachbarschaftsraum, d.h. neben den wichtigen Fragen keinen Konsens gab. Dies galt vor Mittelmeerländern auch für Armenien, Aserbaid- allem im Hinblick auf einen erleichterten Marktzu- schan, Georgien, Moldawien, die Ukraine und, zumin- gang für Agrarprodukte, gegen den sich die südlichen dest prinzipiell, Weißrussland. Diese Gelder sollen vor EU-Staaten sperrten. So kam es zwar zu einer (teils allem dazu dienen, die Partnerschaft mit den Bevölke- temporären) Erhöhung von Exportmengen und zum rungen in der Region weiter auszubauen, die soziale Abbau einiger Handelsschranken; die Veränderungen und wirtschaftliche Entwicklung zu fördern (ein- blieben aber deutlich beschränkt. 5 schließlich ländlicher Entwicklung und Regionalent- Es traf aber auch für Visumserleichterungen für wicklung), Institutionsaufbau zu unterstützen und die Studierende, Geschäftsleute und Arbeitnehmerinnen UN-Millenniums-Entwicklungsziele voranzubringen. und Arbeitnehmer zu. In der Realität wurde Mobilität Zudem wurde das Operationsgebiet der Europäischen aus der Region zunächst kaum erhöht. Die sprunghaf- Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) auf te Zunahme von Bootsflüchtlingen in den ersten Mo- die Transformationsstaaten im Mittelmeerraum aus- naten der Umstürze in Tunesien und Libyen wurde geweitet und die Kreditvergabe der Europäischen vielmehr seitens Europa mit einer Verschärfung der Investitionsbank (EIB) für die Region um eine Milliar- Grenzkontrollen, dem teilweisen Außerkraftsetzen de Euro erhöht. Damit könnte die EIB im Zeitraum der Schengen-Regulierungen, dem Ausbau der EU- 2011-2013 nahezu sechs Milliarden Euro an Krediten Grenzbehörde Frontex und hastigen Verhandlungen zur Verfügung stellen. mit Übergangsregierungen über die Kontrolle irregu- Die EU hat darüber hinaus begonnen, (Vor- lärer Migration beantwortet. Seitdem hat es durchaus )Verhandlungen mit Tunesien, Jordanien, Marokko Visumserleichterungen, vor allem für Studierende und Ägypten über sogenannte „Deep and und um den wissenschaftlichen Austausch zu fördern, Comprehensive Free Trade Agreements“ (DCFTAs) zu sowie Pilotprojekte im Bereich von Arbeitsmigration führen, die die derzeitigen Assoziierungsabkommen gegeben. Auch werden derzeit Abkommen über soge- ersetzen sollen. nannte Mobilitätspartnerschaften ausgehandelt. Dabei handelt es sich um Rahmenvereinbarungen, durch die Mobilität besser gesteuert, die Zusammenarbeit im Eine neue ENP Bereich von Migration und Entwicklung verstärkt, illegale Einwanderung effektiver bekämpft und ein Außerdem erfolgte im Frühjahr 2011 eine Revision besserer Rechtsschutz für Flüchtlinge gewährleistet der ENP – die bereits vor dem Arabischen Frühling werden soll. Mit Marokko ist eine gemeinsame Erklä- initiiert, deren Notwendigkeit aber durch die Proteste rung zu einer Mobilitätspartnerschaft unterschrifts- in der arabischen Welt noch untermauert worden reif; mit Tunesien laufen die Verhandlungen, mit war. 6 Denn seit Einführung der ENP im Jahre 2004 Jordanien Vorsondierungen. Ägypten hat bislang we- waren Erfolge bei der angestrebten Etablierung eines nig Interesse an einer solchen Partnerschaft gezeigt. „Rings von verantwortungsvoll regierten Staaten“ 7 Durch die Abkommen verpflichten sich die europäi- schen Unterzeichnerstaaten nicht, mehr Migration 6 Europäische Kommission/Hohe Vertreterin der Europäi- zuzulassen. Dies wird vielmehr autonom und unter schen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Gemeinsame Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage durch den Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen jeweiligen Aufnahmestaat festgelegt. Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Ei- ne neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel, KOM(2011) 303, Brüssel, 25.5.2011. 7 Rat der Europäischen Union, Ein sicheres Europa in einer besse- 5 Allerdings werden bereits heute rund 80% der Agrarexporte ren Welt, Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel, 12.12.2003; Eu- aus der MENA-Region zollfrei oder zollbegünstigt in die EU ropäische Kommission, Mitteilung der Kommission, Europäi- importiert. sche Nachbarschaftspolitik, Strategiepapier, KOM(2004) 373, SWP-Berlin Kein großer Wurf August 2013 7
weitgehend ausgeblieben. Damit hatte sich die ENP der EU-Strukturen operieren, um die gewünschte Fle- trotz der bilateralen Aushandlung von individuellen xibilität zu erlauben. Bis heute hat es allerdings seine Aktionsplänen mit den Partnerländern, die Zielvorga- Arbeit noch nicht aufgenommen. Unklar ist bislang ben und Indikatoren zu deren Überprüfung enthiel- zudem, welchen Mehrwert die beiden neuen Elemente ten, auch nicht als zielführender als die bereits 1995 gegenüber den bereits bestehenden europäischen etablierte Euro-Mediterrane Partnerschaft (EMP oder Instrumenten und Institutionen wie dem European Barcelona-Prozess) erwiesen. Zwar sahen die Aktions- Instrument for Democracy and Human Rights pläne durchaus auch Verbesserungen bei der Regie- (EIDHR), der Governance Facility oder den deutschen rungsführung, bei Menschenrechten und hinsichtlich bzw. anderen europäischen politischen Stiftungen der Erweiterung der politischen Teilhabe vor, die kon- bieten bzw. wie sich die Aufgaben und Kompetenzen kreten Bezugspunkte markierten aber vor allem öko- der unterschiedlichen Instrumente zur Förderung der nomische und administrative Reformen. Zivilgesellschaft voneinander abgrenzen. In der neuen ENP soll nun die Konditionalität von Die Revision der europäischen Politik gegenüber Unterstützung zu einem wichtigeren Prinzip als bis- den arabischen Ländern ist letztlich – trotz der enthu- lang werden. Finanzielle Hilfen und andere Anreize siastischen rhetorischen Unterstützung für die Pro- wie eine neue Generation umfassender Handelsab- testbewegungen – sehr beschränkt geblieben. Letztlich kommen (die oben genannten DCFTAs), erleichterter folgt die neue ENP dem Ansatz, dass nur konsequenter Marktzugang und erhöhte Mobilität sollen künftig – umgesetzt werden müsse, was bislang schon europäi- nach dem Motto „mehr für mehr“ – verstärkt von sche Politik war bzw. europäische Politik hätte sein Fortschritten und Reformen im Bereich Demokratie, sollen, was also die entsprechenden Dokumente als Menschenrechten und guter Regierungsführung ab- europäische Politik postuliert hatten. Eine kritische hängen. In der Tat enthalten die neuen Aktionspläne, Auseinandersetzung mit den bisherigen Ansätzen und die mittlerweile mit Marokko, Tunesien, den Palästi- den Ursachen für ihr Misslingen hat jedoch kaum nensern und dem Libanon ausgehandelt wurden, stattgefunden. Um zu einer effektiveren Politik ge- mittlerweile auch konkrete Benchmarks in diesen genüber der Region zu gelangen, bedarf es aber genau Bereichen. Nach Angaben der EU wurde das „more for einer solchen kritischen Bestandsaufnahme. 8 more“-Prinzip auch bereits bei der Mittelzuweisung Die Auseinandersetzung mit bisherigen Blockaden im Rahmen des SPRING-Programms angewendet. Al- und widersprüchlichen Effekten im Rahmen von lerdings sind Kriterien, Prozess und Auswirkungen EMP, ENP und der 2008 etablierten Union für den dieser Anwendung aufgrund mangelnder Transparenz Mittelmeerraum (UfM): Hierzu gehören insbesonde- nicht nachzuvollziehen. re die virulenten Konflikte in der Region und ihre Zudem soll künftig stärkeres Gewicht auf die Förde- negativen Folgen für multilaterale Zusammenar- rung zivilgesellschaftlicher Strukturen gelegt werden. beit, regionale Integration und für Transformation Dazu wurden eine Civil Society Facility (mit einem (durch fehlgeleitete Ressourcenzuteilung, die starke Finanzvolumen von 22 Millionen Euro für den Zeit- Rolle des Militärs, ein investitionsunfreundliches raum 2011-2013) und ein European Endowment for Klima, schwache Staatlichkeit und einflussreiche Democracy (EED) (derzeit gibt es Zusagen von rund 15 nicht-staatliche Gewaltakteure). 9 Die zentrale Frage Millionen Euro) eingerichtet. Durch die Civil Society lautet hier, was die EU tun kann und sollte, um zu Facility sollen insbesondere Kapazitäten im Bereich einer nachhaltigen Regelung „alter Konflikte“, wie der Zivilgesellschaft gefördert werden, so dass letztere den arabisch-israelischen Konflikt, aber auch inner- stärker als bislang eine Aufsichtsfunktion über Regie- rungshandeln sowie EU-Programme im Lande ausfül- 8 Vgl. ausführlicher meinen Vortrag bei der 1. Fachkonferenz zur Mittelmeerpolitik, „Den „Arabischen Frühling als Chance len kann. Das EED soll als flexibleres und unbürokra- nutzen – Bilanz und Perspektiven deutscher Mittelmeerpoli- tischeres Instrument auch die Kooperation mit sol- tik“, der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit im Ok- chen zivilgesellschaftlichen Organisationen ermögli- tober 2011. chen, die nicht von ihren Regierungen lizenziert sind, 9 Vgl. ausführlich Muriel Asseburg, „Euro-Mediterranean co- eventuell auch die Kooperation mit Parteien. Im De- operation and protracted conflicts in the region. The Israeli- Palestinian predicament“, in: Muriel Asseburg/Paul Salem zember 2011 wurde seine Einrichtung zwar grund- (Hrsg.), No Euro-Mediterranean Community without Peace, Par- sätzlich beschlossen; es soll nun als Fonds außerhalb is/Brussels, September 2009 (EU Institute for Security Studies / European Institute for the Mediterranean IEMed, 10 Papers Brüssel, 12.5.2004. for Barcelona 2010, No. 1), S.13-27. SWP-Berlin Kein großer Wurf August 2013 8
staatlicher Auseinandersetzungen mit immensen umgehen (Nahostfriedensprozess, Israels Sicher- regionalen Rückwirkungen (wie beispielsweise in heit, irreguläre Migration, Energieversorgung, …), Syrien) beizutragen. die verhindern, dass Konditionierung von europäi- Die Auseinandersetzung mit dem räumlichen Kon- scher Seite konsequent angewandt wird? 2) Wie mit zept, das der südlichen Nachbarschaft, dem südli- selbstbewussteren neuen Führungen und Gesell- chen Mittelmeerraum bzw. der UfM unterliegt: schaften in der Region umgehen? Denn es stößt in Denn es handelt sich hier keineswegs um Räume der Region auf Unverständnis, warum die Bewer- mit einer gemeinsamen Identität. Die 16 südlichen tung von Fortschritten in Brüssel statt im Land Mitglieder der UfM etwa – von der Türkei über Isra- selbst stattfinden sollte. Auch sollten Führungen el, die arabischen Länder und den Balkan – verbin- gegenüber ihren eigenen Bevölkerungen bzw. ge- den wenige kulturell-identitäre, wirtschaftliche wählten Parlamenten, nicht einer europäischen In- oder politische Gemeinsamkeiten. Auch unter- stitution Rechenschaft ablegen. Zudem steht kondi- scheiden sich ihre jeweiligen Beziehungen zur EU tionierte Zusammenarbeit im Widerspruch zum deutlich, manche sind bereits Beitrittskandidaten, partnerschaftlichen Ansatz der EU und zu Bezie- anderen steht der Beitritt zumindest prinzipiell of- hungen auf Augenhöhe. Gerade solche Beziehun- fen, wieder anderen – u.a. den arabischen Staaten – gen aber, die die Interessen beider Seiten gleicher- ist er verwehrt. Der „Arabische Frühling“ hat zu- maßen berücksichtigen, fordern die neuen Kräfte dem einmal mehr deutlich gemacht, dass es eine in den Umbruchstaaten ein. 3) Wie mit den relativ wesentlich engere, vor allem gesellschaftliche Ver- geringen Mitteln, die für die ENP zur Verfügung flechtung zwischen arabischen Ländern gibt, als stehen, und der begrenzten Bereitschaft zu Angebo- von Europa bislang wahrgenommen. ten der EU-Mitgliedstaaten (was Mobilität und Hinzu kommt die Tatsache, dass die EU in der Marktöffnung angeht) umgehen? Wie können den- Region nicht ohne Konkurrenz aktiv ist: Auch an- noch effektive Anreize gesetzt und damit Kosten- dere Akteure, die von Europa nicht als Teil der Re- Nutzen-Kalküle von Eliten in der Region effektiv be- gion betrachtet werden (beispielsweise Saudi- einflusst werden? 4) Und, in diesem Zusammen- Arabien, Qatar, die Türkei und der Iran), haben Ein- hang: wie mit ressourcenreichen Staaten umgehen, fluss und nutzen diesen im Mittelmeerraum. Damit etwa mit Algerien oder Libyen, die auf finanzielle bilden die Räume auch nicht das gesamte jeweilige Unterstützung nicht angewiesen sind? Konfliktsystem ab. Wie kann Europa mit dieser Konkurrenz erfolgreich umgehen? Was bedeutet dies für europäische Politikansätze, zum Beispiel EU-Krisen- bzw. -Konfliktmanagement für die Konditionierung von Unterstützung? Inwie- fern existieren widersprüchliche Ansätze von Ver- Auch wenn europäische Dokumente immer wieder bündeten wie den USA, beispielsweise bezüglich betonen, dass die Politik gegenüber der Region aus der US-Militärhilfe für Ägypten, und inwiefern wer- einem Guss ist – dies ist nicht der Fall. Insbesondere den diese von der EU und ihre Mitgliedstaaten in bieten weder die überarbeitete ENP noch die Europäi- ihre Politik einbezogen? sche Außen- und Sicherheitspolitik Mittel und In- Die Auseinandersetzung mit den bisherigen Erfah- strumente, um effektiv mit Krisen und Konflikten in rungen im Bereich der Demokratieförderung: Die der Region umzugehen. In den Fällen, in denen die Revision der ENP betont das Prinzip der positiven Proteste zu bewaffneten Konflikten geführt haben, hat Konditionierung als Mittel der Demokratieförde- die EU (als EU) entsprechend auch keine erwähnens- rung – statt genauer zu analysieren: Was funktio- werte Rolle gespielt und war nicht in der Lage, effektiv niert in welchem Kontext? Dabei ist fraglich, ob zu Konfliktprävention oder –management beizutra- Konditionierung auf der Basis von „deep democra- gen. Dabei war die Ursache nicht, dass Europäer cy“ 10 erfolgreich sein kann. Denn mindestens vier grundsätzlich kriegsmüde gewesen wären, sondern Fragen sind in Bezug auf Konditionierung ungelöst: dass sie keinen Konsens bezüglich militärischer Inter- 1) Wie mit geopolitischen europäischen Interessen vention auf Seite der Protestbewegungen in Libyen und Syrien erzielen konnten oder bezüglich deren 10 The EU Response to the Arab Spring. Remarks by EU High Repre- Unterstützung mit militärischer Ausrüstung. sentative Catherine Ashton delivered at the Brookings Institution, Gleichzeitig waren die Europäer nachlässig dahin- Washington DC, 12.7.2011. gehend, die (absehbaren) Spill-over-Effekte der Gewalt SWP-Berlin Kein großer Wurf August 2013 9
in Libyen einzudämmen – erst nach der französischen Militärintervention in Mali im Frühjahr 2013 trieben sie die Vorbereitungen für eine EU-Mission dort ernst- haft voran. Ich erwähne dies hier insbesondere des- halb, weil es sich nicht um bedauerliche Einzelfälle handelt, sondern weil diese Gewaltkonflikte – zusätz- lich zu den sog. „protracted conflicts“ in der Westsa- hara und in Palästina – erhebliche negative Auswir- kungen auf Stabilitität, Sicherheit und Transformati- on in der Region haben. Das heißt aber eben auch, dass die EU ohne eine effektive Außen- und Sicher- heitspolitik weder in der Lage sein wird, Transforma- tion in der Region effektiv zu beeinflussen, noch ihre eigenen geopolitischen Interessen zu sichern. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten zwar eine Vielzahl an Einzelprojekten in Transformationsstaaten (insbesondere in Tunesien) durchgeführt haben bzw. durchführen; dass sie zu- dem die Grundlage für die Intensivierung der Bezie- hungen in verschiedenen Bereichen (Handel, Mobili- tät) gelegt haben; dass es ihnen aber nicht gelungen ist, entscheidenden Einfluss auf die erste Phase der Transformationsprozesse auszuüben. Daran waren nicht nur die Eurozonenkrise schuld und ein Europäi- scher Auswärtiger Dienst, der sich noch im Aufbau befand, sondern auch, dass die Europäer sich auf die Fortschreibung ihrer alten Ansätze und Formate ver- lassen haben. Hinzu kam allerdings auch, dass ihre Unterstützung nicht überall in der Region willkom- men geheißen wurde, und dass die Partner nicht wil- lens oder in der Lage waren, die Unterstützung anzu- nehmen. Lassen Sie mich einige dieser Punkte ausfüh- ren: Was also waren bzw. sind die Haupthürden effek- tiver europäischer Unterstützung von Transformation in der Region? SWP-Berlin Kein großer Wurf August 2013 10
Haupthürden effektiver Kontext des „Arabischen Frühlings“ trotz aller Rheto- rik nur begrenzten Einfluss entfalten konnten – was europäischer Politik in der übrigens für Staaten wie die USA oder die Türkei eben- falls gilt –, liegt in erster Linie an anderen Faktoren. Region Bei den materiellen Standardangeboten der EU – mo- netäre Hilfe, Marktöffnung und Mobilität – haben die Mitgliedstaaten den südlichen Nachbarn gegenüber keine großen Schritte gewagt, obwohl sie gerade hier Die Europäische Finanz- und Schuldenkrise 11 eine besonders effektive Reaktion auf den Wandel in Aussicht gestellt hatten. Der große Aufbruch blieb Angesichts der Finanz- und Schuldenkrise in der EU damit aus. Doch, und das wird manchmal übersehen: wird vielfach konstatiert bzw. prognostiziert, dass die Die EU ruderte eben auch nicht zurück, obwohl sie wirtschaftlich-politische Schwäche der Union auch ihr von der Finanz- und Schuldenkrise gebeutelt wurde. auswärtiges Handeln beschränke. Dadurch verliere die Sie stockte die eigenen Ressourcen sogar kurzfristig EU im östlichen wie im südlichen Umfeld an Gestal- auf, und für den Zeitraum 2014–2020 schrieben die tungskraft und strategischem Gewicht. 12 EU-Mitglieder die Mittel für die ENP auf höherem Analysiert man allerdings die EU-Politik gegenüber Niveau fest. der südlichen Nachbarschaft, so zeichnet sich bislang Allerdings sind auf Ebene der Mitgliedstaaten teil- nur ein schwacher Zusammenhang ab zwischen der weise gegenläufige Entwicklungen zu registrieren. Krise in der EU und ihrer Nachbarschaftspolitik. So Denn die europäische Finanz- und Schuldenkrise hat hat die Finanz- und Schuldenkrise weit weniger als protektionistische Tendenzen in einzelnen EU-Staaten behauptet auf die „soft power“ der EU, ihre normative verstärkt. Ursächlich ist hier insbesondere die krisen- Ausstrahlungskraft, in der südlichen Nachbarschaft hafte Zuspitzung der wirtschaftlichen und sozialen durchgeschlagen. Gesicherte Fakten, etwa in Form Situation in den südlichen Mitgliedstaaten. Daher repräsentativer Umfragen in der Region, liegen hierzu verpufften auch Appelle, wie der von Italiens ehemali- nicht vor. Einen gewissen Aufschluss bietet das im gem Außenminister Franco Frattini, schnell, der einen Auftrag der EU erstellte EU Neighbourhood Barome- Marshall-Plan für die Transitionsländer gefordert hat- ter. Demnach hat sich das Image der EU in der südli- te – also ein Maßnahmenpaket, das deutlich über die chen Nachbarschaft zwischen einer ersten Befragung Ad-hoc-Sonderprogramme und das ENPI-Budget (Euro- im Frühjahr 2012 und einer zweiten im Herbst 2012 pean Neighbourhood Policy Instrument) hinausgehen sogar leicht verbessert: Im Herbst 2012 hatten 42 Pro- sollte. 14 zent der Befragten (in allen Ländern der südlichen Außerdem bewirkt die Eurozonen-Krise bei den am Nachbarschaft mit Ausnahme Syriens) ein positives stärksten betroffenen Staaten, etwa Spanien, dass sie oder überwiegend positives Bild von der EU, im Früh- ihre Mittel für den bilateralen Austausch kürzen, die jahr 2012 waren es 40 Prozent. 13 Präsenz in der Region verringern, sich auf traditionel- Europas gegenwärtige Krise ist auch nicht ursäch- le Partner konzentrieren und eigene Interessen beto- lich für die mangelnde Gestaltungsfähigkeit der EU in nen, etwa beim Schutz vor Terrorismus und irregulä- der südlichen Nachbarschaft. Dass die Europäer im rer Migration. 15 Die Unterstützung von Transformati- on und Demokratisierung in den Ländern des Südens 11 Vgl. ausführlich Muriel Asseburg / Barbara Lippert, „Die gerät dabei einmal mehr deutlich in den Hintergrund. EU und die südliche Nachbarschaft: weder Aufbruch, noch Insgesamt ist zu konstatieren, dass die Finanz- und Rückschritt“, in: Ronja Kempin / Marco Overhaus (Hg.), EU- Schuldenkrise die Gestaltungsfähigkeit europäischer Außenpolitik in Zeiten der Finanz- und Schuldenkrise, Berlin: Stif- Politik in der südlichen Nachbarschaft weiter tung Wissenschaft und Politik, April 2013 (SWP-Studie 9/2013), S. 20-29. schwächt. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil die 12 Vgl. u.a. Bruce Stokes, The Foreign and Security Policy, Implica- tions of the Eurozone Crisis. Testimony before the U.S. Senate Commit- 14 EU Neighbourhood Info Center, Union for the Mediterranean tee on Foreign Relations, Washington, D.C. 2011; Michael Emer- Assembly Calls for a ›Marshall Plan‹ for Transition Countries, Rom, son, Implications of the Eurozone Crisis for EU Foreign Policy: Costs 4.3.2011. and Opportunities, Brüssel: Centre for European Policy Studies, 15 Vgl. Jordi Vaquer i Fanés/Eduard Soler i Lecha, Spain and the 2012 (CEPS Commentary); Justin Vaisse, „The Sick Man of Eu- New Mediterranean: Overlapping Crises, Washington, D.C./Rom: rope Is Europe“, in: Foreign Policy, 16.2.2012. The German Marshall Fund of the United States/Istituto Affari 13 ENPI, EU Neighbourhood Barometer, Herbst 2012, hier S. 15. Internazionali, 2012. SWP-Berlin Kein großer Wurf August 2013 11
Mitgliedstaaten die EU-Ebene nicht aktiver unterstüt- lung profitiert. Zugleich wünschen sich die Befragten zen. Eine Trendwende, die Öffnung vor Abschottung ein stärkeres europäisches Engagement in den Feldern und Demokratisierung vor interessenbezogene Koope- Frieden und Sicherheit, Armutsbekämpfung und ration setzen würde, ist durch die Krise eher noch Handel. 18 unwahrscheinlicher geworden. Dass die EU kaum als politischer Akteur gesehen wird, liegt auch am geringen Erfolg bisheriger Koope- rationsformate. So erbrachten die seit 1995 anhalten- Beschränkte Gestaltungs- und Trans- den Bemühungen der EU im Rahmen von EMP, ENP formationskraft der EU und UfM, eine politische und wirtschaftliche Öffnung der Region zu fördern und gleichzeitig die eigenen Doch auch unabhängig von der Krise ist die Gestal- Beziehungen dorthin zu vertiefen, kaum Fortschrit- tungsfähigkeit der EU in der südlichen Nachbarschaft te. 19 als eher gering zu veranschlagen. Zwar wickeln alle Länder der Region einen beträchtlichen Teil ihres Handels mit der EU ab, und für viele von ihnen, etwa Die Partnerseite Ägypten, ist sie sogar der größte Handelspartner. 16 Entgegen vielen Prognosen und Annahmen ist das Eine Rolle spielen dabei aber auch Entwicklungen auf Handelsvolumen mit Staaten der südlichen Nachbar- der Partnerseite: Ungleichzeitigkeiten zwischen den schaft in letzten Jahren nicht zurückgegangen, son- Akteuren, entstanden durch Verzögerungen bei der dern (zumindest bis 2010, also vor dem „Arabischen Bildung demokratisch legitimierter und damit ver- Frühling“) weiter angestiegen. Dennoch war und ist handlungsfähiger Regierungen; ein neues Selbstbe- die EU in der Region nur ein Akteur unter vielen; ihr wusstsein, in einigen Ländern verbunden mit der Einfluss und ihre Anreize sind begrenzt. Direktinvesti- Ablehnung äußerer „Einmischung“, die als neokoloni- tionen etwa kommen zu beträchtlichen Anteilen aus al gewertet wird; und eine teils beträchtliche Immuni- den arabischen Golfstaaten oder anderen Drittstaa- tät gegenüber Bedingungen, an die Unterstützung ten. 17 Aus dem Golfkooperationsrat (GKR) fließt zu- geknüpft wird – sei es aufgrund von Ressourcenreich- dem finanzielle Unterstützung in Form von Entwick- tum (wie etwa in Libyen) oder dank geopolitischer lungsprojekten, Budgethilfen und Absicherung der Bedeutung (wie in Ägypten). Devisenreserven. Und bei den nichtregionalen Akteu- Ich möchte diese Faktoren gerne anhand der Ent- ren überragt nach wie vor der politische Einfluss der wicklungen in Ägypten illustrieren. USA und ihre sicherheitspolitische Kooperation, etwa mit Ägypten, bei weitem selbst die relativ profilierten Beziehungen, wie sie Frankreich, Großbritannien, Ägypten: Ein sperriger Partner Italien und Spanien mit einzelnen Ländern der Region pflegen. Nach dem Sturz des Mubarak-Regimes im Februar In den Staaten der südlichen Nachbarschaft wird 2011 bemühten sich die Europäer mit vielfältigen die EU denn auch im Wesentlichen als Handelspartne- Maßnahmen darum, Ägypten zu stabilisieren und den rin und Geberin wahrgenommen, nicht als zentraler Übergang des Landes zu einer demokratisch- politischer Akteur. Laut EU Neighbourhood Barometer marktwirtschaftlichen Ordnung zu unterstützen. geben Befragte in der südlichen Nachbarschaft an, ihr Gleichwohl konnten sie nur geringen Einfluss auf den Land habe von der EU-Politik vor allem in den Berei- bisherigen Pfad der Transformation entfalten. Im chen Handel, Tourismus und ökonomische Entwick- Frühjahr 2013 ist Ägypten vielmehr, u.a. infolge eines unglücklich verlaufenen Verfassungsprozesses, stark 16.Umgekehrt beläuft sich für die EU der Handel mit der Re- polarisiert und destabilisiert. Die Volkswirtschaft gion auf weniger als 5 Prozent ihres gesamten Außenhandels. Zum Handel zwischen Ägypten und der EU siehe 18 Vgl. Fn. 13, hier S. 19. . Unterstützung wirtschaftlicher und politischer Öffnung im 17 The World Bank, From Political to Economic Awakening in the südlichen Mittelmeerraum vgl. Muriel Asseburg, „Demokra- Arab World. The Path of Economic Integration. A Trade and Foreign tieförderung in der arabischen Welt. Hat der partnerschaftli- Direct Investment Report for the Deauville Partnership, Washington, che Ansatz der Europäer versagt?“, in: Orient, 46 (2005) 2, S. D.C. 2013, S. 43–58. 272–290. SWP-Berlin Kein großer Wurf August 2013 12
steckt in einer tiefen Krise; die Zukunft des Übergangs nen eingestellt. Dies schränkt nicht nur Europas „soft liegt im Ungewissen. 20 power“ deutlich ein, sondern auch die konkreten Dies liegt zuerst am Problem der Ungleichzeitig- Möglichkeiten, zivilgesellschaftliche Aktivitäten in keit, das die Effektivität und den Output europäischer Ägypten zu fördern. Betroffen waren dabei insbeson- Politik beträchtlich eingeschränkt hat. Die EU hätte dere die deutschen politischen Stiftungen, die eigent- gerne von Anfang an die Transformation unterstützt lich hervorragend positioniert gewesen wären, um die und stabilisierend gewirkt; dementsprechend war sie Transformation des Landes konstruktiv zu begleiten. auch bereit, mehr Mittel zur Verfügung zu stellen. Die Doch im Februar 2012 lancierten Kräfte des alten ägyptischen Übergangsautoritäten dagegen lehnten Regimes ein Gerichtsverfahren gegen die Konrad- mittelfristige Festlegungen und Verhandlungen ab Adenauer-Stiftung (KAS) und amerikanische Organisa- und unterbrachen zunächst alle formalen bilateralen tionen (National Democratic Institute, Freedom Hou- Dialoge mit der EU (Assoziierungsrat, Assoziierungs- se, etc.). Die Ermittlungen gingen einher mit Drohun- ausschuss und sektorale Unterausschüsse). Diese Koo- gen gegen andere Nichtregierungsorganisationen und perationsformate ließen sich erst wieder aktivieren, trafen in der Bevölkerung auf ein Klima, das von gro- nachdem in Kairo eine demokratisch legitimierte ßem Misstrauen gegenüber unterstellten „foreign Regierung eingesetzt worden war – und damit rund agendas“ geprägt ist und dass eine effektive Stiftungs- eineinhalb Jahre nach dem Umsturz. Erst im Septem- arbeit verhinderte. Anlässlich des Besuchs von Präsi- ber 2012 reiste Präsident Mohammed Mursi nach dent Mursi in Berlin Ende Januar 2013 konnte zwar Brüssel; erst Mitte November 2012 fand das erste Tref- der künftige Rechtsstatus der KAS (sowie der anderen fen der EU-Egypt Task-Force statt. Es eröffnete – im politischen Stiftungen) in Ägypten geklärt werden. Zusammenhang mit dem vorläufigen IWF-Abkommen Offen sind jedoch nach wie vor der Ausgang des Ge- von November 2012 – eine substantielle Ausweitung richtsprozesses und der legale Rahmen für zivilgesell- der europäischen Hilfe für Ägypten. Zu den ursprüng- schaftliches Engagement (NGO-Gesetzgebung). lich für 2011–2013 vorgesehenen Budgetposten von Am Fall Ägyptens lässt sich auch die Problematik 450 Millionen Euro für Demokratieförderung und die einer effektiven Konditionierung gemäß dem „Mehr Unterstützung von Wettbewerbsfähigkeit und nach- für Mehr“-Prinzip verdeutlichen. Nachdem Präsident haltiger Entwicklung 21 sollen nun weitere 800 Millio- Mursi im November 2012 Dekrete erlassen hatte, die nen Euro an Zuschüssen und Krediten kommen. Zu- die Macht des ägyptischen Präsidenten (wenn auch dem soll Ägypten die Möglichkeit haben, Kredite der nur vorübergehend) beträchtlich ausweiteten, und die Europäischen Investitionsbank (EIB) und der Europäi- Verfassung in einer Marathonsitzung der verfas- schen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sungsgebenden Versammlung durchgedrückt worden (EBRD) in Anspruch zu nehmen. 22 Allerdings war der war, forderten Vertreter des Europäischen Parlaments IWF-Deal Ende April 2013 noch immer nicht unter- eine Aussetzung der EU-Hilfen. Im Dezember 2012 zeichnet; als Folge wurde auch der Großteil der euro- wurde dann Ägyptens neue Verfassung durch ein päischen Zusagen zunächst nicht in Zahlungen um- Referendum angenommen; seitdem steht die europäi- gewandelt. Damit aber kommen die Mittel deutlich zu sche Politik vor der Frage, wie sie die Lage im Land spät, um noch einen Einfluss auf die erste, wichtige bewerten und gegebenenfalls sanktionieren soll. Phase der Transformation entfalten und stabilisierend Schließlich ist der Verfassungsprozess formal demo- wirken zu können. kratisch korrekt zu Ende gebracht worden, auch wenn In Ägypten zeigt sich zudem eine weitere Hürde für die ägyptische Opposition seine mangelnde Unterstützung aus Europa: Gesellschaft und politische Inklusivität verurteilt. Es wäre demnach folgerichtig, Klasse sind extrem kritisch gegenüber den Aktivitäten den Prozess als Fortschritt zu werten. Dies gilt unab- internationaler, insbesondere westlicher Organisatio- hängig davon, dass die Verfassung in einigen Berei- chen als deutlich defizitär anzusehen ist, etwa hin- 20 Vgl. u.a. Egypt. The Uprising Two Years On, Sonderheft von sichtlich einer demokratischen Kontrolle des Sicher- Middle East Report, Januar 2013 (Heft Nr. 265). heitsapparates oder der Gleichstellung der Geschlech- 21 Europäische Kommission, ENPI. Arab Republic of Egypt Na- ter. tional Indicative Programme 2011–2013, hier S. 7. Dabei stellt sich nicht zuletzt die Frage nach den 22 EU-Egypt Task Force, Co-chairs Conclusions, 14.11.2012, S. 7ff, (Zugriff am 1.2.2013). SWP-Berlin Kein großer Wurf August 2013 13
tie“. 23 Zu klären ist, welche Kriterien gelten sollen, um etwa Verfassung und Verfassungsprozess zu beurtei- len: universelle Menschenrechte bzw. international kodifizierte politische und bürgerliche Freiheiten oder die Werte des sozialkonservativen Mainstreams in Ägyptens Bevölkerung, zusammen mit dem dort weit- verbreiteten Bedürfnis, die Übergangsperiode mög- lichst rasch abzuschließen, selbst wenn die Transition zunächst nur unvollständig bleibt. Letztlich steht die EU einmal mehr vor einem Dilemma: Einerseits lässt der ägyptische Transformationsprozess bislang ernste Ansätze zum Aufbau nachhaltiger demokratischer Strukturen vermissen. Andererseits kann Druck auf die ägyptische Führung kontraproduktiv sein, da ex- terne „Einmischung“ auch von weiten Teilen der Be- völkerung abgelehnt wird. Zudem liegt es nicht im europäischen Interesse, Unterstützungsleistungen zu streichen. Denn dies würde in einer ohnehin schon prekären Situation die Gefahr weiter verstärken, dass das bevölkerungsreichste arabische Land nachhaltig destabilisiert wird. 23 Für das Konzept „vertiefte Demokratie“ vgl. Europäische Kommission/Hohe Vertreterin, Gemeinsame Mitteilung: Eine neue Antwort auf eine Nachbarschaft im Wandel, KOM(2011) 303, Brüssel, 25.5.2011, hier S. 2f. SWP-Berlin Kein großer Wurf August 2013 14
Schlussfolgerungen und Politik- rufen) oder diese stehen unmittelbar bevor (Ärzte, Kranken-/Altenpfleger, Erzieher); in Hotellerie und empfehlungen Gastronomie gibt es saisonale Engpässe. Unter- nehmen zeigen daher großes Interesse an Zuwan- derung, auch aus dem nordafrikanischen Raum, zur Fachkräftesicherung. Sie sehen diese aber durch qualifikatorische, rechtliche und verwaltungstech- Die Erfahrungen haben gezeigt, dass umfassende nische Hürden behindert. Die Studie zeigt auch Transformation weder von außen angestoßen, noch sektorspezifische Anknüpfungspunkte für Ägypten, von außen in Länder hineingetragen werden kann. Marokko und Tunesien auf, inklusive erforderlicher Neben der Unterstützung der Transformationsprozes- Weiterbildungs-/Trainingsmaßnahmen sowie von se in den Staaten, in denen ein Führungswechsel be- Pilotprojekten. reits stattgefunden hat, sind daher Bescheidenheit Darüber hinaus gilt es, deutlich stärker als bislang und Konsistenz gute Ratgeber für europäische Politik die Förderung von Freihandel durch soziale Kohäsi- gegenüber der Region. Dennoch kann und sollte Eu- on zu ergänzen. Dabei sollte die EU erstens auf ropa seinen Einfluss geltend machen, um ein günsti- entwicklungs- und beschäftigungsorientiertes ges Umfeld für freiere, gerechtere und pluralistischere Wachstum drängen und zweitens ein besonderes Systeme zu schaffen. Dabei geht es weniger um eine Augenmerk auf die sozialen Anpassungskosten von Ausweitung finanzieller Unterstützung, sondern ge- Wirtschaftsreformen haben und dabei helfen, diese rade um das Überkommen von Abhängigkeiten und effektiv abzufedern. von Strukturen, wie sie mit Rentierstaatlichkeit und Es besteht die dringende Notwendigkeit für effizi- Vetternwirtschaft einhergehen. entes Krisenmanagement im Mittelmeerraum. Zudem sollen hier vier Punkte hervorgehoben wer- Hierzu bedarf es vor allem eines wesentlich ernst- den: hafteren und konsistenteren europäischen Enga- Der Fokus der Zusammenarbeit sollte auf der ge- gements für die Regelung alter und neuer gewalttä- sellschaftlichen Dimension liegen. Dabei geht es tiger Konflikte und ihrer „Nebenwirkungen“. Ge- nicht nur um die Förderung der (organisierten) Zi- fragt ist von der EU ein deutlich stärkeres diploma- vilgesellschaft, sondern vor allem um die Unter- tisches und zivil-militärisches Engagement, das in stützung von Bildung und Ausbildung, um mensch- einer konfliktreichen Region umfassende Trans- liche Entwicklung und um einen interessenbasier- formation und nachhaltige Stabilisierung über- ten Austausch zwischen Bevölkerungs- und Berufs- haupt erst ermöglicht. gruppen dies- und jenseits des Mittelmeers. Auch sollte die Eigenverantwortung der Gesellschaften gestärkt werden, indem Monitoring und Evaluie- rung der Transformationsprozesse vor Ort und un- ter Einbindung von Parlamenten und Zivilgesell- schaft vorgenommen und über Kriterien, Bewer- tungen und Auswirkungen Transparenz hergestellt wird. Wichtig ist auch, die Mobilität von Arbeitskräften und Dienstleistern zu erhöhen – über die zaghaften Maßnahmen hinaus, die bislang in diesem Bereich ergriffen wurden. Eine Studie des Centrums für in- ternationale Migration und Entwicklung vom Juni 2012 zeigt zum Beispiel für Deutschland: 24 In eini- gen Teilarbeitsmärkten bestehen bereits jetzt er- hebliche Fachkräfteengpässe (z.B. in Ingenieursbe- 24 Anna Goos, Entwicklungspolitische Potenziale der Migration von Fachkräften aus Nordafrika nach Deutschland, Frankfurt am Main, Juni 2012 (Centrum für internationale Migration und Ent- wicklung). SWP-Berlin Kein großer Wurf August 2013 15
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