DIE SEPSIS - EPIDEMIOLOGIE, DIAGNOSE UND THERAPIE
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Alois Riedl: O. T., Acryl auf Leinwand 2017, 100 x 100 cm DIE SEPSIS – EPIDEMIOLOGIE, DIAGNOSE UND THERAPIE Zirka 31 Millionen Menschen erkranken jährlich an generalisierten Infektionen. Davon versterben weltweit nach groben Schätzungen etwa sechs Millionen Menschen1. Allerdings handelt es sich dabei nur um eine grobe Schätzung der Todesfälle, da in zahlreichen Gegenden der Welt der Zugang, vor allem der ländlichen Bevölkerung, zu einer medizinischen Versorgung kaum oder gar nicht gewährleistet ist. EPIDEMIOLOGIE DER SEPSIS VON PRIM. UNIV.- ist daher mit ca. 28.000 Sepsisfällen Weltweit wird derzeit ein Anstieg der PROF. DR. WALTER pro Jahr (286 Fälle pro 100.000 Ein- Sepsisfälle beobachtet. In den Jahren HASIBEDER wohner) zu rechnen. Bei vergleichba- Leiter der Abteilung 2005 bis 2015 wurde eine geschätzte rer Sterberate bedeutet das, dass in für Anästhesiologie und Sepsisinzidenz von ca. 440 Fällen pro operative Intensivmedizin Österreich ca. 6.700 PatientInnen pro 100.000 Einwohner und Jahr berich- am Krankenhaus Jahr an Sepsis versterben (Tabelle 1). tet1, 2, 3. Zehn bis zwanzig Prozent der St. Vinzenz, Zams auf Intensivstationen aufgenommenen Diese Zahlen zeigen das wahrschein- Sepsispatienten entwickeln im Rahmen liche Ausmaß des Problems. Schwere der Erkrankung Organdysfunktionen generalisierte Infektionen sind eine mit und ohne Herz-Kreislauf-Versagen. der Haupttodesursachen, insbesonde- Die Mortalität wird bei der „unkompli- sisfälle und der Sterbehäufigkeit im re beim älteren, vorerkrankten Men- zierten“ Sepsis mit elf bis 26 Prozent Rahmen der Erkrankung leider keine schen, aber auch beim Säugling und angegeben1. Bei der Sepsis mit Organ- verlässlichen Angaben. Wir können beim Kleinkind. dysfunktionen („schwere Sepsis“) oder aber, durch Kenntnis der Daten aus gar mit einem Herz-Kreislauf-Versagen Deutschland, auf die Sepsishäufigkeit Prinzipiell können viele Bakterien, Vi- („septischer Schock“) werden 28-Ta- in Österreich schließen. Im Jahr 2013 ren und Pilze Infektionen auslösen. ge-Mortalitätszahlen zwischen 30 und wurden in Deutschland 280.000 Sep- Auch durch Parasiten können Infekti- 50 Prozent berichtet 1, 4. sisfälle erfasst. Davon sind 68.000 onen hervorgerufen werden. Zirka 53 PatientInnen (24,3 Prozent) im Kran- bis 65 Prozent aller generalisierten In- Für Österreich gibt es bezüglich der kenhaus verstorben. In Österreich, mit fektionen werden ambulant erworben tatsächlichen Anzahl jährlicher Sep- etwa 1/10 der deutschen Bevölkerung, (außerhalb des Krankenhauses, auch: 18 ANÄSTHESIE Nachrichten Nr. 2 | April 2019
INTENSIVMEDIZIN Tabelle 1 zeigt die vermutete Zahl der Sepsistoten in Österreich im Vergleich Bakterien der Gattung Acinetobacter zu Erkrankungen, die von der Bevölkerung gemeinhin als die häufigsten Todes- befallen mit zunehmender Häufigkeit ursachen in unserem Land angesehen werden: immungeschwächte, oft beatmete Patienten und sind für komplizierte KRANKHEIT TODESFÄLLE IN ÖSTERREICH % ALLER Pneumonien, Meningitiden und Wund- TODESFÄLLE infektionen verantwortlich. (n = 83270b) Sepsis 6700a 8 DIAGNOSE Herzinfarkt 4784 b 5,7 Die Sepsis ist ein komplexes Syn- drom, dessen klinischer Ausprägungs- Schlaganfall (zerebrovaskuläre grad durch die Stärke der immuno- Todesfälle) 4784b 5,7 logischen, hormonellen und vegeta- Lungenkarzinom 3874 b 4,6 tiv-nervalen Antwort auf einen in- Dickdarmkarzinom 2145 b 2,6 fektiösen Stimulus bestimmt wird14, 15. Dabei führt eine massive Reaktion des Mammakarzinom 1587 b 1,9 unspezifischen Immunsystems, die Verletzungen und Vergiftungen 2504 b 3 Überaktivierung des sympathischen Nervensystems und der hypothala- a Hochrechnung aus deutschen statistischen Erhebungen aus dem Jahr 2013 (Fleischmann C und Mitarb. Dtsch Arztebl Int 2016; 113:159–166) mo-hypophysären-adrenoglandulä- b Daten des Österreichischen Statistischen Zentralamtes aus dem Jahr 2016 ren Hormonachse zur zunehmenden Schädigung der Organe durch direk- „community-acquired (CA)“) 5 ,6, 7, 8, 9. reichischen Krankenanstalten. Diese te Zellschädigung, Hypovolämie und Außerhalb des Krankenhauses ist die Situation könnte sich durch die vom Mikrozirkulationsstörungen 16, 17, 18, 19. häufigste Ursache einer Sepsis die BMASGK geforderte Erfassung von Das Spektrum der Organbeteiligung Pneumonie, meist durch Haemophi- nosokomialen Infektionen, zum Bei- im Rahmen der Sepsis kann von mild, lus influenzae, Pneumokokken, Myco- spiel durch Teilnahme am KISS, in Zu- moderat bis hin zum manifesten Mul- plasma pneumoniae, Chlamydophila kunft verändern. tiorgandysfunktionssyndrom (MODS) pneumoniae und das Influenzavirus im Rahmen des septischen Schocks ausgelöst. Legionelleninfektionen Ebenso gibt es keine genauen Anga- reichen. treten in der Regel als lokale Ausbrü- ben zur Inzidenz primärer oder sekun- che in Institutionen mit mangelhafter därer Abdominalinfektionen wie z. B. Allerdings wurde in den 1980er-Jah- Wasserhygiene auf. Dem Influenzavi- der Peritonitis in Österreich. Letztere ren bereits richtig erkannt, dass eine rus kommt bei erworbenen CA-Pneu- sind meist Folge von Perforationen im überschießende Immunreaktion und monien häufig eine Schrittmacher- Bereich der Abdominalorgane, z. B. Stressreaktion auch durch nicht in- funktion für sekundäre bakterielle einer perforierten Appendizitis, einer fektiöse Stimuli, wie z. B. ein schweres Pneumonien zu10. Das Virus schädigt Divertikel- oder Ulcusperforation. Trauma, Verbrennungen, große ope- die Schleimhäute der Trachea und der rative Eingriffe oder eine Ischämie/ Bronchien und vermindert damit die Im Krankenhaus dominieren als Sep- ein Reperfusionsereignis, also auch Clearancefunktion des mukoziliären siserreger Staphylokokkus aureus und ohne Beteiligung von Mikroorganis- Apparats. Das virale Membranprotein Enterobakterien wie z. B. Escherichia men, entstehen kann. Auf der Basis Neuraminidase erleichtert Bakterien coli. International werden im zuneh- dieser Beobachtungen wurde 1992 das Andocken an die Zellen des Re- menden Maß Resistenzentwicklun- das „Systemic Inflammatory Response spirationstraktes – eine essenzielle gen dieser Bakterien gegen die meis- Syndrome (SIRS)“ als Diagnosebegriff Voraussetzung für die Entstehung der ten gängigen Antibiotika berichtet13. geprägt (Tabelle 2; 14, 15). Pneumonie10, 11. Das Methicillin-resistente Bakterium Staphylokokkus aureus verursacht Ein wichtiger Kritikpunkt an den Zu den häufigsten im Krankenhaus er- schwere bis tödliche Wundinfektio- SIRS-Kriterien war, dass sie als solche worbenen Infektionen (nosokomiale nen, Pneumonien und Harnwegsinfek- sehr unspezifische Momentaufnah- Infektionen) gehören, laut einer 2008 tionen. Hochresistente, sogenannte men der Klinik eines Patienten dar- veröffentlichen Studie des Robert Vancomycin-resistente Enterokokken stellen. Ein kurzfristiger postoperati- Koch-Instituts, postoperative Wund- sind für Harnwegsinfektionen, Ab- ver Temperaturanstieg, zusammen mit infektionen, Infektionen der Harnwe- dominalinfektionen meist im Rahmen einem schmerzbedingten Anstieg der ge, die Pneumonie und katheterasso- einer tertiären Peritonitis sowie für Atemfrequenz – > 20 Atemzüge pro ziierte Infektionen12. In der beschrie- sekundäre Infektionen an Herzklap- Minute – würde demnach bereits die benen Studie waren fast ein Viertel pen verantwortlich. Pseudomonas Diagnose eines manifesten SIRS er- der nosokomialen Infektionen Wund- aeruginosa, ein Bakterium, das im geben! Wir haben, um diesen Umstand infektionen nach Operationen. Meines Leitungswasser, in Duschen und Toi- ausreichend zu berücksichtigen, be- Wissens existieren keine verlässlichen letten überleben kann, ist bei ca. zehn reits frühzeitig im klinischen Alltag die Daten bezüglich Häufigkeiten und der Prozent aller Krankenhausinfektionen SIRS-Diagnose an die Zeit gekoppelt. Prognose dieser Infektionen in öster- in Deutschland beteiligt. Resistente Die Diagnose SIRS wurde gestellt, ANÄSTHESIE Nachrichten Nr. 2 | April 2019 19
Tabelle 2: SIRS-Kriterien und die Definitionen von Sepsis, die bis dahin geltende SIRS-Diagnose schwerer Sepsis und septischem Schock verzichtet21. Mit den Sepsis-3-Kriteri- en und dem daraus hervorgegangenen SYMPTOM KRITERIUM FÜR DIE SIRS–DIAGNOSE „quick Sequential Organ Failure Score Temperatur > 38 °C oder < 36 °C (qSOFA)“ wollte man den Klinikern Herzfrequenz > 90 Schläge/Minute ein Diagnosewerkzeug mit hoher Sen- sitivität und Spezifität zur raschen Er- Atemfrequenz (spontan) > 20/Minute oder PaCO2 < 32 mmHg (4,3 kPa) kennung systemischer Infektionen in Leukozytenzahl > 12000/µl oder < 4000/µl oder die Hände geben. > 10 % unreife Formen im Ausstrich Laut Sepsis-3-Kriterien wird die Sep- Sepsis Vorhandensein von > 2 SIRS-Kriterien + ein klinisch sis als lebensbedrohliche Organdys- vermuteter oder nachgewiesener Infektionsherd funktion definiert, deren Ursache eine Schwere Sepsis Sepsis + Zeichen der Organdysfunktion (z. B. Urinzeit- fehlgeleitete, überschießende Immun- volumen < 0,5 ml/(kgxh); Laktat > 2 mmol/l; antwort auf eine Infektion ist. Für den Hypotension, die auf Volumengabe reversibel ist) Kliniker besteht eine neu aufgetretene Organfunktionsstörung dann, wenn in Septischer Schock Schwere Sepsis + Hypotension (systolischer Blutdruck der Evaluierung des Sequential Organ < 90 mmHg) mit Notwendigkeit zur Vasopressortherapie Failure Scores (SOFA; Tabelle 3) ein Anstieg von mehr als 2 Punkten ge- messen wird. Ein Anstieg im SOFA um Der quick „SOFA“-Score 2 Punkte ist mit einer Steigerung der Hospitalsmortalität um zirka zehn Pro- zent assoziiert21. Hypotension Tachypnoe Um im Alltag eine nicht auf Labor- Systolischer Veränderte Atemfrequenz untersuchungen angewiesene rasche Blutdruck Bewusstseinlage > 22/min Sepsis-Diagnose zu stellen, wurden < 100 mmHG drei klinisch relativ einfach zu evalu- ierende Organsysteme (Respiration, Herz-Kreislauf-System, ZNS) ausge- wählt und mit leichten Abänderungen ≥ 2 Symptome erfüllt – deutet auf eine schlechte Progose hin der Definitionen in einen quick SOFA- Score abgewandelt (Abbildung 1). Vergleicht man SIRS- und Sep- sis-3-Score-Kriterien für die Diag- Abbildung 1 nose des Sepsis-Syndroms, fällt aus klinischer Sicht sofort auf, das Sep- wenn zwei der geforderten Sympto- der Patienten waren aber SIRS-nega- sis-3-Kriterien und der daraus abgelei- me für mindestens 24 Stunden, trotz tiv, das heißt, sie zeigten klinisch ent- tete qSOFA-Score eine bereits fort- intensivmedizinischer Therapie, nach- weder kein oder nur ein SIRS-Sym- geschrittene Erkrankung mit deutlich weisbar waren. ptom. Die Mortalität SIRS-positiver eingeschränkten Organfunktionen Patienten lag im letzten Studienjahr abbilden 22, 23. Haydar S et al. unter- An dieser Stelle muss mit Nachdruck bei 18,3 Prozent. Von den SIRS-ne- suchten 200 Patienten mit genera- darauf hingewiesen werden, dass le- gativen Patienten starben immerhin lisierten Infektionen bei Aufnahme bensbedrohliche, ja tödliche Infek- noch 9,3 Prozent. Die Studie zeigte in einer Notfalleinrichtung auf das tionen durchaus auch ohne Erfüllung auch einen direkten Zusammenhang Vorhandensein von > 2 SIRS-Krite- zweier SIRS-Kriterien auftreten kön- von Mortalität und der Anzahl erfüll- rien oder das Vorhandensein von zwei nen. In einer großen Multizenterstudie ter SIRS-Kriterien. Die mittlere Mor- bzw. drei qSOFA-Kriterien24. Während in Australien und Neuseeland wurden talität stieg von ca. 15 Prozent mit immerhin 94 Prozent der septischen Daten von über einer Million Patienten einem SIRS-Symptom auf 28 Prozent Patienten bei Aufnahme SIRS-positiv auf das Vorhandensein einer syste- bei Vorhandensein von vier SIRS-Sym- waren, erfüllten nur 58 Prozent der mischen Infektion mit und ohne Vor- ptomen. Patienten > 2 qSOFA-Kriterien. Von handensein eines SIRS untersucht20. den qSOFA-Kriterien waren Verände- Zirka 110.000 Patienten litten an einer Um die Diagnosen Sepsis und septi- rungen des Bewusstseins am häufigs- systemischen Infektion mit Organdys- scher Schock besser zu charakterisie- ten vorhanden. Recht ähnlich präsen- funktion. Der überwiegende Teil die- ren, wurden im Rahmen einer inter- tieren sich die Ergebnisse einer Studie ser Patienten (87,9 Prozent) präsen- nationalen Konferenz die neuen Sep- von Askim A et al.25. In dieser Studie tierte sich SIRS-positiv. 12,1 Prozent sis-3-Kriterien definiert und damit auf wurde ein Triage-Score in der Notauf- 20 ANÄSTHESIE Nachrichten Nr. 2 | April 2019
INTENSIVMEDIZIN Tabelle 3: Der SOFA-Score als Grundlage der Sepsis-3-Diagnose ORGANSYSTEM 0 PUNKTE 1 PUNKTE 2 PUNKTE 3 PUNKTE 4 PUNKTE RESPIRATION PaO2/FIO2 ≥ 400 < 400 < 300 < 200 mit < 100 mit mmHg Atemhilfen Atemhilfen GERINNUNG Thrombozyten ≥ 150 < 150 < 100 < 50 < 20 x103/µl LEBER Bilirubin mg% < 1,2 1,2–1,9 2–5,9 6–11,9 > 12 HERZ-KREISLAUF MAP MAP Dopamin Dopamin Dopamin > 70 mmHg > 70 mmHg < 5 µg/(kgxmin) 5,1–15 µg/(kgxmin) > 15 µg/(kgxmin) oder Dobutamin oder Adrenalin oder Adrenalin < 0,1 µg/(kgxmin) > 0,1 µg/(kgxmin) oder Noradrenalin oder Noradrenalin < µg/(kgxmin) > µg/(kgxmin) ZENTRALES NERVENSYSTEM Glasgow 15 13–14 1012 69 5 Harnzeitvolumen < 500 < 200 ml/24 h PaO2– arterieller Sauerstoffpartialdruck; FIO2 – inspiratorische Sauerstoffkonzentration Tabelle 4: Die Aussagekraft von SIRS-Kriterien, qSOFA und dem „Rapid Emergency Triage and Treatment System (RETTS)“-Score zur Diagnose und Prognose der schweren Sepsis Triage-Werkzeug Korrekte Diagnose Korrekte Identifikation von Patienten, Schwere Sepsis N (%) die innerhalb von 7 Tagen versterben N (%) SIRS ≥ 2 80 (74,1 %) 15 (57,7 %) ohne Leukozytenzahl und Reife qSOFA > 2 33 (30,6 %) 4 (15,4 %) RETTS rot 37 (30,6 %) 8 (30,8 %) RETTS orange 55 (50,9 %) 8 (30,8 %) RETTS rot und orange 92 (85,2 %) 16 (61,5 %) modifiziert nach Askim A et al. Scand J Trauma, Resuscitation and Emerg Med 2017; 25:56 nahme, das „Rapid Emergency Triage gestellt werden. Die Sensitivität des Interventionsstudien wurden retros- and Treatment System (RETTS)“ mit qSOFA zur Diagnose der Sepsis war pektiv in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine SIRS-Kriterien und qSOFA-Score für mit 31 Prozent bescheiden. Auch be- Gruppe (n = 200) erfüllte die neuen die Diagnose- und Prognosestellung züglich der Überlebensprognose wa- Sepsis-3-Kriterien, die andere Grup- einer Sepsis verglichen (Tabelle 4). ren SIRS-Kriterien und RETTS-Score pe (n = 270) „nur“ die SIRS-Definitio- In der Notaufnahme war die korrekte dem qSOFA überlegen. nen der Sepsis bei Studienaufnahme. Sepsisdiagnose in 74 Prozent der Fälle Die Mortalität der Sepsis-3-positiven mit der Erfassung der SIRS-Sympto- Die interessante Frage, inwieweit Patienten war mit 28,5 Prozent deut- me zu stellen. Wurden Patienten nach durch Änderungen des verwendeten lich höher als die der SIRS-positiven dem RETTS-System triagiert, konnte Scoringsystems die Überlebensprog- (14,4 Prozent). In den Interventions- eine korrekte Sepsis-Diagnose durch nose septischer Patienten beeinflusst gruppen war ein mortalitätssenkender Zusammenfassung der Patienten, die wird, versuchte die Studie von Sterling Effekt durch die Intervention nur bei dringlich oder unverzüglich zu behan- S. et al. zu beantworten26. Patienten SIRS-positiven, Sepsis-3-negativen deln waren, in 85 Prozent der Fälle aus zwei randomisiert kontrollierten Patienten nachweisbar. ANÄSTHESIE Nachrichten Nr. 2 | April 2019 21
mittels der kapillären Füllungszeit. SEPSIS-ENTWICKLUNG ÜBER DIE ZEIT Schmerzen, deren Lokalisation, Quali- tät und zeitlicher Verlauf geben dabei oft erste wichtige Hinweise auf den Ausgangspunkt der Infektion und auf MODS die Dringlichkeit, mit der eine Behand- ck lung einzuleiten ist (Abbildung 2). Zum ho , Sc ien n sio hm Beispiel sind Schmerzen im Abdomen t en rhyt in Kombination mit Abwehrspannung po ar Hy achy oft Hinweis auf das Vorliegen einer T he ie Peritonitis und erfordern eine soforti- isc th ng pt iopa MORTALITÄT llu e S rd en nfü a ge Abklärung27, 28. Dabei gibt der Ort it ä t e ok em Ve n My des maximal empfundenen Schmerzes E xtr here FZ erste wichtige Hinweise auf den Ur- lte ip eK ka per gert sprung der Infektion (Abbildung 3). t e n lir d er erlä “ , De Extremer Schmerz ohne ausgeprägte i n v g ve rm tlin rie M ot ligu abdominelle Abwehrspannung muss „ O an Mesenterialischämie denken lassen und sollte in einer sofortigen CT-An- giographie-Abklärung münden 29, 30. Krankeitsgefühl organspezifische Thorax, Abdomen, ZNS Kommt es bei diesen Patienten im Leistungsknick Leitsymptome Stütz-/Bewegungsapparat Verlauf weniger Stunden zu einer Bes- ± Fieber serung der Schmerzsymptomatik, ist SEPSIS SCHWERE SEPSIS SEPTISCHER SCHOCK dies meist Zeichen der transmuralen Darmnekrose – eine Situation, in der nur noch eine sofortige chirurgische ZEIT Intervention das Leben retten kann. Abbildung 2 Neue oder in der Qualität sich ver- ändernde Schmerzen im Bereich der Shutterstock Wirbelsäule, im Zusammenhang mit zunehmendem Leistungsknick und all- gemeinem Krankheitsgefühl, müssen an spinale Infektionen denken lassen31. Cholecystitis/Cholangitis Milzabzess Hepatitis/Leberabzess Dickdarmperforation Dabei entwickelt nur etwa ein Drittel Pankreatitis Pankreatitis der Patienten > 65 Jahre auch erhöh- Pyelonephritis Pyelonephritis te Körpertemperaturen. Patienten mit vermuteten spinalen Infektionen haben zudem ein hohes Risiko für die Pankreatitis Entwicklung septischer Absiedlungen Ileus Mesenteriale Ischämie an Herzklappen. Bis zu 27 Prozent der Mesenterialvenenthrombose Patienten zeigen im Rahmen einer Echokardiographie eine gleichzeitig Appendizitis Dickdarmperforation bestehende septische Endokarditis32. Tuboovarialabszesss Divertikulitis Bleibt diese unentdeckt, haben die Pa- Psoasabszess Tuboovarialabszess Coecumperforation Kolitis tienten ein erheblich erhöhtes Schlag- Psoasabszess anfallrisiko und insgesamt ein deutlich erhöhtes Sterberisiko. Pelvic Inflammatory Disease Eine übermäßige Aktivierung des Abbildung 3 sympathischen Nervensystems und des Nebennierenmarks im Rahmen Aus Sicht des Autors sind bisherige Die Sepsis als äußerst komplexes kli- generalisierter Infektionen verhindert Sepsis-Diagnosekriterien daher un- nisches Syndrom erfordert zur frühen über lange Zeit einen signifikanten befriedigend. Besonders bei der aus- Diagnose eine genaue Patientenana- Abfall des Blutdrucks, trotz massiver schließlichen Anwendung der Sep- mnese und neben der Evaluierung von Flüssigkeitsverluste in den 3. Raum. sis-3-Kriterien ist mit erheblichen, Blutdruck, Atemfrequenz, Temperatur Diese Phase des frühen septischen nicht zu rechtfertigenden Kollate- und Bewusstseinslage auch die Unter- Schocks wird von Klinikern und Pfle- ralverlusten von Menschenleben zu suchung des Halte- und Stützappara- gepersonen, in Ambulanzen und auf rechnen. tes, der Haut und der Mikrozirkulation Normalstationen, oft nicht erkannt33. 22 ANÄSTHESIE Nachrichten Nr. 2 | April 2019
INTENSIVMEDIZIN sive Care Medicine ist als „Surviving Sepsis Campaign (SCC)“ bekannt ge- worden. Updates der Empfehlungen haben seit damals in weiteren Kon- ferenzen in den Jahren 2008, 2012 und 2016 stattgefunden 37, 38, 39. Die Maßnahmen zur effektiveren Diagno- se und Therapie wurden als Maßnah- menbündel zusammengefasst. Diese Maßnahmenbündel sollen im Idealfall innerhalb definierter Zeitfenster ab- gearbeitet werden. Im Folgenden soll besonders auf die ersten Stunden der Sepsisbehandlung eingegangen wer- den (Tabelle 5). Aus Sicht des Autors stellen die SSC-Bundles wichtige Min- deststandards in der Sepsisdiagnose und Behandlung dar. Die einzelnen Empfehlungen sind das Resultat eines Expertenkonsenses und sollten daher Abbildung 4 nicht als Dogmen verstanden werden. Tabelle 5 gibt einen Überblick über die Maßnahmen, die im Rahmen einer Sepsis In den ersten drei Stunden nach kli- innerhalb von 3 und 6 Stunden gesetzt werden sollen. nischer Präsentation sollten laut SSC Innerhalb von 3 Stunden nach klinischer Präsentation Blutkulturen abgenommen, ein Se- rum-Laktatwert bestimmt und, bei ◊ Serum Laktatbestimmung erhöhtem Laktat, Flüssigkeitsboli ◊ Blutkulturen abnehmen gegeben werden. Die Abnahme von ◊ Beginn mit einer Breitspektrum-Antibiotikatherapie mindestens zwei Blutkulturen aus ver- schiedenen Abnahmestellen vor Be- ◊ Bei Laktat > 4 mmol/l i.v. Bolusgabe von 30 ml/kg Kristalloid ginn einer Antibiotikatherapie halte Innerhalb von 6 Stunden nach klinischer Präsentation ich für diagnostisch extrem wertvoll. ◊ Bei Persistieren der Hypotension (MAP < 65 mmHg) trotz adäquater Vor allem im Rahmen der schweren Volumentherapie Beginn mit Vasopressortherapie Sepsis und des septischen Schocks gewinnen wir häufig positive Kultur- ◊ Reevaluierung des Herz-Kreislauf-Systems (Volumenstatus und Gewebe- befunde, die Einfluss auf die weitere perfusion) regelmäßig, solange die Hypotension und ein erhöhtes antimikrobielle Therapie haben kön- Serumlaktat persistieren nen. Auch die wiederholte Messung ◊ Normalisierung des Laktats von Laktat-Werten und vor allem die Laktat-Clearance während der Herz- Kreislauf-Therapie sind wichtige Pro- Der rasch progrediente Krankheits- „Mottlingscore“ quantifiziert35. Das gnoseparameter in der Behandlung verlauf mündet im manifesten Schock relative Sterberisiko war bei einem des septischen Schocks40, 41. Eine ra- und frühen Multiorgandysfunktions- Mottlingscore > 2 (= z. B. bläuliche sche Normalisierung des Laktatwer- syndrom mit signifikant verschlech- Hautveränderungen der unteren Ext- tes ist ein wichtiger Hinweis auf eine terter Überlebensprognose. In diesem remität, die sich über das Kniegelenk erfolgreiche Schocktherapie und geht Zusammenhang kommt der frühen ausdehnen) um das 6,5-fache erhöht! mit einer signifikant verbesserten Untersuchung der Haut und der Mi- Eine kapilläre Füllungszeit > 4 Sekun- Patientenprognose einher. Bei der krozirkulation über Messung der ka- den erhöhte das Sterberisiko um das Interpretation initialer Laktatwerte pillären Füllungszeiten eine wichtige 2-fache. ist aber Vorsicht geboten 42. Gerade Bedeutung zu (Abbildung 4). Jouffroy bei Patienten mit besonders ausge- R. et al. haben bei Patienten mit der THERAPIE prägter Zentralisation im Schock sind Verdachtsdiagnose septischer Schock Im Jahr 2004 wurden erstmals im Rah- initiale Laktatwerte meist kein ver- prähospital das Vorhandensein von men einer internationalen Konsensus- lässlicher Schweregradparameter des bläulichen Hautveränderungen (Mott- konferenz Richtlinien zur raschen Dia- HerzKreislauf-Versagens. Bei diesen ling) als Ausdruck verminderter Haut- gnose und Behandlung der Sepsis und Patienten beobachten wir einen An- durchblutung untersucht und zusätz- damit assoziierter Organfunktionsstö- stieg des Serumlaktats erst unter Flüs- lich die kapilläre Füllungszeit an der rungen publiziert36. Die Initiative der sigkeits-, Vasopressor- und oftmals Fingerbeere gemessen34. Das Ausmaß American Society of Critical Care Me- Inotropikatherapie. Diese meist älte- des Hautmottling wurde mittels eines dicine und European Society of Inten- ren Patienten leiden häufiger an chro- ANÄSTHESIE Nachrichten Nr. 2 | April 2019 23
lich wichtigeres und kaum in Studien behandeltes Thema ist die Frage, wie Die ersten 24 Stunden auf der Intensivstation und in welchen Schritten dem Pa- tienten nach hämodynamischer Sta- bilisierung dieses Volumen wieder 11000 Septischer Schock (n = 95) entzogen werden kann 44. Bereits in 148 Alter (Median/MW±SD) = 76/73±16 Jahre den 80er-Jahren hat der Intensivme- 10000 SAPS III (Median/MW±SD) =59/59±17 diziner David Bihari in einem Editorial SOFA (Median/MW±SD) = 11/9±17 9000 darauf hingewiesen, dass das „Erträn- Flussigkeitbilanz in Millilitern 820 ken von Patienten auf Intensivstationen 8000 88 endemisch sein kann und manchmal 7000 sogar epidemische Ausmaße annehmen kann“! So berichteten Mitchell KH. et 6000 al. vor Kurzem, dass fast 90 Prozent 5000 der Überlebenden eines septischen Schocks die Intensivstation mit positi- 4000 ven Flüssigkeitsbilanzen verlassen und 3000 35 Prozent als „flüssigkeitsüberladen“, d. h. mit einer Gewichtszunahme von 2000 mindestens zehn Prozent, auf Nor- 1000 malstation transferiert werden45. Das Überraschende dabei ist, dass nur 40 0 Prozent der Überlebenden jemals min- – 1000 destens eine Dosis eines Diuretikums auf der Intensivstation erhalten ha- – 2000 ben. Das Alter und das Vorhandensein Überlebende Verstorbene einer „Flüssigkeitsüberladung“ waren unabhängige Risikofaktoren für ein vermindertes Rehabilitationspotenzial Abbildung 5 und einen häufigeren Transfer in eine nischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen Variationen in der Pulsdruckamplitude permanente Pflegeeinrichtung. mit deutlichen Einschränkungen der oder dem Schlagvolumen geachtet myokardialen Pumpfunktion und ha- werden. Abbildung 5 zeigt die Flüs- Nach hämodynamischer Stabilisie- ben oft seit Stunden oder manchmal sigkeitsbilanzen der ersten 24 Stun- rung, Fokussanierung und unter ad- Tagen Symptome der generalisierten den von 95 Patienten im septischen äquater antibiotischer Therapie soll- Infektion ohne adäquate Behandlung. Schock. Die Abbildung inkludiert nur te spätestens nach 48 Stunden ein Flüssigkeitsbilanzen auf der Intensiv- stufenweiser, geplanter Flüssigkeits- Flüssigkeitstherapie station ohne Berücksichtigung der entzug begonnen werden. Dies setzt Patienten, die sich im septischen Bilanzen aus dem Operationssaal. Die exakte tägliche Ein- und Ausfuhrbe- Schock präsentieren, sind häufig Heterogenität im Flüssigkeitsbedarf rechnungen mit vernünftiger Planung schwer hypovoläm! Die SSC publiziert beweist die großen klinischen Unter- der erlaubten Einfuhrmengen, die zwar die Gabe von 30 ml/kg KG Kris- schiede zwischen den Patienten und Verwendung von Schleifendiuretika talloid in den ersten drei Stunden – die betont die Notwendigkeit eines indi- oder Nierenersatzverfahren beim Pa- Experten relativieren aber selbst in vidualisierten Vorgehens in der Vo- tienten mit unzureichender Nieren- ihrem Text diese, aus Sicht des Au- lumentherapie. Wir können in dieser funktion voraus. tors, unglückliche „Kochbuch“-Emp- Zeit auch keine Unterschiede im ku- fehlung! Im Text wird richtigerweise mulativen Flüssigkeitsbedarf zwischen Abbildung 6 zeigt unseren standardi- darauf hingewiesen, dass nach einem Überlebenden und auf der Intensiv- sierten Algorithmus für die Herz-Kreis- initialen Flüssigkeitsbolus die weitere station Verstorbenen nachweisen. Wir lauf-Therapie in der Initialphase der Flüssigkeitstherapie durch wiederhol- verwenden in der Initialphase der Be- schweren Sepsis und des septischen te klinische Untersuchung des Patien- handlung vorzugsweise kolloidale Infu- Schocks. Ziel der Therapie ist die Besei- ten unter Beachtung physiologischer sionslösungen – nach Beseitigung des tigung der Zentralisation mit Normali- Parameter erfolgen sollte39, 43. Dabei intravasalen Volumendefizits wird der sierung der kapillären Füllungszeit und soll neben der Makrohämodynamik auf Erhaltungsbedarf ausschließlich über Minimierung des Temperaturgradien- die kapilläre Füllungszeit, den Haut- kristalloidbasierte Lösungen ersetzt. ten zwischen Körperstamm und Peri- status (Mottling, Venenfüllung), die pherie. Aus unserer Sicht besonders Harnausscheidung, die hämodynami- Aus Sicht des Autors fürchten sich In- wichtig erscheint die ausreichende und sche Antwort auf eine Hochlagerung tensivmediziner grundlos vor hohem sofortige Volumentherapie noch vor der Beine und, beim nicht spontan at- Volumenbedarf in den ersten Stunden dem Einsatz von Vasopressoren. In ei- menden Patienten, auf atemabhängige des septischen Schocks. Ein wesent- ner retrospektiven Analyse der hämo- 24 ANÄSTHESIE Nachrichten Nr. 2 | April 2019
INTENSIVMEDIZIN tienten aktiv gekühlt, Tachyarrhyth- Mit adäquater ZENTRALISATION mien und Tachykardien werden immer (Sedo-)Analgesie Kapillare Füllungszeit >2 Sekunden unverzüglich behandelt und bei aus- ± Peridurialanästhesie ± Atemtherapie/ Deutlicher Temperaturgradient (TG) gewählten Patienten wird versucht, Körperstamm/Peripherie die Zentralisation durch die titrierte NIV/Beatmung Gabe von Nitroglycerin zu durchbre- chen47, 48, 49, 50. VOLUMEN Bei beatmeten Patienten mit Sinusrhytmus Steuerung über Pulsdruckvariabilität (PPV < 13%) Die SSC empfiehlt, den MAP nach MAP < 60 mmHG adäquater Volumensubstitution über + Vasopressoren 65 mmHg zu halten. Die Empfehlung ± wird nach den GRADE-Kriterien zwar Glukokortikoide KFZ < 2 Sekunden Arginin Vasopressin als hoch (Grad I), aber mit geringer TG minimal Evidenz (C) eingestuft 39. Allerdings empfiehlt die SSC auch eine Indivi- dualisierung der Blutdruckziele. Stu- JA NEIN dien von Varpula M. et al. sowie von Dünser M. et al. zeigen einen zeit- und dosisabhängigen mortalitätssteigern- den Effekt einer Hypotension erst bei Primäre Primäre MAP-Werten unter 60 mmHg51, 52. In Herz-Kreislauf-Therapie Herz-Kreislauf-Therapie erfolgreich der SEPSISPAM-Studie wurden zwei nicht erfolgreich Gruppen von septischen Schock- patienten mittels Noradrenalin auf MAP-Werte zwischen 80–85 mmHg Persistierende und 65–70 mmHg, im frühen septi- Zentralisation schen Schock, titriert53. Patienten mit SVi höherem MAP wurden mit deutlich höheren Vasopressordosen therapiert Volumen- und/oder Inotropika-Therapie und zeigten häufiger kardiovaskuläre unter systemischer Blutflussmessung/TEE/ -10% Komplikationen, insbesondere ein neu Erfassung dynamischer Herz-Kreislauf-Parameter aufgetretenes tachykardes Vorhof- Preload flimmern. Nur eine Subgruppe von Pa- tienten mit chronischer Hypertension KFZ < 2 Sekunden TG minimal zeigte unter höheren MAP-Werten ei- ne signifikante Reduktion der Inzidenz JA NEIN von akutem Nierenversagen. Herz-Kreislauf-Therapie Persistierende erfolgreich Zentralisation Zahlreiche Studien haben einen Zu- sammenhang zwischen dem Einsatz einer hohen Katecholamintherapie und Körpertemperaturkontrolle dem Auftreten von Organkomplika- ÜBERWACHUNG Herzfrequenzkontrolle tionen, insbesondere des Herz-Kreis- Nitro-Perfusor lauf-Systems, mit erhöhter Mortalität gezeigt54, 55, 56. Ähnlich wie bei der ini- Abbildung 6 tialen Flüssigkeitstherapie, ist es auch beim Festlegen von Blutdruckzielen dynamischen Therapie bei 2.849 Pa- geale Echokardiographie; dynamische wichtig, individuell zu entscheiden, tienten im septischen Schock zeigten Verfahren wie die Pulsdruckvariabilität) um einerseits Katecholamintoxizität Waechter J. et al., dass das Überleben zur Diagnostik und Therapie noch be- zu vermeiden und andererseits einen der Patienten am wahrscheinlichsten stehender Volumendefizite und der adäquaten Organblutfluss aufrechtzu- war, wenn in den ersten sechs Stunden myokardialen Dysfunktion eingesetzt. erhalten. aggressiv mit Volumen therapiert wur- Die Therapie mit Flüssigkeit, Vaso- de und erst ein bis sechs Stunden nach pressoren und inotropen Substanzen Antibiotikatherapie Beginn der Flüssigkeitstherapie Vaso- ist bei signifikanten Vorerkrankungen Die SSC-Leitlinien empfehlen den Be- pressoren begonnen wurden46. Persis- des Herz-Kreislauf-Systems oft nicht ginn einer raschen empirischen Breit- tiert die Zentralisation trotz scheinbar mehr in der Lage, den gesteigerten spektrum-Antibiotikatherapie zur Be- ausreichender Volumentherapie, wird Sauerstoffbedarf, besonders beim handlung generalisierter Infektionen. erweitertes Monitoring (transpulmo- fiebernden Patienten, zu decken. In Die initiale „blinde“ Antibiotikathera- nale Indikatormethoden; transösopha- diesen Situationen werden unsere Pa- pie sollte ein möglichst breites Spek- ANÄSTHESIE Nachrichten Nr. 2 | April 2019 25
trum an möglichen Erregern, je nach Kranke oft ungenügend. Hinzu kommt, vorhergehender ACTH-Test wird nach vermuteter Herdlokalisation, abde- dass Angaben wie die MIC, also jene den SSC-Leitlinien nicht mehr emp- cken. Die Leitlinien aus dem Jahr 2016 Antibiotikakonzentration, bei der Bak- fohlen. Ähnlich lauten die Empfeh- empfehlen eine Kombinationstherapie teriumvermehrung verhindert wird, lungen der SSC zur Verwendung von aus mindestens zwei Antibiotika mit eine reine In-vitro-Größe darstellt Arginin-Vasopressin im septischen unterschiedlichem Wirkmechanismus, und uns keine verlässlichen Auskünfte Schock. Wir verwenden Hydrocor- aber breitem Erregerspektrum39. Nach über tatsächliche „Killing-Konzentra- tison frühzeitig bei jenen Patienten, definitivem Erregernachweis sollte die tionen“ in vivo geben61. Das Erreichen die durch chronische, schwere Vorer- Therapie rasch deeskaliert werden. von In-vivo-Antibiotika-Konzentra- krankungen klinisch deutlich mangel- Bezüglich der Dauer der Antibiotika- tionen, bei denen Bakterien abgetötet ernährt erscheinen oder funktionell, therapie empfiehlt die SSC-Leitlinie und nicht nur im Wachstum gehemmt vor Auftreten der schweren Infektion, 2016, dass eine Gabe von sieben bis werden, ist letztlich für den Therapie- stark eingeschränkt waren. Das sind zehn Tagen für die meisten Fälle von erfolg entscheidend. aus unseren Erfahrungen Patienten, Sepsis und septischem Schock aus- bei denen eine relative Nebennieren- reichend ist. Frühere Studien haben Wong G. et al. untersuchten kürzlich insuffizienz sehr wahrscheinlich ist. auf einen mortalitätssteigernden Ef- die Pharmakokinetik und Pharma- Der Steroidversuch wird als erfolg- fekt einer Verzögerung des Beginns kodynamik von zehn verschiedenen reich gewertet, wenn innerhalb von der Antibiotikatherapie im septischen ß-Laktam-Antibiotika bei erwachse- 24 Stunden bereits eine signifikante Schock hingewiesen57, 58. In einer kürz- nen Patienten mit generalisierten In- Reduktion des Vasopressorbedarfs lich veröffentlichten Metaanalyse von fektionen62. Durch mehrfache Blut- eintritt. In diesen Fällen wird die Ste- Sterling SA. et al. werden diese Emp- abnahmen und Messung der freien roidtherapie fortgesetzt und Hydro- fehlungen relativiert59. Die gepoolte ungebundenen AB-Konzentrationen cortison nach Stabilisierung der Hä- Analyse von elf Studien mit insgesamt wurden die Zeiten und Konzentratio- modynamik langsam über mehrere 16.000 Patienten zeigt keinen An- nen der jeweiligen Substanz über der Tage ausgeschlichen. Arginin-Vaso- stieg der Mortalität, wenn eine Anti- MIC gemessen. Bei der Mehrzahl der pressin wird oft in Kombination mit biotikatherapie erst drei Stunden nach Patienten gelang es durch Standard- Glukokortikoiden bei jenen Patienten Erstmanifestation der Erkrankung dosierungen, Antibiotika-Konzent- eingesetzt, die durch aggressive Volu- begonnen wird. Aus Sicht des Autors rationen, zumindest 50 Prozent der men- und Katecholamintherapie nicht ist wahrscheinlich die Frage nach der Zeit, über der MIC aufrechtzuerhal- zu stabilisieren sind oder bei denen richtigen Dosierung von Antibiotika ten. Nur bei der Gabe von Ampicillin frühzeitig Katecholamintoxizität meist beim Patienten mit schwerer Sepsis wurde auch dieses, sehr konservative in Form von neu auftretenden Tachy- oder septischem Schock von wesent- Ziel, nicht erreicht. Allerdings waren arrhythmien auftritt54, 55, 63. Katecho- lich größerer Bedeutung als Empfeh- nur bei 36,6 Prozent der Patienten die lamintoxizität ist ein nicht zu unter- lungen bezüglich möglicher Antibioti- gemessenen Antibiotikakonzentratio- schätzender prognostischer Faktor ka-Kombinationen oder Zeitangaben nen zu allen Messzeitpunkten über der bei Patienten im septischen Schock. zum raschen Therapiebeginn. Inwie- MIC. Um den Serumspiegel über dem Wir und andere Autoren konnten zeit- weit Kombinationstherapien mit Anti- Vierfachen der MIC zu erhalten, eine und dosisabhängige Effekte von Kate- biotika mit unterschiedlichem Wirk- Konzentration, bei der ein rasches Ab- cholaminen auf das Auftreten kardio- mechanismus sinnvoll sind, hängt stark töten vorhandener Bakterien erwartet vaskulärer Komplikationen und Tod vom regionalen Erregerspektrum und wird, hätten die verwendeten Antibio- der Patienten nachweisen64, 65. Sowohl der regionalen Resistenzsituation ab. tikadosen bei 64 Prozent der Patien- Glukokortikoide als auch Arginin-Va- In unserer Region sind z. B. primäre ten zum Teil deutlich erhöht werden sopressin können bei selektierten Pa- Resistenzen gegen Breitspektrum-An- müssen. Wir verwenden daher in der tienten den Katecholaminbedarf signi- tibiotika der ß-Laktamgruppe selten, Behandlung der schweren Sepsis und fikant reduzieren und katecholaminas- sodass nur in Ausnahmefällen Kombi- des septischen Schocks in den ersten soziierte Nebenwirkungen beseitigen. nationstherapien verabreicht werden. 24 bis 48 Stunden Antibiotika-Dosie- rungen, die der doppelten empfoh- Das ABCDEF-Bündel Die Wirksamkeit von z. B. ß-Lak- lenen Tagesdosis entsprechen. Die Ist der Infektionsfokus saniert oder tam-Antibiotika wird hauptsächlich Therapiedauer überschreitet nur bei ausreichend therapiert, der Patient von der zeitabhängigen Konzentration ausgewählten Infektionen, wie z. B. hämodynamisch stabilisiert, so ver- der ungebundenen Substanz über die Knocheninfektionen oder Infektionen bessern, nach heutigem Wissensstand, „minimal inhibitorische Konzentration der Herzklappen, sieben bis zehn Tage. verschiedene Maßnahmen, die allge- (MIC)“ des jeweiligen Bakteriums be- mein unter dem ABCDEF-Bündel zu- stimmt. Beim septischen Patienten Glukokortikoide und sammengefasst werden, die weitere sind Verteilungsvolumina, Protein- Arginin-Vasopressin Prognose der Patienten (Tabelle 6). bindung, Metabolismus und Ausschei- Glukokortikoide sollen in einer Dosis Ausgehend von den Erkenntnissen aus dung der Antibiotika oft stark ver- von 200 mg/Tag jenen Patienten ver- der Delirforschung kam es zu einem ändert 60. Die Dosis-Empfehlungen, abreicht werden, die durch Volumen- deutlichen Paradigmenwechsel in der die durch Versuche an Gesunden er- gabe und Vasopressoren hämodyna- Behandlung von Intensivpatienten in mittelt werden, sind daher für kritisch misch nicht zu stabilisieren sind39. Ein den letzten Jahren. Der wache, ko- 26 ANÄSTHESIE Nachrichten Nr. 2 | April 2019
INTENSIVMEDIZIN Tabelle 6 zeigt die Maßnahmen, die unter dem Begriff ABCDEF-Bündel zusammengefasst werden A Assess, prevent, and manage pain regelmäßige Schmerzmessung und adäquate Schmerztherapie B Both spontaneous awakening and breathing trial regelmäßige Aufwachversuche und Spontanatemversuche C Choice of analgesia and sedation „optimale“ Medikamentenwahl bei Analgetika und Sedativa D Delirium assess, prevent and manage aktive Delirdiagnostik, Prävention und Therapie E Early Mobility and Exercise Frühmobilisierung F Family engagement and empowerment starke Einbindung der engsten Angehörigen in Behandlung und Behandlungsplan Entwicklung des Alters und der Inten- DER SEPTISCHE SCHOCK IM WANDEL sivmortalität aus drei verschiedenen DER ZEIT UND THERAPIE Krankenanstalten (KA) im Wandel der Zeit. Die Abbildung zeigt, dass, obwohl Alter (Median in Jahren) Mortalität (%) Patienten über die Jahre deutlich äl- ter und vorerkrankter (hier nicht dar- 90 76 65 62 gestellt) geworden sind, die Intensiv- 80 71 66 60 55 mortalität drastisch zurückgegangen 70 50 ist. Es ist die Überzeugung des Autors, 60 45 50 40 dass weitere signifikante Verbesserun- 35 40 30 23,6 gen im Überleben weniger durch Fort- 30 25 20 17,5 schritte in der Intensivtherapie, son- 20 15 dern hauptsächlich durch verbesserte 10 10 5 Früherkennung und durch Maßnahmen 0 0 im Bereich der Prophylaxe zu erzielen KA 1 KA 2 KA 3 KA 1 KA 2 KA 3 sind. Was die Früherkennung betrifft, KA 1: Jahre 1997 bis 2001 (septische Schockpatienten ohne Herzchirurgie; n = 200) bedarf es intensiver Aufklärungsmaß- KA 2: Jahre 2004 bis 2012 (septische Schockpatienten; n = 360) nahmen über die Häufigkeit, Schwere KA3: Jahre 2014 bis 2017 (septische Schockpatienten; n = 95) und die klinischen Symptome der Sep- Überlebende Verstorbene sis, sowohl in der Bevölkerung als auch in allen medizinischen Berufsgruppen. Abbildung 7 In österreichischen Krankenhäusern sollten „Medical Emergency Teams operative Patient ist heutzutage mehr Durchführungsgrad der Einzelmaßnah- (MET)“ verpflichtend etabliert werden die Regel als die Ausnahme, die Früh- men des ABCDEF-Bündels und dem und in der Früherkennung der Sepsis mobilisierung ist in aktuellen Leit- Patientenoutcome gibt67. Die Autoren geschult werden. Die Aktivierung der- linien fest verankert und Schmerzen berichten, dass die Durchführung al- artiger Teams muss „niederschwellig“ werden beim Intensivpatienten mittels ler Maßnahmen mit einer signifikant erfolgen und auch durch Pflegeper- etablierter Scoring-Systeme erfasst geringeren Mortalität im Kranken- sonal auf den Stationen möglich sein. und in multimodalen Ansätzen be- haus, einer geringeren mechanischen Durch die Etablierung von METs kann handelt66. Dass solche Maßnahmen im Beatmungsdauer, einem geringeren die Intensivmedizin frühzeitig zum Pa- Sinne eines PAD-Managements (Pain, Risiko für die Entstehung eines Delirs, tienten gebracht werden und nicht der Agitation, Delirium) den Verlauf einer einer geringeren Wiederaufnahme- Patient, oft schon zu spät, auf die In- kritischen Erkrankung günstig beein- rate auf der Intensivstation und einer tensivstation. Die Einhaltung von Hy- flussen, ist hinreichend bekannt. Über höheren Entlassungsrate in das eigene gienestandards in öffentlichen und pri- das PAD-Management hinaus geht das Heim verknüpft war. Je mehr Einzel- vaten Gesundheitseinrichtungen, Kin- ABCDEF-Konzept 67. Dies erfordert maßnahmen des Behandlungsbündels dergärten, Schulen und Ämtern muss eine sehr intensive interdisziplinäre Zu- in die Praxis umgesetzt wurden, desto regelmäßig geschult und stichproben- sammenarbeit zwischen Ärzten, Pfle- größer war der Behandlungserfolg. artig überprüft werden. Von der Politik gekräften und Therapeuten mit dem ist zu fordern, dass wir durch verpflich- Ziel, den Patienten möglichst wach, ko- SCHLUSSFOLGERUNGEN tende Dokumentation der Infektions- gnitiv und körperlich aktiv zu halten und Die Überlebenschancen im Rahmen art und der Schwere von Organdys- damit seine Autonomie und sein Re- generalisierter Infektionen haben sich funktionen valide Zahlen zur Inzidenz habilitationspotenzial zu fördern. Pun in den letzten Jahrzehnten durch zu- und Prognose schwerer systemischer BT. et al. untersuchten im Rahmen der nehmende Standardisierung der Be- Infektionen in Österreich erhalten. ICU Liberation Collaborative bei 15.226 handlungsabläufe und Paradigmen- Patienten aus 68 Intensivstationen, wechsel in der Therapie deutlich ver- Zur Infektionsprophylaxe gehört auch ob es einen Zusammenhang zwischen bessert. Abbildung 7 zeigt Daten zur ein deutliches politisches Bekenntnis ANÄSTHESIE Nachrichten Nr. 2 | April 2019 27
zu den derzeitigen Impfempfehlungen 24 Haydar S et al. Comparison of qSOFA score and 49 Schmittinger CA et al. Combined Milrinone and SIRS criteria as screening mechanism for emer- enteral metoprolol in patients with septic myo- sowie regelmäßige öffentliche Aufklä- gency department sepsis. Am J Emerg Med 2017; cardial depression. Crit Care 2008; 14:R99 rungskampagnen über die Folgen des 35:1730–33 50 Correa TD et al. Vasodilators in septic shock: a cli- 25 Askim A et al. Poor performance of quick-SOFA nical perspective. Shock 2017; 47:269–75 Nicht-geimpft-Seins. (qSOFA) in predicting severe sepsis and mortali- 51 Varpula M et al. Hemodynamic variables related to ty - a prospective study of patients admitted with outcome in septic shock. Int Care Med 31:1066–71 infection to the emergency department. Scand J 52 Dünser MW et al. Arterial blood pressure during Literatur Trauma Resusc Emerg Med 2017; 25:56 early septic shock and outcome. Int Care Med 26 Sterling S et al. 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