Die Spielzeuge der Genies - Spiegel
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Die Spielzeuge der Genies Maiskolben VON RALF HOPPE von Barbara McClintock (1983, Medizin) FOTOS:THE CENTENNIAL EXHIBITION OF THE NOBEL PRIZE (4); AP; KEYSTONE; SIPA PRESS; CAMERA PRESS/PICTURE PRESS Schuhe von Selma Lagerlöf (1909, Literatur) 20 kultur SPIEGEL 6/2001
Ionisierungs- kammer von Marie Curie (1911, Chemie) Isaac Singers Schreibmaschine, Linus Paulings selbst gebasteltes Molekül- modell, Selma Lagerlöfs Samtschuhe: Eine Ausstellung des Nobelpreis- komitees in Stockholm feiert die großen Forscher, Friedenskämpfer und Künstler der Menschheit – und beweist, dass Kreativität wenig mit Logik zu tun hat. err Lindqvist war ein glücklicher Mensch. 50 Jahre H alt, Professor für Technikgeschichte in Stock- holm, Mitglied der Königlichen Akademie der Wis- senschaften. Er war grau meliert, braun gebrannt, hatte kaum Bauch, dafür ein Sommerhaus, englische Maß- schuhe und Manschettenknöpfe mit eingraviertem Fami- Handgefertig- lienwappen; vor allem aber war er im Besitz eines schnör- tes Gedicht- kellosen Weltbildes. Dieses Weltbild war so solide wie ein heft von Boris Pasternak Volvo und so eindeutig wie eine Ikea-Bauanleitung: Svan- (1958, te Lindqvist glaubte an Logik und Wissenschaft; der Literatur) menschliche Fortschritt war ein Produkt aus Zeit mal 6/2001 kultur SPIEGEL 21
Notfall- gürtel von Henri Dunant (1901, Frieden) Zum Genie gehören der heitere Optimismus eines Anglers, der wartet, bis die Forelle da ist – oder die Idee. FOTOS: THE CENTENNIAL EXHIBITION OF THE NOBEL PRIZE (5); BILD+NEWS; D. GADD/SPORTSPHOTO; AP Schreib- maschine von Isaac Singer (1978, Literatur) 22 kultur SPIEGEL 6/2001
Energie, und letzten Endes gab es auf jede Frage eine logische Antwort. Und eines Tages stand Herr Lindqvist selbst vor einer großen Frage, und er sagte Ja. Logischerweise. Denn die Frage, in aller Diskretion an ihn herangetragen, war ein eh- renvoller Auftrag: Würden Sie die bedeutendste Ausstellung Schwedens, wenn nicht gar der Welt, organisieren? Es ging um eine Ausstellung zum 100-jährigen Jubiläum ei- ner Institution, des Nobelpreises, eine Präsentation der rühmlichsten Geistestaten in der Geschichte der Mensch- heit. An eine Jahrhundertschau sei gedacht, aus der her- vorgehe, was das eigentlich sei: der kreative Geist, der die Welt begreift, kurz: das Genie. Und Lindqvist ahnte nicht, dass er bald vor der schwierigs- ten Aufgabe seines Lebens stehen würde. Es ließ sich gut an. Das Budget betrug 150 Millionen schwedische Kronen, 33 Millionen Mark, Lindqvist bekam außerdem einen Mitarbeiterstab von rund 150 Leuten und eine Liste aller 719 Laureaten: Mediziner, Ökonomen, Chemiker, Physiker, Schriftsteller und Friedenskämpfer. Gefängnis- Und dann machte er sich an die Arbeit. Voller Schwung, weste von voller Zuversicht. Anfangs. Kim Dae Jung (2000, „Das erste Jahr lang haben wir nur diskutiert, nachgedacht, Frieden) und plötzlich merkten wir, wie unmöglich das Ganze ist: Wir hatten da diese Liste der Koryphäen, die absolut bahnbre- chende Dinge erforscht, erkannt, gemacht hatten. Aber wie soll ein normaler Mensch deren Gedankenwege nachvoll- ziehen? Und vor allem, wie kann man das darstellen?“ Man kann sich vorstellen, dass Lindqvist also nicht mehr ganz so glücklich war; eher verzweifelt. Der Termin für die Ausstellung rückte näher. Lindqvist und seine Leute stürzten sich in die Lebensge- schichten der Nobelpreisträger. Aber nun studierte Lindqvist die Fälle nicht mehr als Historiker, nicht mehr aus der Vogelperspektive. „Plötzlich musste man sich in so einen Nobelpreisträger hineinversetzen“, sagt er. Zum Beispiel in Linus Pauling. Nobelpreisträger für Che- mie 1954. Der Erste, der das Strukturmodell des Alpha- Helix-Moleküls ersonnen und nachgewiesen hatte. Die Idee hierzu war Pauling gekommen, als er mit einer grauen- Mütze und Modell von Linus Pauling (1954, Chemie) 6/2001 kultur SPIEGEL 23
vollen Grippe im Bett lag. Am ersten Tag hatte er schlechte Detektiv- geschichten gelesen, am zweiten Tag hatte er begonnen, über Mo- lekülstrukturen nachzudenken. Brillen- Und um seine vom Grippefieber replikat des angeheizten Ideen vor Augen zu Dalai Lama haben, faltete Pauling stunden- (1989, lang Papiere zu seltsamen For- Frieden) men. „Pauling war ein Mensch, der seine kindlichen Qualitäten, sein Unbewusstes schützte und trai- nierte“, sagt Lindqvist. „Er hatte eine Unmenge kleiner Angewohnheiten und Ticks kultiviert, die ihm das Den- ken in neuen Bahnen erleichtern soll- ten.“ kleinen kindlichen Bildern oder selt- brauchte, um die Natur zu verstehen“, Oder Isaac Singer, Literatur-Nobel- samen Briefen in die Petrischalen sagt Lindqvist. preisträger 1978. Lindqvist erfuhr, malte. Oder der brahmanische Dichter Immer mehr lernte der Professor der dass der jiddisch dichtende Autor zu Rabindranath Tagore, der mit Hin- Technikgeschichte über die Mysterien seiner alten Underwood-Schreibma- gabe an seiner abgewetzten Schiefer- der Kreativität. Und je mehr er wusste, schine mit ihren hebräischen Lettern tafel hing, die er überallhin schlepp- desto komplizierter war das alles. Was ein inniges, fast schon magisches Ver- te. Oder wie die Wissenschaftlerin vereint den amerikanischen Chemi- hältnis entwickelt hatte: Die Under- Barbara McClintock, Laureatin für ker mit dem indischen Ökonomen? wood sei sein Gewissen, sagte Singer, Medizin 1983, den Gensprung an- Worin ähnelten sich der deutsche Er- wenn das, was er schrieb, nicht gut hand von Maispflanzen nachwies. forscher des Quanten-Hall-Effekts und war, dann würde die Schreibmaschine „Ihre Kollegen arbeiteten mit Frucht- der Yoruba-Dichter aus Nigeria? Krea- ihren Dienst versagen. fliegen, die sich rasch vermehren – tivität hatte offenbar wenig mit Logik Oder die Anekdoten von Alexander aber McClintock bevorzugte Pflanzen, zu tun; sie war auch nicht so sehr ein Fleming, Entdecker des Penicillin, der weil die langsam wuchsen und weil Talent – als vielmehr eine Lebens- seine Bakterienkulturen in Form von sie fühlte, dass sie selbst auch Zeit einstellung. Plötzlich begriff Lindqvist:
Kreativ sein, erkannte er, heißt: spie- Lagerlöf, um deren kleinwinzigen telte Molekülmodell von Linus Pau- len. Das heißt, eine unkonventionelle, Samtschuhe aufzutreiben; und auf die ling; die Weste, die Kim Dae Jungs eine riskante, ja womöglich lächerli- Suche nach der Schreibmaschine von Frau ihm für die kalten Nächte im Ge- che Lösung zu suchen. Der geniale Isaac Singer. fängnis gestrickt hat; die Skizzenblät- Einfall ist ein Resultat aus Beobach- Zweieinhalb Jahre dauerte das alles. ter, auf denen Dag Hammarskjöld tungsgabe und Abstraktionsvermögen, Rund 120 Exponate kamen zusam- an einer Lösung des Kongo-Krieges aus der Fähigkeit, Phänomene zu men. Und die sind nun am Stortoget arbeitete; der Eispickel, den der durchdringen und Muster darin zu er- in der Gamla Stan, der Altstadt Stock- berühmte Sherpa Tensing Edmund kennen, und der Mentalität eines Fo- holms, zu besichtigen. Im ehemaligen Hillary, mit dem er auf den Mount rellenanglers. Eines Anglers, der in Börsenhaus, einem klassizistischen Everest gekraxelt war, geschenkt hat; aller Heiterkeit abwartet, bis die Fo- Säulenbau, haben Lindqvist und seine das Telegramm, durch das der Physi- relle oder die Idee da ist. Kreativität Mitarbeiter eine übersichtliche, aber ker Erwin Schrödinger von seiner FOTOS: J.JONES/FSP/GAMMA/STUDIO X; THE CENTENNIAL EXHIBITION OF THE NOBEL PRIZE war eine angewandte Form von Opti- aufregende Ausstellung zusammenge- Ehrung erfuhr, 33 Worte, mit genau- mismus; plus etwas Aberglauben. Und stellt. In zwei Kinosälen laufen 40 kur- er Nennung des Preisgeldes: 85 165 als Herr Lindqvist dies erkannt hatte, ze Doku-Filme, Anekdoten aus dem Schwedische Kronen, 86 Öre. Und war die Idee für ein Ausstellungskon- Leben einiger Nobelpreisträger. An so weiter. zept plötzlich da. der hohen Decke, aufgehängt an Lauf- Ein Sammelsurium, gewiss. Aber die Sie würden Dinge präsentieren. Sie bändern, schnurren 719 Poster ent- Idee, die preisgekrönten Wissen- würden den Sonderweg des geniali- lang: Konterfeis der 719 Laureaten. schaftler, Künstler, Friedenskämpfer schen Lebens darstellen, indem sie die Man kann das Gedeck des Nobel- durch einen persönlichen Gegenstand Spielzeuge, die kleinen Angewohn- banketts bewundern, die Dynamit- auftreten zu lassen, ist so char- heiten, Ticks und Hilfsmittel der No- stangen des Herrn Nobel bestaunen, mant und rührend und belustigend belpreisträger ausstellten. „Die Idee mit denen er sein Vermögen machte; zugleich, dass man Herrn Lindqvist war sinnlich und simpel zugleich“, aber das Spannendste sind natürlich für den Ausstellungs-Nobelpreis ver- sagt Lindqvist. die Exponate der Preisträger. schlagen möchte. Aber den will er So ließ Lindqvist seine Leute aus- Und da stehen sie jetzt: Isaac Singers gar nicht. „Ich bin auch so sehr glück- schwärmen. Nach Afrika und Kali- Schreibmaschine; Barbara McClin- lich“, sagt er. fornien, in die Cafeteria des Cern tocks Maiskolben, Feldfrüchte, die ....................................................... bei Genf, wo der berühmte Teilchen- Geschichte machten; oder die Fetisch- Die Ausstellung läuft bis 15.5.2002 beschleuniger steht, er schickte sie zu Mütze des nigerianischen Schriftstel- in der Alten Börse in Stockholm, den Erben der Schriftstellerin Selma lers Wole Soyinka; das selbst gebas- Tel. 0046/8/23 25 06.
Sie können auch lesen