Die Verkehrswende nachhaltig steuern - Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht - Stiftung Arbeit und ...

 
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Die Verkehrswende nachhaltig steuern - Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht - Stiftung Arbeit und ...
Die Verkehrswende
nachhaltig steuern
Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht
Die Verkehrswende nachhaltig steuern - Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht - Stiftung Arbeit und ...
2                                                                      Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE

Impressum

IMPULSE                                              SATZ UND LAYOUT
Die Verkehrswende nachhaltig steuern –               navos – Public Dialogue Consultants GmbH
Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht.
                                                     TITELBILD
ERSTELLT VON                                         © ellerystudio
Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE
• Inselstraße 6, 10179 Berlin                        DRUCK
• Königsworther Platz 6, 30167 Hannover              spreedruck

Telefon +49 30 2787 1314                             VERÖFFENTLICHUNG
                                                     März 2019
AUTOREN
• Tomas Nieber (Projektleitung)                      BITTE ZITIEREN ALS
• Dr. Kajsa Borgnäs                                  Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE (2019)
• Stephan Hoare                                      „Die Verkehrswende nachhaltig steuern –
                                                     Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht“.
LEKTORAT
Gisela Lehmeier, FEINSCHLIFF
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht                            3

Vorwort

Unser Verkehrssystem stößt zunehmend an seine Gren-           Konzepte und Instrumente einer Verkehrswende haben
zen. Die Verkehrsträger Straße und Bahn können den            daher erstens neben den ökologischen auch ihre ökono-
wachsenden Verkehr kaum mehr bewältigen: Staus auf            mischen und sozialen Implikationen zu analysieren und
den Straßen und überfüllte, dadurch oft verspätete Per-       zu berücksichtigen. Zweitens wird es darauf ankommen,
sonennah- und -fernzüge zeigen das deutlich. Vor allem        die technologische sowie soziale Innovationsfähigkeit zu
aber verursacht unser heutiges Verkehrssystem hohe            steigern. Nur so kann die erforderliche und erwünschte
ökologische und gesundheitliche Belastungen. Verkehrs-        räumliche Mobilität für Gesellschaft und Wirtschaft auch
prognosen sagen für die Zukunft steigenden Verkehr vo-        zukünftig sichergestellt werden.
raus und damit steigende Belastungen für Menschen und
Umwelt. Aus diesen Gründen ist eine Verkehrswende un-         Mit den vorliegenden Thesen will die Stiftung Arbeit und
abdingbar.                                                    Umwelt der IG BCE als gewerkschaftlicher Nachhaltig-
                                                              keits-Think Tank die Handlungs- und Spannungsfelder
Räumliche Mobilität ist aber eine zentrale Voraussetzung      einer sozial, ökologisch und wirtschaftlich nachhaltigen
für gesellschaftliche Teilhabe, Arbeit, Lebensqualität und    Verkehrswende ausloten. Dies betrifft insbesondere die
Wohlstand. Ein Industrieland wie Deutschland braucht          Umgestaltung des Verkehrssystems und die daraus re-
ein leistungsfähiges Verkehrssystem. Die hohe Arbeits-        sultierenden industrie- sowie beschäftigungspolitischen
teilung sowie die vielfältigen Verflechtungen der Industrie   Anforderungen. Die Thesen rücken zudem Verteilungsef-
und des Dienstleistungssektors lösen starken Transport-       fekte und Demokratisierungsaspekte einer Verkehrswende
bedarf aus. Gleichzeitig ist in modernen Gesellschaften       in den Fokus. Dabei geht es sowohl um Beteiligungsrech-
die Möglichkeit, räumliche Mobilität auszuüben, zentrale      te als auch um das Recht auf räumliche Mobilität.
Voraussetzung, um am öffentlichen und sozialen Leben
teilzunehmen. Mobilität ist somit eine Frage der sozialen     Tomas Nieber
Gerechtigkeit!                                                Bereichsleiter Verkehrswende,
                                                              Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE
Eine allgemein akzeptierte Begriffsbestimmung für die
Verkehrswende gibt es nicht. Oftmals werden mit dem
Begriff eine Verlagerung vom motorisierten Individualver-
kehr hin zu öffentlichen Verkehrsmitteln sowie Maßnah-
men und Instrumente zur Verkehrsvermeidung assoziiert.

Unbestreitbar sind Verkehrsvermeidung und -veränderun-
gen im Modal Split zentrale Bestandteile für ein besseres
und umweltfreundlicheres Verkehrssystem. Angesichts
der Komplexität und der Bedeutung des Verkehrssystems
läuft ein verengtes Verständnis einer Verkehrswende aber
Gefahr, die sozialen und ökonomischen Funktionen und
Dimensionen des Verkehrssystems zu unterschätzen.
4                                                                            Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE

Thesen

These 1: Eine Verkehrswende ist unumgänglich, weil unser Verkehrssystem Menschen und Umwelt belastet und zu-
nehmend an Kapazitätsgrenzen stößt.

These 2: Die Verkehrswende ist auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit!

These 3: Ein umwelt- und klimafreundliches Verkehrssystem darf nicht zulasten der volkswirtschaftlichen Leistungs-
fähigkeit gehen.

These 4: Eine effiziente Verkehrswende braucht Technologieoffenheit.

These 5: Verkehrswende und Energiewende – Kopplung zentral, aber weit entfernt.

These 6: Das Gelingen der Verkehrswende erfordert beträchtliche zusätzliche Investitionen.

These 7: Der durch die Verkehrswende zu erwartende Strukturwandel in der Automobilindustrie muss aktiv gestaltet
werden.

These 8: Die Verkehrswende braucht integrative politische Handlungsansätze.
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht                                                                                                            5

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Thesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1.       Eine Verkehrswende ist unumgänglich, weil unser Verkehrssystem Mensch und Umwelt belastet und
         zunehmend an Kapazitätsgrenzen stößt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

2.       Die Verkehrswende ist auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

3.       Ein umwelt- und klimafreundliches Verkehrssystem darf nicht zulasten der volkswirtschaftlichen
         Leistungsfähigkeit gehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

4.       Eine effiziente Verkehrswende braucht Technologieoffenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

5.       Verkehrswende und Energiewende – Kopplung zentral, aber weit entfernt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

6.       Das Gelingen der Verkehrswende erfordert beträchtliche zusätzliche Investitionen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

7.       Der durch die Verkehrswende zu erwartende Strukturwandel in der Automobilindustrie
         muss aktiv gestaltet werden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

8.       Die Verkehrswende braucht integrative politische Handlungsansätze.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
6                                                                                                      Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1:        Entwicklung THG-Emissionen Flugverkehr und Seeschifffahrt 1990–2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Abbildung 2:        Emissionsentwicklung aus dem Verkehrssektor 1990–2016 (2000=100) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

Abbildung 3:        Verkehrsleistung nach Verkehrsträgern in Deutschland – Prognose 2010–2030 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Abbildung 4:        Von der Bahn beförderte Personen und Güter, Mio. Kilometer Nah- und Fernverkehr . . . . . . . . . . . . . 12

Abbildung 5:        Beruflich und geschäftlich bedingter Personenverkehr in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

Abbildung 6:        Hauptausgabenkategorien privater Haushalte nach Einkommensklassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Abbildung 7:        Preisentwicklung des öffentlichen und privaten Verkehrs 2007–2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

Abbildung 8:        Preisentwicklung Eisenbahnverkehr im Vergleich mit Grundsicherung/Sozialhilfe (2010=100) . . . . . . 17

Abbildung 9:        Einzel- und Gesamtwirkungsgrade von Pkw mit unterschiedlichen Antriebskonzepten,
                    ausgehend von erneuerbar erzeugtem Strom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Abbildung 10: CO₂-Ausstoß unterschiedlicher Verkehrsträger unter heutigem und zukünftigem Strommix. . . . . . . . 23

Abbildung 11: Kostenentwicklung von synthetischem Methan und Flüssigkraftstoffen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

Abbildung 12: Prognose Entwicklung der globalen Fahrzeugflotte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

Abbildung 13: Emissionsintensität der verschiedenen Verkehrsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

Abbildung 14: Entwicklung des Endenergieverbrauchs des Verkehrs (2005=100) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Abbildung 15: Entwicklung des spezifischen Verbrauchs des Verkehrs (1991=100) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

Abbildung 16: Szenarien zum zukünftigen Strombedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

Abbildung 17: Investiver Nachholbedarf der Kommunen 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht                                                             7

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Beschäftigung und Wertschöpfung des Verkehrssektors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Tabelle 2: Technologische Veränderungen im Fahrzeugbau durch die Elektromobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
8                                                                                        Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE

1
1. Eine Verkehrswende ist unumgänglich, weil unser
Verkehrssystem Mensch und Umwelt belastet und
zunehmend an Kapazitätsgrenzen stößt.

    Unser heutiges Verkehrssystem verursacht hohe öko-                Schiffsverkehr) stammen aus dem Verkehrssektor. Die Ver-
    logische und gesundheitliche Schäden sowie Fol-                   brennungsmotoren wurden in den vergangenen Jahren
    gekosten. Zunehmend beeinträchtigt es auch die                    deutlich effizienter, dennoch ist der CO₂-Ausstoß des Ver-
    ökonomische Effizienz der Volkswirtschaft durch                   kehrs nahezu konstant geblieben, die steigende Verkehrs-
    Staus und Kapazitätsengpässe. Ein „weiter so“ kann es             leistung und der Trend zu stärkeren Motoren bei den Pkw2
    in der Verkehrspolitik nicht geben. Ein umweltverträg-            zehren die Effizienzgewinne auf. Im Jahr 2017 stiegen die
    liches und leistungsfähiges Verkehrssystem kann neue              Emissionen laut Umweltbundesamt3 um 2,3 Prozent oder
    ökonomische Chancen für unsere Wirtschaft eröffnen.               3,8 Mio. t CO₂ auf 170,6 Mio. t CO₂. Grund dafür ist vor
                                                                      allem die gute Konjunktur in Europa. Sie verstärkt den Gü-
Durch die zunehmende Globalisierung und Urbanisierung                 terverkehr auf der Straße und erhöht den Pkw-Bestand: Im
wächst weltweit der Druck, die Verkehrssysteme anzupas-               Jahr 2017 stieg er um 1,5 Prozent.
sen und zu modernisieren. Die Globalisierung fördert den
Austausch von Waren, Gütern sowie Dienstleistungen und                Die Umweltbelastungen des Straßenverkehrs werden we-
führt zu höheren Verkehrsleistungen. Durch den global                 gen der anvisierten CO₂-Minderung und der Grenzwerte
anhaltenden Trend von Urbanisierungs- und Re-Urbani-                  für Luftschadstoffe öffentlich intensiv diskutiert. Die Aus-
sierungsprozessen stoßen die klassischen Verkehrsträger               wirkungen des See- und Luftverkehrs auf die Umwelt
und -systeme in den Ballungsräumen an ihre Grenzen. Da                thematisieren dagegen meist nur Experten, obwohl die
die Herausforderungen, ein sozial, ökologisch und ökono-              Seeschifffahrt die Luftqualität in Hafenstädten und Küsten-
misch nachhaltiges Verkehrssystem zu gestalten, universal             regionen nicht nur mit CO₂ (Abbildung 1), sondern auch
sichtbar sind, sollten politische Strategien einer Verkehrs-          mit Schwefel, Stickoxiden und weiteren Schadstoffen, wie
wende in Deutschland – wie unten skizziert – immer auch               Rußpartikel und Feinstaub, belastet. Die Grenzwerte für
die weltweiten Entwicklungen ins Auge fassen. Dies kann               Luftschadstoffemissionen bei Seeschiffen liegen deutlich
helfen, Fehlentscheidungen zu vermeiden und Lernpro-                  höher als in anderen Verkehrssektoren.4 Zudem werden
zesse zu verkürzen.1                                                  die Schiffe während ihrer Liegezeiten mit Schweröldie-
                                                                      selmotoren versorgt, ihre Versorgung mit Landstrom und
Emissionen                                                            alternativen Antriebstechnologien (zum Beispiel mit Flüs-
Nach dem Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung                     siggas) steht erst am Anfang.
aus dem Jahr 2016 muss der Verkehrssektor bis 2030 sei-
ne CO₂-Emissionen um 42–40 Prozent senken. Auch über                  Der Flugverkehr wächst rasant. 3,7 Mrd. Flugpassagiere
2030 hinaus werden weitere bedeutende Emissions-Min-                  weltweit gab es im Jahr 2016.5 Bei einer Weltbevölkerung
derungsleistungen des Verkehrs erforderlich sein, um die              von rund 7,4 Mrd. entfällt rechnerisch somit im Durch-
nationalen Klimaziele 2050 zu erreichen.                              schnitt auf jeden zweiten Erdenbürger eine Flugreise
                                                                      (einfache Strecke) pro Jahr. Während der größte Teil der
Rund 20 Prozent der deutschen Treibhausgasemissionen                  Weltbevölkerung noch nie ein Flugzeug bestiegen haben
(ohne die internationalen Emissionen durch Flug- und                  dürfte, fliegt ein wachsender Kreis von Menschen umso

1
   Beispielsweise verfügen Städte wie Kopenhagen und Singapur seit Langem über langfristige und detaillierte moderne Verkehrskonzep-
te, von denen manches übernommen werden kann.
2
    2017 hatten neu zugelassene Autos eine Motorleistung von durchschnittlich 111 Kilowatt (151 PS). Im Jahr 2010 lag dieser Wert noch
durchschnittlich bei 96 Kilowatt (130 PS): Zeit Online, dpa.
3
    UBA & BMUB 2018
4
    Während die Schwefelmenge im Kraftstoff für den Straßenverkehr einen Anteil von 0,001 % nicht überschreiten darf, liegt der seit dem
1.1.2015 gültige Grenzwert für Schiffskraftstoff selbst in den Schwefelkontrollgebieten mit 0,1 % immer noch um das 100fache höher.
Außerhalb dieser Sondergebiete auf hoher See liegt der Grenzwert bei 3,5 %. Erst nach 2020 soll er auf 0,5 % festgelegt werden.
5
    World Bank Data – Air Transport, Passengers carried
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht                                       9

häufiger. Steigender Wohlstand, der weltweite Ausbau der         verursacht Flugverkehr viel CO₂.6 Zwar liegt sein Anteil an
touristischen Angebote und die Ausweitung globaler Han-          den globalen CO₂-Emissionen aktuell lediglich bei fünf
delsbeziehungen sorgen für neue Passagierrekorde.                Prozent, dieser Anteil dürfte durch das starke Wachstum
                                                                 des Luftverkehrs in den nächsten Jahren deutlich steigen.
Mit steigendem Flugverkehr, einschließlich Luftfrachtver-        Die International Air Transport Association (IATA) geht da-
kehr, nehmen die Belastungen von Menschen und Umwelt             von aus, dass sich global bis 2036 die Zahl der jährlich be-
zu (Abbildung 1). Im Vergleich zu anderen Verkehrsformen         förderten Passagiere verdoppeln dürfte (auf 7,8 Mrd.).7

 30.000
Abbildung 1: Entwicklung THG-Emissionen Flugverkehr und Seeschifffahrt 1990–2016

    25.000

    20.000

    15.000

    10.000

     5.000

          0
                90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16
              19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20

                                                 Flugverkehr        Seeschifffahrt
    Quelle: Eigene Darstellung nach UBA 2018a

Der Luftverkehr steht bei der Entwicklung von Emis-              oder international verbindliche Grenzwerte sowie tech-
sionsstandards erst am Anfang. Lange wurde lediglich             nische Standards.
über international nicht verbindliche technische Maß-
nahmen versucht, das Emissionswachstum einzuschrän-              Lärm und Schadstoffe
ken. In Europa nimmt der Luftfahrtverkehr zwar am                Unsere Mobilität muss leiser werden! Es ist unstrittig:
europäischen Emissionshandelssystem teil, es bezieht             Dauerhafter Lärm hat gesundheitliche Beeinträchtigungen
sich jedoch nur auf innereuropäische Flüge. International        und Erkrankungen zur Folge. Nur 24 Prozent der Bevöl-
hat sich die Branche über das CORSIA-Abkommen8 ver-              kerung fühlen sich durch den Straßenverkehrslärm nicht
pflichtet, ab 2020 neu hinzukommenden CO₂-Ausstoß                gestört oder belästigt. Umfrageergebnisse9 zeigen, dass
über Klimaschutzmaßnahmen in anderen Sektoren zu                 die Beeinträchtigungen in den letzten zehn Jahren nur un-
kompensieren (Off-setting). Ein Cap wie im europäischen          wesentlich abgenommen haben. Die Lärmschwerpunkte
Emissionshandelssystem ist jedoch nicht vorgesehen.              liegen im Straßenverkehr der Ballungsräume, im Güter-
Zudem beginnt CORSIA mit einer bis 2027 dauernden                verkehr entlang der Bahnstrecken sowie in der Umgebung
freiwilligen Phase. Einige Nationen sind ausgenommen.            von Flughäfen.
Statt der relativ „weichen“ Regelungen dieses Off-set-
ting-Systems bräuchte es dringend ein international ver-         Für Mensch und Umwelt sind die Schadstoffbelastun-
bindliches Instrument wie einen Emissionshandel und/             gen durch den Verkehr zu hoch.10 Im Gegensatz zu den

6
   Ein Flugzeug stößt durchschnittlich ca. 200 Gramm THG pro Personenkilometer aus, ein Reisebus im Durchschnitt 30 Gramm THG.
7
   IATA 2017
8
   CORSIA – Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation
9
   So beispielsweise in der repräsentativen Befragung „Umweltbewusstsein in Deutschland“, BMUB 2016
10
    Zwar ist der direkte und kausale Zusammenhang zwischen Erkrankungen/Todesfällen und Luftschadstoffen aufgrund der Mehrdimen-
sionalität der meisten Erkrankungsursachen nicht oder nur sehr schwer festzustellen. Dennoch muss aufgrund von epidemiologischen
Studien davon ausgegangen werden, dass Luftschadstoffe die Wahrscheinlichkeit von Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen er-
höhen.
10                                                                                                          Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE

CO₂-Emissionen, die relativ konstant geblieben sind, konnten                               senen Verkehrsmenge ist dies ein beachtlicher Erfolg. Um die
aber die von ihm ausgehenden Luftschadstoffe (wie Stick-                                   Luftqualitätswerte einhalten zu können, sind jedoch weitere
stoffoxide, Feinstäube und weitere Schadstoffe) seit 1990                                  Reduktionen notwendig. In vielen deutschen Städten werden
deutlich und kontinuierlich reduziert werden (Abbildung 2).                                die Grenzwerte für Luftschadstoffe überschritten11, es kommt
Angesichts der im gleichen Zeitraum beträchtlich gewach-                                   zu gerichtlich verordneten Fahrverboten.

Abbildung 2: Emissionsentwicklung aus dem Verkehrssektor 1990–2016 (2000=100)

                        400

                        350

                        300

                        250
Emissionen: 100=2000

                        200

                        150

                        100

                         50

                          0
                                90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16
                              19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20
                                                   Stickstoffoxide (NOx, berechnet als No2)         NMVOC*         Feinstaub (PM 10)
                                                 Feinstaub (PM 2,5)         Kohlenmonoxid (CO)         Treibhausgase (CO2, CH4, N20)
                       Quelle: UBA 2018b. *leichtflüchtige organische Verbindungen ohne Methan

Laut Branchenvertretern sind die technologischen Vor-                                      Bei rund 300.000 Unfällen wurden Menschen verletzt, in
aussetzungen für eine weitere Reduktion des Ausstoßes                                      66.000 Fällen gab es Schwerverletzte. Die Zahl der Ver-
von Luftschadstoffen bei Diesel- und Benzinmotoren                                         kehrstoten ging zwar in den letzten Jahren kontinuierlich
bereits vorhanden. Im Mai 201812 hat beispielsweise der                                    zurück, jedoch kommen jährlich immer noch mehr als
Bosch-Konzern eine neue Dieseltechnologie vorgestellt,                                     3.000 Menschen im Straßenverkehr ums Leben.14
die den Ausstoß von Stickoxiden unter „Real Driving Emis-
sions-Bedingungen“ (RDE) um den Faktor zehn gegenüber                                      In den öffentlichen Diskussionen um ein besseres Ver-
dem ab 2020 geltenden Grenzwert13 senken könnte. Die-                                      kehrssystem spielt die Verkehrssicherheit oftmals nur eine
se neue Abgastechnologie solle den Kraftstoffverbrauch                                     untergeordnete Rolle. Das Unfallgeschehen auf Deutsch-
nicht erhöhen, höhere CO₂-Emissionen seien also nicht                                      lands Straßen und das damit verbundene vielfache Leid
zu erwarten.                                                                               wäre Anlass genug über eine Modernisierung des Ver-
                                                                                           kehrssystems nachzudenken.
Verkehrssicherheit immer noch unzureichend
Von unserem Verkehrssystem gehen nach wie vor erheb-                                       Staus
liche Unfallgefahren aus. Die meisten Unfälle ereignen sich                                Weltweit steigt das Individual- und Güterverkehrsaufkom-
im Straßenverkehr. Insgesamt nehmen diese Unfälle durch                                    men, dies gilt auch für Deutschland und Europa (Abbil-
das gesteigerte Verkehrsaufkommen der letzten Jahre zu.                                    dung 3a und 3b). Ca. 80 Prozent des Verkehrs finden auf
2017 gab es in Deutschland über 2,6 Mio. Verkehrsunfälle.                                  der Straße statt.

11
                       2017 wurden nach Angaben des Umweltbundesamt die geltenden Grenzwerte in 65 Städten überschritten.
12
                       Robert Bosch GmbH, Pressemitteilung vom 25.4.2018
13
                       UBA – Luftreinhaltung in der EU
14
                       Destatis 2018a
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht                                                                         11

Abbildung 3: Verkehrsleistung nach Verkehrsträgern in Deutschland – Prognose 2010–2030

Individualverkehr                                                                                                                              1.262

                          1200                                                                                                           1.117
Mrd. Personenkilometer

                                                                                                                               992
                                                                                                                        902
                           900

                           600

                                                                                                                270
                           300                                                                            215
                                                         84 100          78   83          53    87
                                          32    35
                              0
                                          Fahrrad-       Eisen-        Öffentlicher Luftverkehr         Öffentlicher Motorisierter Motorisierter
                                           verkehr       bahnen        Straßenper-                        Verkehr     Individual-     Verkehr
                                                                      sonenverkehr                                      verkehr     insgesamt

                                                                                   2010          2030

Güterverkehr                                                                                                                                     838
                           800
Mrd. Tonnenkilometer

                                                                                                607                                      607
                           600
                                                                                          437
                           400

                           200                  154
                                          108
                                                                 62   77
                                                                                                                  4,5 8,7
                              0
                                       Eisenbahnen          Binnenschifffahrt        Straßengüter-              Luftverkehr*         Güterlandverkehr
                                                                                        verkehr                                         insgesamt

                                                                                   2010          2030

Quelle: Eigene Darstellung nach BMWi 2017                                                                                                        * in 1.000 t.

Verkehrsstaus belasten die Fahrer, bewirken einen höhe-                                     Nahverkehr, Bahnverkehr und Güterverkehr – Nur noch
ren Ausstoß von CO₂ und Schadstoffen und verursachen                                        wenig Reserven
durch Zeitverluste hohe ökonomische Kosten. Das Be-                                         Doch nicht nur das Verkehrssystem Straße stößt an Ka-
ratungsunternehmen Inrix hat in der Staustudie „Traffic                                     pazitätsgrenzen. In den Ballungszentren und Metropolen
Scorecard 2017“15 das Stauaufkommen in 38 Ländern und                                       haben auch die schienengebundenen Nah- und Fernver-
1.360 Städten untersucht. Demnach entstanden 2017 al-                                       kehre Probleme, die wachsende Zahl von Fahrgästen zu
lein durch die Staus in den fünf staureichsten deutschen                                    bewältigen18 (Abbildung 4). Im überregionalen Bahnver-
Städten16 Kosten in Höhe von 16,4 Mrd. Euro.17 Für ganz                                     kehr führt das wachsende Passagier- und Güteraufkom-
Deutschland errechnet die Studie durchschnittliche Kos-                                     men zu Kapazitätsengpässen und Verspätungen. Eine von
ten von 1.770 Euro pro Autofahrer und Jahr, vor allem                                       vielen Experten geforderte Verlagerung des Güterverkehrs
durch Produktivitätsverluste. Jeder deutsche Autofahrer                                     von der Straße auf die Schiene ist bei der derzeitigen Schie-
steht im Schnitt jährlich 30 Stunden im Stau.                                               neninfrastruktur nur begrenzt machbar. Erst mit massiven

15
                         Inrix Global Traffic Scorecard 2017
16
                         Nach Inrix waren dies 2016 München, Heilbronn, Köln, Stuttgart und Hamburg, gemessen an der Wartezeit in Stoßzeiten in Stunden.
17
                         Direkte und indirekte Kosten. Zur Berechnung siehe die deutsche Fassung des INRIX Global Traffc Scorecard, 2018, S. 4 ff
18
                         ÖPNV-Bilanz 2017, Verband Deutscher Verkehrsunternehmen e. V. (VDV)
12                                                                                       Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE

Investitionen in die Schieneninfrastruktur und die Moder-            einen deutlich größeren Anteil am Verkehrsaufkommen
nisierung der Bahnen insgesamt könnte der Bahnverkehr                gewinnen (These 6).19

Abbildung 4: Von der Bahn beförderte Personen und Güter, Mio. Kilometer Nah- und Fernverkehr

            250.000

            200.000

                                                                                                                        116.164
Kilometer

            150.000                                                                              110.065
                                                                          115.652

                                                   91.900
                            82.700
            100.000

                                                                                                                         39.355
                                                                          35.568                  37.347
                            36.226                 32.394
             50.000

                                                                          46.971                  51.448                 56.474
                             39.178                40.485

                 0
                                00                    04                     08                     12                     16
                             20                    20                     20                      20                     20
             Güterverkehr (Tonnenkilometer)       Fernverkehr (Personenkilometer)           Nahverkehr (Personenkilometer)
                          Beförderte Personenkilometer insgesamt            Beförderte Kilometer insgesamt
Quelle: Eigene Darstellung nach BMWi 2017

Unzureichende Investitionen und personelle Engpässe                  ren Investitionsbedarf aus. Die Studie des BDI „Klimapfade
bei Planungs- und Bauvorhaben                                        für Deutschland“21 schätzt, dass im Verkehrssektor private
Hinzu kommt, dass in vielen Ländern in Europa und be-                und öffentliche Mehrinvestitionen in Höhe von rund 500
sonders auch in Deutschland lange Jahre zu wenig in                  Mrd. Euro erforderlich sein werden, um bis 2050 die Treib-
Erhaltung und Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur               hausgase um 80 Prozent zu reduzieren. Die 2015 von der
investiert wurde. Fehlende Planungs- und Baukapazitä-                Verkehrsministerkonferenz der Länder eingesetzte Kom-
ten, insbesondere der öffentlichen Hand, werden nun zum              mission „Bau und Unterhaltung des Verkehrsnetzes“22
Engpass.                                                             stellte einen Investitionsbedarf von 230 Mrd. Euro bis 2030
                                                                     allein für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und die
Eine nachhaltige Verkehrswende erfordert daher eine neue             technologische „Ertüchtigung“ fest, ohne dabei klimapoli-
Dimension von Investitionen. Das von den Bundesländern               tische Ziele zu berücksichtigen. Allein für die „nachholen-
2017 vorgestellte „Nationale Investitionsprogramm Mo-                de Sanierung“ aufgrund von Substanzverzehr wurden 45
bilität“20 fordert zusätzlich 50 Mrd. Euro für die nächsten          Mrd. Euro veranschlagt.
zehn Jahre. Rund 80 Prozent davon wären für den öf-
fentlichen Personennahverkehr. Die individuelle Mobilität            Zukünftig wird es stärker darum gehen müssen, das Ver-
wird in diesem Programm lediglich mit 750 Mio. Euro pro              kehrssystem nicht nur moderner, sondern auch intel-
Jahr bedacht, die dem Ausbau der Ladeinfrastruktur für               ligenter zu machen. Die Digitalisierung eröffnet neue
die Elektromobilität dienen sollen. Andere Studien gehen             Möglichkeiten: Unterschiedliche Verkehrsträger können
unter der Prämisse des Klimaschutzes von einem höhe-                 besser vernetzt und unnötige Verkehrsaufkommen durch

19
   Deutschland investiert unterdurchschnittlich in seine Schieneninfrastruktur. 2016 wurden pro Kopf 64 Euro investiert, in den Nieder-
landen waren es 133 Euro pro Kopf, in Österreich 198 Euro und in der Schweiz gar 378 Euro: Allianz pro Schiene.
20
    Verkehrsministerkonferenz 2017
21
   Boston Consulting Group und Prognos AG 2018, S. 201
22
    2013 setzte die Verkehrsministerkonferenz der Länder (VMK) die Kommission „Nachhaltige Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“ ein. Den
Vorsitz hatte der ehemalige Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig. Der Abschlussbericht der sogenannten Bodewig-Kommission I wurde
im Herbst 2013 vorgelegt. 2016 wurde den Bericht erneuert: Kommission „Bau und Unterhaltung des Verkehrsnetzes“ (Bodewig-Kommis-
sion II) 2016.
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht   13

bessere logistische Systeme vermieden werden. Auch in
die Digitalisierung des Verkehrssystems muss verstärkt in-
vestiert werden.

Eine Verkehrswende ist unumgänglich
Die hier skizzierten Herausforderungen zeigen deutlich:
Ein „weiter so“ in der Verkehrspolitik kann es nicht geben.
Ein Umsteuern ist aus ökologischen Gesichtspunkten not-
wendig sowie aus Sicht der langfristigen Leistungsfähigkeit
des Systems. Dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern
für die allermeisten Länder. Die Potenziale dafür sind vor-
handen – insbesondere Deutschland und Europa verfügen
über gute ökonomische und technologische Voraus-
setzungen für eine nachhaltige Verkehrswende, die öko-
logischen, ökonomischen und sozialen Anforderungen
gerecht werden kann. Insbesondere die Digitalisierung
bietet neue und zusätzliche Chancen, den Verkehr neu
und effizienter zu organisieren sowie unnötigen Verkehr
zu vermeiden. Der damit einhergehende Strukturwandel
muss aktiv gestaltet werden. Alle beteiligten Akteure müs-
sen präventiv und aktiv handeln. Gelingt dies, ergeben sich
auch neue Chancen für die deutsche Industrie.
14                                                                                  Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE

2
2. Die Verkehrswende ist auch eine Frage der
sozialen Gerechtigkeit!

            In der Diskussion um die notwendige Umgestaltung       mokratisierung räumlicher Mobilität zu sprechen. Damit
            unseres Verkehrssystems darf die soziale Dimension     wird die Errungenschaft beschrieben, dass gesellschaft-
            nicht ausgeblendet werden. Räumliche Mobilität         liche Teilhabe nicht mehr an der fehlenden Möglichkeit
            ist für Ausübung von Erwerbsarbeit und für die ge-     scheitert, größere räumliche Distanzen zu überwinden.
            sellschaftliche Teilhabe unerlässlich. Einkommens-
            schwache Haushalte sind vielfach schon heute in        Es ist aber zu beachten, dass sich insbesondere einkom-
            ihrer räumlichen Mobilität eingeschränkt.              mensschwache Haushalte auch heute längst nicht alle
                                                                   räumlichen Mobilitätswünsche und -notwendigkeiten
Mobilität und Demokratie                                           erfüllen können. Abgesehen von Sonderangeboten sind
Räumliche Mobilität ist unverzichtbar, um am gesell-               Fernfahrten mit der Bahn für einkommensschwache Per-
schaftlichen Leben teilzunehmen. Sie ist eine Frage von            sonen nur schwer finanzierbar. Eine Hin- und Rückfahrt
Partizipation und sozialer Gerechtigkeit. Bis weit in das 20.      Hamburg–München ist kaum unter 125 Euro zu bekom-
Jahrhundert hinein waren Reisen ein Privileg von begüter-          men. Die deutsche Bahn bietet keinerlei Vergünstigungen
ten Bürgen und Adligen. Die meisten Arbeiter der Fabriken          für Arbeitslosengeld II-Empfänger. Fernbusse sind eine
und Industrien hatten lange Fußwege, was ihre Arbeits-             Alternative, hier liegen die Kosten für die gleiche Strecke
tage noch mehr verlängerte. Erst mit technologischem               allerdings auch bei 50–60 Euro.
Fortschritt, dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und
steigendem Einkommen wurden breitere Bevölkerungs-                 Die technologisch-sozioökonomische Entwicklung hat
schichten beruflich und privat mobil.                              dazu geführt, dass Wohnort und Arbeitsplatz für immer
                                                                   mehr Menschen immer weiter auseinanderfallen (Abbil-
Heute kann es sich der Großteil der Bevölkerung in den             dung 5). Dadurch steigt der beruflich bedingte Verkehr.
ökonomisch entwickelten Staaten leisten, zu privaten und           Gleichzeitig nimmt der im Beruf ausgeübte Verkehr (Ge-
beruflichen Zwecken die vorhandenen Verkehrsmittel zu              schäftsverkehr) zu.
nutzen. Es ist sicher nicht falsch, von einer erfolgten De-

Abbildung 5: Beruflich und geschäftlich bedingter Personenverkehr in Deutschland

                         500

                         400
Mrd. Personenkilometer

                                                                                                                 180,6
                                                                                    169,1          171,9
                                                        148,8        158,9
                               143,3     143,3
                         300

                         200
                                                                                    220            224,4          233,5
                               201,7     203,8          210,6        214,4

                         100

                               42,9      43,9           42,3          41,7          42,1           42,4           43,6
                          0
                                  00        05             07           09            11             13             15
                               20        20             20           20             20             20             20

                                                 Ausbildung      Beruflich      Geschäftlich
Quelle: BMWi Verkehr in Zahlen 2017/2018
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht                                               15

Berufswege werden länger                                                     führen sein, die vielfach einen Umzug in die Nähe des
Nach Angaben des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und                        Arbeitsplatzes scheitern lassen.
Raumforschung (BBSR) war der Arbeitsweg der sozialver-
sicherungspflichtig Beschäftigten im Jahr 2016 im Durch-                     Nicht nur das Arbeitsleben erzwingt räumliche Mobilität.
schnitt knapp 17 km lang, 1999 waren es nur 14,6 km. Die                     In ländlichen Räumen müssen die Menschen zunehmend
Zahl der Pendler in Deutschland lag 2016 bei 18,4 Mio., rund                 weitere Wege in Kauf nehmen, um an sozialen und kul-
60 Prozent hatten einen langen Arbeitsweg.23 Im Jahr 2000                    turellen Ereignissen teilnehmen zu können oder um ihre
waren es nur 53 Prozent. Zwar sind „lange Arbeitswege“                       behördlichen Angelegenheiten zu regeln. So stellt ein Gut-
nicht einheitlich definiert, Befragungen von Pendlern zei-                   achten der Bundesregierung fest, dass „ländliche Räume,
gen aber, dass Zeiten von 50 Minuten und mehr (eine Stre-                    die von starkem Bevölkerungsrückgang und Alterung ge-
cke) mehrheitlich als gesundheitlich belastend empfunden                     kennzeichnet sind, häufig von einer Ausdünnung und Zen-
werden. Auch die Zahl der Pendler, deren Weg zur Arbeit zu                   tralisierung von Angeboten und Infrastrukturen betroffen
lang ist, um an einem Tag hin- und zurückfahren zu können,                   sind.“25 Die Bewohner ländlicher Räume müssen urbane
hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich erhöht. Umfra-                 Zentren aufsuchen, um ihre sozialen, kulturellen und kon-
gen zeigen, dass lange Pendlerwege mit gesundheitlichen                      sumtiven Bedürfnisse erfüllen zu können.
(einschl. psychischen) Belastungen und Gefährdungen ver-
bunden sind.24 Außerdem haben Fernpendler zusätzlichen                       Mobilitätskosten und Berufsleben
finanziellen Aufwand.                                                        Private Haushalte wenden einen erheblichen Teil ihres Ein-
                                                                             kommens für die notwendige und gewünschte räumliche
Lange Arbeitswege nehmen aus vielfältigen Gründen zu.                        Mobilität auf. Nach Wohnen und Lebensmitteln sind die Aus-
Der Strukturwandel in der Wirtschaft dürfte eine Ursache                     gaben für die räumliche Mobilität eine große Kategorie im
sein: Unternehmen fordern mehr Mobilität von den Be-                         Budget der privaten Haushalte (Abbildung 6). Laut der laufen-
schäftigten, etwa bei Fusionen oder wenn Betriebsteile                       den Wirtschaftsrechnungen für Einkommen, Einnahmen und
verlegt werden. Ein weiterer Grund dürfte die Zunahme                        Ausgaben privater Haushalte des Statistischen Bundesamtes
befristeter Arbeitsverträge sein. Durch sie scheidet ein                     (LWR) gaben 2016 alle privaten Haushalte durchschnittlich
Wohnortwechsel wegen fehlender Arbeitsplatzsicherheit                        335 Euro pro Monat oder 13,5 Prozent des Haushaltseinkom-
oftmals aus. Auch die Annahme qualifizierterer und bes-                      mens für Verkehr aus. Bei Haushalten mit Pkw kommen dazu
ser bezahlter Jobs erfordert es oft, mehr zu pendeln. Zu-                    noch die Beiträge für Kfz-Versicherung, 2016 waren dies mo-
sätzlich dürfte der Anstieg der Pendler auf den knappen                      natlich 39 Euro im Durchschnitt. Damit brachten Haushalte
Wohnungsraum und die daraus resultierenden Preisstei-                        mit Pkw durchschnittlich 15,8 Prozent ihres Nettohaushalts-
gerungen für Miete und Wohnungseigentum zurückzu-                            einkommens für räumliche Mobilität auf.26

Abbildung 6: Haushaltseinkommen und -Ausgaben 2016

         4.500                                                                                                                   45
         4.000                                                                                                                   40
         3.500               7,4                                      9,8                                                        35
         3.000                                                                                               10,5                30
                             6,2
                                                                                                                                       Prozent

                                                                      5,0
         2.500                                                                                                                   25
Euro

                                                                                                             4,1
         2.000                                                                                                                   20
          1.500                                                                                                                  15
          1.000             25,3                                      23,3                                   20,6                10
           500                                                                                                                   5
              0                                                                                                                  0
                   Haushaltseinkommen                      Haushaltseinkommen                       Haushaltseinkommen
                       1.300–1.700                            2.600–3.600                              3.600–5.000
                            Wohnen (rechte Achse)              Energie (rechte Achse)         Verkehr (rechte Achse)
                                           durchschnittl. Einkommen der Gruppe (linke Achse)
Quelle: Eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt 2018

23
       Bundesinstitut für Bau, Stadt und Raumforschung 2017
24
       BAuA 2016; 2018
25
       Bundesregierung 2016, S. 22
26
       Statistisches Bundesamt 2018
16                                                                                     Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE

Allerdings verteilen sich diese Kosten unterschiedlich auf          monatlich im Durchschnitt 476 Euro für ihre räumliche
die verschiedenen Haushalte. Wie in Abbildung 6 dar-                Mobilität.27
gestellt, wenden ärmere Haushalte einen größeren Teil
ihres Einkommens für Wohnen, Energie und Verkehr                    Bislang werden diese Ausgaben stark von den Kosten für
auf als wohlhabende. Der Verkehrsanteil steigt aber mit             den Unterhalt eines privaten Fahrzeuges geprägt. Der
dem Einkommensniveau, was zeigt, dass Mobilität ein                 Umstieg vom Pkw auf öffentliche Verkehrsträger wie Bus
begehrtes Gut ist. Darüber hinaus haben beispielsweise              und Bahn wird nicht zuletzt auch dadurch erschwert, dass
Arbeitnehmerhaushalte gegenüber allen Haushaltstypen                die Preise der öffentlichen Verkehrsmittel schneller ge-
(zum Beispiel Rentnerhaushalten) durch ihre Fahrten zur             wachsen sind als die Ausgaben für den Pkw-Verkehr (Ab-
Arbeitsstätte deutlich höhere Aufwendungen. Inklusive               bildung 7).
der Ausgaben für die Kfz-Versicherung bezahlten sie 2016

Abbildung 7: Preisentwicklung des öffentlichen und privaten Verkehrs 2007–2017

 35%                                                                                32,5%

30%

 25%

20%

 15%
                                                      10,6%
 10%

                              4,9%
     5%

     0%
                     Kauf von Kraftwagen    Kraftfahrstoffe, Wartung,     Verkehrsdienstleistungen
                                                   Reparaturen             Personenbeförderung

     Quelle: Destatis 2018b

Arbeitnehmer, die mit dem Auto zur Arbeit fahren, sind              Mobilität und einkommensschwache Haushalte29
steuerlich privilegiert gegenüber Arbeitnehmern, die Fahr-          Besonders Haushalte mit geringem Einkommen und sol-
räder, Motorräder oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen.           che, die teilweise oder ausschließlich auf staatliche Trans-
Letztere können maximal 4.500 Euro im Jahr angeben,                 fereinkommen angewiesen sind, sind aus Kostengründen
während beim Auto darüber hinaugehend Kosten geltend                in ihrer Mobilität eingeschränkt. In aller Regel können
gemacht werden können. Aus diesem Grund wäre eine                   diese Haushalte ihre Mobilitätserfordernisse nur zu Fuß,
Umwandlung der Pendlerpauschale in ein verkehrsträger-              mit dem Fahrrad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln
neutrales Mobilitätsgeld – wie das zum Beispiel der Deut-           erfüllen. Dass die Kosten für den öffentlichen Nahverkehr
sche Gewerkschaftsbund fordert28 – sinnvoll, um mehr                stärker gestiegen sind als die sozialen Transferleistungen,
Anreize dafür zu schaffen, vom Auto auf andere Verkehrs-            schränkt die Mobilität weiter ein.
träger umzusteigen. Da der öffentliche Personenverkehr
nur eingeschränkt leistungsfähig ist, ist jedoch ein Um-
stieg vielfach noch unmöglich oder mit erheblichen Ein-
schränkungen verbunden.

27
   Statistisches Bundesamt 2018, S. 21
28
   DGB 2017; DGB Bundesvorstand 2018
29
   Da der Armutsbegriff sowohl politisch als auch wissenschaftlich umstritten ist, wird im Folgenden überwiegend der Begriff „einkom-
mensschwache Personen“ verwendet. Darunter werden Personen mit einem Einkommen von unter 60 Prozent des nationalen Medianein-
kommens verstanden (nach Brenke 2018).
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht                                          17

Abbildung 8: Preisentwicklung Eisenbahnverkehr im Vergleich mit Grundsicherung/Sozialhilfe (2010=100)

          125
          120
          115
Prozent

          110
          105
          100
                   10              11               12             13              14            15            16            17
                 20              20               20             20              20            20            20            20
                             Nahverkehr            Fernverkehr           Regelbedarf Grundsicherung/Sozialhilfe

Quelle: Eigene Berechnungen nach Destatis 2018b

Der Bezug zwischen räumlicher Mobilität und Armut wird                  Deutschland (Hartz-IV) dürften aber ärmere Haushalte auf
bislang in der politischen Debatte und in der Armutsfor-                Dauer kaum in der Lage sein, den Unterhalt eines Pkw zu
schung in Deutschland kaum thematisiert. Einkommens-                    finanzieren. Manche deutschen Städte bieten sogenannte
schwache Menschen ohne räumliche Mobilität sind von                     Sozialtickets für den öffentlichen Nahverkehr an, die ver-
Bildungszugängen und Arbeitsmärkten ausgeschlossen.                     günstigte Fahrten für Hartz-IV-Empfänger ermöglichen.
Betroffene empfinden es in der Regel als ausgrenzend,                   Sie sind jedoch eine freiwillige Leistung und viele Städte
wenn sie sich nicht selbstbestimmt an einen anderen Ort                 und Gemeinden lehnen sie aufgrund mangelnder finan-
begeben können. Darüber hinaus verhindert die fehlende                  zieller Ausstattung ab.
räumliche Mobilität auch die Chancen, persönlichkeits-
fördernde Eindrücke und Erfahrungen zu sammeln. In                      Einkommensschwachen Haushalten mehr Mobilität er-
Deutschland dürften davon insbesondere Arbeitslosen-                    möglichen
geld II-Leistungsempfänger betroffen sein: Die zur Fest-                Eine Politik mit dem Ziel einer Verkehrswende muss
setzung der Gesamthöhe der Regelsätze verwendeten                       einkommensschwache Personen und Haushalte an-
bedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben sehen bei einem                    gemessen berücksichtigen. Bundes- und Landespolitik
Einpersonenhaushalt Ausgaben von 32,90 Euro30 im Mo-                    müssen Einfluss auf die Tarifgestaltung nehmen und die
nat für den Verkehr vor. Reisen im eigentlichen Sinne ist               entsprechenden rechtlichen und finanziellen Rahmen-
für diese Haushalte kaum möglich.                                       bedingungen schaffen, damit kommunale und nationale
                                                                        Verkehrsträger einkommensschwache Personen in ihren
Während in den angelsächsischen Ländern diese Zu-                       Tarifen stärker berücksichtigen. Unter der Prämisse, dass
sammenhänge politisch und wissenschaftlich schon seit                   in modernen Gesellschaften die Ausübung räumlicher
längerem diskutiert werden, etwa unter Begriffen wie                    Mobilität unverzichtbar ist, um gesellschaftliche Partizipa-
„transport poverty“ oder „transport disadvantage“31, steht              tion zu ermöglichen und die Chancen auf Erwerbsarbeit
die Debatte in Deutschland erst am Anfang. Besonders                    zu verbessern, sind für einkommensschwache Personen
gravierend ist, dass empirische Untersuchungen darü-                    Sozialtickets nicht nur für den öffentlichen Nahverkehr,
ber fehlen, wie sich fehlende Mobilitätsmöglichkeiten                   sondern auch für den öffentlichen Fernverkehr einzu-
gekoppelt mit Einkommensarmut auf Bildungschancen,                      führen. Das Sozialticket könnte in einen Rechtsanspruch
Beschäftigungsmöglichkeiten und die Gesundheit der Be-                  für einkommensschwache Personen umgewandelt wer-
troffenen auswirken.                                                    den und das Recht auf ermäßigte Tickets für Fernreisen
                                                                        umfassen. Vorstellbar wäre es, die Preise progressiv zu
Mobilitätsarmut trifft Verkehrsarmut                                    gestalten: Mit steigendem Einkommen stiege der Preis
Verschärft wird die Mobilitätsarmut, wenn sie mit Verkehrs-             entsprechend.
armut einhergeht. Letztere bedeutet, dass Verkehrsinfra-
struktur und Verkehrsträger fehlen. Davon sind besonders                Die Situation von einkommensschwächeren Haushalten,
Menschen in ländlichen und wirtschaftsschwachen Re-                     Arbeiterhaushalten sowie Berufspendlern muss bei einer
gionen betroffen. Die einzige Möglichkeit, um räumlich                  möglichen Umgestaltung der geltenden Besteuerung im
mobil zu sein, wäre es, die Straße mit dem privaten Pkw zu              Verkehrssektor mit dem Ziel, den Preis für CO₂-Ausstoß
nutzen. Angesicht der Regelsätze für Sozialleistungen in                zu erhöhen, berücksichtigt werden (These 8).

30
   Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestag 2018
31
   Bereits im Jahr 2000 hatte in Großbritannien die Labour-Regierung das Thema im Rahmen des Programmes „Social Exclusion Unit“
aufgegriffen. Ein Überblick über die damalige angelsächsische wissenschaftliche Diskussion findet sich in Graham et al. 2011.
18                                                                                      Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE

3
3. Ein umwelt- und klimafreundliches Verkehrssystem darf
nicht zulasten der Volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
gehen.

     Verkehrsdienstleistungen und die Fahrzeugherstel-               Beschäftigung und Wertschöpfung
     lung sind zentrale Säulen unserer Volkswirtschaft.              Um die wirtschaftliche Dimension des Clusters Ver-
     Sie garantieren den in modernen Volkswirtschaften               kehr32 zu erschließen, ist eine Unterscheidung zwischen
     unerlässlichen Transport von Personen und Gütern.               Dienstleistungen und produzierendem Gewerbe hilf-
     Außerdem generieren sie hohe Beschäftigung und                  reich. Zunächst einmal ist das Verkehrssystem selbst ein
     Wertschöpfung. Sie beschäftigen in Deutschland rund             bedeutender Wertschöpfer. Die im Bereich Verkehr und
     vier Mio. Menschen direkt sowie zahlreiche Menschen             Verkehrsdienstleistungen tätigen Unternehmen erwirt-
     indirekt und induziert.                                         schafteten 2015 einen Umsatz von etwas über 314 Mrd.
                                                                     Euro und beschäftigten rund 2,2 Mio. Menschen.33
Transportleistung
Moderne Volkswirtschaften sind hochgradig arbeitsteilig              Die Herstellung von Fahrzeugen für den Straßenverkehr
und vielfältig verflochten, was zu einem hohen Transport-            spielt eine herausragende Rolle für deutsche Volkswirt-
bedarf führt. Gerade Deutschland, in der Mitte Europas               schaft und Industrie. 2016 hatte sie über 828.000 Be-
und mit hohem Transitverkehr, ist auf ein leistungsfähiges           schäftigte, die einen Umsatz von fast 407 Mrd. Euro
Verkehrssystem angewiesen. Dies gilt besonders für sei-              erwirtschafteten. Hinzu kommen noch ca. 120.000 Be-
ne Industrie mit ihren tiefen Wertschöpfungsketten. Die              schäftigte der deutschen Eisenbahnindustrie und des
Vorleistungs- und Zwischenprodukte müssen zu Investiti-              Flugzeugbaus. Zusammen mit den Zulieferbranchen ist
ons- und Konsumgüterproduzenten transportiert und die                die Fahrzeugherstellung hinsichtlich Wertschöpfung und
erzeugten Waren und Güter vielfach exportiert werden.                Beschäftigung das tragende Element der deutschen In-
                                                                     dustrie. Rechnet man noch die Bereiche hinzu, die rund
Die entstehenden Transportleistungen sind enorm. Man                 um den bestehenden Fahrzeugbestand und die Ver-
kann darüber streiten, ob der erreichte Grad der Arbeits-            kehrsträger tätig sind, kann von über vier Millionen Be-
teilung, der in der Regel mit einer zunehmenden räum-                schäftigten ausgegangen werden. Tabelle 1 macht diese
lichen Trennung der einzelnen Wertschöpfungsprozesse                 Zusammenhänge deutlich.
einhergeht, zu weit getrieben wurde. Verkehrspolitisch
betrachtet haben die Outsourcing- und Verlagerungs-                  Jedoch berücksichtigen die dargestellten Beschäf-
prozesse mehr Verkehr bewirkt. Eine nachhaltige Ver-                 tigtenzahlen nicht die indirekten und induzierten Be-
kehrswende muss deshalb sicherlich auch dafür sorgen,                schäftigungseffekte des Clusters „Verkehr“.34 Zahlreiche
Verkehr zu vermeiden – durch intelligente Lenkungsins-               Branchen, etwa die Stahl- und Chemieindustrie oder die
trumente und eine bessere Raumordnungspolitik, die re-               Kunststoffverarbeitung, aber auch viele Dienstleistungs-
gionale und örtliche Wertschöpfungsprozesse stärkt.                  branchen, weisen enge Verbindungen zu den Fahrzeug-
                                                                     herstellern, den Erstellern von Verkehrsinfrastruktur und
Sie darf jedoch nicht die heute bestehenden und funk-                den Verkehrsdienstleistern auf. Diese Branchen sind oft in
tionierenden industriellen Wertschöpfungsketten in                   hohem Maße, wenn auch in unterschiedlicher Stärke, von
Deutschland gefährden. Mögliche Maßnahmen müssen                     der Fahrzeugproduktion abhängig.
vorab auf ihre Auswirkungen auf die volkswirtschaftliche
Leistungsfähigkeit geprüft werden.

32
   Unter Cluster „Verkehr“ werden hier alle wirtschaftlichen Tätigkeiten verstanden, die räumliche Mobilität ermöglichen.
33
   Destatis 2015; BMWi geht von ca. 1,7 Mio. Beschäftigten im Verkehrssektor aus: BMWi 2017
34
   Es fehlen hier beispielsweise der Wirtschaftszweig Mineralölverarbeitung und der Großhandel mit Mineralölerzeugnissen, weil diese
nicht nur dem Cluster „Verkehr“ zuliefern, sondern auch anderen Wirtschaftszweigen, z. B. Chemie.
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht                                               19

Tabelle 1: Beschäftigung und Wertschöpfung des Verkehrssektors

                                                                                                               Bruttowertschöp-
                                                                                        Beschäftigte,
     Teilbereich                                                                                               fung in Mrd. Euro,
                                                                                        2016
                                                                                                               2016

     Kraftwagen und Kraftwagenteile                                                     844.334                107.044
     Sonstige Fahrzeuge (Schienen- und Luftfahrzeuge sowie Spezialfahrzeuge)            121.170                12.782
     Bau von Straßen und Bahnverkehrstrecken, Brücken- und Tunnelbau                    74.690                 5.651
     Handelsleistungen mit KFZ, Instandhaltung und Reparatur KFZ                        862.809                44.127

     Einzelhandel mit Motorenkraftstoffen                                               30.497                 5.453

     Landverkehrs- und Transportleistungen (ohne Rohrfernleitungen)                     933.268                72.904

     Schifffahrt                                                                        31.787                 4.259

     Luftfahrtleistungen                                                                65.958                 3.312

     Lagereileistungen, sonstige Dienstleistungen für den Verkehr                       753.431                41.430

     Post-, Kurier- und Expressdienstleistungen                                         544.333                15.604

     Vermietung von Kraftfahrzeugen                                                     33.000                 6.617

     Summe                                                                              4.295.277              307.113
     Quelle: Eigene Berechnungen nach Destatis 2018c; 2018d

Ältere Input-Output-Analysen für die Fahrzeugindustrie               und ihre Zulieferer vor gravierenden Herausforderungen:
ergaben für die mittelbaren Beschäftigungseffekte einen              Internationale und europäische Klimaschutzabkommen
Faktor von 2,2.35 Wendet man diesen Faktor an, dürften               erfordern emissionsärmere Antriebstechnologien, der
in Deutschland etwa 2 Mio. weitere Arbeitsplätze, somit              ökologisch bedingte Strukturwandel in der Branche steht
insgesamt über 3 Mio. Arbeitsplätze, direkt, indirekt oder           damit unmittelbar bevor. In den Segmenten Personen-
induziert von der Fahrzeugproduktion abhängig sein.36 Es             kraftfahrzeuge und leichte Nutzfahrzeuge werden sich
spricht einiges dafür, dass der Faktor durch die Auslage-            allmählich batteriegetriebene Antriebe durchsetzen (The-
rungsprozesse der Fahrzeughersteller an die Zulieferer               se 5), deren Herstellung mit deutlich weniger Komponen-
noch weiter gestiegen sein dürfte.                                   ten und Aufwand möglich ist (Tabelle 2).

Zudem spielt der Fahrzeugsektor eine große Rolle für die             Damit dürften Teile der Wertschöpfung und Beschäfti-
Innovationsfähigkeit Deutschlands. Die Fahrzeugherstel-              gung im Bereich der Herstellung von Verbrennungsmo-
ler wenden viel für Forschung und Entwicklung auf und                toren schon kurzfristig unter Druck geraten. Laut einer
haben diese Ausgaben in den letzten Jahren überpropor-               aktuellen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be-
tional zu anderen Branchen gesteigert. Im Jahr 2016 la-              rufsforschung (IAB)38 zu den Beschäftigungseffekten einer
gen die FuE-Aufwendungen bei insgesamt 21,9 Mrd. Euro,               Elektrifizierung des Verkehrs ist kurz- und mittelfristig ein
was etwa ein Drittel der gesamten unternehmerischen                  Netto-Beschäftigungszuwachs zu erwarten. Dies ergibt
FuE-Ausgaben ausmacht. Es arbeiteten 114.000 Beschäf-                sich durch die notwendigen Investitionen der Autobran-
tigte der Fahrzeughersteller in den Bereichen Forschung              che, die Bauinvestitionen in die Ladeinfrastruktur und die
und Entwicklung.37                                                   Neuausrüstung des Stromnetzes. Längerfristig könnten
                                                                     aber die Beschäftigungseffekte einer Elektrifizierung des
Neue Wertschöpfung, Verkehrsmuster und Geschäfts-                    Verkehrs negativ ausfallen, insbesondere wenn beispiels-
modelle                                                              weise größere Teile der Wertschöpfung – z. B. die Batte-
Durch die aktuell weltweit gute und langandauernde Kon-              rieherstellung – ins Ausland verlegt werden.
junktur sind im deutschen Automobilbau die Umsatz- und
Beschäftigungszahlen in den letzten Jahren kontinuier-
lich gewachsen. Dennoch stehen die Fahrzeugindustrie

35
   Legler et al. 2009
36
   Rechnet man die Beschäftigtenzahlen der Hersteller der Schienenfahrzeuge, Luftfahrzeuge und Schiffe dazu, fällt die Beschäftigung
noch höher aus.
37
   Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e. V. 2017
38
   IAB 2018
20                                                                                           Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE

Tabelle 2: Technologische Veränderungen im Fahrzeugbau durch die Elektromobilität

     Was fällt weg?                               Was wird stark verändert?                     Was kommt hinzu?

     - Verbrennungsmotor mit                      -   Getriebe                                  - Elektromotor und weitere
       Motorblock, Kolben, Dichtungen,            -   Radaufhängung                               Antriebssysteme
       Ventilen, Nockenwelle, Ölwanne,            -   Kraftübertragung                          - Batteriesystem mit Akkumulator,
       Ölfilter, Lager etc.                       -   Klimaanlage/Heizung                         Leistungselektronik, Batterie-
     - Einspritzanlage                            -   Kühlwasserpumpe                             managementsystem, Ladegerät
     - Abgasanlage                                -   Wärmedämmung                                (Plug-In), DC/DC-Wandler
     - Tanksystem
     - Kupplung
     - Nebenaggregate wie Ölpumpe,
       Turbolader, Lichtmaschine
     Quelle: Diez 2017

Auch die Digitalisierung verändert traditionelle Wert-                   Antriebe und Produktivitätssteigerungen bis 2030 zwi-
schöpfungsketten und Geschäftsmodelle. Zunehmend                         schen 74.000 und 125.000 Arbeitsplätze verloren gehen
finden assistenzbasierte und teilautonome Fahrsysteme                    könnten. Dabei sind zwei Drittel des Arbeitsplatzabbaus
Eingang in die Fahrzeugtechnik. Werden sie untereinander                 auf Produktivitätssteigerungen zurückzuführen und ein
vernetzt und mit standortbasierten Leitsystemen kombi-                   Drittel auf den veränderten Antrieb.40 Auch die oben zi-
niert, können Fahrzeuge und Fahrzeugflotten effizienter                  tierte IAB-Studie geht längerfristig von knapp 114.000
gelenkt und einzelne Fahrzeuge (teilautonom) bewegt                      Arbeitsplätzen (davon 83.000 direkt im Fahrzeugbau) aus,
werden. Car-Sharing und neue Mobilitätskonzepte wie                      die bis 2035 durch die Umstellung auf Elektrofahrzeuge
Ride-Pooling (bspw. Uber oder das von VW entwickelte                     verloren gehen könnten.
Konzept Moia) wurden auch erst durch die Digitalisierung
möglich.                                                                 Die deutschen und europäischen Fahrzeughersteller
                                                                         sind also sowohl aus wirtschaftlichen als auch arbeits-
Diese durch die Digitalisierung ermöglichte informatori-                 politischen Gründen dringend aufgefordert, die neuen
sche Vernetzung und Elektrifizierung der Fahrzeuge er-                   Technologien (Hard- und Software) und Mobilitätsdienst-
höht den Wertschöpfungsanteil von Software, Elektronik39                 leistungen stärker in ihre Wertschöpfungsketten zu
und elektrischen Komponenten deutlich. Noch ist nicht                    integrieren. Es stellt sich auch die Frage, ob die Fahrzeug-
geklärt, ob deutsche Fahrzeughersteller und Zulieferer                   hersteller nicht die für die neuen Mobilitätsdienstleistun-
diese neuen Komponenten erbringen werden. Bislang                        gen notwendigen Plattformen betreiben sollten.
sind sie in der klassischen Fahrzeugherstellung weltweit
mit an der Spitze, selbst bei den heute schon in Fahr-                   Die deutsche Automobilindustrie besitzt die technologi-
zeugen vorhandenen elektronischen und teildigitalisier-                  schen Potenziale sowie die Innovationskraft, diese um-
ten Systemen. Treiber dieser neuen Entwicklung sind                      weltpolitischen und technologischen Herausforderungen
aber nicht deutsche und europäische Fahrzeughersteller,                  zu meistern. Allerdings muss sie bereit sein, ihre defensive
sondern amerikanische Technologieunternehmen sowie                       Strategie zur Verhinderung notwendiger Klimaschutz-
zunehmend auch chinesische Konzerne. Wettbewerber                        und Umweltregulierung aufzugeben. Deutsche Fahrzeug-
aus anderen Wirtschaftszweigen, wie Apple und Google,                    hersteller werden ihre starke Stellung – sowohl auf dem
drängen mit neuen internetbasierten Geschäftsmodellen                    europäischen als auch auf dem internationalen Markt –
in den Mobilitätssektor. Es ist möglich, dass sich diese                 nur behaupten können, wenn sie die ökologischen und
Unternehmen einen wachsenden Wertschöpfungsanteil                        wettbewerblichen Herausforderungen offensiv angehen.
an der Fahrzeugproduktion sichern.                                       Dafür müssen sie ihre Geschäftsmodelle und Wertschöp-
                                                                         fungsketten modernisieren und erweitern.
Die fortschreitende Digitalisierung durchdringt auch die
interne Organisation der Unternehmen. Die damit erziel-                  Angesichts der überragenden wirtschaftlichen Bedeutung
ten Produktivitätsfortschritte erhöhen den Druck auf die                 des Fahrzeugsektors und der Verkehrsdienstleistungen
Beschäftigung. Die von der IG Metall angestoßene Stu-                    für die deutsche Volkswirtschaft muss die notwendige
die ELAB 2.0 kommt zum Ergebnis, dass durch veränderte                   Transformation des Verkehrssystems entsprechend vor-

39
      Bspw. Sensoren, die für das (teil)autonome und assistenzgestützte Fahren erforderlich sind.
40
      IAO et al. 2018
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