Die Verkehrswende nachhaltig steuern - Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht - Stiftung Arbeit und ...
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2 Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE Impressum IMPULSE SATZ UND LAYOUT Die Verkehrswende nachhaltig steuern – navos – Public Dialogue Consultants GmbH Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht. TITELBILD ERSTELLT VON © ellerystudio Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE • Inselstraße 6, 10179 Berlin DRUCK • Königsworther Platz 6, 30167 Hannover spreedruck Telefon +49 30 2787 1314 VERÖFFENTLICHUNG März 2019 AUTOREN • Tomas Nieber (Projektleitung) BITTE ZITIEREN ALS • Dr. Kajsa Borgnäs Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE (2019) • Stephan Hoare „Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht“. LEKTORAT Gisela Lehmeier, FEINSCHLIFF
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht 3 Vorwort Unser Verkehrssystem stößt zunehmend an seine Gren- Konzepte und Instrumente einer Verkehrswende haben zen. Die Verkehrsträger Straße und Bahn können den daher erstens neben den ökologischen auch ihre ökono- wachsenden Verkehr kaum mehr bewältigen: Staus auf mischen und sozialen Implikationen zu analysieren und den Straßen und überfüllte, dadurch oft verspätete Per- zu berücksichtigen. Zweitens wird es darauf ankommen, sonennah- und -fernzüge zeigen das deutlich. Vor allem die technologische sowie soziale Innovationsfähigkeit zu aber verursacht unser heutiges Verkehrssystem hohe steigern. Nur so kann die erforderliche und erwünschte ökologische und gesundheitliche Belastungen. Verkehrs- räumliche Mobilität für Gesellschaft und Wirtschaft auch prognosen sagen für die Zukunft steigenden Verkehr vo- zukünftig sichergestellt werden. raus und damit steigende Belastungen für Menschen und Umwelt. Aus diesen Gründen ist eine Verkehrswende un- Mit den vorliegenden Thesen will die Stiftung Arbeit und abdingbar. Umwelt der IG BCE als gewerkschaftlicher Nachhaltig- keits-Think Tank die Handlungs- und Spannungsfelder Räumliche Mobilität ist aber eine zentrale Voraussetzung einer sozial, ökologisch und wirtschaftlich nachhaltigen für gesellschaftliche Teilhabe, Arbeit, Lebensqualität und Verkehrswende ausloten. Dies betrifft insbesondere die Wohlstand. Ein Industrieland wie Deutschland braucht Umgestaltung des Verkehrssystems und die daraus re- ein leistungsfähiges Verkehrssystem. Die hohe Arbeits- sultierenden industrie- sowie beschäftigungspolitischen teilung sowie die vielfältigen Verflechtungen der Industrie Anforderungen. Die Thesen rücken zudem Verteilungsef- und des Dienstleistungssektors lösen starken Transport- fekte und Demokratisierungsaspekte einer Verkehrswende bedarf aus. Gleichzeitig ist in modernen Gesellschaften in den Fokus. Dabei geht es sowohl um Beteiligungsrech- die Möglichkeit, räumliche Mobilität auszuüben, zentrale te als auch um das Recht auf räumliche Mobilität. Voraussetzung, um am öffentlichen und sozialen Leben teilzunehmen. Mobilität ist somit eine Frage der sozialen Tomas Nieber Gerechtigkeit! Bereichsleiter Verkehrswende, Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE Eine allgemein akzeptierte Begriffsbestimmung für die Verkehrswende gibt es nicht. Oftmals werden mit dem Begriff eine Verlagerung vom motorisierten Individualver- kehr hin zu öffentlichen Verkehrsmitteln sowie Maßnah- men und Instrumente zur Verkehrsvermeidung assoziiert. Unbestreitbar sind Verkehrsvermeidung und -veränderun- gen im Modal Split zentrale Bestandteile für ein besseres und umweltfreundlicheres Verkehrssystem. Angesichts der Komplexität und der Bedeutung des Verkehrssystems läuft ein verengtes Verständnis einer Verkehrswende aber Gefahr, die sozialen und ökonomischen Funktionen und Dimensionen des Verkehrssystems zu unterschätzen.
4 Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE Thesen These 1: Eine Verkehrswende ist unumgänglich, weil unser Verkehrssystem Menschen und Umwelt belastet und zu- nehmend an Kapazitätsgrenzen stößt. These 2: Die Verkehrswende ist auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit! These 3: Ein umwelt- und klimafreundliches Verkehrssystem darf nicht zulasten der volkswirtschaftlichen Leistungs- fähigkeit gehen. These 4: Eine effiziente Verkehrswende braucht Technologieoffenheit. These 5: Verkehrswende und Energiewende – Kopplung zentral, aber weit entfernt. These 6: Das Gelingen der Verkehrswende erfordert beträchtliche zusätzliche Investitionen. These 7: Der durch die Verkehrswende zu erwartende Strukturwandel in der Automobilindustrie muss aktiv gestaltet werden. These 8: Die Verkehrswende braucht integrative politische Handlungsansätze.
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht 5 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Thesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Eine Verkehrswende ist unumgänglich, weil unser Verkehrssystem Mensch und Umwelt belastet und zunehmend an Kapazitätsgrenzen stößt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2. Die Verkehrswende ist auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 3. Ein umwelt- und klimafreundliches Verkehrssystem darf nicht zulasten der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 4. Eine effiziente Verkehrswende braucht Technologieoffenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 5. Verkehrswende und Energiewende – Kopplung zentral, aber weit entfernt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 6. Das Gelingen der Verkehrswende erfordert beträchtliche zusätzliche Investitionen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 7. Der durch die Verkehrswende zu erwartende Strukturwandel in der Automobilindustrie muss aktiv gestaltet werden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 8. Die Verkehrswende braucht integrative politische Handlungsansätze.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
6 Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Entwicklung THG-Emissionen Flugverkehr und Seeschifffahrt 1990–2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Abbildung 2: Emissionsentwicklung aus dem Verkehrssektor 1990–2016 (2000=100) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Abbildung 3: Verkehrsleistung nach Verkehrsträgern in Deutschland – Prognose 2010–2030 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Abbildung 4: Von der Bahn beförderte Personen und Güter, Mio. Kilometer Nah- und Fernverkehr . . . . . . . . . . . . . 12 Abbildung 5: Beruflich und geschäftlich bedingter Personenverkehr in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Abbildung 6: Hauptausgabenkategorien privater Haushalte nach Einkommensklassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Abbildung 7: Preisentwicklung des öffentlichen und privaten Verkehrs 2007–2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Abbildung 8: Preisentwicklung Eisenbahnverkehr im Vergleich mit Grundsicherung/Sozialhilfe (2010=100) . . . . . . 17 Abbildung 9: Einzel- und Gesamtwirkungsgrade von Pkw mit unterschiedlichen Antriebskonzepten, ausgehend von erneuerbar erzeugtem Strom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Abbildung 10: CO₂-Ausstoß unterschiedlicher Verkehrsträger unter heutigem und zukünftigem Strommix. . . . . . . . 23 Abbildung 11: Kostenentwicklung von synthetischem Methan und Flüssigkraftstoffen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Abbildung 12: Prognose Entwicklung der globalen Fahrzeugflotte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Abbildung 13: Emissionsintensität der verschiedenen Verkehrsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Abbildung 14: Entwicklung des Endenergieverbrauchs des Verkehrs (2005=100) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Abbildung 15: Entwicklung des spezifischen Verbrauchs des Verkehrs (1991=100) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Abbildung 16: Szenarien zum zukünftigen Strombedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Abbildung 17: Investiver Nachholbedarf der Kommunen 2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht 7 Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Beschäftigung und Wertschöpfung des Verkehrssektors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Tabelle 2: Technologische Veränderungen im Fahrzeugbau durch die Elektromobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
8 Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE 1 1. Eine Verkehrswende ist unumgänglich, weil unser Verkehrssystem Mensch und Umwelt belastet und zunehmend an Kapazitätsgrenzen stößt. Unser heutiges Verkehrssystem verursacht hohe öko- Schiffsverkehr) stammen aus dem Verkehrssektor. Die Ver- logische und gesundheitliche Schäden sowie Fol- brennungsmotoren wurden in den vergangenen Jahren gekosten. Zunehmend beeinträchtigt es auch die deutlich effizienter, dennoch ist der CO₂-Ausstoß des Ver- ökonomische Effizienz der Volkswirtschaft durch kehrs nahezu konstant geblieben, die steigende Verkehrs- Staus und Kapazitätsengpässe. Ein „weiter so“ kann es leistung und der Trend zu stärkeren Motoren bei den Pkw2 in der Verkehrspolitik nicht geben. Ein umweltverträg- zehren die Effizienzgewinne auf. Im Jahr 2017 stiegen die liches und leistungsfähiges Verkehrssystem kann neue Emissionen laut Umweltbundesamt3 um 2,3 Prozent oder ökonomische Chancen für unsere Wirtschaft eröffnen. 3,8 Mio. t CO₂ auf 170,6 Mio. t CO₂. Grund dafür ist vor allem die gute Konjunktur in Europa. Sie verstärkt den Gü- Durch die zunehmende Globalisierung und Urbanisierung terverkehr auf der Straße und erhöht den Pkw-Bestand: Im wächst weltweit der Druck, die Verkehrssysteme anzupas- Jahr 2017 stieg er um 1,5 Prozent. sen und zu modernisieren. Die Globalisierung fördert den Austausch von Waren, Gütern sowie Dienstleistungen und Die Umweltbelastungen des Straßenverkehrs werden we- führt zu höheren Verkehrsleistungen. Durch den global gen der anvisierten CO₂-Minderung und der Grenzwerte anhaltenden Trend von Urbanisierungs- und Re-Urbani- für Luftschadstoffe öffentlich intensiv diskutiert. Die Aus- sierungsprozessen stoßen die klassischen Verkehrsträger wirkungen des See- und Luftverkehrs auf die Umwelt und -systeme in den Ballungsräumen an ihre Grenzen. Da thematisieren dagegen meist nur Experten, obwohl die die Herausforderungen, ein sozial, ökologisch und ökono- Seeschifffahrt die Luftqualität in Hafenstädten und Küsten- misch nachhaltiges Verkehrssystem zu gestalten, universal regionen nicht nur mit CO₂ (Abbildung 1), sondern auch sichtbar sind, sollten politische Strategien einer Verkehrs- mit Schwefel, Stickoxiden und weiteren Schadstoffen, wie wende in Deutschland – wie unten skizziert – immer auch Rußpartikel und Feinstaub, belastet. Die Grenzwerte für die weltweiten Entwicklungen ins Auge fassen. Dies kann Luftschadstoffemissionen bei Seeschiffen liegen deutlich helfen, Fehlentscheidungen zu vermeiden und Lernpro- höher als in anderen Verkehrssektoren.4 Zudem werden zesse zu verkürzen.1 die Schiffe während ihrer Liegezeiten mit Schweröldie- selmotoren versorgt, ihre Versorgung mit Landstrom und Emissionen alternativen Antriebstechnologien (zum Beispiel mit Flüs- Nach dem Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung siggas) steht erst am Anfang. aus dem Jahr 2016 muss der Verkehrssektor bis 2030 sei- ne CO₂-Emissionen um 42–40 Prozent senken. Auch über Der Flugverkehr wächst rasant. 3,7 Mrd. Flugpassagiere 2030 hinaus werden weitere bedeutende Emissions-Min- weltweit gab es im Jahr 2016.5 Bei einer Weltbevölkerung derungsleistungen des Verkehrs erforderlich sein, um die von rund 7,4 Mrd. entfällt rechnerisch somit im Durch- nationalen Klimaziele 2050 zu erreichen. schnitt auf jeden zweiten Erdenbürger eine Flugreise (einfache Strecke) pro Jahr. Während der größte Teil der Rund 20 Prozent der deutschen Treibhausgasemissionen Weltbevölkerung noch nie ein Flugzeug bestiegen haben (ohne die internationalen Emissionen durch Flug- und dürfte, fliegt ein wachsender Kreis von Menschen umso 1 Beispielsweise verfügen Städte wie Kopenhagen und Singapur seit Langem über langfristige und detaillierte moderne Verkehrskonzep- te, von denen manches übernommen werden kann. 2 2017 hatten neu zugelassene Autos eine Motorleistung von durchschnittlich 111 Kilowatt (151 PS). Im Jahr 2010 lag dieser Wert noch durchschnittlich bei 96 Kilowatt (130 PS): Zeit Online, dpa. 3 UBA & BMUB 2018 4 Während die Schwefelmenge im Kraftstoff für den Straßenverkehr einen Anteil von 0,001 % nicht überschreiten darf, liegt der seit dem 1.1.2015 gültige Grenzwert für Schiffskraftstoff selbst in den Schwefelkontrollgebieten mit 0,1 % immer noch um das 100fache höher. Außerhalb dieser Sondergebiete auf hoher See liegt der Grenzwert bei 3,5 %. Erst nach 2020 soll er auf 0,5 % festgelegt werden. 5 World Bank Data – Air Transport, Passengers carried
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht 9 häufiger. Steigender Wohlstand, der weltweite Ausbau der verursacht Flugverkehr viel CO₂.6 Zwar liegt sein Anteil an touristischen Angebote und die Ausweitung globaler Han- den globalen CO₂-Emissionen aktuell lediglich bei fünf delsbeziehungen sorgen für neue Passagierrekorde. Prozent, dieser Anteil dürfte durch das starke Wachstum des Luftverkehrs in den nächsten Jahren deutlich steigen. Mit steigendem Flugverkehr, einschließlich Luftfrachtver- Die International Air Transport Association (IATA) geht da- kehr, nehmen die Belastungen von Menschen und Umwelt von aus, dass sich global bis 2036 die Zahl der jährlich be- zu (Abbildung 1). Im Vergleich zu anderen Verkehrsformen förderten Passagiere verdoppeln dürfte (auf 7,8 Mrd.).7 30.000 Abbildung 1: Entwicklung THG-Emissionen Flugverkehr und Seeschifffahrt 1990–2016 25.000 20.000 15.000 10.000 5.000 0 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 Flugverkehr Seeschifffahrt Quelle: Eigene Darstellung nach UBA 2018a Der Luftverkehr steht bei der Entwicklung von Emis- oder international verbindliche Grenzwerte sowie tech- sionsstandards erst am Anfang. Lange wurde lediglich nische Standards. über international nicht verbindliche technische Maß- nahmen versucht, das Emissionswachstum einzuschrän- Lärm und Schadstoffe ken. In Europa nimmt der Luftfahrtverkehr zwar am Unsere Mobilität muss leiser werden! Es ist unstrittig: europäischen Emissionshandelssystem teil, es bezieht Dauerhafter Lärm hat gesundheitliche Beeinträchtigungen sich jedoch nur auf innereuropäische Flüge. International und Erkrankungen zur Folge. Nur 24 Prozent der Bevöl- hat sich die Branche über das CORSIA-Abkommen8 ver- kerung fühlen sich durch den Straßenverkehrslärm nicht pflichtet, ab 2020 neu hinzukommenden CO₂-Ausstoß gestört oder belästigt. Umfrageergebnisse9 zeigen, dass über Klimaschutzmaßnahmen in anderen Sektoren zu die Beeinträchtigungen in den letzten zehn Jahren nur un- kompensieren (Off-setting). Ein Cap wie im europäischen wesentlich abgenommen haben. Die Lärmschwerpunkte Emissionshandelssystem ist jedoch nicht vorgesehen. liegen im Straßenverkehr der Ballungsräume, im Güter- Zudem beginnt CORSIA mit einer bis 2027 dauernden verkehr entlang der Bahnstrecken sowie in der Umgebung freiwilligen Phase. Einige Nationen sind ausgenommen. von Flughäfen. Statt der relativ „weichen“ Regelungen dieses Off-set- ting-Systems bräuchte es dringend ein international ver- Für Mensch und Umwelt sind die Schadstoffbelastun- bindliches Instrument wie einen Emissionshandel und/ gen durch den Verkehr zu hoch.10 Im Gegensatz zu den 6 Ein Flugzeug stößt durchschnittlich ca. 200 Gramm THG pro Personenkilometer aus, ein Reisebus im Durchschnitt 30 Gramm THG. 7 IATA 2017 8 CORSIA – Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation 9 So beispielsweise in der repräsentativen Befragung „Umweltbewusstsein in Deutschland“, BMUB 2016 10 Zwar ist der direkte und kausale Zusammenhang zwischen Erkrankungen/Todesfällen und Luftschadstoffen aufgrund der Mehrdimen- sionalität der meisten Erkrankungsursachen nicht oder nur sehr schwer festzustellen. Dennoch muss aufgrund von epidemiologischen Studien davon ausgegangen werden, dass Luftschadstoffe die Wahrscheinlichkeit von Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen er- höhen.
10 Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE CO₂-Emissionen, die relativ konstant geblieben sind, konnten senen Verkehrsmenge ist dies ein beachtlicher Erfolg. Um die aber die von ihm ausgehenden Luftschadstoffe (wie Stick- Luftqualitätswerte einhalten zu können, sind jedoch weitere stoffoxide, Feinstäube und weitere Schadstoffe) seit 1990 Reduktionen notwendig. In vielen deutschen Städten werden deutlich und kontinuierlich reduziert werden (Abbildung 2). die Grenzwerte für Luftschadstoffe überschritten11, es kommt Angesichts der im gleichen Zeitraum beträchtlich gewach- zu gerichtlich verordneten Fahrverboten. Abbildung 2: Emissionsentwicklung aus dem Verkehrssektor 1990–2016 (2000=100) 400 350 300 250 Emissionen: 100=2000 200 150 100 50 0 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 20 Stickstoffoxide (NOx, berechnet als No2) NMVOC* Feinstaub (PM 10) Feinstaub (PM 2,5) Kohlenmonoxid (CO) Treibhausgase (CO2, CH4, N20) Quelle: UBA 2018b. *leichtflüchtige organische Verbindungen ohne Methan Laut Branchenvertretern sind die technologischen Vor- Bei rund 300.000 Unfällen wurden Menschen verletzt, in aussetzungen für eine weitere Reduktion des Ausstoßes 66.000 Fällen gab es Schwerverletzte. Die Zahl der Ver- von Luftschadstoffen bei Diesel- und Benzinmotoren kehrstoten ging zwar in den letzten Jahren kontinuierlich bereits vorhanden. Im Mai 201812 hat beispielsweise der zurück, jedoch kommen jährlich immer noch mehr als Bosch-Konzern eine neue Dieseltechnologie vorgestellt, 3.000 Menschen im Straßenverkehr ums Leben.14 die den Ausstoß von Stickoxiden unter „Real Driving Emis- sions-Bedingungen“ (RDE) um den Faktor zehn gegenüber In den öffentlichen Diskussionen um ein besseres Ver- dem ab 2020 geltenden Grenzwert13 senken könnte. Die- kehrssystem spielt die Verkehrssicherheit oftmals nur eine se neue Abgastechnologie solle den Kraftstoffverbrauch untergeordnete Rolle. Das Unfallgeschehen auf Deutsch- nicht erhöhen, höhere CO₂-Emissionen seien also nicht lands Straßen und das damit verbundene vielfache Leid zu erwarten. wäre Anlass genug über eine Modernisierung des Ver- kehrssystems nachzudenken. Verkehrssicherheit immer noch unzureichend Von unserem Verkehrssystem gehen nach wie vor erheb- Staus liche Unfallgefahren aus. Die meisten Unfälle ereignen sich Weltweit steigt das Individual- und Güterverkehrsaufkom- im Straßenverkehr. Insgesamt nehmen diese Unfälle durch men, dies gilt auch für Deutschland und Europa (Abbil- das gesteigerte Verkehrsaufkommen der letzten Jahre zu. dung 3a und 3b). Ca. 80 Prozent des Verkehrs finden auf 2017 gab es in Deutschland über 2,6 Mio. Verkehrsunfälle. der Straße statt. 11 2017 wurden nach Angaben des Umweltbundesamt die geltenden Grenzwerte in 65 Städten überschritten. 12 Robert Bosch GmbH, Pressemitteilung vom 25.4.2018 13 UBA – Luftreinhaltung in der EU 14 Destatis 2018a
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht 11 Abbildung 3: Verkehrsleistung nach Verkehrsträgern in Deutschland – Prognose 2010–2030 Individualverkehr 1.262 1200 1.117 Mrd. Personenkilometer 992 902 900 600 270 300 215 84 100 78 83 53 87 32 35 0 Fahrrad- Eisen- Öffentlicher Luftverkehr Öffentlicher Motorisierter Motorisierter verkehr bahnen Straßenper- Verkehr Individual- Verkehr sonenverkehr verkehr insgesamt 2010 2030 Güterverkehr 838 800 Mrd. Tonnenkilometer 607 607 600 437 400 200 154 108 62 77 4,5 8,7 0 Eisenbahnen Binnenschifffahrt Straßengüter- Luftverkehr* Güterlandverkehr verkehr insgesamt 2010 2030 Quelle: Eigene Darstellung nach BMWi 2017 * in 1.000 t. Verkehrsstaus belasten die Fahrer, bewirken einen höhe- Nahverkehr, Bahnverkehr und Güterverkehr – Nur noch ren Ausstoß von CO₂ und Schadstoffen und verursachen wenig Reserven durch Zeitverluste hohe ökonomische Kosten. Das Be- Doch nicht nur das Verkehrssystem Straße stößt an Ka- ratungsunternehmen Inrix hat in der Staustudie „Traffic pazitätsgrenzen. In den Ballungszentren und Metropolen Scorecard 2017“15 das Stauaufkommen in 38 Ländern und haben auch die schienengebundenen Nah- und Fernver- 1.360 Städten untersucht. Demnach entstanden 2017 al- kehre Probleme, die wachsende Zahl von Fahrgästen zu lein durch die Staus in den fünf staureichsten deutschen bewältigen18 (Abbildung 4). Im überregionalen Bahnver- Städten16 Kosten in Höhe von 16,4 Mrd. Euro.17 Für ganz kehr führt das wachsende Passagier- und Güteraufkom- Deutschland errechnet die Studie durchschnittliche Kos- men zu Kapazitätsengpässen und Verspätungen. Eine von ten von 1.770 Euro pro Autofahrer und Jahr, vor allem vielen Experten geforderte Verlagerung des Güterverkehrs durch Produktivitätsverluste. Jeder deutsche Autofahrer von der Straße auf die Schiene ist bei der derzeitigen Schie- steht im Schnitt jährlich 30 Stunden im Stau. neninfrastruktur nur begrenzt machbar. Erst mit massiven 15 Inrix Global Traffic Scorecard 2017 16 Nach Inrix waren dies 2016 München, Heilbronn, Köln, Stuttgart und Hamburg, gemessen an der Wartezeit in Stoßzeiten in Stunden. 17 Direkte und indirekte Kosten. Zur Berechnung siehe die deutsche Fassung des INRIX Global Traffc Scorecard, 2018, S. 4 ff 18 ÖPNV-Bilanz 2017, Verband Deutscher Verkehrsunternehmen e. V. (VDV)
12 Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE Investitionen in die Schieneninfrastruktur und die Moder- einen deutlich größeren Anteil am Verkehrsaufkommen nisierung der Bahnen insgesamt könnte der Bahnverkehr gewinnen (These 6).19 Abbildung 4: Von der Bahn beförderte Personen und Güter, Mio. Kilometer Nah- und Fernverkehr 250.000 200.000 116.164 Kilometer 150.000 110.065 115.652 91.900 82.700 100.000 39.355 35.568 37.347 36.226 32.394 50.000 46.971 51.448 56.474 39.178 40.485 0 00 04 08 12 16 20 20 20 20 20 Güterverkehr (Tonnenkilometer) Fernverkehr (Personenkilometer) Nahverkehr (Personenkilometer) Beförderte Personenkilometer insgesamt Beförderte Kilometer insgesamt Quelle: Eigene Darstellung nach BMWi 2017 Unzureichende Investitionen und personelle Engpässe ren Investitionsbedarf aus. Die Studie des BDI „Klimapfade bei Planungs- und Bauvorhaben für Deutschland“21 schätzt, dass im Verkehrssektor private Hinzu kommt, dass in vielen Ländern in Europa und be- und öffentliche Mehrinvestitionen in Höhe von rund 500 sonders auch in Deutschland lange Jahre zu wenig in Mrd. Euro erforderlich sein werden, um bis 2050 die Treib- Erhaltung und Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur hausgase um 80 Prozent zu reduzieren. Die 2015 von der investiert wurde. Fehlende Planungs- und Baukapazitä- Verkehrsministerkonferenz der Länder eingesetzte Kom- ten, insbesondere der öffentlichen Hand, werden nun zum mission „Bau und Unterhaltung des Verkehrsnetzes“22 Engpass. stellte einen Investitionsbedarf von 230 Mrd. Euro bis 2030 allein für den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und die Eine nachhaltige Verkehrswende erfordert daher eine neue technologische „Ertüchtigung“ fest, ohne dabei klimapoli- Dimension von Investitionen. Das von den Bundesländern tische Ziele zu berücksichtigen. Allein für die „nachholen- 2017 vorgestellte „Nationale Investitionsprogramm Mo- de Sanierung“ aufgrund von Substanzverzehr wurden 45 bilität“20 fordert zusätzlich 50 Mrd. Euro für die nächsten Mrd. Euro veranschlagt. zehn Jahre. Rund 80 Prozent davon wären für den öf- fentlichen Personennahverkehr. Die individuelle Mobilität Zukünftig wird es stärker darum gehen müssen, das Ver- wird in diesem Programm lediglich mit 750 Mio. Euro pro kehrssystem nicht nur moderner, sondern auch intel- Jahr bedacht, die dem Ausbau der Ladeinfrastruktur für ligenter zu machen. Die Digitalisierung eröffnet neue die Elektromobilität dienen sollen. Andere Studien gehen Möglichkeiten: Unterschiedliche Verkehrsträger können unter der Prämisse des Klimaschutzes von einem höhe- besser vernetzt und unnötige Verkehrsaufkommen durch 19 Deutschland investiert unterdurchschnittlich in seine Schieneninfrastruktur. 2016 wurden pro Kopf 64 Euro investiert, in den Nieder- landen waren es 133 Euro pro Kopf, in Österreich 198 Euro und in der Schweiz gar 378 Euro: Allianz pro Schiene. 20 Verkehrsministerkonferenz 2017 21 Boston Consulting Group und Prognos AG 2018, S. 201 22 2013 setzte die Verkehrsministerkonferenz der Länder (VMK) die Kommission „Nachhaltige Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“ ein. Den Vorsitz hatte der ehemalige Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig. Der Abschlussbericht der sogenannten Bodewig-Kommission I wurde im Herbst 2013 vorgelegt. 2016 wurde den Bericht erneuert: Kommission „Bau und Unterhaltung des Verkehrsnetzes“ (Bodewig-Kommis- sion II) 2016.
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht 13 bessere logistische Systeme vermieden werden. Auch in die Digitalisierung des Verkehrssystems muss verstärkt in- vestiert werden. Eine Verkehrswende ist unumgänglich Die hier skizzierten Herausforderungen zeigen deutlich: Ein „weiter so“ in der Verkehrspolitik kann es nicht geben. Ein Umsteuern ist aus ökologischen Gesichtspunkten not- wendig sowie aus Sicht der langfristigen Leistungsfähigkeit des Systems. Dies gilt nicht nur für Deutschland, sondern für die allermeisten Länder. Die Potenziale dafür sind vor- handen – insbesondere Deutschland und Europa verfügen über gute ökonomische und technologische Voraus- setzungen für eine nachhaltige Verkehrswende, die öko- logischen, ökonomischen und sozialen Anforderungen gerecht werden kann. Insbesondere die Digitalisierung bietet neue und zusätzliche Chancen, den Verkehr neu und effizienter zu organisieren sowie unnötigen Verkehr zu vermeiden. Der damit einhergehende Strukturwandel muss aktiv gestaltet werden. Alle beteiligten Akteure müs- sen präventiv und aktiv handeln. Gelingt dies, ergeben sich auch neue Chancen für die deutsche Industrie.
14 Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE 2 2. Die Verkehrswende ist auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit! In der Diskussion um die notwendige Umgestaltung mokratisierung räumlicher Mobilität zu sprechen. Damit unseres Verkehrssystems darf die soziale Dimension wird die Errungenschaft beschrieben, dass gesellschaft- nicht ausgeblendet werden. Räumliche Mobilität liche Teilhabe nicht mehr an der fehlenden Möglichkeit ist für Ausübung von Erwerbsarbeit und für die ge- scheitert, größere räumliche Distanzen zu überwinden. sellschaftliche Teilhabe unerlässlich. Einkommens- schwache Haushalte sind vielfach schon heute in Es ist aber zu beachten, dass sich insbesondere einkom- ihrer räumlichen Mobilität eingeschränkt. mensschwache Haushalte auch heute längst nicht alle räumlichen Mobilitätswünsche und -notwendigkeiten Mobilität und Demokratie erfüllen können. Abgesehen von Sonderangeboten sind Räumliche Mobilität ist unverzichtbar, um am gesell- Fernfahrten mit der Bahn für einkommensschwache Per- schaftlichen Leben teilzunehmen. Sie ist eine Frage von sonen nur schwer finanzierbar. Eine Hin- und Rückfahrt Partizipation und sozialer Gerechtigkeit. Bis weit in das 20. Hamburg–München ist kaum unter 125 Euro zu bekom- Jahrhundert hinein waren Reisen ein Privileg von begüter- men. Die deutsche Bahn bietet keinerlei Vergünstigungen ten Bürgen und Adligen. Die meisten Arbeiter der Fabriken für Arbeitslosengeld II-Empfänger. Fernbusse sind eine und Industrien hatten lange Fußwege, was ihre Arbeits- Alternative, hier liegen die Kosten für die gleiche Strecke tage noch mehr verlängerte. Erst mit technologischem allerdings auch bei 50–60 Euro. Fortschritt, dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und steigendem Einkommen wurden breitere Bevölkerungs- Die technologisch-sozioökonomische Entwicklung hat schichten beruflich und privat mobil. dazu geführt, dass Wohnort und Arbeitsplatz für immer mehr Menschen immer weiter auseinanderfallen (Abbil- Heute kann es sich der Großteil der Bevölkerung in den dung 5). Dadurch steigt der beruflich bedingte Verkehr. ökonomisch entwickelten Staaten leisten, zu privaten und Gleichzeitig nimmt der im Beruf ausgeübte Verkehr (Ge- beruflichen Zwecken die vorhandenen Verkehrsmittel zu schäftsverkehr) zu. nutzen. Es ist sicher nicht falsch, von einer erfolgten De- Abbildung 5: Beruflich und geschäftlich bedingter Personenverkehr in Deutschland 500 400 Mrd. Personenkilometer 180,6 169,1 171,9 148,8 158,9 143,3 143,3 300 200 220 224,4 233,5 201,7 203,8 210,6 214,4 100 42,9 43,9 42,3 41,7 42,1 42,4 43,6 0 00 05 07 09 11 13 15 20 20 20 20 20 20 20 Ausbildung Beruflich Geschäftlich Quelle: BMWi Verkehr in Zahlen 2017/2018
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht 15 Berufswege werden länger führen sein, die vielfach einen Umzug in die Nähe des Nach Angaben des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Arbeitsplatzes scheitern lassen. Raumforschung (BBSR) war der Arbeitsweg der sozialver- sicherungspflichtig Beschäftigten im Jahr 2016 im Durch- Nicht nur das Arbeitsleben erzwingt räumliche Mobilität. schnitt knapp 17 km lang, 1999 waren es nur 14,6 km. Die In ländlichen Räumen müssen die Menschen zunehmend Zahl der Pendler in Deutschland lag 2016 bei 18,4 Mio., rund weitere Wege in Kauf nehmen, um an sozialen und kul- 60 Prozent hatten einen langen Arbeitsweg.23 Im Jahr 2000 turellen Ereignissen teilnehmen zu können oder um ihre waren es nur 53 Prozent. Zwar sind „lange Arbeitswege“ behördlichen Angelegenheiten zu regeln. So stellt ein Gut- nicht einheitlich definiert, Befragungen von Pendlern zei- achten der Bundesregierung fest, dass „ländliche Räume, gen aber, dass Zeiten von 50 Minuten und mehr (eine Stre- die von starkem Bevölkerungsrückgang und Alterung ge- cke) mehrheitlich als gesundheitlich belastend empfunden kennzeichnet sind, häufig von einer Ausdünnung und Zen- werden. Auch die Zahl der Pendler, deren Weg zur Arbeit zu tralisierung von Angeboten und Infrastrukturen betroffen lang ist, um an einem Tag hin- und zurückfahren zu können, sind.“25 Die Bewohner ländlicher Räume müssen urbane hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich erhöht. Umfra- Zentren aufsuchen, um ihre sozialen, kulturellen und kon- gen zeigen, dass lange Pendlerwege mit gesundheitlichen sumtiven Bedürfnisse erfüllen zu können. (einschl. psychischen) Belastungen und Gefährdungen ver- bunden sind.24 Außerdem haben Fernpendler zusätzlichen Mobilitätskosten und Berufsleben finanziellen Aufwand. Private Haushalte wenden einen erheblichen Teil ihres Ein- kommens für die notwendige und gewünschte räumliche Lange Arbeitswege nehmen aus vielfältigen Gründen zu. Mobilität auf. Nach Wohnen und Lebensmitteln sind die Aus- Der Strukturwandel in der Wirtschaft dürfte eine Ursache gaben für die räumliche Mobilität eine große Kategorie im sein: Unternehmen fordern mehr Mobilität von den Be- Budget der privaten Haushalte (Abbildung 6). Laut der laufen- schäftigten, etwa bei Fusionen oder wenn Betriebsteile den Wirtschaftsrechnungen für Einkommen, Einnahmen und verlegt werden. Ein weiterer Grund dürfte die Zunahme Ausgaben privater Haushalte des Statistischen Bundesamtes befristeter Arbeitsverträge sein. Durch sie scheidet ein (LWR) gaben 2016 alle privaten Haushalte durchschnittlich Wohnortwechsel wegen fehlender Arbeitsplatzsicherheit 335 Euro pro Monat oder 13,5 Prozent des Haushaltseinkom- oftmals aus. Auch die Annahme qualifizierterer und bes- mens für Verkehr aus. Bei Haushalten mit Pkw kommen dazu ser bezahlter Jobs erfordert es oft, mehr zu pendeln. Zu- noch die Beiträge für Kfz-Versicherung, 2016 waren dies mo- sätzlich dürfte der Anstieg der Pendler auf den knappen natlich 39 Euro im Durchschnitt. Damit brachten Haushalte Wohnungsraum und die daraus resultierenden Preisstei- mit Pkw durchschnittlich 15,8 Prozent ihres Nettohaushalts- gerungen für Miete und Wohnungseigentum zurückzu- einkommens für räumliche Mobilität auf.26 Abbildung 6: Haushaltseinkommen und -Ausgaben 2016 4.500 45 4.000 40 3.500 7,4 9,8 35 3.000 10,5 30 6,2 Prozent 5,0 2.500 25 Euro 4,1 2.000 20 1.500 15 1.000 25,3 23,3 20,6 10 500 5 0 0 Haushaltseinkommen Haushaltseinkommen Haushaltseinkommen 1.300–1.700 2.600–3.600 3.600–5.000 Wohnen (rechte Achse) Energie (rechte Achse) Verkehr (rechte Achse) durchschnittl. Einkommen der Gruppe (linke Achse) Quelle: Eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt 2018 23 Bundesinstitut für Bau, Stadt und Raumforschung 2017 24 BAuA 2016; 2018 25 Bundesregierung 2016, S. 22 26 Statistisches Bundesamt 2018
16 Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE Allerdings verteilen sich diese Kosten unterschiedlich auf monatlich im Durchschnitt 476 Euro für ihre räumliche die verschiedenen Haushalte. Wie in Abbildung 6 dar- Mobilität.27 gestellt, wenden ärmere Haushalte einen größeren Teil ihres Einkommens für Wohnen, Energie und Verkehr Bislang werden diese Ausgaben stark von den Kosten für auf als wohlhabende. Der Verkehrsanteil steigt aber mit den Unterhalt eines privaten Fahrzeuges geprägt. Der dem Einkommensniveau, was zeigt, dass Mobilität ein Umstieg vom Pkw auf öffentliche Verkehrsträger wie Bus begehrtes Gut ist. Darüber hinaus haben beispielsweise und Bahn wird nicht zuletzt auch dadurch erschwert, dass Arbeitnehmerhaushalte gegenüber allen Haushaltstypen die Preise der öffentlichen Verkehrsmittel schneller ge- (zum Beispiel Rentnerhaushalten) durch ihre Fahrten zur wachsen sind als die Ausgaben für den Pkw-Verkehr (Ab- Arbeitsstätte deutlich höhere Aufwendungen. Inklusive bildung 7). der Ausgaben für die Kfz-Versicherung bezahlten sie 2016 Abbildung 7: Preisentwicklung des öffentlichen und privaten Verkehrs 2007–2017 35% 32,5% 30% 25% 20% 15% 10,6% 10% 4,9% 5% 0% Kauf von Kraftwagen Kraftfahrstoffe, Wartung, Verkehrsdienstleistungen Reparaturen Personenbeförderung Quelle: Destatis 2018b Arbeitnehmer, die mit dem Auto zur Arbeit fahren, sind Mobilität und einkommensschwache Haushalte29 steuerlich privilegiert gegenüber Arbeitnehmern, die Fahr- Besonders Haushalte mit geringem Einkommen und sol- räder, Motorräder oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen. che, die teilweise oder ausschließlich auf staatliche Trans- Letztere können maximal 4.500 Euro im Jahr angeben, fereinkommen angewiesen sind, sind aus Kostengründen während beim Auto darüber hinaugehend Kosten geltend in ihrer Mobilität eingeschränkt. In aller Regel können gemacht werden können. Aus diesem Grund wäre eine diese Haushalte ihre Mobilitätserfordernisse nur zu Fuß, Umwandlung der Pendlerpauschale in ein verkehrsträger- mit dem Fahrrad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln neutrales Mobilitätsgeld – wie das zum Beispiel der Deut- erfüllen. Dass die Kosten für den öffentlichen Nahverkehr sche Gewerkschaftsbund fordert28 – sinnvoll, um mehr stärker gestiegen sind als die sozialen Transferleistungen, Anreize dafür zu schaffen, vom Auto auf andere Verkehrs- schränkt die Mobilität weiter ein. träger umzusteigen. Da der öffentliche Personenverkehr nur eingeschränkt leistungsfähig ist, ist jedoch ein Um- stieg vielfach noch unmöglich oder mit erheblichen Ein- schränkungen verbunden. 27 Statistisches Bundesamt 2018, S. 21 28 DGB 2017; DGB Bundesvorstand 2018 29 Da der Armutsbegriff sowohl politisch als auch wissenschaftlich umstritten ist, wird im Folgenden überwiegend der Begriff „einkom- mensschwache Personen“ verwendet. Darunter werden Personen mit einem Einkommen von unter 60 Prozent des nationalen Medianein- kommens verstanden (nach Brenke 2018).
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht 17 Abbildung 8: Preisentwicklung Eisenbahnverkehr im Vergleich mit Grundsicherung/Sozialhilfe (2010=100) 125 120 115 Prozent 110 105 100 10 11 12 13 14 15 16 17 20 20 20 20 20 20 20 20 Nahverkehr Fernverkehr Regelbedarf Grundsicherung/Sozialhilfe Quelle: Eigene Berechnungen nach Destatis 2018b Der Bezug zwischen räumlicher Mobilität und Armut wird Deutschland (Hartz-IV) dürften aber ärmere Haushalte auf bislang in der politischen Debatte und in der Armutsfor- Dauer kaum in der Lage sein, den Unterhalt eines Pkw zu schung in Deutschland kaum thematisiert. Einkommens- finanzieren. Manche deutschen Städte bieten sogenannte schwache Menschen ohne räumliche Mobilität sind von Sozialtickets für den öffentlichen Nahverkehr an, die ver- Bildungszugängen und Arbeitsmärkten ausgeschlossen. günstigte Fahrten für Hartz-IV-Empfänger ermöglichen. Betroffene empfinden es in der Regel als ausgrenzend, Sie sind jedoch eine freiwillige Leistung und viele Städte wenn sie sich nicht selbstbestimmt an einen anderen Ort und Gemeinden lehnen sie aufgrund mangelnder finan- begeben können. Darüber hinaus verhindert die fehlende zieller Ausstattung ab. räumliche Mobilität auch die Chancen, persönlichkeits- fördernde Eindrücke und Erfahrungen zu sammeln. In Einkommensschwachen Haushalten mehr Mobilität er- Deutschland dürften davon insbesondere Arbeitslosen- möglichen geld II-Leistungsempfänger betroffen sein: Die zur Fest- Eine Politik mit dem Ziel einer Verkehrswende muss setzung der Gesamthöhe der Regelsätze verwendeten einkommensschwache Personen und Haushalte an- bedarfsrelevanten Verbrauchsausgaben sehen bei einem gemessen berücksichtigen. Bundes- und Landespolitik Einpersonenhaushalt Ausgaben von 32,90 Euro30 im Mo- müssen Einfluss auf die Tarifgestaltung nehmen und die nat für den Verkehr vor. Reisen im eigentlichen Sinne ist entsprechenden rechtlichen und finanziellen Rahmen- für diese Haushalte kaum möglich. bedingungen schaffen, damit kommunale und nationale Verkehrsträger einkommensschwache Personen in ihren Während in den angelsächsischen Ländern diese Zu- Tarifen stärker berücksichtigen. Unter der Prämisse, dass sammenhänge politisch und wissenschaftlich schon seit in modernen Gesellschaften die Ausübung räumlicher längerem diskutiert werden, etwa unter Begriffen wie Mobilität unverzichtbar ist, um gesellschaftliche Partizipa- „transport poverty“ oder „transport disadvantage“31, steht tion zu ermöglichen und die Chancen auf Erwerbsarbeit die Debatte in Deutschland erst am Anfang. Besonders zu verbessern, sind für einkommensschwache Personen gravierend ist, dass empirische Untersuchungen darü- Sozialtickets nicht nur für den öffentlichen Nahverkehr, ber fehlen, wie sich fehlende Mobilitätsmöglichkeiten sondern auch für den öffentlichen Fernverkehr einzu- gekoppelt mit Einkommensarmut auf Bildungschancen, führen. Das Sozialticket könnte in einen Rechtsanspruch Beschäftigungsmöglichkeiten und die Gesundheit der Be- für einkommensschwache Personen umgewandelt wer- troffenen auswirken. den und das Recht auf ermäßigte Tickets für Fernreisen umfassen. Vorstellbar wäre es, die Preise progressiv zu Mobilitätsarmut trifft Verkehrsarmut gestalten: Mit steigendem Einkommen stiege der Preis Verschärft wird die Mobilitätsarmut, wenn sie mit Verkehrs- entsprechend. armut einhergeht. Letztere bedeutet, dass Verkehrsinfra- struktur und Verkehrsträger fehlen. Davon sind besonders Die Situation von einkommensschwächeren Haushalten, Menschen in ländlichen und wirtschaftsschwachen Re- Arbeiterhaushalten sowie Berufspendlern muss bei einer gionen betroffen. Die einzige Möglichkeit, um räumlich möglichen Umgestaltung der geltenden Besteuerung im mobil zu sein, wäre es, die Straße mit dem privaten Pkw zu Verkehrssektor mit dem Ziel, den Preis für CO₂-Ausstoß nutzen. Angesicht der Regelsätze für Sozialleistungen in zu erhöhen, berücksichtigt werden (These 8). 30 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestag 2018 31 Bereits im Jahr 2000 hatte in Großbritannien die Labour-Regierung das Thema im Rahmen des Programmes „Social Exclusion Unit“ aufgegriffen. Ein Überblick über die damalige angelsächsische wissenschaftliche Diskussion findet sich in Graham et al. 2011.
18 Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE 3 3. Ein umwelt- und klimafreundliches Verkehrssystem darf nicht zulasten der Volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gehen. Verkehrsdienstleistungen und die Fahrzeugherstel- Beschäftigung und Wertschöpfung lung sind zentrale Säulen unserer Volkswirtschaft. Um die wirtschaftliche Dimension des Clusters Ver- Sie garantieren den in modernen Volkswirtschaften kehr32 zu erschließen, ist eine Unterscheidung zwischen unerlässlichen Transport von Personen und Gütern. Dienstleistungen und produzierendem Gewerbe hilf- Außerdem generieren sie hohe Beschäftigung und reich. Zunächst einmal ist das Verkehrssystem selbst ein Wertschöpfung. Sie beschäftigen in Deutschland rund bedeutender Wertschöpfer. Die im Bereich Verkehr und vier Mio. Menschen direkt sowie zahlreiche Menschen Verkehrsdienstleistungen tätigen Unternehmen erwirt- indirekt und induziert. schafteten 2015 einen Umsatz von etwas über 314 Mrd. Euro und beschäftigten rund 2,2 Mio. Menschen.33 Transportleistung Moderne Volkswirtschaften sind hochgradig arbeitsteilig Die Herstellung von Fahrzeugen für den Straßenverkehr und vielfältig verflochten, was zu einem hohen Transport- spielt eine herausragende Rolle für deutsche Volkswirt- bedarf führt. Gerade Deutschland, in der Mitte Europas schaft und Industrie. 2016 hatte sie über 828.000 Be- und mit hohem Transitverkehr, ist auf ein leistungsfähiges schäftigte, die einen Umsatz von fast 407 Mrd. Euro Verkehrssystem angewiesen. Dies gilt besonders für sei- erwirtschafteten. Hinzu kommen noch ca. 120.000 Be- ne Industrie mit ihren tiefen Wertschöpfungsketten. Die schäftigte der deutschen Eisenbahnindustrie und des Vorleistungs- und Zwischenprodukte müssen zu Investiti- Flugzeugbaus. Zusammen mit den Zulieferbranchen ist ons- und Konsumgüterproduzenten transportiert und die die Fahrzeugherstellung hinsichtlich Wertschöpfung und erzeugten Waren und Güter vielfach exportiert werden. Beschäftigung das tragende Element der deutschen In- dustrie. Rechnet man noch die Bereiche hinzu, die rund Die entstehenden Transportleistungen sind enorm. Man um den bestehenden Fahrzeugbestand und die Ver- kann darüber streiten, ob der erreichte Grad der Arbeits- kehrsträger tätig sind, kann von über vier Millionen Be- teilung, der in der Regel mit einer zunehmenden räum- schäftigten ausgegangen werden. Tabelle 1 macht diese lichen Trennung der einzelnen Wertschöpfungsprozesse Zusammenhänge deutlich. einhergeht, zu weit getrieben wurde. Verkehrspolitisch betrachtet haben die Outsourcing- und Verlagerungs- Jedoch berücksichtigen die dargestellten Beschäf- prozesse mehr Verkehr bewirkt. Eine nachhaltige Ver- tigtenzahlen nicht die indirekten und induzierten Be- kehrswende muss deshalb sicherlich auch dafür sorgen, schäftigungseffekte des Clusters „Verkehr“.34 Zahlreiche Verkehr zu vermeiden – durch intelligente Lenkungsins- Branchen, etwa die Stahl- und Chemieindustrie oder die trumente und eine bessere Raumordnungspolitik, die re- Kunststoffverarbeitung, aber auch viele Dienstleistungs- gionale und örtliche Wertschöpfungsprozesse stärkt. branchen, weisen enge Verbindungen zu den Fahrzeug- herstellern, den Erstellern von Verkehrsinfrastruktur und Sie darf jedoch nicht die heute bestehenden und funk- den Verkehrsdienstleistern auf. Diese Branchen sind oft in tionierenden industriellen Wertschöpfungsketten in hohem Maße, wenn auch in unterschiedlicher Stärke, von Deutschland gefährden. Mögliche Maßnahmen müssen der Fahrzeugproduktion abhängig. vorab auf ihre Auswirkungen auf die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit geprüft werden. 32 Unter Cluster „Verkehr“ werden hier alle wirtschaftlichen Tätigkeiten verstanden, die räumliche Mobilität ermöglichen. 33 Destatis 2015; BMWi geht von ca. 1,7 Mio. Beschäftigten im Verkehrssektor aus: BMWi 2017 34 Es fehlen hier beispielsweise der Wirtschaftszweig Mineralölverarbeitung und der Großhandel mit Mineralölerzeugnissen, weil diese nicht nur dem Cluster „Verkehr“ zuliefern, sondern auch anderen Wirtschaftszweigen, z. B. Chemie.
Die Verkehrswende nachhaltig steuern – Acht Thesen aus industriegewerkschaftlicher Sicht 19 Tabelle 1: Beschäftigung und Wertschöpfung des Verkehrssektors Bruttowertschöp- Beschäftigte, Teilbereich fung in Mrd. Euro, 2016 2016 Kraftwagen und Kraftwagenteile 844.334 107.044 Sonstige Fahrzeuge (Schienen- und Luftfahrzeuge sowie Spezialfahrzeuge) 121.170 12.782 Bau von Straßen und Bahnverkehrstrecken, Brücken- und Tunnelbau 74.690 5.651 Handelsleistungen mit KFZ, Instandhaltung und Reparatur KFZ 862.809 44.127 Einzelhandel mit Motorenkraftstoffen 30.497 5.453 Landverkehrs- und Transportleistungen (ohne Rohrfernleitungen) 933.268 72.904 Schifffahrt 31.787 4.259 Luftfahrtleistungen 65.958 3.312 Lagereileistungen, sonstige Dienstleistungen für den Verkehr 753.431 41.430 Post-, Kurier- und Expressdienstleistungen 544.333 15.604 Vermietung von Kraftfahrzeugen 33.000 6.617 Summe 4.295.277 307.113 Quelle: Eigene Berechnungen nach Destatis 2018c; 2018d Ältere Input-Output-Analysen für die Fahrzeugindustrie und ihre Zulieferer vor gravierenden Herausforderungen: ergaben für die mittelbaren Beschäftigungseffekte einen Internationale und europäische Klimaschutzabkommen Faktor von 2,2.35 Wendet man diesen Faktor an, dürften erfordern emissionsärmere Antriebstechnologien, der in Deutschland etwa 2 Mio. weitere Arbeitsplätze, somit ökologisch bedingte Strukturwandel in der Branche steht insgesamt über 3 Mio. Arbeitsplätze, direkt, indirekt oder damit unmittelbar bevor. In den Segmenten Personen- induziert von der Fahrzeugproduktion abhängig sein.36 Es kraftfahrzeuge und leichte Nutzfahrzeuge werden sich spricht einiges dafür, dass der Faktor durch die Auslage- allmählich batteriegetriebene Antriebe durchsetzen (The- rungsprozesse der Fahrzeughersteller an die Zulieferer se 5), deren Herstellung mit deutlich weniger Komponen- noch weiter gestiegen sein dürfte. ten und Aufwand möglich ist (Tabelle 2). Zudem spielt der Fahrzeugsektor eine große Rolle für die Damit dürften Teile der Wertschöpfung und Beschäfti- Innovationsfähigkeit Deutschlands. Die Fahrzeugherstel- gung im Bereich der Herstellung von Verbrennungsmo- ler wenden viel für Forschung und Entwicklung auf und toren schon kurzfristig unter Druck geraten. Laut einer haben diese Ausgaben in den letzten Jahren überpropor- aktuellen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Be- tional zu anderen Branchen gesteigert. Im Jahr 2016 la- rufsforschung (IAB)38 zu den Beschäftigungseffekten einer gen die FuE-Aufwendungen bei insgesamt 21,9 Mrd. Euro, Elektrifizierung des Verkehrs ist kurz- und mittelfristig ein was etwa ein Drittel der gesamten unternehmerischen Netto-Beschäftigungszuwachs zu erwarten. Dies ergibt FuE-Ausgaben ausmacht. Es arbeiteten 114.000 Beschäf- sich durch die notwendigen Investitionen der Autobran- tigte der Fahrzeughersteller in den Bereichen Forschung che, die Bauinvestitionen in die Ladeinfrastruktur und die und Entwicklung.37 Neuausrüstung des Stromnetzes. Längerfristig könnten aber die Beschäftigungseffekte einer Elektrifizierung des Neue Wertschöpfung, Verkehrsmuster und Geschäfts- Verkehrs negativ ausfallen, insbesondere wenn beispiels- modelle weise größere Teile der Wertschöpfung – z. B. die Batte- Durch die aktuell weltweit gute und langandauernde Kon- rieherstellung – ins Ausland verlegt werden. junktur sind im deutschen Automobilbau die Umsatz- und Beschäftigungszahlen in den letzten Jahren kontinuier- lich gewachsen. Dennoch stehen die Fahrzeugindustrie 35 Legler et al. 2009 36 Rechnet man die Beschäftigtenzahlen der Hersteller der Schienenfahrzeuge, Luftfahrzeuge und Schiffe dazu, fällt die Beschäftigung noch höher aus. 37 Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e. V. 2017 38 IAB 2018
20 Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE Tabelle 2: Technologische Veränderungen im Fahrzeugbau durch die Elektromobilität Was fällt weg? Was wird stark verändert? Was kommt hinzu? - Verbrennungsmotor mit - Getriebe - Elektromotor und weitere Motorblock, Kolben, Dichtungen, - Radaufhängung Antriebssysteme Ventilen, Nockenwelle, Ölwanne, - Kraftübertragung - Batteriesystem mit Akkumulator, Ölfilter, Lager etc. - Klimaanlage/Heizung Leistungselektronik, Batterie- - Einspritzanlage - Kühlwasserpumpe managementsystem, Ladegerät - Abgasanlage - Wärmedämmung (Plug-In), DC/DC-Wandler - Tanksystem - Kupplung - Nebenaggregate wie Ölpumpe, Turbolader, Lichtmaschine Quelle: Diez 2017 Auch die Digitalisierung verändert traditionelle Wert- Antriebe und Produktivitätssteigerungen bis 2030 zwi- schöpfungsketten und Geschäftsmodelle. Zunehmend schen 74.000 und 125.000 Arbeitsplätze verloren gehen finden assistenzbasierte und teilautonome Fahrsysteme könnten. Dabei sind zwei Drittel des Arbeitsplatzabbaus Eingang in die Fahrzeugtechnik. Werden sie untereinander auf Produktivitätssteigerungen zurückzuführen und ein vernetzt und mit standortbasierten Leitsystemen kombi- Drittel auf den veränderten Antrieb.40 Auch die oben zi- niert, können Fahrzeuge und Fahrzeugflotten effizienter tierte IAB-Studie geht längerfristig von knapp 114.000 gelenkt und einzelne Fahrzeuge (teilautonom) bewegt Arbeitsplätzen (davon 83.000 direkt im Fahrzeugbau) aus, werden. Car-Sharing und neue Mobilitätskonzepte wie die bis 2035 durch die Umstellung auf Elektrofahrzeuge Ride-Pooling (bspw. Uber oder das von VW entwickelte verloren gehen könnten. Konzept Moia) wurden auch erst durch die Digitalisierung möglich. Die deutschen und europäischen Fahrzeughersteller sind also sowohl aus wirtschaftlichen als auch arbeits- Diese durch die Digitalisierung ermöglichte informatori- politischen Gründen dringend aufgefordert, die neuen sche Vernetzung und Elektrifizierung der Fahrzeuge er- Technologien (Hard- und Software) und Mobilitätsdienst- höht den Wertschöpfungsanteil von Software, Elektronik39 leistungen stärker in ihre Wertschöpfungsketten zu und elektrischen Komponenten deutlich. Noch ist nicht integrieren. Es stellt sich auch die Frage, ob die Fahrzeug- geklärt, ob deutsche Fahrzeughersteller und Zulieferer hersteller nicht die für die neuen Mobilitätsdienstleistun- diese neuen Komponenten erbringen werden. Bislang gen notwendigen Plattformen betreiben sollten. sind sie in der klassischen Fahrzeugherstellung weltweit mit an der Spitze, selbst bei den heute schon in Fahr- Die deutsche Automobilindustrie besitzt die technologi- zeugen vorhandenen elektronischen und teildigitalisier- schen Potenziale sowie die Innovationskraft, diese um- ten Systemen. Treiber dieser neuen Entwicklung sind weltpolitischen und technologischen Herausforderungen aber nicht deutsche und europäische Fahrzeughersteller, zu meistern. Allerdings muss sie bereit sein, ihre defensive sondern amerikanische Technologieunternehmen sowie Strategie zur Verhinderung notwendiger Klimaschutz- zunehmend auch chinesische Konzerne. Wettbewerber und Umweltregulierung aufzugeben. Deutsche Fahrzeug- aus anderen Wirtschaftszweigen, wie Apple und Google, hersteller werden ihre starke Stellung – sowohl auf dem drängen mit neuen internetbasierten Geschäftsmodellen europäischen als auch auf dem internationalen Markt – in den Mobilitätssektor. Es ist möglich, dass sich diese nur behaupten können, wenn sie die ökologischen und Unternehmen einen wachsenden Wertschöpfungsanteil wettbewerblichen Herausforderungen offensiv angehen. an der Fahrzeugproduktion sichern. Dafür müssen sie ihre Geschäftsmodelle und Wertschöp- fungsketten modernisieren und erweitern. Die fortschreitende Digitalisierung durchdringt auch die interne Organisation der Unternehmen. Die damit erziel- Angesichts der überragenden wirtschaftlichen Bedeutung ten Produktivitätsfortschritte erhöhen den Druck auf die des Fahrzeugsektors und der Verkehrsdienstleistungen Beschäftigung. Die von der IG Metall angestoßene Stu- für die deutsche Volkswirtschaft muss die notwendige die ELAB 2.0 kommt zum Ergebnis, dass durch veränderte Transformation des Verkehrssystems entsprechend vor- 39 Bspw. Sensoren, die für das (teil)autonome und assistenzgestützte Fahren erforderlich sind. 40 IAO et al. 2018
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