REPORT - Hans-Böckler-Stiftung
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REPORT WSI-Report Nr. 32, 10/2016 LEIHARBEIT UND WERKVERTRÄGE Das aktuelle Reformvorhaben der Bundesregierung Nadine Absenger, Andreas Priebe, Helge Baumann, Marc Amlinger, Wolfram Brehmer, Karin Schulze Buschoff, Daniel Seikel, Thorsten Schulten, Alfred Kleinknecht AUF EINEN BLICK Die Zunahme und der Missbrauch von Leiharbeit Der Kabinettsbeschluss der Bundesregierung vom und Werkverträgen haben die aktuelle Bundes- 1.6.2016 enthält viele erfreuliche Regelungen. Al- regierung veranlasst, in ihrem Koalitionsvertrag lerdings geht er in vielen Punkten nicht weit genug. von November 2013 Reformen von Leiharbeit und Die seitens der Bundesregierung angedachten Re- Werkverträgen aufzunehmen. Rechtswidrige Ver- formen sind nicht geeignet, das im Koalitionsver- tragskonstruktionen bei Werkverträgen zulasten trag festgeschriebene Ziel der Rückführung von von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sol- Leiharbeit auf ihre Kernfunktionen und die Eindäm- len verhindert und Leiharbeit auf ihre Kernfunktion mung missbräuchlicher Vertragskonstruktionen zu zurückgeführt werden, heißt es im Koalitionsver- erreichen. Das bevorstehende Gesetzgebungsver- trag von CDU/CSU und SPD. Die Umsetzung die- fahren sollte daher genutzt werden, den Gesetzent- ses Vorhabens gestaltet sich schwierig und wird wurf der Bundesregierung entsprechend weiter zu kontrovers diskutiert. Einen ersten Referentenent- entwickeln. Dafür ist im Bereich der Leiharbeit vor wurf zur Umsetzung des Koalitionsvorhabens leg- allem eine wirksame Begrenzung der Höchstüber- te das Bundesministerium für Arbeit und Soziales lassungsdauer sowie eine schnellstmögliche An- am 16.11.2015 vor, zog diesen jedoch nur kurze wendung von equal pay und equal treatment von Zeit später aufgrund massiver Kritik der Sozialpart- Nöten; im Bereich von Werk- und freien Dienstver- ner zurück. Weitere Referentenentwürfe des Minis- trägen sind u.a. Kriterien zur Abgrenzung von miss- teriums folgten am 17.2.2016 und 14.4.2016. Am bräuchlichem und ordnungsgemäßem Fremdper- 1.6.2016 hat die Bundesregierung einen Kabinetts- sonaleinsatz erforderlich. beschluss zur Reform von Leiharbeit und Werkver- trägen vorgelegt, der nun das offizielle Gesetzge- bungsverfahren durchläuft.
INHALTSVERZEICHNIS Auf einen Blick 1 Zusammenfassung der geplanten wesentlichen Änderungen und Bewertung durch die Autoren des vorliegenden Reports 3 I. Leiharbeit und Werkverträge - Einleitung 6 II. Inhalte der Koalitionsvereinbarung in Sachen Leiharbeit und Werkverträge 7 III. Der Kabinettsentwurf der Bundesregierung vom 1.6.2016 zur Reform von Leiharbeit und Werkverträgen 8 1. Inhalte des Kabinettsentwurfs vom 1.6.2016 8 2. Verschlechterungen im Kabinettsentwurf vom 1.6.2016 im Laufe des Entstehungsprozesses 9 a) Mehr Möglichkeiten der Verlängerung der Höchstüberlassungszeiten 9 b) Mehr Möglichkeiten der Abweichung von equal pay 10 c) Andere Definition von equal pay 10 d) Kein Kriterienkatalog zur Abgrenzung von ordnungsgemäßem und missbräuchlichem Fremdpersonaleinsatz 10 e) Kürzung der ab Inkrafttreten des Gesetzes zu berücksichtigenden Überlassungszeiten 11 f) Verschlechterung bei Berücksichtigung von Schwellenwerten des BetrVG 11 g) Abweichungen von den Vereinbarungen des Koalitionsvertrages 11 IV. Konkrete Bewertung des Kabinettsentwurfs vom 1.6.2016 zur Reform von Leiharbeit und Werkverträgen 11 1. Beschränkung der Höchstüberlassungsdauer auf grundsätzlich 18 Monate 12 a) Arbeitnehmer- oder arbeitsplatzbezogene Beurteilung 12 b) Verlängerungsmöglichkeiten durch Tarifvertrag sowie für nicht tarifgebundene Betriebe und Kirchen 14 2. Equal pay bei tariflicher Regelung grundsätzlich nach 9 Monaten 15 3. Nichtanwendbarkeit des AÜG auf tarifliche Personalgestellung im öffentlichen Dienst 18 4. Klarstellung Informations- und Unterrichtungsrechte der Betriebsräte im Kontext Leiharbeit und Werkverträge 19 5. Mitzählen von Leiharbeitnehmern bei Schwellenwerten der Mitbestimmung 20 6. Sanktionen - Fiktion eines Arbeitsverhältnisses zum Entleiher und Bußgelder 20 7. Verbot des Einsatzes von Leiharbeitnehmern als Streikbrecher 21 8. Übergangsfristen – keine Berücksichtigung von vor dem 1.1.2017 liegender Einsatzzeiten 22 9. Die Neuregelungen zur Bekämpfung des Missbrauchs von Werkverträgen 22 a) Verbreitung von Werkverträgen/freien Dienstverträgen in Deutschland 22 b) Die Bewertung des neuen § 611a BGB zur Abgrenzung von ordnungsgemäßem und missbräuchlichem Fremdpersonaleinsatz 24 c) Weiteres im Kontext Werkverträge 25 V. Fazit 26 Anhang 1 - Weitere Empirie zu Leiharbeit in Deutschland 27 1. Verbreitung und Entwicklung von Leiharbeit allgemein 27 2. Nutzung von Leiharbeit in Betrieben mit Betriebsrat 28 3. Leiharbeit – Beschäftigung unter Qualifikationsniveau 30 4. Einkommen von Leiharbeitnehmern 30 Anhang 2 31 1. Derzeitige gesetzliche und tarifliche Regelungen der Leiharbeit in Deutschland 31 2. Wichtige Gerichtsurteile in Sachen Leiharbeit 34 Anhang 3 36 Weitere Empirie zu Werkverträgen in Deutschland 36 WSI-Report Nr. 32 · 10/2016 · Seite 2
ZUSAMMENFASSUNG DER GEPLANTEN WESENTLICHEN ÄNDERUNGEN UND BEWERTUNG DURCH DIE AUTOREN DES VORLIEGENDEN REPORTS Thema Inhalt Kabinettsbeschluss vom 1.6.2016 Aus Autoren-Sicht notwendige Änderungen Höchstüberlassungsdauer grundsätzliche Begrenzung der Höchstüber- Begrenzungen der Höchstüberlassungsdauer lassungsdauer auf 18 Monate wirken sich nur für Minderheit der Leiharbeitnehmer und Unternehmen aus, da gut die Hälfte der Leiharbeitsverhältnisse Abweichungen durch Tarifverträge der kürzer als 3 Monate ist Einsatzbranche möglich für Höchstüberlassungsdauer ist auf den im Geltungsbereich eines entsprechenden Einsatzarbeitsplatz und nicht auf den zu Tarifvertrages Abweichungen bei tariflicher überlassenden Leiharbeitnehmer abzustellen Öffnungsklausel in Betriebs- oder Dienst- (kein Einsatz auf Dauerarbeitsplätzen) vereinbarungen für tarifgebundene Entlei- her möglich Möglichkeiten der Verlängerung der Höchstüberlassungsdauer für nicht für nicht tarifgebundene Entleiher im tarifgebundene Entleiher und Kirchen/ Geltungsbereich eines entsprechenden Religionsgesellschaften ist abzulehnen Tarifvertrages Übernahme der tariflichen Abweichungen in Betriebs- oder Dienst- vereinbarungen und bei tariflicher Öff- Anrechnung möglichst aller früheren nungsklausel Abweichungen bis zu einer Einsatzzeiten bei demselben Entleiher auf Höchstüberlassungsdauer von 24 Monaten Höchstüberlassungsdauer, mindestens in Betriebs- oder Dienstvereinbarungen jedoch jene, die nicht länger als 6 Monate möglich zurückliegen abweichende Regelungen auch für Kirchen zudem Anrechnung von Einsatzzeiten und Religionsgesellschaften (inklusive ihrer bei anderen Entleihern in demselben karitativen und erzieherischen Einrichtun- Unternehmen bzw. Konzern nötig gen) möglich Anrechnung früherer Einsatzzeiten bei demselben Entleiher auf Höchstüberlas- sungsdauer, wenn die Zeiten nicht länger als drei Monate zurückliegen WSI-Report Nr. 32 · 10/2016 · Seite 3
equal pay und equal treatment grundsätzlich ab ersten Tag des Einsatzes keine Abweichungen von equal pay und zu gewähren equal treatment durch nicht tarifgebundene Verleiher Abweichungen durch Tarifvertrag der Ver- leihbranche möglich, hinsichtlich equal pay tarifliche Abweichungen begrenzt handhaben bis zu 9 Monaten, bis zu 15 Monaten, wenn und Gesamtschutz gewährleisten tarifliche Regelung nach sechswöchiger Einsatzzeit stufenweise Heranführung an equal pay vorsieht Abstellen auf tarifliches Entgelt genügt für equal pay nicht; es müssen alle Entgeltbe- standteile zzgl. Sachleistungen berücksichtigt im Geltungsbereich eines abweichenden werden Tarifvertrages können nicht tarifgebundene Arbeitgeber auf abweichende Tarifverträge Bezug nehmen Anrechnung möglichst aller früheren Einsatz- zeiten bei demselben Entleiher auf equal pay, mindestens jedoch jene, die nicht länger als 6 Vermutung des Vorliegens von equal pay, Monate zurückliegen wenn Leiharbeitnehmer das für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entlei- hers vorgesehene tarifliche Arbeitsentgelt zudem Anrechnung von Einsatzzeiten bei an- oder in Ermangelung eines solchen ein für deren Entleihern in demselben Unternehmen vergleichbare Arbeitnehmer in der Einsatz- bzw. Konzern nötig branche geltendes tarifliches Arbeitsentgelt erhält Anrechnung früherer Einsatzzeiten bei demselben Entleiher auf Wartezeit für equal pay, wenn die Zeiten nicht länger als drei Monate zurückliegen Verbot des Kettenverleihs anders als bisheriges AÜG jetzt Kettenver- Regelung ist um Fiktion eines Arbeitsverhält- leih verboten nisses zum Entleiher zu ergänzen; Ordnungs- widrigkeit nach § 16 AÜG genügt für Verstoß gegen dieses Verbot nicht Nichtanwendbarkeit des AÜG auf Perso- Nichtanwendbarkeit des AÜG für Bereich AÜG muss immer subsidiär gelten, wenn nalgestellung im öffentlichen Dienst der tariflich geregelten Personalgestellung der im Rahmen der Personalgestellung im im öffentlichen Dienst vorgesehen öffentlichen Dienst vermutete Schutz nicht gewährleistet ist Nichtanwendbarkeit des AÜG zudem vorgesehen, wenn juristische Personen keine Herausnahme vom Anwendungsbereich des öffentlichen Rechts die Tarifverträge für juristische Personen des öffentlichen des öffentl. Dienstes oder Regelungen der Rechts, die Tarifverträge des öffentl. Dienstes öffentl.-rechtl. Religionsgemeinschaften oder Regelungen der öffentl.-rechtl. Religions- anwenden gemeinschaften anwenden Mitbestimmung von Betriebsräten Klarstellung der Informations- und Unter- Klarstellung genügt nicht; Schaffung von richtungsrechte der Betriebsräte in §§ 80, wirksamen Mitbestimmungsrechten hinsicht- 92 BetrVG aufgenommen lich Fremdpersonaleinsatz erforderlich, so z.B. im Bereich der §§ 87, 92, 92a, 99, 111 BetrVG Mitzählen von Leiharbeitnehmern bei Mitzählen von Leiharbeitnehmern bei allen Leiharbeitnehmer müssen auch bei § 112a Schwellenwerten der Betriebsverfas- Schwellenwerten des BetrVG mit Ausnahme BetrVG mitgezählt werden, da § 112a BetrVG sung und Unternehmensmitbestimmung des § 112a BetrVG vorgesehen mit § 111 BetrVG vergleichbare Fälle erfasst Mitzählen von Leiharbeitnehmern bei allen Schwellenwerten der Unternehmensmitbe- stimmung vorgesehen, wenn Einsatzdauer 6 Monate übersteigt WSI-Report Nr. 32 · 10/2016 · Seite 4
Verbot des Einsatzes von Leiharbeitneh- Verbot des Einsatzes von Leiharbeitneh- uneingeschränktes Verbot des Einsatzes von mern als Streikbrecher mern als Streikbrecher in Betrieben, die Leiharbeitnehmern als Streikbrecher not- unmittelbar von Arbeitskämpfen betroffen wendig, da ansonsten Beweisprobleme und sind, vorgesehen Rechtsunsicherheiten gegeben sind Verbot des Streikbrechereinsatzes be- steht nicht, wenn Entleiher sicherstellt, dass Leiharbeitnehmer keine Tätigkeiten übernimmt, die bisher von Arbeitnehmern erledigt wurden, die sich im Arbeitskampf befinden oder die ihrerseits Tätigkeiten von Arbeitnehmern, die sich im Arbeitskampf befinden, übernommen haben Übergangsfristen bei Inkrafttreten der Nichtanrechnung von Einsatzzeiten, die Anrechnung aller auch vor dem 1.1.2017 Reform des AÜG vor dem 1.1.2017 (angedachtes Datum des erfolgten Einsatzzeiten auf Höchstüberlas- Inkrafttretens der Reform) liegen, auf dann sungsdauer und Wartezeit für equal pay bei geltende Höchstüberlassungszeiten und Inkrafttreten der Reformen erforderlich Wartezeiten für equal pay Sanktionen bei Verstößen gegen das Fiktion eines Arbeitsverhältnisses zum darüber hinaus Fiktion Arbeitsverhältnis bei AÜG Entleiher künftig auch für Fälle der Über- Verstoß gegen Verbot des Streikbrecherein- schreitung der Höchstüberlassungsdauer, satzes erforderlich bei Verstößen gegen equal pay und equal treatment und bei Fällen verdeckter Arbeit- nehmerüberlassung (Scheinwerkverträge) zudem Fiktion Arbeitsverhältnis zum Entleiher vorgesehen, wenn Leiharbeitnehmer nicht bei Kettenverleih erforderlich widerspricht zudem Entzug der Verleiherlaubnis nun auch bei Überschreitung der ab Inkrafttre- ten des Gesetzes geltenden Höchstüberlas- sungsdauer zudem entsprechende Erweiterung des Ordnungswidrigkeitenkataloges des § 16 AÜG vorgesehen Kriterien zur Abgrenzung von miss- neuer § 611a BGB vorgesehen, der De- Wiederaufnahme des im Referentenentwurf bräuchlichem und ordnungsgemäßen finition des Arbeitnehmers enthält ohne des BMAS vom 16.11.2015 zur Abgrenzung Fremdpersonaleinsatz Kriterienkatalog zur Abgrenzung von von missbräuchlichem und ordnungsgemäßem missbräuchlichem und ordnungsgemäßem Fremdpersonaleinsatz vorgesehenen Kriterien- Fremdpersonaleinsatz kataloges des § 611a BGB erforderlich zudem Erweiterung des § 611a BGB um wi- derlegbare Vermutungsregelung bei Vorliegen einer bestimmten Anzahl der dort festge- schriebenen Kriterien und Beweislastumkehr erforderlich WSI-Report Nr. 32 · 10/2016 · Seite 5
I. LEIHARBEIT UND WERKVERTRÄGE - den.5 Gut die Hälfte der 4,4 Millionen Selbständigen in Deutschland ist soloselbständig; Kennzeichen EINLEITUNG1 von Soloselbständigkeit sind häufig eine schlech- te soziale Absicherung und niedrige Einkommen.6 Leiharbeit zählt zu den atypischen Beschäftigungs- 28% der Selbständigen sind scheinselbständig.7 formen. Nach Auffassung des deutschen Gesetzge- Gesetzliche Regelungen zu Werkverträgen finden bers und der Wirtschaft wird sie benötigt, um Per- sich vorrangig in den §§631ff. des Bürgerlichen Ge- sonalbedarfe flexibel an schwankende Auftrags- setzbuches (BGB). Freie Dienstverträge sind in den lagen anzupassen.2 In den letzten zwanzig Jahren §§611ff., 621, 627ff. BGB geregelt. hat der Gesetzgeber die Möglichkeiten des Einsat- zes von Leiharbeitnehmern wiederholt mit der Fol- Die Zunahme von Leiharbeit sowie die missbräuch- ge erweitert3, dass mittlerweile rund 951.000 Ar- liche Handhabung von Leiharbeit und Werkverträ- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland gen, aber auch die negativen Auswirkungen dieser als Leiharbeitnehmer beschäftigt sind4 – oft mit Ar- Beschäftigungsformen für die von ihnen betroffe- beitsbedingungen, die weit hinter denen von Be- nen Beschäftigten und das Stammpersonal, haben schäftigten in Normalarbeitsverhältnissen zurück- die derzeitige Bundesregierung veranlasst, in ihrem bleiben. Die Leiharbeitsbranche ist seit den 1970er Koalitionsvertrag „Deutschlands Zukunft gestalten“ Jahren kontinuierlich gewachsen. Vereinzelte Rück- für die 18. Legislaturperiode Reformen von Leihar- gänge waren neben saisonalen Schwankungen le- beit und Werkverträgen aufzunehmen. Demnach diglich während verschiedener Wirtschaftskrisen soll Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen zu beobachten. Mittlerweile arbeiten etwa 3 % vermieden werden; rechtswidrige Vertragskons- aller abhängig Beschäftigten als Leiharbeitnehmer. truktionen bei Werkverträgen zulasten von Arbeit- Gesetzlich geregelt ist Leiharbeit in Deutschland nehmerinnen und Arbeitnehmern sollen verhindert im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG), das und Leiharbeit auf ihre Kernfunktion zurückgeführt im Wesentlichen auf den europäischen Richtlinien werden. Die Passagen im Koalitionsvertrag zur Re- 91/383/EWG und 2008/104/EG basiert. form von Werkverträgen und Leiharbeit sind knapp Werkverträge waren lange Zeit kaum Gegen- formuliert. Die Umsetzung des Vorhabens – wie stand politischer Diskussionen. Klassische Werk- die seit Monaten anhaltenden Konflikte um die vor- verträge wie der Bau eines Hauses, die Program- liegenden Gesetzentwürfe zeigen – gestaltet sich mierung einer Internetplattform oder die Reparatur schwierig; sie wird äußerst kontrovers diskutiert. von Sanitäranlagen waren und sind als Werkver- Einen ersten Referentenentwurf zur Umsetzung träge – ausgehend davon, dass soziale Mindest- des Koalitionsvorhabens zur Reform von Leiharbeit standards eingehalten werden – grundsätzlich un- und Werkverträgen legte das Bundesministerium für problematisch. Kritisch hinterfragt werden Werk- Arbeit und Soziales (BMAS) am 16.11.2015 vor, zog verträge in Deutschland jedoch vermehrt, seit diesen jedoch nur kurze Zeit später aufgrund von Ein- Unternehmen in den letzten Jahren mehr und mehr wänden der Sozialpartner und fehlender Konsensfä- Aufgaben von Stammbeschäftigten an Werkver- higkeit zurück. Weitere Referentenentwürfe folgten tragsunternehmen (häufig Onsite-Werkverträge ge- am 17.2./14.4.2016.8 Am 1.6.2016 hat die Bundesre- nannt) outsourcen oder an prekär tätige Soloselb- gierung einen Kabinettsbeschluss zur Ausgestaltung ständige vergeben. Problematisch sind auch Verträ- des Reformvorhabens Leiharbeit und Werkverträge ge, die offiziell als Werk- oder freie Dienstverträge vorgelegt, der nun das offizielle Gesetzgebungsver- bezeichnet werden, hinter denen sich jedoch ver- deckte Leiharbeit oder Scheinselbständigkeit ver- birgt. Untersuchungen zeigen, dass Werk- und freie Dienstverträge zunehmend als Mittel der Kostener- sparnis, als Ersatz für Stammbeschäftigte und zur Umgehung von Mitbestimmung eingesetzt wer- 5 Zu problematischen Werkvertragskonstellationen und Substitution von Stammpersonal durch Werk- und freie Dienstverträge siehe Manske, A./Scheffelmeier, T., Werk- verträge, Leiharbeit, Solo-Selbstständigkeit – Eine Be- standsaufnahme, WSI-Diskussionspapier, Nr. 195, Januar 1 Der besseren Lesbarkeit wegen wurde im Folgenden weit- 2015; siehe auch Obermeier, T./Sell, S., Werkverträge ent- gehend auf ein Gendering verzichtet. lang der Wertschöpfungskette. Zwischen unproblemati- 2 Siehe dazu z.B. Begründung des Referentenentwurfs des scher Realität und problematischer Instrumentalisierung, BMAS für das Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerü- Forschungsförderung Working Paper Nr. 12, April 2016. berlassungsgesetzes und anderer Gesetze vom 17.2.2016, 6 Schulze Buschoff, Soloselbständige in Deutschland – Aktu- S. 12. elle Reformoptionen, WSI-Policy-Brief Nr. 4, 03/2016. 3 Eine Auflistung der entsprechenden Reformen siehe z.B. 7 Studie der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft EY (Ernst Haller, P./Jahn, E. J., Zeitarbeit in Deutschland – Hohe Dy- & Young) (400 Unternehmen und 2.455 Erwerbstätige be- namik und kurze Beschäftigungsdauern, in: IAB-Kurzbe- fragt), siehe dazu http://www.ey.com/DE/de/Newsroom/ richt 13/2014, S. 2; Bundesagentur für Arbeit, Der Arbeits- News-releases/EY-20151217-etwa-jeder-vierte-selbstndi- markt in Deutschland – Zeitarbeit – Aktuelle Entwicklungen, ge-arbeitet-scheinselbstndig. Nürnberg, Juli 2016, S. 5. 8 Siehe zu all diesen drei Entwürfen: http://www.portal-sozi- 4 Bundesagentur für Arbeit, Der Arbeitsmarkt in Deutschland – alpolitik.de/recht/gesetzgebung/gesetzgebung-18-wahlpe- Zeitarbeit – Aktuelle Entwicklungen, Nürnberg, Juli 2016, S. 4. riode/aueg-und-werkvertraege. WSI-Report Nr. 32 · 10/2016 · Seite 6
fahren passieren muss.9 II. INHALTE DER KOALITIONSVER- Die vorliegenden Gesetzentwürfe haben die Auto- EINBARUNG IN SACHEN LEIHARBEIT ren des vorliegenden Reports zum Anlass genom- UND WERKVERTRÄGE men, sich mit empirischen Befunden zu Leihar- beit und Werkverträgen sowie mit Bewertungen Unter der Überschrift „Missbrauch von Werkver- des Kabinettsentwurfs der Bundesregierung vom tragsgestaltungen verhindern und Arbeitnehmerü- 1.6.2016 an den Diskussionen um die Umsetzung berlassung weiterentwickeln“ finden sich im aktu- des Koalitionsvorhabens zur Reform von Leiharbeit ellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung folgen- und Werkverträgen zu beteiligen. de Reformvorhaben:11 Leiharbeit und prekäre bzw. missbräuchliche Werkvertragskonstellationen sind in Deutschland In Sachen Leiharbeit weiterentwickeln: weit verbreitet. Sie haben erhebliche negative Aus- 1. Einführung einer gesetzlichen Höchstüberlassungs- wirkungen für die von ihnen betroffenen Beschäftig- dauer von 18 Monaten; Abweichungen durch Ta- ten, die Mitbestimmung in den Betrieben und die So- rifvertrag oder aufgrund Tarifvertrages in Betriebs- zialkassen.10 oder Dienstvereinbarungen sollen zulässig sein. Ob der Kabinettsentwurf der Bundesregierung 2. Verpflichtung der Zahlung von equal pay nach vom 1.6.2016 geeignet ist, das im Koalitionsvertrag spätestens 9 Monaten (d.h. Gleichstellung von festgeschriebene Ziel der Rückführung von Leihar- Leiharbeitnehmern mit vergleichbaren Stamm- beit auf ihre Kernfunktionen und die Eindämmung beschäftigten des Entleihers hinsichtlich des Ar- missbräuchlicher Vertragskonstruktionen zu errei- beitsentgelts). chen, lassen die Ausführungen in diesem Report 3. Einführung des Verbots des Einsatzes von Leih- bezweifeln. Der Kabinettsbeschluss der Bundes- arbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern als regierung vom 1.6.2016 enthält zahlreiche erfreu- Streikbrecher. liche Regelungen, jedoch geht er in vielen Punk- 4. Klarstellung, dass Leiharbeitnehmer bei den be- ten nicht weit genug. Das bevorstehende Gesetz- triebsverfassungsrechtlichen Schwellenwerten gebungsverfahren sollte daher genutzt werden, grundsätzlich zu berücksichtigen sind, sofern den Gesetzentwurf der Bundesregierung entspre- dies der Zielrichtung der jeweiligen Norm nicht chend weiter zu entwickeln. Insbesondere sind widerspricht. hierfür Schärfungen im Rahmen der Höchstüber- lassungsdauer, aber auch bei equal pay sowie hin- In Sachen Missbrauch von Werkvertragsgestaltun- sichtlich der Abgrenzung missbräuchlichen und gen verhindern: ordnungsgemäßen Fremdpersonaleinsatzes erfor- 1. Rechtswidrige Vertragskonstellationen zulasten derlich (siehe dazu die Zusammenfassung der aus der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen Sicht der Verfasser dieses Reports notwendigen verhindert werden. Reformen auf Seite 3ff.). 2. Die Prüftätigkeit der Kontroll- und Prüfinstanzen bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit soll kon- 9 Siehe zum Kabinettsbeschluss vom 1.6.2016 (Entwurf ei- zentriert, effektiver organisiert und mit ausrei- nes Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmerüberlas- chend Personal ausgestattet werden. sungsgesetzes und anderer Gesetze): http://www.bmas. de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Schwerpunkte/refe- 3. Informations- und Unterrichtungsrechte der Be- rententwurf-arbeitnehmerueberlassungsgesetz.pdf;jsessio triebsräte sollen sichergestellt und konkreti- nid=26393AACEBDF713D797E76CA596FFE52?__ siert werden; verdeckte Leiharbeit soll sanktio- blob=publicationFile&v=1. 10 Zu Verbreitung und Auswirkungen von Leiharbeit siehe niert und unerlaubter Arbeitnehmerüberlassung auch BT-Drs. 18/2363, BT-Drs. 18/7661; WSI-Datenbank gleichgestellt werden. Atypische Beschäftigung; Haller, P./Jahn, E., Hohe Dyna- 4. Zur Erleichterung der Prüftätigkeit der Behörden mik und kurze Beschäftigungsdauer, in: IAB-Kurzbericht 13/2014; Jahn, E./Weber, El, Zusätzliche Jobs, aber auch sollen die wesentlichen durch die Rechtspre- Verdrängung, in: IAB-Kurzbericht 2/2013; Grund et al., Be- chung entwickelten Kriterien für die Abgrenzung schäftigungsstruktur und Zufriedenheit von Zeitarbeitneh- von ordnungsgemäßem und missbräuchlichem mern in Deutschland, in: SOEPpapers 677/2014. Zu Auswirkungen und Verbreitung von Werkverträgen z.B. Fremdpersonaleinsatz gesetzlich niedergelegt Obermeier, T./Sell, S., Werkverträge entlang der Wert- werden. schöpfungskette. Zwischen unproblematischer Realität 5. Zudem soll der Arbeitsschutz für Werkvertrags- und problematischer Instrumentalisierung, Hans-Böckler- Stiftung Forschungsförderung Working Paper Nr. 12, April arbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer sicherge- 2016; Hertwig, M./Kirsch, J./Wirth, C., Werkverträge im stellt werden. Betrieb. Eine empirische Untersuchung, Hans-Böckler- Stiftung, Düsseldorf; Manske, A./Scheffelmeier, T., Werk- verträge, Leiharbeit, Solo-Selbstständigkeit – Eine Be- standsaufnahme, in: WSI Diskussionspapier 1/2015, Duisburg-Essen 2015; Klein-Schneider, H./Beutler, K., Werkvertragsunternehmen: Outsourcing auf dem Be- triebsgelände, in: WSI Mitteilungen 2/2013, S. 144-148; Giertz, J., Trendbericht Werkverträge. Handlungsmöglich- keiten beim Umgang mit Werkverträgen, Hans-Böckler- 11 Siehe dazu CDU/CSU und SPD, Koalitionsvertrag Deutsch- Stiftung, Report Nr. 18, Dezember 2015. lands Zukunft gestalten, November 2013, S. 8, 49f. WSI-Report Nr. 32 · 10/2016 · Seite 7
III. DER KABINETTSENTWURF DER können auch nicht tarifgebundene Entleiher von der Höchstüberlassungsdauer abweichende ta- BUNDESREGIERUNG VOM 1.6.2016 rifvertragliche Regelungen durch Betriebs- oder ZUR REFORM VON LEIHARBEIT UND Dienstvereinbarungen übernehmen. Zudem soll ermöglicht werden, dass in Fällen, in denen Ta- WERKVERTRÄGEN rifverträge der Entleihbranche entsprechende Öffnungsklauseln vorsehen, von der gesetzli- Am 1.6.2016 hat die deutsche Bundesregierung of- chen Höchstüberlassungsdauer von 18 Mona- fiziell ihren Kabinettsentwurf zur Reform von Leih- ten abweichende Regelungen in Betriebs- oder arbeit und Werkverträgen – bezeichnet als „Ent- Dienstvereinbarungen getroffen werden kön- wurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitneh- nen, bei nicht tarifgebundenen Entleihern bis merüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze“ zu einer Überlassungshöchstdauer von 24 Mo- – vorgelegt.12 naten (es sei denn, der Tarifvertrag sieht eine andere Höchstüberlassungsdauer vor). Länge- re Überlassungszeiten sollen auch in den Re- 1. Inhalte des Kabinettsentwurfs vom 1.6.2016 gelungswerken der Kirchen und der öffentlich- rechtlichen Religionsgemeinschaften (inklusive Der Kabinettsbeschluss enthält grob skizziert fol- ihrer karitativen und erzieherischen Einrichtun- gende Regelungen: gen) festgeschrieben werden können. –– Anders als das bisherige AÜG enthält der Kabi- –– Equal pay (gleiches Arbeitsentgelt) und equal nettsbeschluss eine Definition des Begriffs des treatment (wesentlich gleiche Arbeitsbedingun- Leiharbeitnehmers: „Arbeitnehmer werden zur gen) sollen für Leiharbeitnehmer laut Kabinetts- Arbeitsleistung überlassen, wenn sie in die Ar- entwurf – wie auch heute schon – ab dem ers- beitsorganisation des Entleihers eingegliedert ten Tag des Einsatzes beim Entleiher gelten. sind und seinen Weisungen unterliegen.“ Durch Tarifvertrag kann bei Einhaltung der für –– Unter anderem für den Bereich der tariflich gere- Leiharbeitnehmer geltenden gesetzlichen Min- gelten Personalgestellung im öffentlichen Dienst destentgelte – wie ebenfalls heute schon – zu- soll das AÜG künftig nicht mehr gelten. lasten der Leiharbeitnehmer abgewichen wer- –– Anders als bisher im AÜG geregelt, soll künf- den, bezüglich equal pay künftig begrenzt auf tig durch Aufnahme folgenden Satzes der so- 9 Monate, bis zu 15 Monaten, wenn die tarifli- genannte Kettenverleih verboten werden: „Die che Regelung nach einer Einarbeitungszeit von Überlassung von Arbeitnehmern ist nur zulässig, längstens sechs Wochen hinsichtlich des Ar- soweit zwischen dem Verleiher und dem Leihar- beitsentgelts eine stufenweise Heranführung beitnehmer ein Arbeitsverhältnis besteht.“ an equal pay vorsieht.13 Im Geltungsbereich ei- –– Der Kabinettsbeschluss sieht zudem vor, dass nes vom Gleichstellungsgrundsatz abweichen- die Überlassung von Leiharbeitnehmern in dem den Tarifvertrages sollen – wie ebenfalls heute Vertrag zwischen Verleiher und Entleiher künf- schon – nicht tarifgebundene Arbeitgeber und tig ausdrücklich als Arbeitnehmerüberlassung Arbeitnehmer die Anwendung der vom Gleich- zu bezeichnen ist. stellungsgrundsatz abweichenden tariflichen –– Der Kabinettsbeschluss konkretisiert zudem den Regelungen vereinbaren können. Zeiträume vor- bisher im AÜG verwendeten Begriff der „vorü- heriger Überlassungen durch denselben oder ei- bergehenden“ Überlassung von Leiharbeitneh- nen anderen Verleiher an denselben Entleiher mern dahingehend, dass künftig derselbe Leih- sind auf die Wartezeit von equal pay anzurech- arbeitnehmer nicht länger als 18 aufeinander nen, wenn zwischen den Einsätzen nicht mehr folgende Monate demselben Entleiher überlas- als drei Monate liegen. sen werden darf. Der Zeitraum vorheriger Über- –– In Fällen, in denen der Leiharbeitnehmer das für lassungen durch denselben oder einen ande- einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entlei- ren Verleiher an denselben Entleiher ist anzu- hers im Entleihbetrieb geschuldete tarifvertrag- rechnen, wenn zwischen den Einsätzen jeweils liche Arbeitsentgelt oder in Ermangelung ei- nicht mehr als drei Monate liegen. In einem Ta- nes solchen ein für vergleichbare Arbeitnehmer rifvertrag von Tarifvertragsparteien der Einsatz- in der Einsatzbranche geltendes tarifvertragli- branche können abweichende Höchstüberlas- ches Arbeitsentgelt erhält, soll laut Kabinettsbe- sungszeiten geregelt werden. Im Geltungsbe- schluss neuerdings vermutet werden, dass der reich eines Tarifvertrages der Einsatzbranche Leiharbeitnehmer hinsichtlich des Arbeitsent- 12 Siehe zum Kabinettsbeschluss der Bundesregierung vom 13 Eine vom equal pay- und equal treatment-Grundsatz ab- 1.6.2016 (Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Ar- weichende tarifliche Regelung gilt nicht für Leiharbeitneh- beitnehmerüberlassungsgesetzes und anderer Gesetze): mer, die in den letzten sechs Monaten vor der Überlassung http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF- an den Entleiher aus einem Arbeitsverhältnis bei diesem Schwerpunkte/referententwurf-arbeitnehmerueberlas- oder einem Arbeitgeber, der mit dem Entleiher einen Kon- sungsgesetz.pdf;jsessionid=26393AACEBDF713D797E76 zern im Sinne des § 18 AktG bildet, ausgeschieden sind. CA596FFE52?__blob=publicationFile&v=1. WSI-Report Nr. 32 · 10/2016 · Seite 8
gelts im Sinne von equal pay gleichgestellt ist. Werkverträgen soll zum 1.1.2017 in Kraft treten. –– Überlassungszeiten vor dem 1.1.2017 (geplan- Die übrigen, bereits heute geltenden, AÜG-Re- tes Inkrafttreten des Gesetzes) sollen bei der Be- gelungen bleiben in Kraft. rechnung der Höchstüberlassungsdauer und der –– In Bezug auf die im Koalitionsvertrag ursprüng- Berechnung der Wartezeiten für equal pay nicht lich vorgesehene Aufnahme von Kriterien für die berücksichtigt werden. Abgrenzung von ordnungsgemäßem und miss- –– Als Folge missbräuchlicher Nutzung von Leih- bräuchlichem Fremdpersonaleinsatz enthält der arbeit soll laut dem Kabinettsentwurf der Bun- Kabinettsbeschluss der Bundesregierung in ei- desregierung künftig – anders als nach bisheri- nem neu in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) ger AÜG-Rechtslage – ein Arbeitsverhältnis des einzufügenden § 611a BGB folgende Regelung: Leiharbeitnehmers zum Entleiher auch dann „Arbeitnehmer ist, wer auf Grund eines privat- fingiert werden (mit Widerspruchsmöglichkei- rechtlichen Vertrags im Dienste eines ande- ten des Leiharbeitnehmers), wenn die Überlas- ren zur Leistung weisungsgebundener, fremd- sung von Arbeitnehmern nicht ausdrücklich als bestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit Arbeitnehmerüberlassung bezeichnet wurde, verpflichtet ist. Das Weisungsrecht kann Inhalt, die gesetzliche Höchstüberlassungsdauer über- Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit schritten wurde bzw. wenn Vereinbarungen vor- betreffen. Arbeitnehmer ist derjenige Mitarbei- liegen, die gegen die equal pay- und equal treat- ter, der nicht im Wesentlichen frei seine Tätig- ment-Regelungen des AÜG verstoßen. Bisher keit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen wurde ein Arbeitsverhältnis zum Entleiher ledig- kann; der Grad der persönlichen Abhängigkeit lich bei fehlender Arbeitnehmerüberlassungser- hängt dabei auch von der Eigenart der jeweiligen laubnis fingiert. Tätigkeit ab. Für die Feststellung der Arbeitneh- –– Zudem soll der Verleiher künftig verpflichtet mereigenschaft ist eine Gesamtbetrachtung aller werden, den Leiharbeitnehmer vor jeder Über- Umstände vorzunehmen. Zeigt die tatsächliche lassung darüber zu informieren, dass er als Leih- Durchführung des Vertragsverhältnisses, dass arbeitnehmer tätig wird. es sich um ein Arbeitsverhältnis handelt, kommt –– Der Einsatz von Leiharbeitnehmern als Streik- es auf die Bezeichnung im Vertrag nicht an.“ brecher in unmittelbar bestreikten Entleihbe- trieben soll künftig grundsätzlich verboten wer- den. Das Verbot des Streikbrechereinsatzes 2. Verschlechterungen im Kabinettsentwurf vom soll nicht gelten, wenn der unmittelbar von ei- 1.6.2016 im Laufe des Entstehungsprozesses nem Arbeitskampf betroffene Entleiher sicher- stellt, dass Leiharbeitnehmer keine Tätigkeiten Der Kabinettsbeschluss der Bundesregierung vom übernehmen, die bisher von Arbeitnehmern er- 1.6.2016 zur Reform von Leiharbeit und Werkver- ledigt wurden, die sich im Arbeitskampf befin- trägen enthält verglichen mit den früheren Refe- den, oder ihrerseits Tätigkeiten von Arbeitneh- rentenentwürfen des BMAS vom 16.11.2015 und mern, die sich im Arbeitskampf befinden, über- 17.2./14.4.2016 Verschlechterungen für Leiharbeit- nommen haben. nehmer, die Tarifbindung und die Prüfbehörden. –– Zudem soll der Ordnungswidrigkeitenkatalog Zudem geht er in einigen Punkten über die Rege- des AÜG insoweit erweitert werden, dass Ver- lungen des Koalitionsvertrages hinaus. stöße gegen die Neuregelungen künftig eben- falls mit einem Ordnungsgeld belegt werden a) Mehr Möglichkeiten der Verlängerung der können. Auch ist es künftig möglich, die Arbeit- Höchstüberlassungszeiten nehmerüberlassungserlaubnis auch in Fällen der Der Kabinettsbeschluss der Bundesregierung vom Überschreitung der Höchstüberlassungsdauer 1.6.2016 enthält (so auch schon der Referentenent- zu entziehen. wurf vom 17.2./14.4.2016) verglichen mit dem Ent- –– Der Kabinettsentwurf sieht zudem eine Klarstel- wurf des BMAS vom 16.11.2015 deutlich erweiter- lung der Informations- und Unterrichtungsrech- te Verlängerungsmöglichkeiten der Höchstüberlas- te der Betriebsräte hinsichtlich Leiharbeitneh- sungsdauer für nicht tarifgebundene Entleiher. So mern und Werkvertragsbeschäftigten für die beinhaltet der Kabinettsbeschluss anders als noch §§80, 92 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) vor. der Referentenentwurf vom 16.11.2015, dass im –– Darüber hinaus stellt der Kabinettsbeschluss Geltungsbereich eines Tarifvertrages der Einsatz- entsprechend der bisherigen Rechtsprechung branche nicht tarifgebundene Arbeitgeber von der klar, dass Leiharbeitnehmer im Entleihbetrieb bei Höchstüberlassungsdauer abweichende tarifver- den Schwellenwerten für die Betriebsverfassung tragliche Regelungen in ihre Betriebs- oder Dienst- (mit Ausnahme des § 112a BetrVG – Erzwing- vereinbarungen übernehmen können und damit barer Sozialplan) und ab einer Überlassungsdau- auch auf diesem Wege Überlassungszeiten von er von sechs Monaten auch bei der Unterneh- mehr als 18 Monaten vereinbaren und nutzen kön- mensmitbestimmung mitzuzählen sind. nen, während der Referentenentwurf von Novem- –– Das neue Gesetz zur Reform von Leiharbeit und ber 2015 nicht tarifgebundenen Betrieben nur in WSI-Report Nr. 32 · 10/2016 · Seite 9
Fällen entsprechender tariflicher Öffnungsklauseln 1.6.2016 hingegen stellen allein auf das tarifliche Verlängerungen der Höchstüberlassungsdauer in Arbeitsentgelt ab, was dazu führt, das z.B. überta- Betriebs- bzw. Dienstvereinbarungen ermöglichte. rifliche Zahlungen oder in Betriebsvereinbarungen Für Fälle, in denen aufgrund von entsprechenden bzw. Gesamtzusagen enthaltene Sonderzahlungen Öffnungsklauseln in Tarifverträgen von der 18-mo- wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld für die Frage von natigen gesetzlichen Höchstüberlassungsdauer ab- equal pay in diesen Fällen nicht zu berücksichtigen weichende Regelungen in Betriebs- oder Dienstver- sind. einbarungen getroffen werden können, sieht der Kabinettsbeschluss (wie auch schon der Referen- d) Kein Kriterienkatalog zur Abgrenzung von tenentwurf vom 17.2./14.4.2016) für nicht tarifge- ordnungsgemäßem und missbräuchlichem bundene Entleiher allerdings zumindest nun die Be- Fremdpersonaleinsatz grenzung der Abweichung auf eine Überlassungs- Erhebliche Änderungen beinhaltet der Kabinetts- dauer von bis zu 24 Monaten vor. beschluss der Bundesregierung vom 1.6.2016 (so auch schon der Entwurf vom 17.2./14.4.2016) b) Mehr Möglichkeiten der Abweichung von verglichen mit dem Referentenentwurf vom equal pay 16.11.2015 auch insoweit, als – anders als von vie- Hinsichtlich der equal pay-Regelungen beinhaltet len gefordert und anders als im Koalitionsvertrag der Kabinettbeschluss der Bundesregierung vom geregelt – der Kriterienkatalog zur Abgrenzung von 1.6.2016 verglichen mit dem Referentenentwurf des ordnungsgemäßem und missbräuchlichem Fremd- BMAS vom 16.11.2015 auch insoweit Änderungen, personaleinsatz entfallen ist (siehe zum Inhalt des als Abweichungen von equal pay durch Tarifverträ- neuen § 611a BGB des Kabinettsbeschlusses vom ge in Fällen, in denen tarifliche Regelungen nach ei- 1.6.2016 unter III. 1; siehe zum ursprünglichen Kri- ner Einarbeitungszeit von längstens sechs Wochen terienkatalog im Entwurf vom 16.11.2015 die fol- hinsichtlich des Arbeitsentgelts eine stufenweise genden Ausführungen). Heranführung an equal pay vorsehen, nicht mehr Der Referentenentwurf des BMAS vom 16.11.2015 nur bis zu 12 Monaten (so noch der Entwurf vom enthielt – ähnlich wie der von 1999-2003 existieren- 16.11.2015) sondern nun bis zu 15 Monaten mög- de § 7 IV SGB IV – noch folgende, mit einem typo- lich sind (bis zu 15 Monate sah bereits auch der Re- logischen Kriterienkatalog versehene Regelungen für ferentenentwurf vom 17.2./14.4.2016 vor). die Abgrenzung von ordnungsgemäßem und miss- Eine weitere Verschlechterung enthält der Kabi- bräuchlichem Fremdpersonaleinsatz: nettsbeschluss verglichen mit den vorangegange- nen Referentenentwürfen auch insoweit, als Zeit- „§ 611a Abs. 1: „Handelt es sich bei den auf- räume vorheriger Überlassungen durch denselben grund eines Vertrages zugesagten Leistungen oder einen anderen Verleiher an denselben Entlei- um Arbeitsleistungen, liegt ein Arbeitsvertrag vor. her auf die Wartezeit von equal pay nur noch dann Arbeitsleistungen erbringt, wer Dienste erbringt anzurechnen sind, wenn zwischen den Einsätzen und dabei in eine fremde Arbeitsorganisation ein- nicht mehr als drei Monate liegen. Der Entwurf des gegliedert ist und Weisungen unterliegt. (…)“ BMAS vom 16.11.2015 sah noch 6 Monate vor. § 611a Abs. 2: „Für die Feststellung, ob je- c) Andere Definition von equal pay mand in eine fremde Arbeitsorganisation ein- Änderungen enthält der Kabinettsbeschluss der gegliedert ist und Weisungen unterliegt, ist Bundesregierung vom 1.6.2016 (wie auch schon eine wertende Gesamtbetrachtung vorzuneh- der Referentenentwurf vom 17.2./14.4.2016) vergli- men. Für diese Gesamtbetrachtung ist insbe- chen mit dem Entwurf des BMAS vom 16.11.2015 sondere maßgeblich, ob jemand auch dahingehend, als er den Anspruch auf equal –– nicht frei darin ist, seine Arbeitszeit oder pay insofern verschlechtert, dass in Fällen, in denen die geschuldete Leistung zu gestalten oder der Leiharbeitnehmer das für einen vergleichbaren seinen Arbeitsort zu bestimmen, Arbeitnehmer des Entleihers im Entleihbetrieb ge- –– die geschuldete Leistung überwiegend in schuldete tarifvertragliche Arbeitsentgelt oder in Er- Räumen eines anderen erbringt, mangelung eines solchen ein für vergleichbare Ar- –– zur Erbringung der geschuldeten Leistung beitnehmer in der Einsatzbranche geltendes tarif- regelmäßig Mittel eines anderen nutzt, vertragliches Arbeitsentgelt erhält, vermutet wird, –– die geschuldete Leistung in Zusammenar- dass der Leiharbeitnehmer hinsichtlich des Arbeits- beit mit Personen erbringt, die von einem entgelts im Sinne von equal pay gleichgestellt ist. anderen eingesetzt oder beauftragt sind, Der Referentenentwurf des BMAS vom 16.11.2015 –– ausschließlich oder überwiegend für einen sah für equal pay hingegen noch vor, dass alle auf anderen tätig ist, den Lohnabrechnungen vergleichbarer Arbeitneh- –– keine eigene betriebliche Organisation un- mer des Entleihers ausgewiesenen Bruttovergü- terhält, um die geschuldete Leistung zu er- tungsbestandteile zzgl. Sachleistungen zu gewäh- bringen, ren sind. Die Entwürfe vom 17.2./14.4.2016 und –– Leistungen erbringt, die nicht auf die Her- WSI-Report Nr. 32 · 10/2016 · Seite 10
stellung oder Erreichung eines bestimmten henen Abweichungen von equal pay bis zu 15 Mo- Arbeitsergebnisses oder eines bestimmten naten; hier war im Koalitionsvertrag eine Begren- Arbeitserfolges gerichtet sind, zung auf 9 Monate vereinbart worden. Ebenfalls –– für das Ergebnis seiner Tätigkeit keine Ge- nicht vorgesehen war die Abweichung von equal währ leistet.“ pay von mehr als 9 Monaten für nicht tarifgebunde- ne Betriebe. Auch das im Koalitionsvertrag enthal- § 611a Abs. 3: „Das Bestehen eines Arbeits- tene Verbot des Einsatzes von Leiharbeitnehmern vertrages wird widerleglich vermutet, wenn als Streikbrecher war deutlich enger gefasst, als es die Deutsche Rentenversicherung Bund nach der Kabinettsbeschluss jetzt vorsieht. Zudem fehlt § 7a des Vierten Buches Sozialgesetzbuch in- im Kabinettsbeschluss, wie vorangehend beschrie- soweit das Bestehen eines Beschäftigungs- ben, der im Koalitionsvertrag für die Abgrenzung verhältnisses festgestellt hat.“ von ordnungsgemäßem und missbräuchlichem Einsatz von Fremdpersonal angedachte Kriterien- e) Kürzung der ab Inkrafttreten des Gesetzes katalog. Zudem fehlen Regelungen zur Gewährleis- zu berücksichtigenden Überlassungszeiten tung des Arbeitsschutzes für Werkvertragsnehmer, Zu Lasten der Leiharbeitnehmer gehende Ände- die ebenfalls im Koalitionsvertrag angedacht wa- rungen enthält der aktuelle Kabinettsbeschluss der ren. Bundesregierung vom 1.6.2016 verglichen mit al- len früheren Referentenentwürfen auch dahinge- hend, als er vorsieht, dass bei Inkrafttreten des Ge- setzes zum 1.1.2017 vor diesem Zeitpunkt erfolgte IV. KONKRETE BEWERTUNG DES KABI- Einsatzzeiten weder bei der Berechnung der dann geltenden Höchstüberlassungsdauer noch bei der NETTSENTWURFS VOM 1.6.2016 ZUR Berechnung der Wartezeiten für equal pay berück- REFORM VON LEIHARBEIT UND WERK- sichtigt werden sollen. Die früheren Referentenent- würfe beschränkten die Nichtberücksichtigung von VERTRÄGEN vor dem 1.1.2017 liegender Einsatzzeiten auf die Frage des Erreichens der Höchstüberlassungsdau- Der Kabinettsbeschluss der Bundesregierung vom er, während vor diesem Zeitpunkt erfolgte Einsatz- 1.6.2016, der nun den Weg des parlamentarischen zeiten bei der Berechnung der Wartezeit von equal Gesetzgebungsverfahrens beschreiten wird, ent- pay durchaus noch berücksichtigt werden sollten. hält viele erfreuliche und absolut notwendige Re- gelungen; er geht jedoch in vielen Punkten nicht f) Verschlechterung bei Berücksichtigung von weit genug. Der Kabinettsbeschluss enthält er- Schwellenwerten des BetrVG freuliche Ansätze zur Begrenzung der Höchstüber- Darüber hinaus enthält der Kabinettsbeschluss der lassungsdauer und der Gewährleistung von equal Bundesregierung vom 1.6.2016 verglichen mit dem pay, zudem das grundsätzliche Verbot des Einsat- Referentenentwurf vom 16.11.2015 insoweit Ver- zes von Leiharbeitnehmern als Streikbrecher. Er- änderungen, als Leiharbeitnehmer für Schwellen- freulich sind auch die Regelungen zur Fiktion eines werte im Bereich Unternehmensmitbestimmung Arbeitsverhältnisses zum Entleiher in Fällen miss- nur noch dann im Entleihbetrieb mitzuzählen sind, bräuchlicher Leiharbeit, bei Überschreitung der wenn ihre Einsatzdauer 6 Monate übersteigt; die Höchstüberlassungsdauer und bei Verstößen ge- früheren Referentenentwürfe sahen keine Min- gen equal pay und equal treatment, die Erweite- desteinsatzzeiten für die Berücksichtigung bei den rung des Sanktionskatalogs bei Verstößen gegen Schwellenwerten für die Anwendbarkeit der Unter- das AÜG, die Verpflichtung zur transparenten Ver- nehmensmitbestimmung vor. tragsbezeichnung, die Informationspflichten des Verleihers gegenüber dem Leiharbeitnehmer, die g) Abweichungen von den Vereinbarungen Klarstellung der Informations- und Unterrichtungs- des Koalitionsvertrages rechte des Betriebsrates bei Leiharbeit und Werk- Auch weicht der Kabinettsentwurf der Bundesre- verträgen sowie die Klarstellung des Mitzählens der gierung vom 1.6.2016 in einigen Punkten von den Leiharbeitnehmer bei Schwellenwerten für die Mit- seitens der Bundesregierung im Koalitionsvertrag bestimmung. getroffenen Vereinbarungen ab. Nicht im Koaliti- Die von der Bundesregierung angedachten Re- onsvertrag vorgesehen war zum Beispiel die Mög- formen sind jedoch aufgrund ihrer Ausgestaltung lichkeit der bloßen Übernahme tariflicher Verlänge- letztendlich nicht geeignet, das im Koalitionsver- rungen der gesetzlichen Höchstüberlassungsdauer trag festgeschriebene Ziel der Rückführung von von 18 Monaten durch Betriebs- oder Dienstver- Leiharbeit auf ihre Kernfunktionen und die Eindäm- einbarungen für nicht tarifgebundene Betriebe, die mung missbräuchlicher Vertragskonstruktionen jedoch jetzt im Kabinettsbeschluss enthalten ist. bei Leiharbeit und Werkverträgen zu erreichen.14 Nicht vorgesehen war im Koalitionsvertrag auch die jetzt im aktuellen Kabinettsbeschluss vorgese- 14 Zur Stellungnahme des Bundesrates zum Kabinettsent- wurf Bundesratsdrucksache 294/16 sowie 294/1/16. WSI-Report Nr. 32 · 10/2016 · Seite 11
Die folgenden Ausführungen zeigen anhand juris- a) Arbeitnehmer- oder arbeitsplatzbezogene tischer und empirischer Analysen die Schwächen Beurteilung des Kabinettsbeschlusses der Bundesregierung Die Bundesregierung hat sich in ihrem Kabinettsbe- vom 1.6.2016 auf, in der Hoffnung, dass das nun schluss vom 1.6.2016 hinsichtlich der Begrenzung anstehende Gesetzgebungsverfahren dazu genutzt der Überlassungsdauer auf grundsätzlich 18 Mo- werden kann, den Gesetzentwurf zu verbessern nate für eine auf den einzelnen Leiharbeitnehmer und weiterzuentwickeln. bezogene Auslegung der in der EU-Leiharbeits- richtlinie 2008/104/EG und in § 1 AÜG normierten Formulierung „Leiharbeit erfolgt vorübergehend/ 1. Beschränkung der Höchstüberlassungsdauer vorübergehende Arbeitnehmerüberlassung“ ent- auf grundsätzlich 18 Monate schieden. Seit Inkrafttreten der EU-Leiharbeitsricht- linie 2008/104/EG im November 2008 ist umstrit- Der Kabinettsbeschluss der Bundesregierung vom ten, was „vorübergehend“ iSd Richtlinie meint.16 1.6.2016 konkretisiert den bisher in § 1 Satz 2 AÜG Umstritten ist u.a., ob bei der Festlegung, was „vo- und der EU-Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG ver- rübergehende Leiharbeit“ ist, auf die Dauer der wendeten Begriff der „vorübergehenden“ Überlas- Überlassung des Leiharbeitnehmers (arbeitnehmer- sung von Leiharbeitnehmern dahingehend, dass bezogene Betrachtung) oder auf den Arbeitsplatz Leiharbeitnehmer künftig nicht länger als 18 auf- beim Entleiher, auf dem der Leiharbeitnehmer ein- einander folgende Monate demselben Entleiher gesetzt werden soll (arbeitsplatzbezogene Betrach- überlassen werden dürfen. Längere Höchstüber- tung), oder gar auf beides abzustellen ist.17 lassungszeiten sollen durch Tarifvertrag und auf- grund von Öffnungsklauseln in Tarifverträgen auch Die für Deutschland und alle anderen EU-Mit- durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung in tarifge- gliedstaaten verbindliche EU-Leiharbeitsrichtlinie bundenen, aber auch in nicht tarifgebundenen Ent- 2008/104/EG definiert ähnlich wie das deutsche leih-Betrieben (dort allerdings begrenzt auf 24 Mo- AÜG den Begriff „vorübergehend“ nicht; sie legt al- nate Höchstüberlassungsdauer) möglich sein. Nicht lerdings in verschiedenen Artikeln fest, dass Leih- tarifgebundene Entleiher sollen zudem von der ge- arbeit nur vorübergehend ist. So heißt es in Art. 1 setzlichen Höchstüberlassungsdauer abweichen- I der RL 2008/104/EG: „Diese Richtlinie gilt für Ar- de tarifliche Regelungen in Betriebs- oder Dienst- beitnehmer, die mit einem Leiharbeitsunternehmen vereinbarungen übernehmen können. Der Zeitraum einen Arbeitsvertrag geschlossen haben oder ein vorheriger Überlassungen durch denselben oder ei- Beschäftigungsverhältnis eingegangen sind und nen anderen Verleiher an denselben Entleiher soll die entleihenden Unternehmen zur Verfügung ge- angerechnet werden, wenn zwischen den Einsätzen stellt werden, um vorübergehend unter deren Auf- jeweils nicht mehr als drei Monate liegen. sicht und Leitung zu arbeiten.“ In den Begriffsbe- Die von der Bundesregierung in ihrem Kabinetts- stimmungen des Art. 3 I c) der RL 2008/104/EG beschluss angedachte Begrenzung der Höchstüber- heißt es: Leiharbeitnehmer ist ein Arbeitnehmer, lassungsdauer ermöglicht es Entleihern, nach Ab- der mit einem Leiharbeitsunternehmen einen Ar- lauf der 18 Monate Höchstüberlassungsdauer bzw. beitsvertrag geschlossen hat oder ein Beschäfti- nach Ablauf zulässiger längerer Überlassungszei- gungsverhältnis eingegangen ist, um einem entlei- ten einen neuen Leiharbeitnehmer auf demselben henden Unternehmen überlassen zu werden und Arbeitsplatz einzusetzen. Die derzeit im Kabinetts- dort unter dessen Aufsicht und Leitung vorüberge- beschluss vorgesehene Regelung zur Höchstüber- hend zu arbeiten. In einer Entscheidung aus 2013 lassungsdauer ermöglicht einen wiederholten Aus- entschied auch das Bundesarbeitsgericht (BAG), tausch von Leiharbeitnehmern und damit nach wie dass auf jeden Fall eine dauerhafte Arbeitnehmer- vor einen zeitlich unbeschränkten Einsatz von Leih- überlassung unzulässig ist.18 arbeit auf ein und demselben Dauerarbeitsplatz Auch die Zielsetzung und sonstige Inhalte der beim Entleiher; zudem kann auch der gleiche Leih- EU-Leiharbeitsrichtlinie belegen den nur vorüberge- arbeitnehmer nach Ablauf von 3 Monaten erneut henden Charakter von Leiharbeit, der nur gewähr- wieder 18 Monate beim Entleiher eingesetzt wer- leistet sein kann, wenn Leiharbeit zur Abdeckung den.15 Diese Regelung steht im Widerspruch zum von Auftragsspitzen und nicht zur Substitution im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Ziel, Leihar- von Stammbeschäftigten auf Dauerarbeitsplät- beit auf ihre Kernfunktionen zurückzuführen. zen eingesetzt wird. Art. 2 der RL 2008/104/EG lautet insoweit: Ziel dieser Richtlinie ist es, für den Schutz der Leiharbeitnehmer zu sorgen und die Qualität der Leiharbeit zu verbessern, (…). In 16 Siehe dazu z.B. Ulber, J./Ulber, D., Arbeitnehmerüberlas- 15 Bispinck, R. verwendet in diesem Kontext den treffenden sungsgesetz, 2. Auflage 2014, S. 98ff. Begriff des Personalkarussells, siehe dazu Bispinck, R., 17 Siehe dazu auch Ulber, J./Ulber, D., Arbeitnehmerüberlas- Pro: Strengere Regulierung von Zeitarbeit – Reichen die sungsgesetz, 2. Auflage 2014, S. 100ff. mit zahlreichen Ur- Regelungen aus?, in: Wirtschaftsdienst: 95. Jahrgang, teilsfundstellen. 2015, Heft 12, S. 802-803. 18 BAG 10.7.2013 – 7 ABR 91/11. WSI-Report Nr. 32 · 10/2016 · Seite 12
Art. 5 V der EU-Leiharbeitsrichtlinie 2008/104/EG ren Verfahren zur Frage von Kettenbefristungen ist normiert, dass die Mitgliedstaaten verpflich- hatte der EuGH jedoch früher schon entschieden, tet sind, Maßnahmen zu ergreifen, die erforder- dass vorübergehender Bedarf vorliege, wenn im lich sind, „... um insbesondere aufeinander fol- Wesentlichen ein zeitweiliger Arbeitskräftebedarf gende Überlassungen, mit denen die Bestimmun- des Arbeitgebers abgedeckt werden solle (EuGH gen der Richtlinie umgangen werden sollen, zu 26.1.2012 – C-586/10). verhindern“.19 Auch die Bundesregierung selbst schreibt in Die Funktion der Abdeckung von Auftragsspit- ihrer Begründung zum Kabinettsbeschluss vom zen durch Leiharbeit kann nur gewährleistet wer- 1.6.2016, dass Leiharbeit/Arbeitnehmerüberlas- den, wenn Leiharbeit nicht für Dauerbedarfe einge- sung eine Form des flexiblen Personaleinsatzes sei setzt wird. Im Hinblick auf den Kabinettsbeschluss und auch nach der angedachten Reform des AÜG der Bundesregierung bedeutet dies, dass die Bun- die Flexibilität für Unternehmen gegeben sein müs- desregierung, um der Funktion der Leiharbeit als se, vorübergehenden Arbeitskräftebedarf bei Auf- Puffer für die Abdeckung von Auftragsspitzen und tragsspitzen abdecken zu können.21 kurzzeitigen Personalschwankungen gerecht zu Geht man von der Intention und den Formulie- werden, bei der Beschränkung der Leiharbeit auf rungen der für Deutschland verbindlichen EU-Leih- den Arbeitsplatz, nicht jedoch auf den Leiharbeit- arbeitsrichtlinie und den hiesigen Ausführungen nehmer abstellen muss.20 aus, müssen für die Beurteilung vorübergehender Leiharbeit arbeitsplatzbezogene Erwägungen zu- Für die Funktion der Abdeckung von Auftragsspit- grunde gelegt werden.22 Nur so ist eine Rückfüh- zen und Personalschwankungen durch Leiharbeit rung von Leiharbeit auf ihre Kernfunktionen mög- und das damit einhergehende grundsätzliche Ver- lich. bot des Einsatzes von Leiharbeitnehmern auf Dau- Problematisch sind die im Kabinettsentwurf erarbeitsplätzen beim Entleiher sprechen auch die vom 1.6.2016 vorgesehenen Regelungen zur Schlussanträge des Generalanwalts des EuGH in Höchstüberlassungsdauer auch deshalb, weil die einem finnischen Vorlageverfahren aus März 2015. Neuregelungen der Begrenzung der Höchstüber- In diesem Verfahren hatte der EuGH über die Fra- lassungsdauer auf 18 Monate nur für eine Minder- ge zu entscheiden, ob tarifliche Regelungen, die heit von Leiharbeitnehmern und Unternehmen Ver- die Zulässigkeit von Leiharbeit auf vorübergehen- änderungen bringen, denn nicht einmal ein Fünftel de Aufgaben bzw. vorübergehende Auftragsbedar- aller Leiharbeitsverhältnisse dauert länger als 18 fe beschränken, die aus objektiven Gründen nicht Monate, so dass der Anteil von Leiharbeitnehmern, durch Stammbeschäftigte des Entleihers ausge- die länger als 18 Monate im Entleihbetrieb einge- führt werden können und längere Einsätze von setzt werden, noch geringer ist.23 Daten der WSI- Leiharbeitnehmern zur Erledigung von Aufgaben, Betriebsrätebefragung 2015 zeigen, dass selbst in die sonst von Stammbeschäftigten erledigt wer- Betrieben mit mindestens 20 Beschäftigten und den, verbietet, zulässig sind. In seinen Schlussan- Betriebsrat nur 30 % der Betriebsräte angeben, trägen vertritt der Generalanwalt hinsichtlich der dass die Mehrheit der dort eingesetzten Leiharbeit- Funktion von Leiharbeit die Auffassung, dass Leih- nehmer länger als 12 Monate in ihrem Betrieb ein- arbeit kein Ersatz für feste Formen der Arbeit ist; gesetzt werden; dabei gibt es keine bedeutsamen Leiharbeit sei eine zeitlich beschränkte Arbeits- Unterschiede zwischen tarifgebundenen und nicht form; die direkte Beschäftigung sei ein gegenüber tarifgebundenen Betrieben. der Leiharbeit bevorzugtes Beschäftigungsverhält- nis (Schlussanträge zu EuGH C-533/13). Aufgrund Der Kabinettsentwurf der Bundesregierung ist der dem nationalen Ausgangsverfahren zugrunde- hinsichtlich der Regelungen zur Begrenzung der liegenden Fallkonstellation musste der EuGH in der Höchstüberlassungsdauer auch insoweit proble- genannten Rechtssache in seinem Urteil letztend- matisch, als für das Erreichen der Höchstüberlas- lich keine Entscheidung zur Frage der Funktion der sungsdauer Zeiträume vorheriger Überlassungen Leiharbeit treffen, allerdings hat er immerhin ent- durch denselben oder einen anderen Verleiher an schieden, dass unter Beachtung des Art. 4 der EU- denselben Entleiher nur dann mitgezählt werden Leiharbeitsrichtlinie Tarifparteien Leiharbeit durch- aus tariflich beschränken können. In einem ande- 21 Bundesregierung, Kabinettsentwurf vom 1.6.2016 für ein Gesetz zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsge- 19 Siehe dazu auch Ulber, J., Der Referentenentwurf des setzes und anderer Gesetze, S. 12. BMAS sowie der Gesetzentwurf des Bundesrates zur Än- 22 So auch LAG Berlin-Brandenburg 21.8.2014 – 10 TaBV derung des AÜG und anderer Gesetze, Gutachten für Rosa 671/14, LAG Schleswig-Holstein 8.1.2014 – 3 TaBV 43/13. Luxemburg Stiftung, Januar 2016, S. 5. 23 Haller, P./Jahn, E., IAB-Kurzbericht 13/2014, S. 5 (14 % län- 20 Ähnlich Brors, C./ Schüren, P., Missbrauch von Werkver- ger als 18 Monate (2010)); Bundesagentur für Arbeit, Der trägen und Leiharbeit verhindern: Vorschläge für eine ge- Arbeitsmarkt in Deutschland – Zeitarbeit – Aktuelle Ent- setzliche Regelung zur Eindämmung von Missbräuchen wicklungen, Juli 2016, S. 14 (18 % länger als 1 Jahr). Sie- beim Fremdpersonaleinsatz und zur Umsetzung der Leih- he dazu auch Ulber, J., Der Referentenentwurf des BMAS arbeitsrichtlinie, Arbeitsrechtliches Gutachten für das Mi- sowie der Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung nisterium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes des AÜG und anderer Gesetze, Gutachten für Rosa Luxem- Nordrhein-Westfalen, Februar 2014, S. 17ff. burg Stiftung, Januar 2016, S. 6. WSI-Report Nr. 32 · 10/2016 · Seite 13
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