Die Weiterentwicklung der EU-Antiterrorismuspolitik - Stiftung ...
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NR. 22 MÄRZ 2021 Einleitung Die Weiterentwicklung der EU-Antiterrorismuspolitik Bedrohungen durch den Jihadismus und Rechtsextremismus und die transatlantische Kooperation Raphael Bossong Im Zuge der Corona-Pandemie und durch den Sturm auf das Kapitol ist die Bedro- hungswahrnehmung im Hinblick auf rechtsextremistische Gruppen und Anhänger von Verschwörungstheorien markant gestiegen. Die erneuten Anschläge in Frank- reich und Österreich im November des vergangenen Jahres haben gezeigt, dass auch die Gefahr durch den jihadistischen Terrorismus akut bleibt. Die Ende 2020 aktuali- sierte EU-Agenda für Terrorismusbekämpfung umfasst vor diesem Hintergrund ein breites Themenspektrum. Sie zeugt aber auch von der Heterogenität der Unions- kompetenzen und den unterschiedlichen Interessen der EU-Mitglieder. Einerseits bleiben die Befugnisse der EU bei der Rehabilitation von inhaftierten terroristischen Gefährdern oder bei der gesamtgesellschaftlichen Prävention beschränkt. Anderer- seits treibt die EU einen gemeinsamen Regulierungsrahmen für Meinungsäußerungen im Online-Raum voran. Dieser Ansatz ist zugleich Teil einer erneuerten transatlan- tischen Agenda. Die aktive Bekämpfung des Rechtsterrorismus wird jedoch eher in flexiblen Koalitionen vorangetrieben werden können. Die Zerschlagung des Territoriums des »Isla- wenngleich irreguläre Zuwanderer und ab- mischen Staates« (IS) 2019 und eine inten- gelehnte Asylbewerber wiederholt Attentate sive Verfolgung von potentiellen Terroris- und Anschlagversuche durchgeführt haben. ten durch Nachrichtendienste und Straf- Bei diesen Taten wurde deutlich, dass der verfolgungsbehörden haben dazu geführt, Zugang zu Waffen und hochwertigen Zie- dass schwerwiegende Anschläge, wie sie len schwieriger geworden ist. zwischen 2014 und 2017 in Europa beson- Der Anschlag von Wien, der im Novem- ders gehäuft erfolgten, weniger wahrschein- ber 2020 mit einer Kalaschnikow erfolgte, lich geworden sind. Weder als Folge der konnte wegen eines nachrichtendienst- sogenannten Migrationskrise von 2015 lichen Versagens nicht verhindert werden. noch durch die Rückkehr ausländischer Bei der Attacke auf die Pariser Redaktion Kämpfer des IS hat sich bislang eine un- von Charlie Hebdo 2015 wurden hingegen kontrollierbare Gefahr für Europa ergeben, noch Sturmgewehre eingesetzt, die in der
Slowakei als Attrappen legal erworben und ken. Das gilt in vorderster Linie für Frank- allzu leicht wieder funktionsfähig gemacht reich, das vielfältigen Problemen im Sahel werden konnten. Die EU-Staaten haben in gegenübersteht (SWP-Aktuell 6/2021). den vergangenen Jahren weitere Regelungs- Parallel muss die EU im Inneren mit jiha- lücken geschlossen, die von Terroristen aus- distischen Einzeltätern oder Kleingruppen genutzt werden konnten, etwa bei der umgehen, die ohne eine klare Anbindung Finanzierung. Dennoch steht die Union vor an organisierte Strukturen zwar vielfach un- neuen Risiken, die die bisherigen relativen professionell, aber umso unberechenbarer Erfolge bei der Terrorismusbekämpfung in agieren. Darüber hinaus sind neue ideolo- Frage stellen. gische Entwicklungen im Auge zu behalten, wie ein gewaltbereiter Takfirismus (SWP- Aktuell 9/2021). Die anhaltende Gefahr durch Eine besondere Herausforderung besteht jihadistisch motivierten Terror in der wachsenden Zahl von Personen, die in den vergangenen Jahren aufgrund ihrer In Syrien und Irak ist eine Neuformierung terroristischen Überzeugung oder wegen des Islamischen Staats (IS, alternativ Daesh) Unterstützungshandlungen (z. B. Ausreise- möglich. Große Selbstmordanschläge in versuche zum IS) verurteilt wurden. Auch Bagdad im Januar dieses Jahres sind Zei- eine vergleichsweise geringe Rückfallquote chen einer solchen Entwicklung. Es ist da- von unter 5 Prozent, mit der gegenwärtig von auszugehen, dass der IS weiterhin über im Hinblick auf europäische Jihadisten kal- umfangreiche Finanzmittel verfügt. Inhaf- kuliert werden kann, stellt angesichts von tierte Kämpfer könnten von regionalen Un- derzeit über 1 400 inhaftierten Personen ein ruhen und Befreiungsaktionen profitieren erhebliches Bedrohungspotential dar. In (SWP-Aktuell 74/2020). Die EU-Staaten agie- den vergangenen zwei Jahren konkretisierte ren immer noch zu zögerlich und inkohä- sich diese Gefahr in Form von Anschlägen rent bei der Rückübernahme von Staats- und Messerangriffen in Wien, Dresden und angehörigen, die sich dem IS angeschlossen London. Im Nachgang stehen Entscheidungs- hatten. Geordnete Verfahren der Rückfüh- träger unter starkem Druck zu erklären, rung sind aus normativen Erwägungen und warum ehemalige Straftäter erneut zuschla- wegen der Sicherheitsrisiken vorzuziehen, gen konnten. Eine permanente Sicherheits- die bei einer permanenten Verweigerung verwahrung terroristischer Gefährder lässt der Zuständigkeit entstehen würden. sich aber nicht mit rechtsstaatlichen Prin- Die Biden-Administration kann dazu bei- zipien vereinbaren. tragen, die Lage vor Ort vorerst zu stabilisie- ren, da sie die Partnerschaft mit kurdischen Verbündeten erneuern und US-Kräfte in der Unterschiedliche Bewertungen Region halten will. Die Ernennung des ehe- des transnational vernetzten maligen Sonderbeauftragten für die Globale Rechtsextremismus Koalition zur Bekämpfung des IS, Brett McGurk, zum Koordinator des National Die Verwerfungen der Corona-Krise haben Security Council für den Nahen Osten und derweil einen gewaltigen Resonanzraum Afrika ist zugleich ein Indiz für die anhal- für Verschwörungstheorien geschaffen. tende Intensität der Bedrohung. So konnten Gewaltsame Aktionen durch radikale Impf- mit dem IS affiliierte Organisationen auf gegner sind denkbar. Schon lange vor der dem afrikanischen Kontinent Fuß fassen – Pandemie war ein deutlicher Anstieg des was anscheinend zu wachsenden Spannun- rechtsextremistischen Terrorismus zu ver- gen mit dortigen Anhängern von al-Qaida zeichnen. Wenn man unterschiedliche führt. Europäische Staaten müssen deshalb Formen der rechtsextremistischen Hass- trotz vieler Rückschläge weiter an der Sta- kriminalität miteinbezieht, zeigt sich zwar bilisierung exponierter Drittstaaten mitwir- für Europa eine Abnahme von Gewalttaten SWP-Aktuell 22 März 2021 2
über die vergangenen dreißig Jahre. Es be- ten Gewalttaten, trotz der regelmäßigen steht dennoch eine qualitativ neue Bedro- Berichte von Europol, die alle Arten des hung durch aufeinander bezogene Terror- Terrorismus einschließen sollen. Insofern anschläge. besteht eine – geradewegs nachvollzieh- Der Attentäter von Christchurch 2019 bare Diskrepanz –zwischen dem mutmaß- wurde nach eigener Aussage durch Anders lichen Bedrohungspotential von Seiten des Breiviks Taten acht Jahre zuvor inspiriert. transnationalen Rechtsterrorismus und den Seither traten mehrere Nachahmer in den tatsächlich geteilten Sicherheitsprioritäten USA und Deutschland auf den Plan. Die vieler EU-Staaten. Täter verbreiten dabei in der Regel trans- national anknüpfungsfähige rechtsextre- mistische Vorstellungen. Insbesondere die Die neuere EU-Agenda Mutmaßung einer »Großen Umvolkung«, der zufolge die weiße Bevölkerung gezielt Die besonders schwerwiegenden Anschläge durch Zuwanderung zersetzt werden soll, in Paris im November 2015 markieren eine dient als verbindendes Element. Sogenann- Wende in der europäischen Antiterroris- te Imageboards im Internet, offene wie muspolitik (SWP-Aktuell 8/2017). Die poli- geschlossene Kanäle in den sozialen Medien zeiliche und nachrichtendienstliche Zusam- und Teile der Gamer-Szene unterstützen menarbeit wurde seither deutlich intensi- eine Kultur der Gewaltverherrlichung. Aber viert. Die EU beschloss zudem eine Ver- auch offline ist eine grenzüberschreitende stärkung technischer Kontrollen an ihren Vernetzung von rechtsextremistischen Par- Außengrenzen und eine damit verbundene teien, Organisationen und Einzelpersonen Reform von Datenbanken, die unter ande- zu beobachten, insbesondere durch Sport- rem zur Erfassung von Terrorverdächtigen und Musikveranstaltungen. beitragen können. Viele dieser Maßnahmen In Deutschland besteht spätestens seit müssen noch technisch umgesetzt werden. 2019 ein breiter Konsens in Politik und In der aktuellen EU-Legislaturperiode Sicherheitsbehörden, dass der Rechtsextre- haben sich die politischen Schwerpunkte mismus eine mindestens ebenso schwer- allerdings verlagert. In der letzten gemein- wiegende Gefahr wie der militante Jihadis- samen EU-Strategie für die Sicherheitsunion mus darstellt. Die Ereignisse am Kapitol An- vom Sommer 2020 sind zwar viele Aspekte fang Januar haben der Weltöffentlichkeit der Terrorismusbekämpfung angesprochen, zudem das wachsende Ausmaß und die vor allem im Bereich der Früherkennung. Radikalität von verschwörungstheoretischen Die wichtigsten Zukunftsaufgaben liegen Bewegungen vor Augen geführt. Gleichwohl gemäß dieser Strategie jedoch bei »hybriden gibt es in den westlichen Staaten keine um- Gefahren«, bei der Cybersicherheit, dem fassend geteilte Bedrohungswahrnehmung Schutz kritischer Infrastrukturen und den gegenüber dieser Herausforderung. Der be- Auswirkungen neuer Technologien (ins- fürchtete Durchmarsch rechtspopulistischer besondere der Künstlichen Intelligenz und Kräfte hat sich bei vielen demokratischen Verschlüsselung). Darüber hinaus gilt es in Wahlen seit 2017 nicht bewahrheitet. Neben der andauernden Pandemie den Grundsatz den USA und Deutschland konzentriert sich der Personenfreizügigkeit und das Schen- der explizite Rechtsterrorismus, in jeweils gen-Regime so weit wie möglich zu erhalten. unterschiedlichen Ausprägungen, bisher Angesichts dieser vielfältigen Vorhaben auf Schweden, Norwegen, Finnland, Groß- und vordringlichen Krisen kann von den britannien, Italien, Spanien und Griechen- unterschiedlichen Mitteilungen und Erklä- land. Verschiedene osteuropäische Staaten rungen zur Antiterrorismuspolitik, die die haben starke rechtsextreme Organisationen, Innenminister, die Kommission und der aber bisher keine Anschläge erleben müssen. Europäische Rat im November und Dezem- Insgesamt gibt es in der EU keine ein- ber 2020 verabschiedet haben, kein nen- heitliche Erfassung von politisch motivier- nenswerter Schub ausgehen. Sie dienten SWP-Aktuell 22 März 2021 3
primär wohl als politisches Signal, um auf Die neuere EU-Agenda zur Terrorismus- die kurz zuvor erfolgten Attentate in Frank- bekämpfung erscheint insgesamt ausgereif- reich und Wien sowie auf den fünften ter. Beispielsweise greift die EU-Kommission Jahrestag der Anschläge in Paris zu reagie- Themen auf, die schon ein Sonderausschuss ren. Es ist allerdings zu beachten, dass der des Europäischen Parlaments in der letzten Rat der EU-Innenminister in diesem Zusam- Legislaturperiode in einer umfassenden menhang eine zeitweise Ausweitung von Evaluierung der EU-Antiterrorismuspolitik Binnengrenzkontrollen begrüßt hat und hervorgehoben hatte. Unter anderem sollen den Austausch von Informationen zu poten- Opfern des Terrorismus mehr Rechte und tiell gewaltbereiten Personen intensivieren Entschädigungsleistungen zustehen und will. Dies kann die Debatte über die Zu- öffentliche Räume verstärkt geschützt wer- kunft des Schengen-Regimes beeinflussen, den. Im Gegensatz dazu ist der erneute Auf- die spätestens ab Herbst geführt werden ruf des Europäischen Rates zur Vorratsdaten- soll. Der Austausch zu Gefährdern soll zu- speicherung als eher problematische Prio- dem im Rahmen einer neuen »Europäi- ritätensetzung für die weitere EU-Antiterro- schen Polizeipartnerschaft« erfolgen. Dies rismuspolitik anzusehen. Dies gilt auch für ist der vermutlich wichtigste Impuls der die derzeit verhandelte umfassende Reform vergangenen deutschen Ratspräsidentschaft des Europol-Mandats, mit der die techni- im Bereich der inneren Sicherheit. Die Poli- schen Kapazitäten der europäischen Polizei- zeipartnerschaft kann aber nicht schwer- behörden ausgebaut und eine engere Zu- punktmäßig als Beitrag zur Terrorismus- sammenarbeit mit der Privatwirtschaft er- bekämpfung verstanden werden, denn sie reicht werden sollen. Ein Teil dieser Geset- erstreckt sich auf ein weit größeres Feld der zesvorschläge ist sicher dazu geeignet, die Polizeiarbeit, einschließlich der lokalen Verfolgung von schweren Verbrechen zu Kooperation in Grenzregionen. erleichtern. Wenn der Akzent in der politi- schen Debatte jedoch auf die Terrorismus- bekämpfung gelegt wird, droht eine Verzer- Umstrittener Umfang der rung der inhaltlichen Bestimmungen. Dann EU-Antiterrorismuspolitik ist erneut mit Nichtigkeitsklagen vor dem EuGH zu rechnen. Dieser hat jüngst noch- Die Zuordnung sicherheitspolitischer Initia- mals strenge Auflagen für die Zulässigkeit tiven zum Thema Terrorismusbekämpfung einer Vorratsdatenspeicherung formuliert. hat Vor- und Nachteile. Einerseits ist mit einer Beschleunigung der Entscheidungs- findung zu rechnen. Andererseits ergeben Strukturelle Lücken und Grenzen sich Probleme bei der Koordinierung und der EU-Präventionspolitik Umsetzung, wenn besonders umfassende Maßnahmenpakete geschnürt werden. Vor Die zentrale Aufgabe einer neubelebten EU- allem gilt es unter dem Eindruck von Gräuel- Antiterrorismuspolitik ist die Eindämmung taten verzerrte Bewertungen der Notwen- der benannten jihadistischen und rechts- digkeit und Verhältnismäßigkeit von neuen extremistischen Bedrohungspotentiale. Im Sicherheitsgesetzen zu vermeiden. Bereich der Terrorismusprävention versucht In den frühen 2000er Jahren wurden bei- die EU seit Mitte der 2000er Jahre eine Ko- spielsweise die Einführung des Europäi- ordinationsrolle auszufüllen. Insbesondere schen Haftbefehls und sämtliche Maßnah- hat die Kommission das sogenannte Radica- men im Raum der Freiheit, Sicherheit und lisation Awareness Network (RAN) ins Leben des Rechts mit der Terrorismusbekämpfung gerufen, das mittlerweile mehr als 3 200 Mit- begründet. Zügige Integrationsfortschritte glieder aus Wissenschaft, Verwaltung und zogen aber zahlreiche (grund-)rechtliche Zivilgesellschaft umfasst. Auftrag des Netz- Anfechtungen und mehrfache gesetzliche werks ist es, Pilotprojekte und Best Practices Nachbesserungen nach sich. grenzüberschreitend zu fördern und neue SWP-Aktuell 22 März 2021 4
Forschungsergebnisse zu verbreiten. 2019 Verpflichtende Löschung wurde zudem ein Lenkungsausschuss ge- terroristischer Online-Inhalte schaffen, der die Mitgliedstaaten in ihrer Präventionspolitik berät. Im Gegenzug konzentriert sich die EU auf Die konkreten Effekte sind unklar. Exem- die Kontrolle des Online-Raums, wo sie auf plarisch zeigt sich dies im Justizvollzug. Der Grundlage des Binnenmarkts starke regu- Umgang mit terroristischen Gefährdern ist lative Kompetenzen ausüben kann. Bisher nach wie vor überwiegend uneinheitlich haben nur einige europäische Staaten, und unkoordiniert. Defizite in der Gefäng- unter anderem Deutschland, neue gesetz- nisseelsorge und unterfinanzierte Rehabili- liche Regelungen zur schnellen Löschung tationsprogramme sind für viele Mitglied- von extremistischen oder (volks)verhetzen- staaten noch immer prägend. Die EU unter- den Online-Inhalten verabschiedet. In den stützt einen Fachverband von Strafvollzugs- vergangenen Jahren haben Sicherheits- behörden, der unter anderem Daten über behörden einstweilen freiwillige Partner- Haftbedingungen bereitstellt. Ein neueres schaften mit Betreibern großer Online-Platt- RAN-Handbuch zur Rehabilitation von ter- formen (inkl. sozialer Medien) geschlossen, roristischen Straftätern könnte als Refe- wobei Europol mit seinem Internet Referral renzwerk dienen. Typische europäische In- Unit und das EU Internet Forum, in das Ver- strumente der Integration, wie gegenseitige treter zentraler Technologieunternehmen regelmäßige Evaluierungen, wurden aber (Youtube / Google, Facebook, Microsoft, bis dato nicht eingeführt. Eine Empfehlung Twitter) eingebunden sind, eine Führungs- des EU-Ministerrats von 2019 zog bislang rolle übernommen haben. In Koordination keine erkennbaren Folgen nach sich. mit dem Global Internet Forum to Counter Ter- Ungeachtet dessen tragen die Mitglied- rorism, das dieselben privatwirtschaftlichen staaten jeweils für sich die alleinige Verant- Akteure und die EU mit 29 weiteren Staa- wortung für eine gesamtgesellschaftliche ten und den Vereinten Nationen verknüpft, Präventions- und Integrationspolitik. Hier konnte die Propaganda des IS deutlich zu- bedarf es einer starken kritischen Öffent- rückgedrängt werden. Hauptinstrument ist lichkeit und demokratischen Legitimierung. eine Hashtag-Datenbank, die als terroristisch Dies hat sich in den vergangenen Monaten erkanntes Material erfasst und plattform- bei der Debatte über den »politischen Islam« übergreifende Sperren ermöglicht. Im in Österreich und Frankreich erneut gezeigt. Oktober 2019, nach dem Terroranschlag in Es wäre nicht sinnvoll, auf EU-Ebene da- Christchurch, einigten sich staatliche und rüber zu entscheiden, inwiefern die Arbeit private Akteure auf ein sogenanntes Krisen- religiöser Vereine überwacht werden darf protokoll, das künftig schnelle und mög- oder deren politische Beteiligung als an- lichst weltweite Blockaden von gefilmten gemessen gilt. Die zwischenzeitlich von EU- Terrortaten wie in Christchurch sicherstellen Ratspräsident Charles Michel aufgebrachte soll. In der EU wird die Anwendung dieses Idee, ein EU-Ausbildungszentrum für Krisenprotokolls von Europol koordiniert. Imame zu gründen, ist ebenso unrealis- Angesichts des dynamischen Wachstums tisch, solange die Bildungspolitik weitest- extremistischer Online-Inhalte und der gro- gehend in nationaler oder regionaler Ver- ßen Zahl von Plattformen, die bisher nicht antwortung bleibt. Insofern ist es folge- an solchen Partnerschaften teilnehmen, richtig, dass der Europäische Rat Ende 2020 verfolgen die EU-Kommission und der Rat nur in sehr allgemeiner Form Angriffe auf seit 2018 eine Gesetzesinitiative zur ver- die Meinungs- und Religionsfreiheit ver- pflichtenden Löschung terroristischer urteilt und den Einklang zwischen reli- Online-Inhalte. Das Europäische Parlament giöser Bildung und europäischen Grund- und Vertreter der Industrie und der Zivil- werten angemahnt hat. gesellschaft warnten demgegenüber mehr- heitlich vor einer unverhältnismäßigen Zensur und der strukturellen Benachteili- SWP-Aktuell 22 März 2021 5
gung von kleineren Online-Plattforen, die Nutzer, die rechtliche Überprüfbarkeit von keine Ressourcen zur Überprüfung von Löschungsanforderungen und die Nach- Inhalten und zur regelmäßigen Zusammen- verfolgung von Tätern, da bei Polizei und arbeit mit Sicherheitsbehörden haben. Unter Justiz zu wenig qualifiziertes Personal zur dem Eindruck der Ermordung des Lehrers Verfügung steht. Eine entsprechende Weiter- Samuel Paty in Frankreich, die sich ein- entwicklung des Netz-DGs mit einer Stär- deutig auf eine Aufhetzung in Sozialen kung der Rolle des Bundeskriminalamts Medien zurückführen ließ, konnte nun ein steht kurz vor dem Abschluss – aber auch politischer Kompromiss gefunden werden: noch vor mehreren rechtlichen und prak- In der kommenden EU-Verordnung soll die tischen Hürden. Insofern wird die kom- strenge Frist zur Löschung von Inhalten, die mende EU-Verordnung zur Löschung terro- als terroristisch einzuschätzen sind, inner- ristischer Inhalte auch in anderen Mitglied- halb einer Stunde aufrechterhalten werden, staaten nicht ohne weiteres effektiv und in wobei für kleine Anbieter aber gewisse Aus- verhältnismäßiger Weise umgesetzt werden nahmen gelten. Ebenso bleibt der Grund- können. satz, dass Löschungen grenzüberschreitend angeordnet werden können, innerhalb des Binnenmarkts erhalten, mit nur wenigen Weitergehende EU-Regulierung nachträglichen Überprüfungsmöglichkeiten im Bereich Digitalpolitik für den Staat, in dem der betroffene Online- Service ansässig ist. Eine Verpflichtung zu Grundsätzlich entwickelt sich die Debatte »aktiven Maßnahmen«, das heißt zur vor- zur Regulierung des Internets bzw. internet- geschalteten Prüfung von Online-Inhalten, basierter Geschäftsmodelle rasant weiter. wurde hingegen gestrichen. Auch soll die Der Ende 2020 vorgestellte Digital Services Nutzung möglicher terroristischer Inhalte Act (DSA) entfaltet ein umfassendes Kon- für Forschungs- und Bildungszwecke er- zept der Verantwortung und Rechenschafts- laubt bleiben. pflicht großer Online-Plattformen und Kritiker sehen dennoch die Gefahr einer Sozialer Medien. Unter anderem sollen ein- illegitimen und unausgewogenen Inhalts- heitliche Mechanismen zur Meldung mut- kontrolle, da bei grenzüberschreitenden maßlich illegaler Inhalte etabliert werden. Löschanforderungen je nach nationalem Der Verbreitung extremistischer oder be- politischen und rechtlichen System unter- wusst irreführender Inhalte soll durch die schiedliche Maßstäbe angelegt werden könn- Regulierung von Empfehlungsalgorithmen ten. Zudem würden extremistische Nutzer entgegengewirkt werden. Größere Platt- zu kaum kontrollierbaren Kommunika- formen müssten einen tiefen Einblick in ihr tionskanälen und Anbietern im außer- gesamtes System zur Steuerung und Mode- europäischen Ausland abwandern, etwa ration von Inhalten gewähren. Der DSA soll zu Telegram. aber keine Regelung zur Strafbarkeit be- Die bisherigen Erfahrungen in Deutsch- stimmter Inhalte schaffen. land mit dem Netzwerkdurchsetzungs- Im Bereich des jihadistischen Terrorismus gesetz (NetzDG) deuten darauf hin, dass zu- sollen, wie skizziert, bereits einige freiwil- mindest die Risiken eines ungerechtfertig- lige Mechanismen und die kommende EU- ten Löschens legaler Inhalte oder einer Verordnung zur Kontrolle von Online-Inhal- ineffektiven Verdrängung illegaler Inhalte ten greifen. Im Bereich des Rechtsextremis- relativ gering sind. Der Nachteil der partiel- mus und der sogenannten »Hassrede«, die len Abwanderung »ins Dunkelfeld« wird auch unter den Regelungsbereich des DSA womöglich aufgewogen durch die deutlich fallen könnte, stellen sich jedoch zwei be- eingeschränktere Reichweite der dort ver- sondere Herausforderungen: Zum einen fügbaren Kommunikationskanäle. Proble- verwenden viele Akteure aus dem Online- matischer sind eher die folgenden Punkte: Milieu der »neuen Rechten« eine kodierte die Auffindbarkeit von Meldestellen für Sprache, die extremistische Inhalte in An- SWP-Aktuell 22 März 2021 6
spielungen versteckt und nur schwer von einigen Republikanern einen Sinneswandel automatisierten Verfahren erfasst werden ausgelöst, was den traditionell sehr hoch kann. Zum anderen werden rechtsextremis- angesetzten Stellenwert der Meinungsfrei- tische Äußerungen in den einzelnen EU- heit betrifft. In den USA findet seither eine Mitgliedstaaten unterschiedlich bewertet. intensive Debatte statt über die Verantwor- Die Union hat 2008 einen Rahmenbeschluss tung von Plattformen. Angesichts der euro- zur Bekämpfung von Rassismus und päischen Marktmacht und der Dominanz Fremdenfeindlichkeit verabschiedet, dem US-amerikanischer Firmen wäre es äußerst zufolge die Mitgliedstaaten entsprechende ratsam, dass Brüssel und Washington sich Aussagen bestrafen sollten. Dieser schwach zu einer koordinierten Herangehensweise verbindliche Rechtsakt aus der Zeit vor dem entschieden. Grob umrissen könnte folgen- Vertrag von Lissabon hat nur wenig Wir- de Richtschnur auf beiden Seiten des Atlan- kung gehabt. tiks gelten: Das Recht auf freie Meinungs- Innerhalb der Kommission wird deshalb äußerung bleibt weitgehend erhalten. Es erwogen, die in Artikel 83 (1) AEUV benann- soll aber kein »Recht auf Amplifizierung« ten Kriminalitätsfelder, für die die EU eine geben. Das würde eine Eindämmung der Harmonisierungsfunktion wahrnehmen Verbreitung von bestimmten Online-Inhal- kann, auf die Bereiche der Hasskriminalität ten erlauben. und Hassrede zu erweitern. Ein solcher Joe Biden hat in seiner Antrittsrede Entschluss müsste jedoch einstimmig im mehrfach die Gefahr angesprochen, die von Rat erfolgen. Dies ist nicht wahrscheinlich, Rechtsextremismus und Rassismus ausgeht, zumindest solange die Spannungen zwi- nicht zuletzt um sich von der mutmaß- schen den Mitgliedstaaten in Fragen der lichen Tolerierung oder gar Unterstützung Rechtsstaatlichkeit und der Auslegung der derartiger Gruppen (z. B. der Proud Boys) liberalen Grundwerte der Union andauern. unter Donald Trump abzusetzen. Allerdings Die Entscheidung von Twitter und Face- haben die US-Behörden schon 2020 erst- book, US-Präsident Trump von ihren Platt- malig eine rechtsextremistische Organi- formen zu verbannen, hat beispielsweise sation, die sogenannte Russian Imperial bei der polnischen Regierung zu der Reak- Movement, als ausländische terroristische tion geführt, ein nationales Gesetz zu Vereinigung verboten. Umso überraschen- planen, das eine solche »Zensur« in ihrem der ist es, dass immer noch keine föderale Einflussbereich verbieten soll. Gesetzgebung existiert, um innerstaatliche Ein einseitiges Vorgehen der großen terroristische Vereinigungen als solche zu Online-Plattformen unter Ausnutzung ihrer verfolgen. Wenn diese Lücke unter der Quasi-Monopolstellung kann mit guten Biden-Administration geschlossen werden Gründen kritisch hinterfragt werden. Ein- sollte, kann die globale Kooperation gegen zelne Mitgliedstaaten machen es durch neue rechtsextremistische und potentiell terro- Rechtsakte zu den Grenzen der Meinungs- ristische Akteure an Substanz gewinnen. äußerung im Internet schwieriger, zu einer Angesichts der unterschiedlichen Bedro- gesamteuropäischen Herangehensweise zu hungslage und -wahrnehmung des Rechts- gelangen. Dies gilt auch für Frankreich, das terrorismus in den europäischen Staaten ist im Jahr 2022 im Rahmen seiner nächsten aber bis auf weiteres vor allem mit flexiblen EU-Ratspräsidentschaft den Digital Services bi- oder minilateralen Initiativen zu rech- Act abschließen will, aber bereits jetzt natio- nen, insbesondere bei der strafrechtlichen nale Gesetze in diesem Bereich vorantreibt. und nachrichtendienstlichen Kooperation. Gerade Deutschland fällt eine wichtige europäische Führungsrolle zu. Es ist im Transatlantische Dimension Bereich des Rechtsextremismus und Rechts- terrorismus besonders betroffen und hat Die Ereignisse am Kapitol haben in den dort aber auch spezielle Kompetenzen. Auf USA unter vielen Demokraten und auch dieses Profil sollte es sich stützen, um die SWP-Aktuell 22 März 2021 7
transatlantischen Beziehungen neu zu be- vergierende Wahrnehmung des Rechts- leben. Dies gilt auch für die künftige Sicher- extremismus als Bedrohung schon jetzt als heitskooperation mit Großbritannien, das Chance für einen transatlantischen Rege- den innerstaatlichen Rechtsextremismus lungsrahmen genutzt werden. schon seit mehreren Jahren als strategische Alle diese Schritte zur Regulierung des Gefahr einstuft. Online-Raums können nur indirekt auf die verschiedenen Arten des religiösen und politischen Extremismus einwirken. Die Fazit und Empfehlungen Forschung zu Radikalisierungsprozessen und zu terroristischen Taten zeigt, dass © Stiftung Wissenschaft Bei der gesamtgesellschaftlichen Prävention Online-Kommunikation eine wichtige und und Politik, 2021 terroristischer Gewalttaten stößt die EU wachsende Rolle spielt, aber persönliche, Alle Rechte vorbehalten trotz jahrelanger Anstrengungen an struk- gesellschaftliche und politische Faktoren turelle Grenzen. Innerhalb der EU sollten mindestens ebenso entscheidend bleiben. Das Aktuell gibt die Auf- sich die Mitgliedstaaten nicht gegenseitig in Da der Rechtsterrorismus bisher nur in fassung des Autors wieder. gesellschaftliche Diskussionen über die einer Minderheit von westlichen Staaten als In der Online-Version dieser Rolle der Religion und Integration hinein- prioritäre Gefahr erlebt wird, sollte man auf Publikation sind Verweise ziehen. Zielführender ist es, bestimmte operativer Ebene in flexiblen Formaten auf SWP-Schriften und Problembereiche, wie die Prävention und vorangehen. Dies gilt etwa für den Aus- wichtige Quellen anklickbar. Rehabilitation in nationalen Justizvollzugs- tausch zu rechtsextremistischen Gefährdern SWP-Aktuells werden intern systemen, mit weiteren europäischen Re- oder für konkrete Maßnahmen wie Vereins- einem Begutachtungsverfah- formanreizen zu versehen. Auch ohne eine verbote und Ermittlungsverfahren, die ren, einem Faktencheck und Harmonisierungskompetenz kann die EU grenzüberschreitende Aspekte haben kön- einem Lektorat unterzogen. mehr tun, als Best Practices zu fördern. nen. Das Muster einer solchen Antiterroris- Weitere Informationen Ganz oben auf der Agenda steht derzeit muskooperation unter »most affected zur Qualitätssicherung der eine Verständigung über die Auslegung der member states« ist die Kooperation in den SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. Meinungsfreiheit und über die Verantwor- frühen 2010er Jahren gegen das Phänomen swp-berlin.org/ueber-uns/ tung von Online-Plattformen und Service- der ausländischen Kämpfer des IS. Diese qualitaetssicherung/ anbietern. Die EU-Mitgliedstaaten müssen Zusammenarbeit konnte später in gemein- langfristig daran arbeiten, ein stärker ge- same europäische Ansätze überführt wer- SWP meinschaftliches Verständnis der strafrecht- den. Auch jetzt wieder kann die EU bei Stiftung Wissenschaft und Politik lichen Grenzen der freien Meinungsäuße- konkreten Antiterrormaßnahmen von Deutsches Institut für rung zu entwickeln. Zunächst muss die engagierten Mitgliedstaaten wie Deutsch- Internationale Politik und Umsetzung der kommenden Verordnung land und Drittstaaten, wie Großbritannien Sicherheit zur Löschung von terroristischen Online- und den USA, profitieren. Inhalten kritisch begleitet werden. Damit es Ludwigkirchplatz 3–4 zu keiner unverhältnismäßigen Anwendung 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 des Terrorismusvorwurfs in grenzüber- Fax +49 30 880 07-100 schreitenden Zusammenhängen kommt, www.swp-berlin.org wäre es hilfreich, die Rechtsgrundlagen zur swp@swp-berlin.org Bekämpfung der Hassrede und der Hass- kriminalität zu erweitern. Mittelfristig wird ISSN (Print) 1611-6364 ISSN (Online) 2747-5018 der Digital Services Act Handlungsdruck doi: 10.18449/2021A22 erzeugen, da Meldungen und Löschungs- anordnungen voraussichtlich stark zuneh- men werden. Die Konsequenzen des DSA werden weit über die Terrorismusbekämp- fung und über die EU-Grenzen hinaus- reichen. Deshalb muss die in den USA kon- Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa. SWP-Aktuell 22 März 2021 8
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