"Die Zeit drängt" - Vorsorgeforum
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
64 | 9.3.2020 | VORSORGE In der 1. und in der 2. Säule gibt es grosse Probleme. In welchem Bereich ist der Reformbedarf dringender? Bei beiden Säulen drängt die Zeit. Die AHV hat ein Finanzierungsproblem: Die Auszahlungen sind höher als die Einnahmen durch Beiträge und Steuern. Ebenso dringend ist eine Reform bei der 2. Säule: Das individuell angesparte Alterskapital und die Erträge reichen in vielen Kassen nicht mehr, um die effektiv gezahlten Altersrenten gemäss den gesetzlichen Vor- gaben zu decken. Der Grund für die Misere ist ja eigentlich ein schöner: Wir leben länger. Ja, seit 1950 ist die Lebenserwartung von «Die Zeit 65-Jährigen alle 10 Jahre um rund ein Jahr ge- stiegen. Seit Einführung der AHV 1948 hat sich die Lebenserwartung der Neupensionierten also um 7 Jahre auf 85 (bei Männern) beziehungs- weise 87 Jahre (bei Frauen) erhöht. Das ent- spricht einem Anstieg von 40 bis 50 Prozent. drängt» Bei der 2. Säule, der beruflichen Vorsorge (BVG), hat der Bundesrat nun eine Reform lanciert. Er will unter anderem den Mindest- umwandlungssatz von 6,8 auf 6 Prozent senken. Weshalb ist das nötig? Zunächst möchte ich klarstellen: Es geht nicht darum, jemandem etwas wegzunehmen. Im Gegenteil – das heute fixe Rentenalter führt zu einem ständigen Leistungsausbau, ohne dass es jemand merkt. Wir leben länger und beziehen daher mehr Leistungen, zahlen aber nicht mehr Das Vorsorgesystem ist aus dem Lot geraten – der Geld in die 2. Säule ein. Es ist wie beim Haus- haltsbudget: Wenn man mehr ausgibt, als man Bundesrat schlägt eine Reform der 2. Säule vor. einnimmt, hat man langfristig ein Problem. Es Christoph Ryter, Chef der Migros-Pensionskasse, geht darum, das Problem etwas zu reduzieren. erläutert Hintergründe und Stossrichtung der Vorlage. Die Zeche zahlen also die Jungen? Bei Kassen mit einem Umwandlungssatz von Text: Benita Vogel! 6,8 Prozent ist das so. Bei der heute höheren Lebenserwartung müssten die sogenannten S BVG-Minimalkassen einen Vermögensertrag von jährlich 5 Prozent auf ihrem Vermögen ie sind 52: Denken Sie bereits über erzielen, um die versprochene lebenslängliche Ihre Pensionierung nach? Rente finanzieren zu können. Bei den derzeit Spätestens mit 50 Jahren sollte man tiefen Zinsen ist das nicht realistisch, die sich um die Altersvorsorge kümmern – versprochenen Renten sind also zu hoch. Die deshalb setze ich mich natürlich damit aus- individuellen Sparbeiträge der Versicherten einander. Zu welchem Zeitpunkt ich in den und die erzielten Vermögenserträge können Ruhestand treten werde, weiss ich aber noch die Rentenauszahlungen nicht decken. Die nicht genau. Ich rechne damit, dass einige Differenz wird stattdessen vom gesamten Ver- Menschen meines Jahrgangs nicht schon mögensertrag der Kasse finanziert. Deshalb mit 65 in Rente gehen werden. bleibt zur Verzinsung der Guthaben der aktiven Versicherten weniger übrig – man spricht von Machen Sie sich Sorgen, dass kein Geld mehr Umverteilung. da sein wird, wenn Sie in Rente gehen? Nein. Unser Vorsorgesystem hat sich bewährt Die Migros-Pensionskasse (MPK) hat und ist trotz Reformbedarfs sehr sicher. im vergangenen Jahr aber eine Rendite
VORSORGE | 9.3.2020 | 65 von 11,9 Prozent erzielt. Also alles kein Reicht eine Senkung von 6,8 auf 6 Prozent Problem? überhaupt? Wir haben tatsächlich eine über Erwarten gute Nein, rein rechnerisch gesehen, müsste der Satz Performance erzielt. Den grössten Teil – kon- bei einem erwarteten Ertrag von 2 Prozent auf kret: 11,5 Prozent des Vorsorgekapitals – haben den Vermögensanlagen unter 5 Prozent liegen. wir nun in eine vorsichtigere Bewertung der Verpflichtungen investiert. 2018 lag die Rendite Die Reform sieht vor, dass die Senkung des allerdings bei minus 1,9 Prozent. Wir müssen Christoph Ryter (52) Umwandlungssatzes für Neurentner kom- deshalb realistisch bleiben: Risikolose Anlagen ist Vizepräsident pensiert wird durch fixe Rentenzuschläge wie zehnjährige Bundesobligationen haben des Schweizerischen für alle, finanziert durch einen Lohnabzug heute eine Verfallsrendite von minus 0,7 Pro- Pensionskassenverbands und von 0,5 Prozent. Das kommt einer neuer- zent. Wir rechnen heute mit einer Rendite seit zehn Jahren Geschäftsleiter lichen Umverteilung von Jung zu Alt gleich. von 2 Prozent. Aber: Bei der MPK findet die der Migros-Pensionskasse Ja, alle Neupensionierten sollen in den nächs- erwähnte Umverteilung nicht statt, weil wir mit 80 000 Versicherten, ten 15 Jahren einen fixen Zuschlag von bis zu unsere Reglemente bereits angepasst haben davon fast 29 000 Rentnern. 200 Franken pro Monat erhalten – und zwar und eine stark überobligatorische Kasse sind. unabhängig davon, ob sie von der Senkung des BVG-Mindestumwandlungssatzes betrof- Die Senkung des Umwandlungssatzes trifft fen sind oder nicht. Die Umverteilung zwischen also nicht alle angehenden Rentner in glei- Jung und Alt wird so sogar verstärkt statt cher Weise. Wer ist am stärksten betroffen? reduziert. Ein Rechenbeispiel: Die neuen Alle Mitglieder von BVG-nahen Kassen, deren Lohnabzüge würden sich bei einem 50-Jähri- Umwandlungssatz heute oft noch bei 6,8 Pro- gen mit einem Jahreslohn von 100"000 Franken zent liegt. Das betrifft knapp ein Drittel aller Kurz erklärt bis zu seiner Pensionierung auf insgesamt rund vier Millionen BVG-Versicherten – also 7500 Franken belaufen (0,5 Prozent während eine Minderheit. Es handelt sich dabei oft Mit dem Umwandlungssatz 15 Jahren). Er würde später aus dem Kompen- um Versicherte, die bei kleinen und mittleren berechnen Kassen die Höhe sationstopf aber 24"000 Franken Renten- Firmen arbeiten. Das BVG ist ein Gesetz, das der jährlichen Rente. Bei einem zuschlag erhalten (100 Franken pro Monat vorsieht, welche Minimalleistungen eine Umwandlungssatz von 6 Prozent während veranschlagten 20 Rentenjahren). Pensionskasse bei Alter, Tod und Invalidität und einem Alterskapital von Die Differenz von 16"500 Franken wird von erbringen muss; in der Reform des Bundesrats 100 000 Franken resultiert eine einer jüngeren, arbeitstätigen Person gezahlt, geht es um dieses Obligatorium. Die meisten Rente von 6000 Franken pro Jahr. die selber in Zukunft deutlich weniger erhalten Firmenkassen gehen aber über dieses Mini- wird. Diese Verteilung nach dem Giesskannen- mum hinaus und zahlen höhere Leistungen. Obligatorium: Obligatorisch prinzip macht die Reform sehr teuer. Sie haben auch bereits die Umwandlungssätze versichert sind in der berufli- angepasst – beim überobligatorischen Teil, der chen Vorsorge Löhne zwischen Es gibt kritische Stimmen zum Reform- über das Minimum hinausgeht, dürfen sie das. 24 885 Franken und 85 320 Fran- vorschlag, einige Branchenverbände und Viele Kassen nehmen eine Mischrechnung vor ken. Einige Pensionskassen Parteien sind dagegen. Was nun? und wenden einen einzigen Umwandlungssatz richten höhere Leistungen aus, Der Vorschlag des Bundesrats ist in dieser an. Mittels der sogenannten Schattenrechnung als das Gesetz vorschreibt. Dies Form wohl nicht mehrheitsfähig. Das ist aber wird überprüft, ob die gesetzlichen Vorgaben nennt man überobligatorische nicht tragisch. Es gibt alternative Vorschläge. im Leistungsfall eingehalten werden. So liegt Vorsorge. Sie sehen vor, dass es zwar eine Kompensation der Umwandlungssatz bei Schweizer Pensions- für Personen kurz vor der Pensionierung geben kassen heute im Schnitt bei 5,8 Prozent. Koordinationsabzug: Der soll, dass diese aber auf zehn Jahre limitiert Abzug vom AHV-pflichtigen ist, nur das BVG-Minimum betrifft und von Lohn gewährleistet, dass der jeder Kasse selber finanziert werden kann – Lohnanteil, der bereits in der weitgehend aus schon vorhandenen Rück- 1. Säule versichert ist, nicht stellungen. Langfristig sehen alle Vorschläge noch einmal in der 2. Säule mehr Beiträge vor, um durch ein höheres versichert wird – er koordiniert Altersguthaben bei Pensionierung die Senkung also den versicherten Jahres- des BVG-Mindestumwandlungssatzes aus- Bild: Simon Hallstroem; Illustrationen: iStock lohn zwischen AHV und gleichen zu können. Ich bin zuversichtlich, Pensionskasse. Zurzeit beträgt dass letztlich eine gute Lösung gefunden wird. der Abzug 24 885 Franken, unabhängig von Einkommen Welche Alternativen gibt es, um die Lücken und Beschäftigungsgrad. beim Alterskapital zu kompensieren? Es gibt mehrere Stellhebel. Einer ist die Spar- BVG -Minimalkassen sind dauer: Ein Alternativvorschlag zur Reform Vorsorgeeinrichtungen, die aus- sieht etwa vor, dass man bereits ab 20 Jahren schliesslich die gesetzlichen für das Alter spart statt erst mit 25. Eine Mindestleistungen versprechen. weitere Möglichkeit ist es, die Sparbeiträge
VORSORGE | 9.3.2020 | 67 Die BVG-Reform Nachdem mehrere Anläufe zu einer Reform der beruflichen Vor- sorge gescheitert sind, verstanden sein mit der Weiterbeschäftigung haben sich der Arbeit- nach dem ordentlichen Rücktrittsalter. geberverband, der Dachverband der Besonders ältere Arbeitnehmer haben es Arbeitnehmenden, im Arbeitsmarkt schwer. Wer über 50 Jahre Travail.Suisse, und der alt ist und eine Arbeit sucht, kann ein Lied Gewerkschaftsbund im davon singen"… vergangenen Sommer Man vergisst dabei oft, dass die Arbeitslosigkeit auf einen Kompromiss bei älteren Menschen viel tiefer liegt als bei geeinigt. Er beinhaltet jüngeren. Es stimmt aber: Wenn jemand unter anderem eine mit über 50 die Stelle verliert, braucht er im Senkung des BVG- Durchschnitt viel länger, um einen neuen Job Umwandlungssatzes zu finden. von 6,8 auf 6 Prozent zu erhöhen. Zudem könnte man den Koordi- und eine Anhebung der nationsabzug senken. Dies wäre vor allem Welche Anreize braucht es, damit man übers Lohnabzüge um 0,5 Pro- für Teilzeitbeschäftigte und Angestellte mit Rentenalter hinaus arbeitet? zent zur Finanzierung tieferen Einkommen von Vorteil. Man sollte sich erst einmal selber vom eines lebenslänglichen Wunschszenario Frühpension lösen. Zudem Rentenzuschlags für alle Was Sie noch nicht erwähnt haben, ist die müssen die Arbeitgeber viel mehr attraktive Neurentner. Erhöhung des Rentenalters. Das wäre doch Arbeitsplätze und Arbeitszeitmodelle für am einfachsten. Ältere anbieten und in die Weiterbildung der Die Vorlage findet nicht Ja, die Verlängerung des Sparprozesses durch älteren Mitarbeitenden investieren. überall Anklang. Die eine spätere Pensionierung wäre unbestritten Arbeitgeberverbände das wirksamste Mittel. Man spart länger Frühpensionierungen sind aber bis heute der Banken, Baumeister und bezieht weniger lang Rente. Die Politik für viele Arbeitgeber eine willkommene und Detailhändler sowie sagt aber, das sei nicht mehrheitsfähig. Bei den Restrukturierungsmassnahme. die IG Detailhandel, meisten Pensionskassen ist das Rentenalter Hier wird es in den nächsten Jahren sicher der Versicherungs- übrigens heute schon flexibel gestaltet; es ein Umdenken geben, weil mehr Leute in und der Gewerbever- variiert zwischen 58 und 70. Pension gehen, als in den Arbeitsmarkt ein- band unterstützen einen treten. Der Arbeitskräftemangel wird nicht Alternativvorschlag: Wie hoch müsste das Rentenalter denn sein? auf Spezialisten limitiert bleiben, sondern Er sieht eine limitierte Seit der Einführung der AHV 1948 ist die auf breiter Flur stattfinden. Das wird Arbeit- Kompensation – nur Lebenserwartung um rund 7 Jahre gestiegen. geber künftig automatisch dazu motivieren, für die von der Reform Wenn man bedenkt, dass man 40 Jahre lang die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei betroffenen Neu- spart – von 25 bis 65 –, um 20 Jahre lang Rente der Stange zu halten. rentner – vor; sie soll zu beziehen, müsste in einem nachhaltigen weitgehend durch System also das Rücktrittsalter mit jedem Was raten Sie den Versicherten, um best- vorhandene Rück- zusätzlichen Lebensjahr um 8 Monate erhöht möglich vorzusorgen? stellungen der Vorsorge- werden, damit man 4 Monate länger Renten Ich rate, dafür zu sorgen, bei der eigenen Pen- einrichtungen finanziert beziehen kann. So käme man heute auf ein sionskasse auf die vollen Leistungen zu kom- werden. Rücktrittsalter von fast 70 Jahren. men, das heisst, voll eingekauft zu sein. Auf Der Vorschlag zur dem Vorsorgeausweis, der jedes Jahr verschickt BVG-Reform ist noch Jetzt übertreiben Sie! wird, ist eine Einkaufsmöglichkeit vermerkt. bis Ende März 2020 in Es klingt extrem, ich weiss. Es bringt aber zum der Vernehmlassung. Ausdruck, dass das Sozialversicherungssystem, Ist man mit einer schön ausgestatteten bestehend aus 1. und 2."Säule, aus den Fugen eigenen 3."Säule nicht besser bedient? gerät, wenn man das Gefühl hat, dass ein In der 3."Säule hat man bei der Vermögens- Rentenalter von 65 Jahren bei ständig steigen- verwaltung nicht die gleichen Konditionen der Lebenserwartung in Stein gemeisselt sei. wie bei der Pensionskasse. Die Gebühren sind Zudem sind die heutigen 65-Jährigen nicht höher und die Renditeaussichten oft tiefer mehr mit denjenigen von 1948 zu vergleichen. als bei der Pensionskasse. Auf dem 3a-Konto Heute ist man in der Regel fitter und gesünder. erhält man jedenfalls kaum mehr Zinsen. Aber wie viele Leute arbeiten heute über Wollen Sie damit sagen, man solle gar nicht das ordentliche Rücktrittsalter hinaus? in die 3."Säule investieren? In der Praxis ist das immer noch eine Minder- Nein. Sehr oft ist es aber besser, zuerst durch heit, speziell im Falle gut ausgebauter Einkäufe in der eigenen Pensionskasse für eine Pensionskassen, bei denen man sich eine gute Versicherungsdeckung und damit für ein Frühpensionierung eher leisten kann. Zudem gutes Renteneinkommen im Alter zu sorgen, muss der Arbeitgeber natürlich auch ein- bevor man eine 3."Säule aufbaut.$MM
Sie können auch lesen