Die Zerreißung Tirols - Tiroler Bauernbund
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Die Zerreißung Tirols Vor hundert Jahren, 1919/1920, wurde das historische Tyrol in drei Teile zerrissen. Von Wilfried Beimrohr Die Siedlungsgebiete der Sprach- und Volksgruppen in Tirol vor dem Ersten Weltkrieg. Landesstelle für Südtirol 1945. Alle Bilder: Tiroler Landesarchiv Die politische Geschichte Tirols der turbu- Kroaten und Slowenen. Dass italienische Trup- lenten Jahre 1918 bis 1920, in die das Kriegs- pen Tirol südlich des Brenners besetzten und ende, der Zusammenbruch der Doppelmon- italienische Besatzungskontingente in Inns- archie Österreich-Ungarn, die Gründung der bruck und an anderen Nordtiroler Orten po- Republik Österreich und letztlich der Verlust stiert wurden, war im Waffenstillstandsabkom- Südtirols an Italien fallen, löst heute noch kon- men vom 3. November 1918 so vorgesehen. troverse Diskussionen aus. Wäre die Spaltung Der Verlust Südtirols ist auch nicht der öster- Tirols zu verhindern gewesen? Durch bewaff- reichischen Diplomatie anzulasten. In den Au- neten Widerstand sicher nicht, wie mitunter gen der Siegermächte repräsentierte der Klein- mit Verweis auf den Kärntner Abwehrkampf staat Österreich in Rechtsnachfolge des unter- argumentiert wird. Die italienische Armee war gegangenen Österreich-Ungarns die Seite der nicht der Heerhaufen eines neu gegründeten Verlierer, zählte zu den Besiegten und daher Staates wie eben das Königreich der Serben, wurde seinen Außenpolitikern und Diploma- 53
ten nur ein äußerst begrenzter Verhandlungs- mend übersteigerten Nationalismus in den spielraum eingeräumt. gesellschaftlichen Eliten des Landes. Ein spä- ter und radikalisierter Nachhall des Risorgi- Risorgimento und Irredentismus mento war der Irredentismus. Ihm ging es dar- um, die „unerlösten Gebiete“ (terre irredente) Der Verlust Südtirols hat eine Vorgeschich- zu befreien und in das italienische Vaterland te, in dem das alte Vielvölkerreich der Habs- heimzuholen. Damit war wieder Österreich- burger, der junge italienische Nationalstaat Ungarn im Visier, wo rund 770.000 Italiener und deren Gegensätze eine große Rolle spie- lebten, vornehmlich im Kronland Tirol und len. Im frühen 19. Jahrhundert entstand auf an der oberen Adria im Kronland Küstenland, der staatlich zersplitterten Halbinsel eine Be- das die früheren Provinzen Görz/Gradisca, wegung, das Risorgimento (italienisch „Wie- Istrien und die reichsunmittelbare Stadt Triest dererstehung“), die sich zum Ziel setzte, die umfasste, wobei nur der Süden der Grafschaft Fremdherrschaften, zu denen die Habsburger Tirol ein geschlossenes italienisches Sied- zählten, abzuschütteln und Italien politisch lungsgebiet aufwies. in einem Staat zu einen. Mit Unterstützung des Königreichs Savoyen-Piemont und mit Wie der Staat Österreich-Ungarn war auch Hilfe Frankreichs gelang das auch. 1859 ver- das Kronland Tirol ein multiethnisches Gebil- lor das Habsburgerreich die Lombardei und de. Von seiner Wohnbevölkerung waren kurz 1866 musste es Venetien an das fünf Jahre vor dem Ersten Weltkrieg 525.000 deutsch- vorher gegründete Königreich Italien abtre- sprachige, 367.000 italienischsprachige und ten. Bei der Einigung Italiens galt die Habs- 19.000 ladinischsprachige Tiroler, wobei je- burgermonarchie als Hauptgegner und wur- de der drei Volksgruppen relativ geschlosse- de als Unterdrücker des italienischen Volkes ne Siedlungsgebiete hatte und die Salurner hingestellt. Als Staat hegte das nun vereinigte Klause auch eine Sprachgrenze zwischen Italien alsbald koloniale und imperialistische Deutsch und Italienisch bildete. In einer Zeit Ambitionen, bestärkt durch einen zuneh- des allerorten um sich greifenden nationalen Soldaten des italienischen Besatzungskontingents marschieren 1919 durch die Völserstraße in Innsbruck. 54
Empfindens und Denkens, das einer Vorstel- Italien fürchtete einen Militärschlag aus den lung von Volk anhing, das eine sprachliche, Tiroler Bergen, den die österreichischen Mi- kulturelle und von der gemeinsam erlebten litärs durchaus geplant und erwogen hatten. Geschichte geprägte Einheit darstellte, und in einer Zeit der steigenden Angst, von be- Der Kriegseintritt Italiens nachbarten Völkern verdrängt oder der eth- und der Londoner Vertrag nischen Identität beraubt zu werden, kam es auch in Tirol zu nationalen Spannungen, Als im August 1914 der Krieg zwischen den zumal in Welsch- oder Südtirol mit wach- Mittelmächten Deutschland und Österreich- sendem Selbstbewusstsein die Autonomie für Ungarn und den Entente-Mächten Frank- den italienischen Teil Tirols gefordert wurde. reich, Großbritannien und Russland aus- (Der Begriff Südtirol bezog sich geographisch brach, erklärte sich Italien in diesem Konflikt auf das heutige Trentino, wanderte aber 1918 für neutral. In der italienischen Presse wurde nach Norden und bezieht sich seither auf eine heftige und breitenwirksame Kampa- das deutschsprachige Tirol südlich des Bren- gne einer nationalistischen Lobby entfacht, ners). Besonders in den städtischen Bildungs- die den Eintritt in den Krieg auf Seiten der schichten grassierte die Irredenta, eine kleine Entente und den Kampf gegen Österreich- Minderheit bildend, die aber umso heftiger Ungarn forderte. Die „Interventionisten“ sa- agitierte, Österreich verteufelte und Italien hen die einmalige Gelegenheit, das italieni- als das gelobte Land pries. In diesen Kreisen sche Einigungswerk des 19. Jahrhunderts zu wurde eine fatale Idee geboren und konse- vollenden und die angestrebte Machtpositi- quent verfolgt, wozu auch die Wissenschaft on an der oberen Adria auszubauen, zumal missbraucht wurde: Der eine Wasserschei- die k. und k. Armee durch den desaströsen de bildende Alpenhauptkamm sei, so wurde Kriegsverlauf schwer angeschlagen war. behauptet, eine natürliche Grenze zwischen Die italienische Regierung führte geheime germanischen und romanischen Völkern, bis Verhandlungen mit Österreich-Ungarn, das zum Brenner reiche die heilige italienische aber dafür, dass sich Italien weiterhin aus Erde, die Italianitá im Norden sei lediglich dem Krieg heraushielt, widerwillig lediglich verloren gegangen. Damit verbunden war die das Trentino abzutreten anbot, und zwar Aufforderung, wobei die wissenschaftliche erst nach Friedensschluss. Die Zusagen der Legitimation gleich mitgeliefert wurde, die Entente waren um einiges verlockender. Im deutschsprachigen Gebiete für Italien in Be- Geheimvertrag von London vom April 1915 sitz zu nehmen und die dortige Bevölkerung wurden von der Entente Italiens Forderungen zu assimilieren. Diese in irredentistischen für den Krieg gegen Österreich-Ungarn weit- Gelehrtenzirkeln kursierenden kruden Ide- gehend erfüllt: Zugesprochen wurden ihm en wurden dann unter dem Faschismus zur Tirol bis zum Brenner sowie an der oberen Staatsdoktrin erhoben und politisch umge- Adria die Gebiete von Friaul, Triest und Istri- setzt. en, das nördliche und mittlere Dalmatien Die außenpolitischen Beziehungen zwi- samt vorgelagerten Inseln. Der bisherige ko- schen Italien und Österreich-Ungarn, ob- loniale Besitz wurde garantiert und bei einer gleich beide zusammen mit dem Deutschen eventuellen Aufteilung der Türkei sollte Itali- Reich 1882 ein Dreibund genanntes Defen- en berücksichtigt werden. Dass Italien Tirol sivbündnis eingegangen waren, prägte tiefes bis zum Brenner forderte und zugesprochen gegenseitiges Misstrauen. Österreich-Un- bekam, war strategischen Überlegungen ge- garn beunruhigten die expansiven Gelüste schuldet. Aus den Alpen sollte keine militä- Italiens im Süden seines Herrschaftsberei- rische Gefahr mehr drohen, von einer weite- ches, nach der Jahrhundertwende wurden ren Existenz Österreich-Ungarns war damals die Garnisonen im südlichen Tirol laufend noch auszugehen. Am 23. Mai 1915 erklärte verstärkt und die Festungswerke ausgebaut. Italien Österreich-Ungarn den Krieg. 55
Ein Reich löst sich auf waren inzwischen kein Geheimnis mehr und kursierten in der Öffentlichkeit. Alle Hoff- Nach vier langen Kriegsjahren war Öster- nungen richteten sich auf Woodrow Wilson, reich-Ungarn im Oktober 1918 am Ende. der als US-Präsident die wichtigste Sieger- Seine Kriegsbilanz war erschreckend und an- macht repräsentierte. Wilson popagierte das gesichts fehlender Zukunftsperspektiven zu- hehre Prinzip des Selbstbestimmungsrechts gleich sinnlos: Die Zahl der gefallenen, ver- der Völker und hatte im Jänner 1918 sein letzten und verkrüppelten und in Kriegsgefan- 14-Punkte-Programm verkündet, in dem er genschaft geratenen Soldaten ging jeweils in eine Nachkriegs- und Friedensordnung für die Hunderttausende, die Wirtschaft lag am Europa skizzierte. Im 9. Punkt war festgehal- Boden, die Zivilbevölkerung darbte und hun- ten, dass die Grenzen Italiens nach genau gerte und hatte die jahrelangen Entbehrungen erkennbaren Abgrenzungen der Volkszuge- und Gängelungen satt. Ungarn, Tschechen, hörigkeit gezogen werden sollten. Zudem Slowaken, Slowenen, Kroaten und andere waren die USA kein Vertragspartner besag- Völker hatten es eilig, den Staatsverband zu ten Londoner Vertrags. verlassen. Diese staatlichen und gesellschaft- lichen Auflösungserscheinungen übertru- Ende Oktober 1918 kam es in Wien zur gen sich auf die k. u. k. Armee, die an der deutschösterreichischen Staatsgründung. Es Südwestfront noch immer im Kampf stand. entstand der letzte Nachfolgestaat Österreich- Der am 3. November 1918 in Padua abge- Ungarns. Die deutschen Abgeordneten des schlossene Waffenstillstandsvertrag zwischen Reichsrates aus den Alpenländern, Böhmen Österreich-Ungarn und der Entente beendete und Mähren vereinten sich zur Provisorischen die Kampfhandlungen. Festgelegt wurde ei- Nationalversammlung und beschlossen einen ne Waffenstillstandslinie, hinter der sich die österreichischen Staat zu gründen. Am 12. österreichischen Streitkräfte zurückziehen November wurde auf Grund eines Beschlusses mussten und die geräumten Gebiete durften der Nationalversammlung unter dem Namen von den alliierten Truppen besetzt werden. In Deutschösterreich die Republik ausgerufen, Tirol verlief diese Italien sehr entgegenkom- wobei Deutschösterreich ein Bestandteil der mende Waffenstillstandslinie vom Reschen Deutschen Republik sein sollte. Die Repu- im Westen über den Brenner im Norden bis blik erhob Anspruch auf alle Gebiete, in de- zum Toblacher Feld im Osten. Binnen einer nen ausschließlich oder überwiegend Deut- Woche war Tirol südlich des Brenners von ita- sche lebten, unter anderem auf die Rand- und lienischen Truppen besetzt und der Eindruck, Grenzgebiete Böhmens und Mährens entlang dass sich Italien für ständig im Okkupations- der Grenzen Nieder- und Oberösterreichs und gebiet einrichte, sollte nicht täuschen, nach Deutschlands, die westungarischen Komita- außen wurde die Brennergrenze als Demar- te (das spätere Burgenland) und selbstredend kationslinie von der italienischen Militär- Südtirol unter Verzicht auf das Trentino. Fak- regierung in Trient streng abgeschottet, der tisch erstreckte sich die Hoheit des jungen Waren- und Personenverkehr zwischen Nord Staatswesens auf die Länder Niederösterreich, und Süd wurde gestoppt, österreichisches Oberösterreich, Salzburg und Vorarlberg und Geld durfte nicht mehr eingeführt werden, mit territorialen Einschränkungen auf die Stei- die Lira wurde zum einzigen Zahlungsmittel. ermark, Kärnten und Tirol. Alles andere lag au- ßer Reichweite, entweder gehörten die Gebie- Tirol lebte zwischen Bangen und Hoffen. te einem anderen Staat an, der Tschechoslo- Man hatte sich mit der Tatsache abzufinden, wakei und Ungarn, oder waren von fremden dass Südtirol in der italienischen Besat- Truppen, Italiens und des SHS-Staates, besetzt. zungszone lag, auf Gedeih und Verderben Als Staat vertrat Deutschösterreich eine Bevöl- Italien ausgeliefert, und die Bestimmungen kerung von 10 Millionen, in Wirklichkeit ge- des Londoner Vertrags aus dem Jahre 1915 bot es über knapp 6 Millionen Menschen. 56
Südtirol: Zwischen US-Diplomaten mit Informationen über die Bangen und Hoffen ethnischen Verhältnisse in Südtirol zu ver- sorgen. Um die Jahreswende 1918/19 war Ende Oktober, Anfang November 1918, es jungen Südtirolern gelungen, heimlich die während das Land von heimkehrenden Sol- Unterschriften der Bürgermeister aller deut- daten förmlich überschwemmt wurde und in schen und ladinischen Gemeinden für eine eine Ernährungskrise taumelte, entstanden in Denkschrift an Wilson einzusammeln, die an Innsbruck aus eigenem Antrieb eine Legislative den US-Präsidenten eindringlich appellierte, und eine Exekutive, Tiroler Nationalversamm- die Zuschlagung Südtirols an Italien zu verhin- lung und Tiroler Nationalrat genannt, die das dern, und über die Grenze nach Innsbruck zu Land Tirol einschließlich Südtirol provisorisch schmuggeln. In Tirol schwirrten in den Win- der Republik Deutschösterreich anschlossen. termonaten die Gerüchte, hoffnungsfrohe und Der außenpolitische Kurs der Regierung in düstere, und es wurden allerlei illusorische Wien war, mit Verweis auf das Selbstbestim- Pläne zwecks Rettung Südtirols geschmiedet, mungsrecht der Völker, auf den Anschluss an ja bizarre Vorschläge unterbreitet: Tirol als ei- Deutschland ausgerichtet. Mit ein Grund für gener Staat mit monarchischer Spitze, als Kir- diese Anschlusspolitik, für die aus der Sicht chenstaat mit dem Papst als Oberhaupt, als von damals nationale und vor allem wirt- Land unter italienischer Hoheit, als Kanton schaftliche Überlegungen sprachen, war, dass der Schweiz, als Alpenstaat im Verbund mit die deutschsprachigen Gebiete Böhmen und Vorarlberg und Salzburg usw. Wie ein Ham- Mährens, die beibehalten werden sollten, merschlag traf daher die Tiroler Öffentlichkeit wirtschaftlich und verkehrstechnisch der An- diesseits und jenseits des Brenners, als Woo- bindung an Deutschland bedurften. Letztlich drow Wilson im April 1919 öffentlich kundtat, erwies sich die Anschlusspolitik als Illusion. dass Südtirol Italien überlassen werde. In Re- Nicht so wenige politische Realisten wiesen aktion darauf beschloss die Tiroler Landesver- auf den wunden Punkt hin: Die Siegermäch- sammlung in Innsbruck am 3. Mai 1919, Ti- te, zumindest aber Frankreich würden nie und rol zum selbstständigen, demokratischen und nimmer, Selbstbestimmungsrecht hin oder her, neutralen Freistaat auszurufen, wenn dadurch einen Bevölkerungs- und territorialen Zuwachs die Einheit des Landes gewahrt bleibe. Falls des unter immensen Verlusten mühsam niedergerungenen Deutschlands zulas- sen. In Tirol stieß die Wiener Anschluss- politik ohnedies auf Skepsis, einem künf- tigen Grenznachbarn Deutschland würde Italien Südtirol sicher nicht überlassen, so die nüchterne Ein- schätzung. In Tirol versuchte man über ein Verbindungsbüro im schweizerischen Bern diplomatische Kanäle zu nutzen, um vor allem die Die Zerreißung Tirols nach dem Ersten Weltkrieg. Landesstelle für Südtirol 1945. 57
die Einheit des Landes ausbleibe, werde sich gen: Grenzgebiete bei Gmünd und Feldsberg Nordtirol Deutschland anschließen. Wie sich in Niederösterreich an die Tschechoslowakei, bald weisen sollte, ging dieses verzweifelte die Untersteiermark, das Kärntner Mießtal und Angebot ins Leere. Die außenpolitische Speku- Seeland an Jugoslawien und ganz Südtirol und lation, mit einem unabhängigen und neutralen das Kärntner Kanaltal an Italien. Hinsichtlich Staat Tirol die Landeseinheit zu retten, hatte Südtirol hatte Italien erfolgreich eine Grenzver- von vornherein keine Chance, verwirklicht zu schiebung nach Osten hineinreklamiert. Die werden. Italien wollte von der Brennergrenze Grenze verlief nicht mehr, wie im Londoner nicht mehr ablassen und Frankreich fürchtete, Vertrag und im Waffenstillstandsvertrag vorge- dass ein solcher Pufferstaat früher oder später sehen, über das Toblacher Feld, sondern wurde zum Gegenstand eines deutsch-italienischen bis vor Sillian verschoben, wodurch die zum Tauschgeschäftes werden könnte. Bezirk Lienz gehörenden Gemeinden Sexten, Innichen, Innichberg, Wahlen, Vierschach und Der Friedensvertrag Winnebach an Italien fielen. Es gab zwei Zuge- von St. Germain ständnisse an Österreich: In Südkärnten sollte eine Volksabstimmung über die staatliche Zu- Im Mai 1919 durfte eine österreichische gehörigkeit entscheiden und große Teile des Regierungsdelegation unter Führung von deutschsprachigen Westungarns (das spätere Staatskanzler Karl Renner nach Paris zu den Burgenland) wurden auf Kosten des „Verlierers“ Friedensverhandlungen reisen. Sie war isoliert Ungarn Österreich zugesprochen. Was die im Pariser Vorort St. Germain-en-Laye unterge- Österreicher und noch mehr die „verlorenen“ bracht, zu mündlichen Verhandlungen nicht Österreicher an diesen Friedensbedingungen zugelassen und konnte nur schriftlich mit den erbitterte und ihr Rechtsempfinden verletzte, Siegermächten verkehren. Der von den Sieger- war ein krasser Widerspruch: Die Siegermächte mächten vorgegebene Friedensvertrag, dessen und Friedensmacher in Paris verkündeten mo- erster Entwurf im Juni, dessen zweite Fassung ralische Prinzipien, wie etwa das vielbemüh- im Juli 1919 überreicht und veröffentlicht wur- te Selbstbestimmungsrecht der Völker, welche de, löste in Österreich Entsetzen aus. In der ihnen im Friedensprozess und beim Ordnen Presse war vom „Diktatfrieden“, ja „Schand- der Nachkriegsverhältnisse als Leitlinien ihrer frieden“ die Rede. Verboten wurde der An- Politik dienen sollten. In Wirklichkeit setzten schluss Deutschösterreichs an Deutschland, sie sich unbekümmert und kaltschnäuzig über der Name der Republik „Deutschösterreich“ ihre hoch gehaltenen Prinzipien hinweg, wenn war in „Österreich“ umzuwandeln. Österreich diese ihren außenpolitischen Interessen und wurde in die Rechtsnachfolge der untergegan- Ambitionen entgegenstanden. Südtirol war da- genen Habsburgermonarchie gestellt und ihm für ein Beispiel. Südtirol wurde das Opfer eines daher die Schuld am Krieg angelastet sowie realpolitischen Schachers. Reparationen aufgebürdet. Von der österreichi- schen Reichshälfte Österreich-Ungarns fielen Hinter den Kulissen tobten in Paris unter Böhmen, Mähren und ein Großteil von Öster- den Siegermächten die Interessenskonflikte. reich-Schlesien und damit auch deren deutsch- Italien musste während der Verhandlungen sprachigen Gebiete an die Tschechoslowakei, zur Kenntnis nehmen, dass die Großen Drei, der Ostteil Teschens und Galizien an Polen, die USA, Großbritannien und Frankreich, die Bukowina an Rumänien, die Krain und nicht gewillt waren, alle territorialen Zusagen ein Großteil Dalmatiens an den SHS-Staat, das des Londoner Vertrags von 1915 einzuhalten, spätere Jugoslawien, das Küstenland samt Triest besonders wollten sie nicht alle italienischen sowie Zara und einige Adria-Inseln an Italien. territorialen Wunschvorstellungen an der Besonders schmerzte der Verlust deutschspra- oberen Adria erfüllen, wo Italien zusätzlich chiger Gebiete, die innerhalb der historischen die wichtige Hafenstadt Fiume (Rijeka) bean- Grenzen der österreichischen Alpenländer la- spruchte, sehr zum Ärger seiner ehemaligen 58
Trauerkundgebung am Rennweg in Innsbruck am 9. November 1920 wegen der Annexion Südtirols durch das Königreich Italien. Kriegspartner. Es galt hier die territorialen und früherer Jahrhunderte erinnerte. Ohne jede ethnischen Ansprüche des neuen Balkanstaa- Garantie, weder war eine Autonomie vorge- tes, des Königreiches der Serben, Kroaten und sehen noch waren irgendwelche Schutzrechte Slowenen (SHS-Staat) zu wahren, zu dessen für die deutsche Minderheit verankert, wurde Lasten die italienischen Gebietsansprüche Südtirol Italien überlassen. Im Übrigen war gingen. Die italienischen Verhandler standen auch die Entscheidung der Pariser Friedens- unter starkem innenpolitischen Druck, bei konferenz, Italien das ehemalige österreichi- den Friedensverhandlungen ein herzeigbares sche Kronland Küstenland zu überlassen, als Ergebnis herauszuschlagen. Immerhin hat- eingelöstes Versprechen ein realpolitischer te der Krieg hunderttausenden italienischen Gunsterweis, denn die italienische Bevöl- Soldaten Leben und Gesundheit gekostet und kerung (einschließlich der rätoromanischen das Land wirtschaftlich zerrüttet. Unter jenen, Furlans in Friaul) in Friaul, Triest und Istrien die öffentlich am lautesten schrien, protestier- machte nur ein gutes Drittel aus, mehrheitlich ten und reiche Kriegsbeute forderten, waren lebten dort Slowenen und Kroaten. Anderer- ausgerechnet jene nationalistischen Kreise, seits wurde Fiume, eine Stadt mit eindeutig die Italien in den Krieg getrieben hatten und italienischer Mehrheitsbevölkerung, Italien für die blutige Kriegsbilanz verantwortlich im Interesse des SHS-Staates vorenthalten. In waren. Italien beharrte auf der strategischen der Begleitnote Georges Clemenceaus, des Grenze am Brenner und damit auf Südtirol. französischen Ministerpräsidenten und Vor- Letztlich überließen die USA, Frankreich und sitzenden der Pariser Friedenskonferenz, zum Großbritannien ihrem Bündnispartner Ita- endgültigen Vertragsentwurf war festgehalten: lien Deutsch-Südtirol als Kompensation für „Was Tirol betrifft, waren die alliierten und as- das vorenthaltene Dalmatien und trafen da- soziierten Mächte von der Tatsache ergriffen, mit eine realpolitische Entscheidung, die an dass während langer Jahre das italienische den jetzt ansonst verpönten Länderschacher Volk einer absichtlich gegen sein Leben ge- 59
lenkten Bedrohung ausgesetzt war. Diese Be- ohnedies gegenstandslos, nachdem im Alpen- drohung ergab sich daraus, dass Österreich- raum an Stelle einer Großmacht ein Kleinstaat Ungarn im Besitze vorgeschobener und die getreten war, der selbst an seiner Überlebens- italienische Ebene beherrschender militäri- fähigkeit zweifelte. scher Stellungen war. Unter diesen Verhält- Im Juli 1919, mit Vorlage des endgültigen nissen war nach Ansicht der alliierten und Entwurfs des Friedensvertrages, war die Zeit assoziierten Mächte die beste Lösung, Italien der Memoranden, Stellungnahmen, Einwen- die natürliche Grenze der Alpen zuzugeste- dungen und diplomatischen Manöver vorbei. hen, die es seit so langer Zeit fordert“. Diese Österreich hatte sich in das Unabänderliche zu Begründung, mit der versucht wurde, seitens fügen. Am 6. September ermächtigte die Na- der Siegermächte die Preisgabe Südtirols zu tionalversammlung in Wien unter feierlichem rechtfertigen, stand auf wackeligen Beinen. Protest und mit Stimmenthaltung der Abgeord- Denn ein militärischer Präventivschlag war neten aus Tirol Staatskanzler Karl Renner, den einst eher von Italien, das territoriale Ansprü- mit den alliierten und assoziierten Mächten che an seinen nördlichen Nachbarn hatte, als abgeschlossenen Vertrag zu unterzeichnen, von Österreich-Ungarn zu erwarten gewesen, dem vier Tage später Renner in Paris auch das Szenario der militärischen Bedrohung war nachkam. Am 17. Oktober 1919 ratifizierte Österreichische Gebietsansprüche an Italien hinsichtlich Südtirol. Gesellschaft der Freunde Tirols 1946. 60
das österreichische Parlament den 381 Artikel November 1920 trat der im Juni des Vorjahres umfassenden Vertrag, der als Staatsvertrag von gewählte Tiroler Landtag zu einer feierlichen Saint-Germain-en Laye in die Geschichte ein- Sitzung zusammen und verabschiedete seine gehen sollte. 17 Südtiroler Abgeordneten. (1919 konnte im Wahlkreis Südtirol nur im Bezirk Lienz ge- Der Abschied von Südtirol wählt werden. Das Wahlergebnis des Bezirkes Lienz wurde auf die 28 Mandate des Wahl- Ein Jahr später, am 10. Oktober 1920, es war kreises Südtirol umgelegt.) Fortan wurde in der Tag der für Österreich erfolgreichen Volks- der Zwischenkriegszeit in Tirol an jedem 10. abstimmung in Kärnten, wurde Südtirol offi- Oktober im Gedenken an das verloren gegan- ziell dem Königreich Italien einverleibt. Rund gene Südtirol der „Landestrauertag“ began- 220.000 deutsch- und etwa 19.000 ladinisch- gen. Politische Parteien und Gremien sowie sprachige Südtiroler waren ab nun italienische Schulen veranstalteten Gedenkfeierlichkeiten, Staatsbürger. Einmütig protestierten in einem Großkundgebungen wurden organisiert und Aufruf die Südtiroler Parteien: „Südtiroler! in den Kirchen wurden eigene Trauermessen Mit dem heutigen Tage ist die Einverleibung gelesen. Zum Zeichen des Schmerzes wurde Südtirols in das Königreich Italien vollzoge- an diesem Tag die Statue des Andreas Hofer in ne Tatsache. Damit ist das Land Tirol in zwei der Innsbrucker Hofkirche mit einem Trauer- Teile zerrissen. Südtirol ist das Opfer des Frie- flor geschmückt. Der Vertrag von St. Germain densvertrages geworden, der uns trotz des fei- hatte seinen langen Schatten über Südtirol ge- erlich verkündeten Selbstbestimmungsrechtes worfen, ein Schatten, der erst 1972 mit dem von unseren Volksgenossen losreißt“. Am 16. neuen Autonomiestatut zu verblassen begann. Trauersitzung des Tiroler Landtages am 16. November 1920 unter Vorsitz von Landeshauptmann Josef Schraffl. 61
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