Differenzielle pharmakologische Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit
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Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie www.kup.at/ JNeurolNeurochirPsychiatr Zeitschrift für Erkrankungen des Nervensystems Differenzielle pharmakologische Homepage: Rückfallprophylaxe bei www.kup.at/ Alkoholabhängigkeit JNeurolNeurochirPsychiatr Mutschler J, Kiefer F Online-Datenbank mit Autoren- Journal für Neurologie und Stichwortsuche Neurochirurgie und Psychiatrie 2011; 12 (1), 83-88 Indexed in EMBASE/Excerpta Medica/BIOBASE/SCOPUS Krause & Pachernegg GmbH • Verlag für Medizin und Wirtschaft • A-3003 Gablitz P.b.b. 02Z031117M, Verlagsor t : 3003 Gablitz, Linzerstraße 177A /21 Preis : EUR 10,–
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Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit Differenzielle pharmakologische Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit J. Mutschler1, F. Kiefer2 Kurzfassung: Alkoholismus stellt weltweit ein tische Rückfallprophylaxe wirksamer bei Patien- logical relapse prevention. Typological differen- großes medizinisches Problem mit weitreichen- ten mit einem frühen Beginn der Alkoholabhän- tiation and genotyping may also be useful pre- den ökonomischen und sozialen Folgen dar. Ne- gigkeit. Bei Patienten mit im Vordergrund ste- dictors for drug-induced relapse prevention in ben psychotherapeutischen Verfahren stehen hendem Relief Craving scheint Acamprosat bes- alcohol dependence. Currently, three different seit Kurzem auch effektive medikamentöse Be- ser zu wirken, bei Patienten mit überwiegendem subtypes of craving are discussed: reward crav- handlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Aktuelle Reward Craving zeigt sich eine bessere Wirk- ing, relief craving, and obsessive craving. Since Studienergebnisse geben Hinweise darauf, dass samkeit für Naltrexon. Disulfiram, die neben craving subtypes are suggested to share differ- Symptome wie Angst, Depression und vor allem Acamprosat und Naltrexon dritte und am längs- ent pathophysiologic characteristics, potential der starke Wunsch bzw. Zwang, Alkohol zu kon- ten zugelassene rückfallprophylaktische Sub- pharmacodynamic targets for anti-craving sub- sumieren („Craving“) die Wirksamkeit einer stanz, zeigt Vorteile bei Patienten mit impulsi- stances have been hypothesised. For treatment pharmakologischen Rückfallprophylaxe beein- vem Trinkverhalten und ausgeprägtem Kontroll- of alcohol craving, acamprosate and naltrexone flussen. Weiterhin könnten typologische Diffe- verlust. Weitere klinische Studien unter Einbe- have been available for more than 10 years. renzierung und Genotypisierung hilfreiche Prä- ziehung neurobiologischer und pharmakogeneti- These drugs, however, are not equally effective diktoren für eine medikamentöse Rückfall- scher Merkmale sind nötig, um zukünftig eine in all patients. In general, pharmacological re- prophylaxe bei der Alkoholabhängigkeit sein. fundierte differenzielle Therapieempfehlung ge- lapse prevention seems to be more efficient in Suchtdruck („Craving“) stellt einen der Haupt- ben zu können. patients with an early onset of alcohol depend- gründe für Rückfälle im Rahmen der Alkohol- ence. In patients suffering mainly from relief abhängigkeit dar. Es können aktuell drei unter- Schlüsselwörter: Craving, Acamprosat, Nal- craving, acamprosate was suggested to work schiedliche Formen von Suchtdruck unterschie- trexon, Alkoholabhängigkeit, Rückfallprophylaxe better. In contrast, patients suffering predomi- den werden: Reward Craving (Belohnung), Relief nantly from reward craving, naltrexone seems to Craving (Erleichterung/Entspannung) und Ob- show a higher efficacy. Disulfiram, approved in sessive Craving (zwanghaft). Für jede Form von Abstract: Predicting the Effect of Different alcohol relapse prevention since 1951, might Craving werden differenzierbare zentralnervöse Drugs on Alcohol Relapse Prevention. Alco- show benefits in patients with impulsive drink- pathophysiologische Merkmale vermutet; somit holism is an escalating health problem world- ing and pronounced loss of control. Further clini- existieren mehrere potenzielle pharmakodyna- wide. Pharmacological relapse prevention has cal trials involving neurobiological and pharma- mische Angriffspunkte für Anti-Craving-Sub- been shown to support abstinence in alcohol- cogenetic characteristics are warranted for a stanzen. Die seit über 10 Jahren für die Behand- dependent subjects; however, it is still in discus-better differentiation of the suitable medication lung von Craving bei der Alkoholabhängigkeit sion whether specific phenotypes predict effi- for each individual patient. J Neurol Neurochir verfügbaren Substanzen sind Acamprosat und cacy of drug treatment. Recent results indicate Psychiatr 2011; 12 (1): 83–8. Naltrexon. Diese Substanzen sind allerdings that symptoms like anxiety, depression or strong nicht bei allen Patienten gleichermaßen wirk- desire or compulsion to consume alcohol (crav- Key words: craving, acamprosate, naltrexone, sam. Allgemein scheint die pharmakotherapeu- ing) might predict the efficacy of a pharmaco- alcoholism, relapse prevention Einleitung (ca. 5 % der Männer und 2 % der Frauen der erwachsenen Be- völkerung) [2]. Die Alkoholabhängigkeit ist eine chronisch-rezidivierend verlaufende Erkrankung. Die auslösenden Ursachen der Al- In den vergangenen Jahren wurde zunehmend deutlich, dass koholabhängigkeit sind wie bei anderen chronischen Erkran- die Alkoholabhängigkeit mit einer komplexen Störung der kungen multidimensionaler Art (bio-psycho-sozial). Der ge- Gehirnfunktion einhergeht. Am Anfang der Erkrankung steht netische Einfluss, eine Alkoholabhängigkeit zu entwickeln, die regelmäßige Einnahme der Substanz mit einer oft ange- liegt bei etwa 50–60 % [1]. Alkoholerkrankungen stellen da- nehm empfundenen Alkoholwirkung, die neuronale Grund- bei weltweit ein außerordentliches soziales und volkswirt- lage hierfür stellt das mesolimbische Belohnungs- und Ver- schaftliches Problem dar: So sind in Deutschland mindestens stärkungssystem mit Aktivierung der Opiatrezeptoren und 1,6 Millionen Menschen aktuell manifest alkoholabhängig, dopaminergen Neurotransmission dar. Wesentlich ist, dass es zusätzlich konsumieren aktuell 3,2 Millionen Menschen sich bei dem Belohnungs-/Verstärkungssystem um einen Alkohol in riskantem bzw. schädlichem Ausmaß [2]. Das ent- Mechanismus mit positiver Rückkopplung handelt; Einnah- spricht einer Prävalenz von mindestens 25 % behandlungsbe- meverhalten verstärkt positiv weiteres Einnahmeverhalten. dürftiger alkoholkranker Patienten in der Gesamtbevölkerung Im weiteren Verlauf werden Verhaltensmuster, die in Bezug zur Substanzeinnahme stehen, zwanghaft-repetitiv, unelas- tisch und unkontrolliert. Hier spielen GABAerge, serotonerge und noradrenerge Neurotransmittersysteme eine entscheiden- Eingelangt am 26. Jänner 2009; angenommen nach Revision am 16. März 2009; de Rolle bei der Abhängigkeitsentwicklung [3]. Der Verlust Pre-Publishing Online am 16. September 2009 der Kontrolle über die Substanzeinnahme gilt als irreversibel Aus der 1Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Schweiz, und der 2Klinik für Ab- und als eines der Schlüsselkriterien abhängigen Verhaltens. hängiges Verhalten und Suchtmedizin, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim Nach einer gewissen Zeit des Substanzkonsums stellt sich Korrespondenzadresse: Dr. med. Jochen Mutschler, Psychiatrische Universitäts- eine zunehmende Gewöhnung mit Toleranzbildung ein. Als klinik Zürich, CH-8021 Zürich, Militärstrasse 8; E-Mail: jochen.mutschler@puk.zh.ch Folge der Toleranzbildung kommt es zu einer Dosisstei- J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1) 83 For personal use only. Not to be reproduced without permission of Krause & Pachernegg GmbH.
Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit Tabelle 1: Von einer „Abhängigkeit“ nach ICD-10 wird ge- Tabelle 2: Unterschiedliche Hauptgruppen von Craving sprochen, wenn mindestens drei von insgesamt sechs Krite- rien im Laufe eines Jahres nachweisbar waren Reward Craving Das Konzept begründet sich darin, dass die Substanzzufuhr einen positiv verstärkenden Effekt hervorruft. Es – Starker Wunsch oder Zwang, Alkohol zu konsumieren („Craving“) gibt neurobiologische Hinweise darauf, dass bei Patienten mit im Vordergrund stehendem Reward Craving eine Dysregulation im – Minderung der Kontrolle über Beginn, Umfang und Beendigung Opiat-/Dopamin-System zugrunde liegt. Die Patienten dieser Grup- des Konsums von Alkohol pe erwarten eine positive und angenehme Alkoholwirkung, wel- – Toleranzentwicklung che im Verlauf das weitere Konsumverhalten triggert. Häufig findet – Auftreten von Entzugserscheinungen sich bei dieser Patientengruppe eine positive Familienanamnese und ein früher Erkrankungsbeginn. – Vernachlässigung anderer Neigungen und Interessen zugunsten des Alkoholkonsums Relief Craving Das zweite Konzept stellt die Substanz- einnahme zur Vermeidung negativer Zustände in den Vordergrund. – Fortführung des Alkoholkonsums trotz eindeutig eingetretener Durch die Alkoholeinnahme resultiert eine erwartete Erleichterung körperlicher, psychischer oder sozialer Folgeschäden („relief“) innerer Anspannungszustände. Neurobiologisch findet sich bei dieser in der Regel bereits älteren Patientengruppe eine Dysre- gulation im GABA- und Glutamat-System. gerung, begleitet von körperlichen Entzugssymptomen bei zu Obsessive Craving Dieser Gruppe werden Patienten zugeord- niedriger eingenommener Dosis. Diese Entzugssymptome net, die im Vordergrund ein impulsives Trinkverhalten mit Kontroll- sind als negativer Verstärker wirksam und tragen wesentlich verlust zeigen. Neurobiologisch wird eine Dysfunktion des zum fortgesetzten Konsum bei vielen Betroffenen bei. Das serotonergen Systems postuliert. Suchtmittel wird zur Behandlung der Entzugssymptome vom Suchtmittel eingesetzt. Parallel geht eine Veränderung der mente im Rahmen der ambulanten Behandlung zur Rückfall- glutamatergen Rezeptoren im Gehirn einher und erhöht hier- prophylaxe eingesetzt werden. durch das Auftreten von Entzugskomplikationen [4]. Im Rah- men der Abhängigkeitsentwicklung kommt es zu einer Ver- Prädiktoren für den Behandlungserfolg sind nicht zuletzt stärkung der glutamatgesteuerten und zu einer Abschwä- deshalb notwendig, da jeweils nur etwa 20–30 % der mit chung der GABA-gesteuerten Neurotransmission (= gluta- Acamprosat oder Naltrexon behandelten Patienten als materge Hyperexzitabilität) [5, 6]. Die Fähigkeit, auf das Responder eingestuft werden können [8, 12]. Ebenso profitie- Suchtmittel zu verzichten, geht trotz schwerwiegender negati- ren nicht alle Patienten, die mit Disulfiram behandelt werden. ver Konsequenzen für die Patienten verloren. Ein prädiktiver „klinischer Marker“ könnte auf Grundlage des Konzepts des Cravings entwickelt werden. Wenn auch Diesen Circulus vitiosus der Krankheitsentwicklung versu- schwierig zu operationalisieren, so können gegenwärtig kli- chen letztlich sämtliche therapeutische Interventionen zu nisch 3 Hauptgruppen von Craving (Tab. 2) unterschieden durchbrechen, einen Ansatzpunkt bilden hier die spezifischen werden, denen unterschiedliche psychologische und neuro- rückfallprophylaktischen Pharmaka [7, 8]. Bisher konnte der biologische Mechanismen und Konzepte zugrunde liegen Nachweis einer Wirksamkeit in einer großen Anzahl kontrol- [13]. Die Unterscheidung der Unterformen von Craving lierter Studien und Metaanalysen für den NMDA-Rezeptor- könnte für eine differenzielle Indikation einer pharmakologi- modulator Acamprosat und den µ-Opiatrezeptor-Antagonis- schen Rückfallprophylaxe zukünftig relevant sein [14]. Ge- ten Naltrexon erbracht werden, sodass diese Substanzen für genwärtig wird dieser Fragestellung u. a. im Rahmen der die Indikation der Alkohol-Rückfallprophylaxe in vielen Län- „PREDICT“-Studie nachgegangen [15]. dern eine Zulassung erhielten [9]. Die dritte und mit über 50 Jahren in Deutschland bereits am längsten eingesetzte Sub- Auch phänomenologische Unterscheidungen auf Basis typo- stanz zur Alkohol-Rückfallprophylaxe ist der Acetaldehyd- logischer Differenzierungen wurden auf ihren Nutzen für eine Dehydrogenasehemmer Disulfiram. Response-Prädiktion geprüft. Dabei zeigte sich, dass auch Typologien wie die von Babor, Cloninger oder Lesch hilf- Die verfügbaren medikamentösen Therapieverfahren zur reich sein können [16]. Alkohol-Rückfallprophylaxe – abgesehen von Disulfiram – zielen dabei auf die Reduktion von Suchtdruck (Craving) [10, Neuere potenzielle Substanzen wie z. B. Topiramat, Ondan- 11]. Sucht durch unwiderstehliches Verlangen nach einer setron, Oxcarbazepin sowie neuropeptiderge Substanzen Substanz ist eines von 6 Diagnosekriterien der Alkoholab- haben in präklinischen oder ersten klinischen Studien eine hängigkeit nach der 10. Version der International Classifica- Wirksamkeit in der Alkoholrückfallprophylaxe gezeigt. tion of Diseases (ICD-10) (weitere Diagnosekriterien siehe Offen ist gegenwärtig immer noch die Frage, ob eine Kombi- Tabelle 1). Eine Alkoholabhängigkeit kann diagnostiziert nation der genannten Substanzen eine Wirksamkeitsstei- werden, wenn 3 von 6 ICD-10-Kriterien innerhalb der letzten gerung erbringen könnte [17]. Pharmakodynamisch unter- 12 Monate bestehend waren. Hieraus ergibt sich, dass das scheiden sich Disulfiram, Acamprosat und Naltrexon von- Erkrankungsbild interindividuell mit einer breiten Variabili- einander, sodass eine Kombination der unterschiedlichen tät an unterschiedlichen Symptomen in Erscheinung treten Wirkprinzipien einen zusätzlichen Effekt erwarten ließe. kann, da es keine Rolle spielt, welche der 3 Symptome gleich- zeitig bestehen. Die aktuell gültigen Diagnosekriterien nach In der folgenden Übersicht soll der Frage nachgegangen wer- ICD-10 sind hinsichtlich der Entscheidung, welches rückfall- den, welche Bedeutung die pharmakologische rückfallpro- prophylaktische Medikament nach einer Entzugsbehandlung phylaktische Behandlung in Abhängigkeit vom jeweiligen eingesetzt wird, auf Basis der vorliegenden Studien nicht hilf- Risikoprofil hat. Weiterhin wird anhand aktueller präklini- reich. Sind aber die ICD-10-Kriterien einer Alkoholabhän- scher und klinischer Studien eine Bewertung von aussichts- gigkeit erfüllt, können grundsätzlich Anticraving-Medika- reichen neuen, noch nicht zugelassenen Medikamenten zur 84 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1)
Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit pharmakologischen Rückfallprophylaxe unternommen. Die Staaten zur Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit zu- Möglichkeiten der Kombinationstherapie werden in der fol- gelassen (in Österreich erfolgte 1996 die Zulassung für diese genden Übersicht ebenfalls diskutiert. Der Umfang dieser Indikation). Naltrexon ist in Deutschland zur Behandlung Übersichtsarbeit erlaubt keine komplette Darstellung der rele- Opiatabhängiger, nicht aber zur Behandlung Alkoholabhängi- vanten Literatur. ger zugelassen und kann daher nur im Rahmen der ärztlichen Behandlungsfreiheit als Therapieversuch eingesetzt werden Acamprosat („off-label use“). Acamprosat (Kalzium-Bis-Azetyl-Homotaurinat), ein Gluta- Die Aktivierung der µ-Opiat-Rezeptoren nach Alkoholeinnah- matmodulator, ist seit 1996 in der rückfallprophylaktischen me wird geblockt, weiterhin wird dadurch sekundär der meso- Behandlung der Alkoholabhängigkeit zugelassen. Präkli- limbische Dopaminausstoß vermindert. Hierdurch werden die nische Studien liefern Hinweise, dass die Wirkung von subjektiv angenehmen und positiv verstärkenden Effekte von Acamprosat auf einem funktionellen Antagonismus am Alkohol reduziert [19]. Dies zeigt sich tierexperimentell da- NMDA-Rezeptor beruht. Hierdurch wird die glutamaterge durch, dass genetisch modifizierte Mäuse ohne µ-Opiat-Re- Hyperexzitabilität gehemmt [5, 8]. Die exakten molekularen zeptor die Motivation verlieren, Alkohol aufzunehmen [20]. Wirkungsmechanismen sind unbekannt. Aufgrund dieses Wirkungsmechanismus von Naltrexon wird eine spezifische Wirksamkeit auf das Reward Craving diskutiert. Neben zahlreichen tierexperimentellen Studien liegen inzwi- schen 20 placebokontrollierte Studien zur Wirksamkeit von Inzwischen liegen zu Naltrexon mehrere placebokontrollierte Acamprosat vor. Die klinische Wirksamkeit wurde in Form Studien und Metaanalysen vor, die auch beim Menschen von erhöhten Abstinenzraten und einer erhöhten Anzahl der einen rückfallprophylaktischen Effekt zeigen [21, 22]. Eine trinkfreien Tage für Acamprosat dokumentiert. Die Metaana- Cochrane-Metaanalyse bestätigt die Reduktion von schweren lysen klinischer Studiendaten ergeben einen Anteil kontinu- Rückfällen und Trinkhäufigkeit unter Behandlung mit ierlicher Abstinenz von 36,1 % nach 6 Monaten unter Acam- Naltrexon (Effektstärke: 0 28; NNT = 7) [22], auch wenn die prosatbehandlung, verglichen mit 23,4 % unter Placebobe- Zeit bis zum ersten Alkoholkonsum nicht in allen Studien ver- handlung und eine Effektstärke von 0,26 [18]. Hieraus ergibt längert war [23, 24]. sich, dass 7,5 Patienten behandelt werden müssen, um einen Rückfall zu vermeiden („numbers needed to treat“, NNT). Vor Behandlungsbeginn sollten einige Tage Alkoholabsti- nenz bestehen. Die Standard-Tagesdosis liegt bei 50 mg/Tag, Acamprosat führt zu keinen relevanten Wechselwirkungen welche als Einmalgabe eingenommen werden kann. Weiter- mit anderen Medikamenten, zu keiner erhöhten Alkoholtoxi- hin liegt ein intramuskulär injizierbares Depotpräparat von zität und besitzt kein Abhängigkeitspotenzial. Die empfohle- Naltrexon vor. Naltrexon ist insgesamt gut verträglich, die ne Tagesdosis liegt bei 1998 mg/die (bei Patienten > 60 kg häufigsten Nebenwirkungen sind Übelkeit, gastrointestinale Körpergewicht), verteilt auf drei Tagesdosen. Zu den häufige- Beschwerden und Kopfschmerzen. Kontraindikationen beste- ren Nebenwirkungen zählen gastrointestinale Beschwerden hen bei akuter Hepatitis und schwerer Leberfunktionsstörung. (v. a. Diarrhö), dermatologische Symptome (v. a. Juckreiz) Die opiatantagonistische Wirkung von Naltrexon muss außer- und Kopfschmerzen. Kontraindikationen sind Schwanger- dem in spezifischen Situationen (z. B. Opiatanalgesie, Opiat- schaft und Stillzeit, Serumkreatinin > 120 µmol/l bei Patien- missbrauch/-abhängigkeit) mitbedacht werden. Naltrexon be- ten mit Niereninsuffizienz und schwere Leberinsuffizienz. sitzt kein Abhängigkeitspotenzial, daher sollte die Therapie Therapiebeginn mit Acamprosat sollte nach der Entgiftung auch im Falle eines Alkoholrückfalls fortgesetzt werden. sein; aufgrund der nach der körperlichen Entgiftung anfangs hohen Rückfallgefährdung ergibt sich eine empfohlene Be- Wie bei vielen psychiatrischen und somatischen Erkrankun- handlungsdauer von 12 Monaten. gen ist die Compliance von alkoholabhängigen Patienten, regelmäßig rückfallprophylaktische Medikamente einzuneh- Es wurde diskutiert, dass Acamprosat besser bei Patienten mit men, oft gering ausgeprägt. Dabei hängt die Medikamenten- ausgeprägtem Relief Craving wirken könnte [15]. Bei dieser Compliance maßgeblich vom weiteren Behandlungserfolg ab. Gruppe von Patienten, die oft wiederholte Alkoholentzüge Seit Kurzem steht deshalb eine parenteral injizierbare Form durchgemacht haben, steht die neuronale Hyperexzitabilität von Naltrexon zur Verfügung, welche eine Anwendung ein- (Verminderung der inhibitorischen, GABAergen bei gleich- mal monatlich erlaubt. In einer kürzlich publizierten Arbeit zeitiger Erhöhung der exzitatorischen, glutamatergen Neuro- von Garbutt et al. konnte die Effektivität von retardiertem transmission) im Vordergrund. Das erhöhte Rückfallrisiko in Naltrexon in einer Phase-III-Studie demonstriert werden: dieser Gruppe korrespondiert mit dem Typ I nach Lesch, der 380 mg retardiertes Naltrexon (i.m.) (einmal monatlich appli- durch früh auftretende körperliche Entzugssymptome und ziert) plus psychosoziale Therapie führten zu einer etwa um Entzugsanfälle charakterisiert ist, und bei dem sich ebenfalls 25 % reduzierten Rate schwerer Trinktage verglichen mit Pla- eine erhöhte Wirksamkeit von Acamprosat zeigt [16]. cebo [25]. Im Rahmen des 6-monatigen Untersuchungs- zeitraumes wurde das retardierte Naltrexon gut vertragen und Naltrexon führte zu keinen unerwarteten Nebenwirkungen, verglichen mit oralem Naltrexon, was sich u. a. in einer hohen Haltequote Naltrexon ist ein µ-Opiat-Rezeptorantagonist mit zusätzlicher bzw. Akzeptanz innerhalb der Therapie zeigt (Anzahl der geringer Aktivität am κ- und δ-Opioid-Rezeptor und wurde Patienten, welche alle 6 Injektionen erhalten haben: Verum 1995 in den USA und in der Folge in vielen westeuropäischen 380 mg 63 %, Verum 190 mg 65 % und Placebo 64 %) [26]. J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1) 85
Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit Nalmefen, ebenfalls ein Opiat-Rezeptorantagonist, wirkt ne- langen Halbwertszeit von Disulfiram möglich. Die Wirkung ben dem µ-Opiat-Rezeptor zusätzlich am κ-Opiat-Rezeptor, endet im Allgemeinen 1–4 Tage nach der letzten Einnahme, was sich in einer präklinischen Arbeit als günstiger hinsicht- kann im Einzelfall aber noch bis zu 14 Tage anhalten. Neben- lich freiwillig aufgenommener Alkohol-Trinkmenge gezeigt wirkungen von Disulfiram als Substanz selbst, die ohne Alko- hat [27]. In ersten klinischen Studien, bei denen Nalmefen als holkonsum auftreten können, sind relativ mild und beinhalten „Bedarfsmedikament“ zur Reduktion schwerer Trinktage ein- Müdigkeit, Kopfschmerzen, allergische Dermatitis, unange- gesetzt wurde, zeigte es sich in Kombination mit einer psy- nehmen Körpergeruch und sexuelle Dysfunktionen. Durch chosozialen Kurzintervention erfolgreich hinsichtlich Reduk- Hemmung der Dopamin-β-Hydroxylase führt Disulfiram zu tion der konsumierten Alkoholmenge und damit einhergehen- erhöhten zerebralen Dopaminspiegeln, was in seltenen Fällen der Verbesserung der Leberenzyme [28, 29]. zu psychotischen Symptomen führen kann. Potenziell gefähr- lich ist die toxische Hepatitis (ca. 1 von 25.000 behandelten Auf der Grundlage der Wirksamkeit von Naltrexon lässt sich Patienten) und Laktat-Azidose. Kontraindikationen ergeben annehmen, dass insbesondere Patienten mit im Vordergrund sich für Patientinnen in der Schwangerschaft, akute psychoti- stehendem Reward Craving davon profitieren könnten. Dies sche Erkrankungen, dekompensierte Leberzirrhose, Patienten sind vorwiegend Patienten mit einem frühen Beginn der mit kardiovaskulären oder zerebrovaskulären Erkrankungen, Alkoholerkrankung (d. h. vor dem 25. Lebensjahr) und einer Ösophagusvarizen und Hyperthyreose [32]. erhöhten genetischen Belastung (Cloninger-Typ II) [16]. Auf Basis der Typologie nach Lesch ergeben sich dagegen eher Mittlerweile mehren sich Hinweise dafür, dass Disulfiram Hinweise auf eine Wirksamkeit von Naltrexon bei den Typen – im Rahmen eines umfassenden Gesamtkonzepts unter thera- III und IV [16]. peutischer Aufsicht ausgegeben – das Rückfallrisiko ein- drucksvoll senken kann [31, 33]. Nach Expertenmeinung wird Disulfiram Disulfiram gegenwärtig nicht außerhalb spezifischer Behand- lungsprogramme empfohlen (Leitlinien der „Deutschen Ge- Der erste Wirkstoff in der pharmakologischen Therapie der sellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie“ und der Alkoholabhängigkeit wurde Anfang des 20. Jahrhunderts „Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und zufällig entdeckt. Bereits 1951 wurde Disulfiram von der Nervenheilkunde“). „Food and Drug Administration“ (FDA) für die Behandlung der Alkoholabhängigkeit zugelassen. Aufgrund der potenziell lebensbedrohlichen Nebenwirkun- gen nimmt Disulfiram eine Sonderrolle ein und sollte derzeit Disulfiram hemmt irreversibel die Aldehyd-Dehydrogenase, nur unter strenger Supervision und bei genauer Kenntnis der die für den Abbau von Acetaldehyd zu Acetat beim Alkohol- Wirkungsweise verabreicht werden. Besonders scheinen abbau verantwortlich ist. Es werden noch weitere Enzyme impulsive Patienten mit einer hohen Compliance von einer durch Disulfiram gehemmt, z. B. die Dopamin-β-Hydroxy- Disulfiram-Therapie zu profitieren [34]. Ob neben der aversi- lase und hepatische mikrosomale Enzyme [30]. Die Akkumu- ven Wirkung zusätzlich ein Einfluss auf Craving besteht, wird lation von Acetaldehyd führt zu der so genannten Disulfiram- gegenwärtig intensiv diskutiert und untersucht [35]. Alkohol-Reaktion (ADR) mit folgendem, bereits rasch nach Alkoholkonsum auftretenden vegetativen Symptomkomplex Perspektiven: neue Substanzen bestehend aus: Übelkeit, Hautrötung („flush“), Schwitzen, Kopfschmerz, Herzklopfen, Hypotonie bis hin zu lebens- In den vergangenen Jahren wurden weitere Substanzen auf bedrohlichen Reaktionen wie Herzrhythmusstörungen, Syn- ihre rückfallprophylaktischen Eigenschaften hin untersucht. kopen, Herzinfarkt und zerebralen Krampfanfällen. Diese Pharmaka, die am dopaminergen (hier v. a. Substanzen mit höchst unangenehmen Folgen sollen über ihre psychologisch Affinität an D1- und D2-Rezeptoren) und serotonergen System aversive Wirkung zur Unterdrückung des Trinkverhaltens ansetzen, haben bislang keine bzw. keine überzeugenden Er- führen [31]. gebnisse erbracht [36, 37]. Im Gegensatz hierzu zeichnet sich ein Potenzial für Präparate aus der Gruppe der Antikonvulsiva Nach einer Eindosierungsphase von Disulfiram unter kontrol- (z. B. Topiramat, Oxcarbazepin), der Cannabinoid- (CB1-) lierter absoluter Alkoholabstinenz erfolgt die Fortführung mit Rezeptorantagonisten sowie neuropeptidergen Substanzen ab einer Tagesdosis von 0,2–0,5 g. Auch eine Verabreichung von [7, 8]. Aus dem Bereich der Substanzen am dopaminergen 1–2 g wöchentlich ist unter ärztlicher Kontrolle aufgrund der System scheinen v. a. selektive D3-Rezeptorantagonisten aus- Tabelle 3: Übersicht aussichtsreicher neuer Substanzen für die rückfallprophylaktische Behandlung der Alkoholabhängigkeit Substanz Pharmakologischer Wirkmechanismus Craving/Patienten Weiterführende Literatur Topiramat Blockade der Na+-Kanäle und Verstärkung GABA-erger Mechanismen Relief [38, 39] Baclofen Agonist am GABA-B-Rezeptor Relief [40] Ondansetron 5-HT3-Antagonist Reward? Early onset [41, 42] Rimonabant Cannabinoid-1-Rezeptorantagonist Relief [43] mGluR5-Antagonismus Relief? Bislang keine klinischen Studien CRH-Antagonismus Relief? Bislang keine klinischen Studien LY686017 Neurokinin-1-Rezeptor Antagonismus Relief? [44, 45] 86 J NEUROL NEUROCHIR PSYCHIATR 2011; 12 (1)
Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit sichtsreich und werden gegenwärtig klinisch untersucht [8]. Rückfallprophylaxe sollte daher mit anderen abstinenzerhal- Weiterhin werden spezifische Alternativpräparate zu Acam- tenden Therapien kombiniert werden, um eine optimale Wirk- prosat und Naltrexon aus den Gruppen der NMDA- bzw. Opi- samkeit zu erreichen. Aktuelle Studien versuchen besonders at-Rezeptorantagonisten entwickelt und zeigen Hinweise auf geeignete Untergruppen von Patienten zu identifizieren, um Wirksamkeit. Für keines dieser Präparate (Übersicht siehe dann den Erfolg einer medikamentösen Rückfallprophylaxe Tabelle 3) liegt jedoch bisher eine ausreichende klinische weiter steigern zu können. Zukünftig könnten pharmakogene- Datenlage vor, um einen Einsatz in der klinischen Praxis zu tische Merkmale mit dazu beitragen, ein individuell geeigne- begründen. tes Medikament für Patienten zu finden. Kombinationsbehandlung Interessenkonflikt Geht man davon aus, dass die beschriebenen Mechanismen Die Autoren verneinen einen Interessenkonflikt. von Suchtdruck (Reward, Relief und Obsessive Craving) einen Rückfall einleiten können, so sollte die gleichzeitige Relevanz für die Praxis pharmakologische Beeinflussung unterschiedlicher invol- vierter Neurotransmittersysteme zu additiven Effekten in der 1. Für die Indikation der Rückfallprophylaxe bei der Alko- Rückfallprophylaxe führen können. Acamprosat, Naltrexon holabhängigkeit sind derzeit evidenzbasiert wirksam und Disulfiram besitzen eine hohe Tolerabilität bei fehlenden, und verfügbar: Acamprosat, Naltrexon und Disulfiram. potenziell schwerwiegenden Interaktionseffekten. Die aktu- 2. Rückfallprophylaktische Medikamente werden bislang elle Datenlage erbringt in zwei klinischen Studien Hinweise angesichts ihrer Effektivität in einem niedrigen Maße auf eine verbesserte Wirksamkeit durch Kombinationsbe- eingesetzt. handlung von Acamprosat und Naltrexon [46], eine dritte 3. Es gibt derzeit keine Hinweise, dass der Einsatz von (COMBINE) konnte eine verbesserte Wirksamkeit der Kom- rückfallprophylaktischen Medikamenten einen negati- binationsbehandlung nicht replizieren [47]. ven Einfluss auf die Inanspruchnahme zusätzlicher psy- chosozialer Therapien haben könnte. Für die Kombinationsbehandlung mit Naltrexon und Disulfi- ram konnte in 3 Studien kein additiver Effekt gefunden wer- den [48–50]. Die Behandlung mit Disulfiram und Naltrexon war der Placebobehandlung allerdings in allen Studien über- Literatur: 12. Kiefer F, Mann K. Pharmacotherapy and behavioral intervention for alcohol depen- legen [48–50]. Im Rahmen einer kontrollierten Multicenter- 1. 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