Digitale Lernszenarien im Schul-unterricht in Italien. Erfahrungen aus der Corona-Zeit
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Digitale Lernszenarien im Schul- unterricht in Italien. Erfahrungen aus der Corona-Zeit Digital learning scenarios in school lessons in Italy. Experiences from the Corona period Caterina Cerutti Abstract (Deutsch) Seit 1992 Deutschlehrerin an Vor welche Herausforderungen hat die Corona-Pandemie Lehrkräfte und italienischen Schulen (Sekundar- Schüler gestellt? Wie hat das „Homeschooling“ sich sozial und emotional auf stufe) und am Istituto Tecnico die Beteiligten ausgewirkt? Wie haben sich Lehr- und Lernbiographien im Ver- Commerciale „Antonio Bordoni“ gleich zur „alten Normalität“ des Lehrens und Lernens seitdem entwickelt? in Pavia (Italien). Außerdem Was davon sollte in künftige Entwicklungen des Akteursfelds „Schule“ aufge- arbeitet sie als Lehrbeauftragte nommen und fortgeführt werden? Auf diese Fragen versucht der nachstehende für Deutschdidaktik an den Erfahrungsbericht aus der Perspektive sowohl von Lehrenden als auch von Universität Turin und Mai- Lernenden erste Antworten zu finden – in einer nach wie vor unsicheren und land mit den Schwerpunkten: ungeklärten Zeit, was die Pandemiebekämpfung und damit auch die Zukunfts- Didaktik der deutschen Sprache perspektiven der Unterrichtspraxis betrifft. und Kultur, bilingualer Unter- richt (Clil), digitaler Unterricht Abstract (English) und Wirtschaftskommunikation. Weiterhin ist sie Referentin für What challenges has the Corona pandemic posed for teachers and students? How Lehrerfortbildung und Lehr- has “homeschooling” had a social and emotional impact on those involved? How buchautorin. have teaching and learning biographies developed since then compared to the “old normality” of teaching and learning? Which of these should be included and continued in future developments in the field of “school”? The following experi- ence report attempts to find initial answers to these questions from the perspective of both teachers and learners − in a still uncertain and unclarified time with regard to the fight against the pandemic and thus also the future perspectives of teaching practice. 107
Einleitung Unterrichtsformen mit Lehrenden und Lernenden, wie verändert sich deren „Kommunikation findet immer in einem Beziehung zueinander? Was ist dabei bestimmten ´Rahmen´ statt, dessen Re- am bemerkenswertesten? Wie motiviert geln dafür sorgen, dass Akteure auf Basis sind die Schüler/innen? Welche Emoti- ihrer Vertrautheit mit diesen Regeln etwas onen entstehen dabei? ´gemeinschaftlich machen´ können.“ Diese und weitere Fragen werden (J. Bolten:2020) nachfolgend in Form eines Erfahrungs- Der „Rahmen“ schulischen Unterrichts berichts und am Beispiel von zwei war bislang vor allem durch Präsenzun- Lernszenarien diskutiert, deren jewei- terricht geprägt, sodass sich das commu- lige Rahmenbedingungen vorab kurz nicare (dt.: „gemeinschaftlich machen“) skizziert werden sollen. zwischen den Akteuren hauptsächlich Zwei Lernszenarien im italie- im Klassenraum abgespielt hat. nischen Schulunterricht wäh- Mit der Corona-Pandemie ergab sich rend der Corona-Pandemie – quasi von einem Tag auf den ande- Im März 2020 wurden die Schulen ren – die Notwendigkeit, den Unter- wegen der Corona-Pandemie in Italien richtsrahmen zu verändern, virtuelle geschlossen und der Schulunterricht oder zumindest digital unterstützte ist ab diesem Zeitpunkt ausschließlich Unterrichtsformen zu konzipieren und digital verlaufen. Die Schule, an der die umzusetzen. Didaktisch-methodische beiden Lernszenarien realisiert worden Konzeptualisierung und „neue“ sind, ist das Wirtschaftsgymnasium Unterrichtspraxis gingen dabei in einem „Antonio Bordoni“ in Pavia. Vorteilhaft immens schnellen Learning-by-doing- für die technischen Rahmenbedingun- Prozess Hand in Hand. gen erwies sich eine funktionierende Theoretisch war klar, dass sich asyn- Infrastruktur, die vor allem dadurch chrone und synchrone Lernmöglich- gewährleistet werden konnte, dass keiten in einem neuen Methodenmix Schülern, sofern nötig, Laptops oder abwechseln, dass im Vergleich zu Tablets zur Verfügung gestellt werden konventionellem Präsenzunterricht bei konnten. entsprechendem hybridem digitalem Die Lernszenarien beinhalteten jeweils Lernen längere Selbstlernphasen mit ein Lernmodul, wobei folgende Spe- Videokonferenzen oder mit kürzeren zifikationen die lernorganisatorischen, Face-to-face-Phasen verbunden sein didaktischen und inhaltlichen Rahmen- würden. Auch hatte sich sehr schnell bedingungen charakterisiert haben: herausgestellt, dass bei Videokonfe- renzen eindeutige Regeln und große Lernszenario 1: Fenster- Disziplin sowie Verantwortung seitens blicke in Italien und im der Lernenden und der Lehrenden deutschsprachigen Raum nötig sein würden – ebenso wie „neue“ Fach „Deutsche Sprache und Kultur“, Formen der Lernstandkontrolle und des 19 Schüler/innen im Alter von 16 Feedbacks. Vieles war aus der Beschäf- Jahren mit Deutschkenntnissen der tigung mit Fragen der Online-Didaktik Niveaustufe A2+ (90 Unterrichtstunden in abstrakter Weise bekannt – und Deutsch). Unterrichtsvolumen: 6 Stun- groß natürlich auch die Erwartungen den (synchron) mit den Sozialformen im Hinblick auf das Potential und den Unterrichtsgespräch via Zoom Meeting, Mehrwert, die digitalen Medien und Einzelarbeit, Paararbeit. digitalem/virtuellem Lernen zugespro- Modulaufgabe: Die Lernenden sol- chen werden. len (a) Fotos aus einem Fenster ihres Aber die Praxis? Wie verläuft eine der- „Homeschooling“-Bereichs aufnehmen, maßen rasante Umstellung? Schafft ihre mit dem „Fensterblick“ verbunde- digitaler/ virtueller Unterricht eher Dis- nen Emotionen beschreiben und dem tanz oder Nähe? Was machen die neuen Foto einen Titel geben. Aus einer von 108 interculture j our na l 19/33 (2 0 2 0 )
der Lehrerin beschafften äquivalen- den Lernenden als auch zwischen Leh- ten Auswahl von Fensterblicken aus renden und Lernenden zu einer Stär- Deutschland und Österreich sollen sich kung der sozialen Eingebundenheit im die Schüler (b) ein Foto aussuchen, das Sinne einer neuen Qualität des Bezie- ihnen gefällt, beschreiben, was sie auf hungsaufbaus geführt. Dies ist für die dem Bild wahrnehmen und Hypothe- Motivation der Schüler sehr wichtig sen über die Person formulieren, die gewesen. in der Wohnung lebt. Die Ergebnisse In der ersten kurzen Phase im Lock- sollen in einer Power-Point-Präsentati- down haben sich sowohl die Schüler/ on zusammengefasst und im virtuellen innen als auch die Lehrer/innen eher Raum den anderen Lernenden vorge- verunsichert und sozial isoliert gefühlt. stellt werden. Das Bedürfnis nach Nähe und gelebter Lernszenario 2: Innova- Zusammenarbeit war so groß, dass – tion für den Markt in der vollkommen anders, als im Lehrplan Corona-Zeit vorgesehen – auf metakommunikativer Ebene kontinuierlich und durchaus Fach „Deutsche Sprache und Wirt- emotional Thematisierungen der Coro- schaftskultur“, 12 Schüler/innen im na-Pandemie stattfanden, die letztlich Alter von 17-18 Jahren mit Deutsch- in beiden Lernszenarien zum gemein- kenntnissen der Niveaustufe B1 (150 samen Entschluss führten, die Lerner- Unterrichtstunden Deutsch). Unter- fahrungen der Module mit Bezugnah- richtsvolumen: 4 Stunden (synchron) me auf die individuellen Erfahrungen mit den Sozialformen Unterrichtsge- der Corona-bedingten „anderen“ spräch via Zoom Meeting, Einzelar- Lernkontexte zu ergänzen. Und hierzu beit, Gruppenarbeit. zählten vor allem die Erfahrungen mit Modulaufgabe: Die Lernenden sollen digitalem Lernen. (a) eine Bedarfs- und Marktanalyse bei Freunden und/ oder in der Familie Schon vor der Corona-Krise war mit durchführen, um herauszufinden, wel- Bezug auf die Byod-Didaktik (Böttcher ches neue Produkt bzw. welche Dienst- 2015:10) der Einsatz von digitalen leistung in der Pandemiezeit nützlich Medien und insbesondere der von sein kann. Auf diesen Daten aufbauend, mobilen Endgeräten der Lernenden soll (b) das Portrait eines zu gründen- im Fremdsprachenunterricht diskutiert den Unternehmens entworfen werden, und auch partiell realisiert worden. das in der Lage ist, eine entsprechende Die Verzahnung von Online-Phasen Realisation der Idee zu übernehmen. mit dem Präsenz-Sprachunterricht Zu diesem Zweck wird ein Unterneh- wurde dabei als wichtiger Erfolgsfak- mensporträt erstellt, das zur Vorberei- tor proklamiert: Digitale und analoge tung einer Unternehmensgründung Komponenten des Fremdsprachen- dienen soll. unterrichts sollten sinnvoll verknüpft werden (Pfeil 2015:30-31). Vor diesem Perspektiven der Lehrenden Hintergrund war es mit Beginn der Eine wesentliche lehrbezogene Heraus- Corona-Zeit ein zentrales Anliegen der forderung bestand darin, individuelle Umstellung auf digitales Lernen, ein Lernprozesse im „Homeschooling“ der Gleichgewicht zwischen asychronen Lernenden mit den formalen/curri- und synchronen Aktivitäten anzustre- cularen Unterrichtsanforderungen in ben. Asynchrones Lernen wurde mit Einklang zu bringen. Als zielführend der Bearbeitung von Aufgaben außer- hat es sich dabei erwiesen, die Interes- halb von synchronen Zoom-Meetings sen und die Bedürfnisse der Lernenden (Fotografieren, Texte verfassen u. a.) in die Lehrplanung zu integrieren. Die realisiert, synchrones durch die Treffen Möglichkeit der Mitbestimmung der im virtuellen Konferenzraum. Wesent- Lernenden in den verschiedenen Phasen liches Ziel war es, die Selbstlernphasen der Modularbeiten hat sowohl zwischen mit synchronen Unterrichtsstunden 109
zu kombinieren, sodass − ganz im optimal beobachtet und entsprechend Sinne des „flipped classrooms“ − der im spontan thematisiert werden. (Um Selbstlernprozess vorbereitete Stoff in Frust zu vermeiden, hat sich die Ein- Videokonferenzen eingehend diskutiert führung eines Gruppenlerntagebuch werden konnte. Bei den beschriebenen zum Zweck der Selbstreflexion als hilf- Erfahrungen ist das regelmäßige Treffen reich erwiesen.) im digitalen Klassenraum sehr wichtig • Was aus Sicht der Lehrenden vor gewesen: Das hat den Lernenden ein allem gefehlt hat, sind die gegenüber Gefühl der Sicherheit vermittelt. Der Präsenzunterricht beschränkteren kontinuierliche Face-to-face-Kontakt Möglichkeiten, Humor und Spontani- mit den Lernenden oder mit der ganzen tät zu realisieren. Gerade Humor schafft Klasse, war auch für den Lehrenden jedoch in unserem Gehirn neue Netz- wichtig um regelmäßige Lernstandkon- werke, das Lachen wirkt ansteckend trollen durchzuführen, die intrinsische und schafft Gemeinsamkeit und Nähe Motivation der Lernenden intensiver (entsprechend der Fragebogen-Umfrage zu fördern und vor allem die Schüler/ haben auch aus diesem Grund zwei innen zu ermutigen. Drittel der Lernenden den Präsenz- Den Lernenden gegenüber wurde die unterricht vermisst). Notwendigkeit didaktisch-methodi- scher Veränderungen transparent unter • Ein häufig beobachteter Fehler dem Titel der Erprobung einer „Didak- vieler Lehrer/innen hat zweifellos darin tik auf Distanz“ kommuniziert. bestanden, die Methoden des Präsenz- Als „lessons learned“ mit Optimie- unterrichts einfach auf den digitalen zu rungspotential für künftigen digitalen/ übertragen. Eine Konsequenz war, dass virtuellen Unterricht lassen sich die virtuelle Unterrichtsphasen nicht statt- folgenden Aspekte festhalten: fanden und man sich auf die Verteilung von Links, Erklärvideos oder Aufga- • Die Phasen des Ideenaustausches, benblätter zum Selbstlernen beschränkt der Kooperation in der Gruppe, des hat – zu Ungunsten möglicher Schüler- Miteinander- und Voneinander-Lernens interaktionen. konnten zeitweise nicht intensiv genug verfolgt werden. Ursachen waren z. B. • Leistungsbewertungen erweisen Zeitgründe, technische Gründe oder sich in digitalen Lernumgebungen als auch Vorgaben der Schulordnung (man komplex, vor allem weil die Ganzheit- durfte nicht zu viele synchrone Treffen lichkeit des Lernprozesses schwerer organisieren, um die Schüler/innen evaluierbar ist als im Präsenzunterricht. nicht zu überfordern). Ganz besonders betrifft dies die Bewer- • Aufgrund der Komplexität und tung der individuellen Leistungen im sozialen Isolation der Lernprozesse Rahmen von Gruppenarbeiten. Eine wurde den individuellen Beiträgen angemessene Lösung könnte darin der einzelnen SchülerInnen in ihrer bestehen, Noten durch Kommentare zu kooperativen Arbeit nicht immer ersetzen, was aber aus institutionellen genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Gründen nicht möglich war. • Wie Konflikte unter den Lernenden • Wichtig ist es, mit den Lernenden motiviert waren und auf welche Weise klare Nutzungsregeln der Medien zu sie überwunden wurden, ist im Detail vereinbaren, um eine Eigendynamik der weniger nachvollziehbar gewesen als im digitalen Aktivitäten zu vermeiden. konventionellen Präsenzunterricht. • Zentralen Stellenwert hat die Ko- • Non- und paraverbales Verhal- operationsbereitschaft der Lehrenden ten (Mimik, Gestik, Körperhaltung, untereinander, um fächerübergreifendes Körperbewegungen) als Indikator für Lernen in effektiver Weise zu ermögli- schwelende soziale Spannungen kann chen. im virtuellen/ digitalen Unterricht nicht 110 interculture j our na l 19/33 (2 0 2 0 )
Falls das nächste Schuljahr wieder on- Das kooperative Arbeiten hat seiner- line abgehalten werden müsste, wäre es seits dazu beigetragen, Motivation zu sinnvoll, mit einer Reform des Lehr-/ fördern: Lernplans zu beginnen, wobei die ex- Die Präsentation mit den Fensterbli- plizit ausgedrückten Bedürfnisse und cken hat mir so gut gefallen, dass ich sie Erwartungen der Lerner sehr ernst ge- meinen Eltern gezeigt habe. (Elisa, nommen werden sollten. Lernszenario 1) Perspektiven der Lernenden Ich freue mich über das Endprodukt, weil Die Perspektiven der Lernenden auf die wir es geschafft haben, aus dem Nichts ein digitalen und virtuellen Unterrichtser- Unternehmen zu „gründen“. (Milagros, fahrungen wurden zum Abschluss der Lernszenario 2) Bearbeitung der Lernmodule mithilfe Bemerkenswert ist dabei, dass die eines Fragebogens ermittelt und im Motiviertheit der Lernenden über den Rahmen einer synchronen Zoom- unmittelbaren „classroom discourse“ Diskussion in Videokonferenz mit den hinausgeht und letztlich zu kollabora- Schüler/innen diskutiert. tiver Projektarbeit und damit zu einem Besonders aufschlussreich sind dabei weiterführenden, qualitativ neuen die freien Äußerungen zum Gesamt- Lernszenario außerhalb des unmittelba- eindruck und zu den Erfahrungen der ren Schulbereichs anregt: SchülerInnen und Schüler in Bezug auf die digitale und virtuelle Umstellung Es wäre echt schön, wenn unser Produkt des Unterrichts. in der Wirklichkeit hergestellt werden Den Zitaten der Schüler/innen lässt könnte. (Andriana, Lernszenario 2) sich entnehmen, dass vor allem der Räumliche und zeitliche Flexibilität Aspekt der Kooperation untereinander des E-Learnings stellen zweifellos einen sehr stark wertgeschätzt worden ist: erheblichen Mehrwert für die Lernen- Jeder von uns musste das Projekt funkti- den dar. Sie können dabei ihrem indivi- onieren lassen. Wir haben uns geholfen duellen Lerntempo Rechnung tragen: und die Präsentation der verschiedenen Wir hatten keine Eile, wie es oft im Landschaften ist sehr schön geworden. Präsenzunterricht geschieht. (Martina, (Martina, Lernszenario 1) Lernszenario 1) Jeder von uns hat sein Bestes getan! Ich Bei dieser Arbeit, wie bei der ganzen Er- war sehr neugierig, als unsere Lehrerin fahrung „Didaktik auf Distanz“ ist sehr uns die deutschen Fotos angekündigt schön gewesen, dass ich den Lernstoff nach hatte. (Chiara, Lernszenario 1) meinem Lerntempo bearbeiten konnte. (Giulia, Lernszenario 1) Das Wichtigste ist die Kooperation mit meinen Schulkameraden gewesen (Laura, Gleichzeitig bewirkt die veränderte Lernszenario 1) räumliche Situation auch, dass Ler- nergebnisse wie etwa die Fotos und Wir haben viel diskutiert, vor allem als Präsentationen auch nach der eigentli- wir das Logo erfinden wollten. (Martina, chen Unterrichtsstunde noch einsehbar Lernszenario 2) waren und eine größere Transparenz der Ich fand super gut, dass es meine Arbeiten der Mitschüler ermöglichten, Schulkameraden auch in der Quaran- als es im Präsenzunterricht in der Regel täne-Zeit geschafft haben, die Gruppen- der Fall ist: arbeit so zu organisieren, als ob wir Da wir alle unsere Fotos in der Gruppe in der Normalität wären; wir haben geteilt haben, waren wir alle sehr aktiv eine neue Art Schülerbeziehung auf (Giulia, Lernszenario 1) Distanz kreiert. Ich bin darauf sehr stolz! (Alessia, Lernszenario 2) 111
Dies setzt ein nicht unerhebliches Maß Ich habe viele Wörter gelernt. Das an Selbstorganisation voraus, das autonome Suchen der Wörter im Online- seinerseits wiederum wesentlich durch Lexikon, hat mir erlaubt, die neuen digitale Medien, insbesondere Social Vokabeln besser im Kopf zu behalten. Media, unterstützt worden ist: (Martina, Lernszenario 1) Wir haben uns durch Whats- Wir haben aktiv gelernt. Die Tatsache, App und Telefon gut organisiert. dass wir die Materialien allein suchen (Iris, Lernszenario 1) sollten, hat uns gezwungen, viele Wörter zu lernen. (Greta, Lernszenario 2) Wir haben eine Gruppe auf Whats- App gebildet, nur für unser Team, Interessanterweise wird Lernerautono- so dass jeder, der eine Idee hatte, sie mie von den Lernenden strukturprozes- sofort mit der Gruppe teilen konnte. sual verstanden. Also „so viel Freiheit (Greta, Lernszenario 2) wie möglich“, aber auch „so viel Anlei- tung und Steuerung wie nötig“: Dass Selbstorganisation und Lerndif- ferenzierung in einem engen Zusam- Es war gut, dass jede/r SchülerIn im menhang stehen, wurde vor allem von Zweifelsfall die Lehrerin zu jeder Zeit den älteren SchülerInnen bemerkt: durch WhatsApp kontaktieren durfte. (Giosuè, Lernszenario 1) Ich habe mich vor allem um die tech- nischen und grafischen Aspekte der Wir wussten, dass wir in jedem Moment Präsentation gekümmert. die Lehrerin um Hilfe bitten konnten, (Dorin, Lernszenario 2) aber zuerst wollten wir allein die Proble- me lösen. (Greta, Lernszenario 2) Ich habe wenig Fantasie gehabt, aber ich glaube, ich habe bei der Suche der Am Ende finde ich gut, dass die Leh- besten Dias-Progression sehr geholfen. rerin die Richtlinien erklärt hat und (Andriana, Lernszenario 2) uns dann „allein” gelassen hat. Wir haben auf diese Weise richtig autonom Genauso wie die Erfahrung, dass durch gelernt, ohne immer die Lehrerin um Lerndifferenzierung Synergien entdeckt Hilfe zu bitten. Auch bei Konflikten. und in anschließender Teamarbeit reali- (Laura, Lernszenario 2) siert werden können: Ich fand es gut, dass wir die Bewertungs- Ich habe das Gefühl, dass ich kriterien für unser Firmenporträt zu- erst jetzt gelernt habe, in einer sammen mit der Lehrerin erstellt haben. Gruppe zu arbeiten. Zuerst haben wir (Raffaele, Lernszenario 2) allein gearbeitet, erst dann zusammen. (Martina, Lernszenario 2) Dementsprechend werden die Lehren- den beim digitalen Unterricht nicht Was die menschlichen Aspekte betrifft, überflüssig – im Gegenteil: sie werden war diese Arbeit für mich sehr wichtig, als Moderatoren des Unterrichtsge- weil ich gelernt habe, in der Gruppe zu schehens verstärkt gefordert (Schneider arbeiten, Kompromisse zu finden und 2005:42). Die Lernenden werden auf Kritiken zu akzeptieren. Alles wichti- diese Weise in der Selbststeuerung ih- ge Aspekte in der Berufswelt. (Greta, rer Lernprozesse unterstützt (Bimmel/ Lernszenario 2) Rampillon 2000:55). Die in der Aussage enthaltene Selbst- Virtuelle Moderation besteht in bewertung referiert auf die durch den Unterrichtskontexten vor allem darin, „neuen“ Unterricht gegebene Möglich- den Lernprozess im Sinne einer mehr keit autonomen Lernens und wird von oder minder unsichtbaren Regie zu be- MitschülerInnen durch deren Erfahrun- gleiten und ein offenes und konstrukti- gen bestätigt: ves Arbeitsklima zu gewährleisten. Auch der Mangel an sozialer Präsenz vermag auf diese Weise zumindest partiell kompensiert zu werden: 112 interculture j our na l 19/33 (2 0 2 0 )
während einer Videokonferenz oder Die Beziehung zu der Lehrerin war auch die Tatsache, dass man in Video- sehr gut; ich habe mich gefreut, dass sie konferenzen aufgrund der Stumm- auch die Fotos von ihren Fenstern in die schaltung der Mikrofone nicht spontan Präsentation eingeführt hat! Wir haben reagieren konnte und stattdessen auf die uns deswegen näher gefühlt. (Christian, Chatfunktion ausweichen musste. Lernszenario 1) Ich fand gut, dass die Lehrerin uns oft Thematisiert wurde auch die als zu Mut gemacht hat. Auch durch Emoticons. umfangreich empfundene Menge an zu Ich fand toll, dass die Lehrerin uns das bearbeitendem Lernstoff sowie an tech- virtuelle Abendessen vorgeschlagen hat, nischen Informationen und Videoanlei- um das Schulende zusammen zu feiern. tungen. Das Feedback der Lernenden (Alessia, Lernszenario 2) belegt, dass sie sich zeitweise überfor- dert gefühlt haben: Grundsätzlich denkbar wäre sicherlich eine gezieltere Entwicklung inter- Wir haben eine schwierige Zeit erlebt: kultureller Kompetenz der Lernen- Alle Lehrer waren sehr anspruchsvoll und den. Durch den Deutschland-Bezug haben von uns sehr viel verlangt. Das war der beiden Lernszenarien waren die ein ständiges Verschicken von Aufgaben Bedingungen dafür gegeben, wobei die und Tests. (Alessia, Lernszenario 2). SchülerInnen gerne einen direkten Aus- Die Angst vor dem Scheitern und der tausch mit deutschen Klassen gehabt Druck seitens einiger Lehrer/innen hätten: haben auch eine Flucht vor digitalem Was mir sehr gefehlt hat, ist zu wissen, Distanzunterricht von Lernenden ver- was die Deutschen über unsere Fensterbli- ursacht, die geflohen sind und haben cke denken. (Elisa, Lernszenario 1) gar nicht an den verschiedenen Online- Ich habe verstanden welche Gefühle mei- Aktivitäten teilgenommen haben. Das ne Schulkameraden beim Fensterschauen Aufgeben von einer Mitschülerin hat haben, und habe Hypothesen gemacht eine große Leere und ein Gefühl der über Leute aus anderen Kulturen. (Carlo, Traurigkeit hinterlassen. Lernszenario 1) Ausblick Erstrebenswert, aufgrund der doch eher Es ist deutlich geworden, dass die disruptiven Veränderung des Schulall- sehr disruptiv erfolge Umstellung auf tags in der Corona-Zeit jedoch auf die virtuellen/digitalen Unterricht in den Schnelle nicht umsetzbar, wäre eine beschriebenen Lernszenarien eine große länderübergreifende digitale und virtu- Herausforderungen für alle Beteilig- elle Vernetzung zwischen italienischen ten, Lehrende wie Lernende und nicht und deutschen Schulen. zuletzt auch für die Schule als Organi- Problemperspektiven sation, dargestellt hat. Allerdings dokumentieren die Ant- Bei allen Belastungen, die mit den worten der Lernenden durchaus auch Online-Aktivitäten im „Corona“- negative Erfahrungen mit der Umstel- Unterricht verbunden gewesen sind, lung auf digitales und virtuelles Lernen. lässt sich jedoch zweifelsfrei festhalten, In erster Linie betrafen sie soziale dass schulische Didaktik einen großen Distanzerfahrungen, wobei die Gebor- Entwicklungssprung gemacht hat. genheit des Präsenzunterrichts auch in Hieran soll man anknüpfen und die Bezug auf das Verhalten der Lehrenden positiven Ergebnisse wie beispielsweise am meisten vermisst wurde. stärkere Schülerzentriertheit, kollabo- Unsicherheitssituationen sind vor allem ratives Arbeiten, vielschichtigere Inter- im Kontext technischer Störungen auf- aktion sowie projektorientiertes Arbei- getreten. Hierzu zählten zum Beispiel ten ausbauen, unabhängig davon, ob die Unterbrechung der Verbindung virtuelles/digitales Arbeiten aufgrund 113
fortdauernder Pandemieszenarien Karagiannaki, E. / Wicke, R. (2013): unumgänglich ist oder auf freiwilliger Kreative Arbeitsformen im Deutschun- Basis erfolgt. Ideal wäre es im Sinne terricht. In: Fremdsprache Deutsch 49, eines „Blended Learning“ analoge und S. 3-10. digitale, Präsenz- und Onlinelehre auch Mittler, A. (2015): Synchron online ler- im Schulunterricht zu verzahnen – nen und unterrichten. In: Fremdsprache nicht zuletzt auch, um die Medienkom- Deutsch 53, S. 52-56. petenz als „Lebenskompetenzen“ der Pfeil, A. (2015): Verzahnung als Schlüs- Beteiligten zu stärken. sel für erfolgreichen Unterricht mit Auf einer solchen Grundlage kann dann digitalen Medien. In: Fremdsprache auch der Schritt in grenzüberschreiten- Deutsch 53, S. 29-39. des virtuelles Lernen vollzogen werden – beispielsweise im Rahmen der Durch- Reisenleutner, S. (2015): Hybride führung virtueller mehrsprachiger und Lernszenarien. In: Fremdsprache Deutsch gleichzeitig interkultureller Projekte. 53, S. 40-45. Literatur Rösler, D. (2010): Blended Learning im Fremdsprachenunterricht. In: Fremd- Bimmel, P. / Rampillon, U. (2000): sprache Deutsch 42, S. 5-11. Lernerautonomie und Lernstrategien, Schneider, S. (2005): Sprachlernende In: Fernstudieneinheit Langenscheidt 23, digital betreuen – Herausforderung für S. 22-55. Lehrkräfte. In: Fremdsprache Deutsch Bolten, J. (2018): Einführung in die in- 33, S. 42-46. terkulturelle Wirtschaftskommunikation, 3. Auflage, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bolten, J. (2017): Interkulturelle Lern- prozesse neu gedacht, Goethe-Institut e.V., URL: https://www.goethe.de/de/ spr/mag/20906565.html [Zugriff am 13.08.2020] Böttcher, R. (2015): Lernen mit digita- len Medien in informellen Situationen und die Verbindung zu formal organi- sierten Lernprozessen. In: Fremdsprache Deutsch 53, S. 9-13. Candelier, M. u. a. (2012): Referenzrah- men für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen des Europarats (REPA). Karpa, D. / Eickelmann, B. / Grafe, S. (Hrsg.) (2013): Digitale Medien und Schule: Zur Rolle digitaler Medien in Schulpädagogik und Lehrerbildung, Immenhausen: Prolog. Hammoud, A. / Ratzki, A. (2009): Was ist kooperatives Lernen. In: Fremdspra- che Deutsch 41, S. 6-13. Karagiannaki, E. / Taxis, Silja-S. (2017): Motivation im Deutschun- terricht. In: Fremdsprache Deutsch 57, S. 3-9. 114 interculture j our na l 19/33 (2 0 2 0 )
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