Digitaler Lesesaal, virtuelle Magazine und Online-Findbücher: Auswirkungen der Digitalisierung auf die archivischen Fachaufgaben
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Digitaler Lesesaal, virtuelle Magazine und Online-Findbücher: Auswirkungen der Digitalisierung auf die archivischen Fachaufgaben Für Archive hat die zunehmende Verbreitung und Vereinfachung der Nutzung elektronischer Instrumente zweifache Wirkungen. Einerseits verändern sich die Möglichkeiten, Instrumente zur Präsentation und Öffnung ihrer Bestände herzustellen. Das hat Einfluß auf die Diskussionen um Erschließungsmethoden und - techniken1. Zum anderen wird aber auch der Rohstoff der Archivierung, die Unterlagen aus Verwaltungstätigkeit, verändert und das fordert neue Reaktionsweisen heraus2. Ich möchte mich zunächst mit dem zweiten Aspekt beschäftigen, um anschließend auf die archivischen Arbeitsverfahren einzugehen. Eine deutlich zu spürende Auswirkung der neuen Entwicklungen ist nämlich selbst in der Intensivierung der Wahrnehmung von Verwaltung durch die Archive zu erkennen. Je vielfältiger die Erscheinungsformen der Verwaltungsaufzeichnungen sind, um so deutlicher wird die Anforderung einer gründlichen Analyse vor Beginn einer archivischen Bearbeitung. Und so entsteht eine zentrale Herausforderung für die archivischen Tätigkeiten darin, ihre Analysekompetenz zu vertiefen und ihr Instrumentarium zu diesem Zweck auszubauen. Beratung für die Verwaltung Archive benötigt man, wenn man mit Schriftlichkeit operiert. Da bisherige, analoge schriftliche Aufzeichnungen die Alterungseigenschaften ihrer Trägermaterialen annahmen, konnte man ihre Kenntnisnahme sowie die Retentionsfähigkeit der Mitteilungen über Operationen steuern, die auf den Träger bezogen waren. Man schickt einen Brief also ein Ding, an eine Person, und geht davon aus, daß sie die Nachricht zur Kenntnis nimmt. Man verschließt den Brief zuvor und darf annehmen, daß er nicht unbefugt geöffnet wird. Denn jede Öffnung erfordert eine Manipulation des Dinges, die nur schwer ohne Spuren zu hinterlassen, vorzunehmen ist. Was analog aufgezeichnet ist, verbindet sich so vollständig mit dem Material, daß die
2 logische Trennung zwischen beidem erst mit der Verselbständigung der Nachricht in elektronischer Form denkbar wurde. Bisheriger Umgang mit Schriftlichkeit implizierte also immer den stellvertretenden Umgang mit den Aufzeichnungs- materialen. Eine vorwiegend mündliche Kultur hat andere Formen für die gleichen Zwecke. So bewirkt sie etwa die Retention durch ständige Wiederholung, die ihrerseits durch Formelhaftigkeit der Aussage erleichtert wird. Deshalb legt sich eine mündliche Aussage viel weniger fest als eine schriftliche Aufzeichnung. Sie kann aber auch nicht die Präzision der Schriftlichkeit erreichen. Andererseits integriert sie ihre Zuhörer stärker und direkter als die zeit- und ortsversetzten, von einander getrennten Operationen des Schreibens und Lesens3. Dieser Gegensatz mündlicher und schriftlicher Kommunikation, der die letzten 2000 Jahre unserer kulturellen Entwicklung prägte, wird nun durch ein neues Aufzeichnungsmedium aus dem Gleichgewicht gebracht, in dem sowohl Elemente schriftlicher Aufzeichnungen wie mündlicher Kommunikation zu erkennen sind. Der kanadische Archivar Hugh Taylor spricht von dem neuen Phänomen konzeptioneller Mündlichkeit, das einen Paradigmenwechsel der Archivwissenschaft nötig mache4. Er verweist damit auf die Flüchtigkeit im Gegensatz zur gewohnten Stabilität von schriftlichen Aufzeichnungen in elektronischer Form: Wo bisher eine Entscheidung erforderlich war, wenn eine Aufzeichnung nicht aufbewahrt werden sollte, ist nun im Gegensatz dazu eine Entscheidung und ein Komplex von speziellen Vorkehrungen erforderlich, wenn sie erhalten bleiben soll. Doch es geht nicht allein darum, daß die Entscheidungsanforderung umgekehrt wird. Darüber hinaus werden zusätzliche Entscheidungen und Operationen nötig, wo man bisher einen Automatismus gewohnt war. Zusätzliche Operationen benötigen aber Zeit und personelle wie materielle Ressourcen. Das stellt ein grundlegendes Prinzip der Existenz von Archiven in Frage. Bisher entstanden ihre Bestände aus den Aufzeichnungen, die auf Grund einer nicht getroffenen Entscheidung über die Vernichtung oder Erhaltung in den Behörden zur Aussonderung anstanden. Archive entlasteten die Behörden nicht nur von der Aufgabe der Erhaltung, sondern, was noch mehr zählt, weil es Kosten und Zeit einspart, von dem Zwang zur Auswahl und zur Entscheidung über Aufbewahrung
3 oder Vernichtung. Sollen die Archive also nun in die Produktion ihrer Rohstoffe eingreifen, sollen sie ihre Materialien sozusagen bestellen? Können sie von den Behörden verlangen, zusätzliche Entscheidungen zu fällen und Operationen zu unternehmen, die nur den Zweck haben, dem Archiv adäquates Material zu liefern, dafür aber Zeit und Mittel in Anspruch nehmen, die die Behörde für ihre Aufgabenerledigung einsetzen könnte? Und führt diese Anforderung nicht eventuell sogar dazu, den Sinn der Archive in einer neuen Umgebung in Frage zu stellen, wenn sie früher ein Instrument zur Problemlösung und Entlastung waren, nun aber selbst Probleme aufwerfen und neue Belastungen verursachen? Die neuen Anforderungen der Archive an die Verwaltungen werden in der archivwissenschaftlichen Diskussion unter den Begriffen des Life Cycle5 oder des Records Continuum6 artikuliert. Dabei werden Regeln erarbeitet, wie etwa ein Australischer Normentwurf für Schriftgutverwaltung7, nach denen sich der Umgang mit elektronischen Aufzeichnungen in der Verwaltung zu richten haben soll, und die Anforderungen der archivischen Auswertung von Beginn an berücksichtigen. Demnach soll etwa bei jeder in einer Verwaltung getroffenen Entscheidung eine Aufzeichnung erstellt und für die spätere Archivierung festgehalten werden, welche Gründe für oder gegen die Entscheidung sprachen und warum sie getroffen wurde. Damit soll bei der Kommunikation bedacht werden, daß sie in eine archivfähige Form gebracht wird und daß sie zudem selbst ihre Archivwürdigkeit begründet. Beides aber sind Analysekriterien. Wenn sie als Produktionsrichtlinien verwendet werden, machen sie trotzdem die nachträgliche Analyse nicht überflüssig. Sie machen sie nur komplizierter. Es liegt auf der Hand, daß - neben der Lahmlegung jeder Behörde durch solche Anforderungen - auch das eigentliche Ziel, nämlich Begründungen zu bekommen, verfehlt wird. Denn sobald in der Verwaltung dem Archiv bewußt zugearbeitet wird, verliert das Archiv seinen Sinn. Nur wenn es der Verwaltung weiterhin Entscheidungen abnehmen kann, also sich nicht allein auf die Verwahrung beschränkt, kann es eine sinnvolle Dienstleitung anbieten. Nicht die Aufstellung von Forderungskatalogen mit der Konsequenz zusätzlicher Belastungen wird die Nützlichkeit der Archive sichern. Statt dessen wird Beratung benötigt, die bei der Erledigung der eigenen Aufgaben hilft und den
4 Entscheidungsdruck verringert. Diese Leistung ist unabhängig vom Kommunikationsmedium, das in der Verwaltung verwendet wird. Ja sie kann sogar den Einsatz der Kommunikationsmedien selbst zum Gegenstand machen, ist aber nur dann sinnvoll und nachhaltig, wenn sie ausschließlich die eignen Zwecke der Verwaltung, die Verständlichkeit ihrer Kommunikation und die Ausschaltung von Mißverständnissen zum Ziel hat. Genau hier, bei der Nutzung von Aufzeichnungsformen und -medien liegt ein hoher Beratungsbedarf der Verwaltung. Denn mit den elektronischen Medien hat sich der Gestaltungsspielraum bei der Nutzung von Kommunikationsformen vervielfacht. Es ist zwar möglich, solche Kommunikationsinstrumente einzusetzen, die den beabsichtigten Zweck am besten fördern. Doch ihre jeweilige Wirkungsweise und Funktionalität für die aktuellen Entscheidungserfordernisse sind nur noch mit professioneller Unterstützung erkennbar. Verantwortungsbewußte Entscheidungen brauchen deshalb Kriterienkataloge und vorformulierte Instrumentarien. Sie lassen sich aus der in den Archiven versammelten Erfahrungen der Verwaltung mit mündlichen und schriftlichen Kommunikationsformen erarbeiten. Weder Life-Cycle noch Records Continuum sind Konzepte, die eine archivische Beratung der Verwaltungsarbeit begründen können. Sie setzen die Kontinuität der Zwecke während der Erstellung, der Nutzung und der zeitweiligen oder endgültigen Aufbewahrung von Aufzeichnungen voraus. Deshalb können sie die Gründe für die Entstehung der Aufzeichnungen, etwa anstelle von mündlicher Kommunikation nicht erkennen und arbeiten mit Vorstellungen, die die dingliche Einheit analoger Aufzeichnungen schlicht elektronisieren. Denn diese Konzepte können sich keine funktionalen Äquivalente in elektronischer Form vorstellen, weil sie die Existenz der Aufzeichnungen bereits voraussetzen und ihre Entstehung nicht mehr selbst beobachten können. Sie können sie nur als entstanden akzeptieren. Das ist einer der Aspekte des von Hugh Taylor geforderten Paradigmenwechsels. Es werden nicht nur und nicht in erster Linie neue technische Kompetenzen erforderlich. Wichtiger sind neue Beratungs- und Kooperationskompetenzen, die sich nicht darauf beschränken dürfen, Anforderung zu formulieren, sondern die der Verwaltung helfen, neue Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Dazu muß der
5 archivische Blick über die Formen, über die Analyse des Layouts von Schriftstücken, über die Komposition von Akten8 hinaus deren Funktionen in der jeweiligen Arbeitsumgebung, in der sie entstanden sind, umfassen und verstehen. Damit erwirbt der Beruf die Kompetenzen, die sein gewohntes Problemlösungspotential erhalten können und die seine Unverzichtbarkeit für eine leistungsfähige Verwaltung erneut begründen. Die Öffnung der Bestände Der andere Aspekt betrifft die Öffnung der aus der Verwaltung übernommenen Aufzeichnungen für die Nutzung, die nach den Archivgesetzen jedem ohne Ausnahme, allerdings unter Abwägung von durch die Öffnung eventuell beeinträchtigten anderen Rechten, zusteht. Neue Informationstechnologien waren seit ihrer Verfügbarkeit interessant für Archive. In den 70er Jahren versuchte man die Sortier- und Recherchierfähigkeiten von Datenbanken für Stichwort- und thesaurusgestütztes Retrieval einzusetzen. In den 80er Jahren entstanden nach heftigen Diskussionen über den Sinn solcher Verfahren mit AIDA in Hannover und MIDOSA in Stuttgart Systeme, die nicht mehr mit Stichworten, sondern mit Titeln von Verzeichnungseinheiten operierten. Das war ein wichtiger Schritt vom Versuch der Inhaltsrepräsentation zur Darstellung von Entstehungsstrukturen. Doch konnten nur die Verarbeitungsvorgänge elektronisch erledigt werden. Die Darstellung selbst erfolgte durch einen Ausdruck auf Papier, was generell bei den beteiligten Informatikern zu höchstem Erstaunen führte, sich aber in der Praxis der Archive durchgesetzt hat. Alle heute verfügbare Erschließungssoftware besitzt die Funktionalität zum Ausdruck von Findbüchern. Der logisch folgende, nächste Schritt war erst mit der Internettechnologie möglich. Denn sie macht mit ihrer navigierenden, assoziativen und selbstbestimmten Nutzungsweise ein elektronisches, funktionales Äquivalent zu Findbüchern möglich. Das etwa sollte mit dem Online-Findbuch der Archivschule Marburg demonstriert werden. Es wurde parallel zu der Encoded Archival Description (EAD) in den USA entwickelt und zeigt zahlreiche Ähnlichkeiten, soweit von hier aus erkennbar, aber auch einige prinzipielle Unterschiede. Die Internet-Technologie eröffnet weitere, über die Funktionen des Findbuchs hinausgehende Möglichkeiten und schafft so
6 Raum für neue Wege zur Verbesserung des Zugangs zum Archivgut. Ebenso wie bei der Nutzung elektronischer Instrumente in der Büroarbeit schafft der Einsatz elektronischer Werkzeuge beim Zugang zu Archivgut so viele neue Möglichkeiten, daß eine neue Reflexion über Ziele und Methoden erforderlich wird. Der Sinn des archivischen Findbuchs ist die freie und uneingeschränkte, assoziativ arbeitende Ermittlung bisher unbekannter Informationen. Bei der Findbucherstellung stehen zwei Instrumente für diesen Zweck bereit. Ihr Einsatz ermöglicht es, die inneren Zusammenhänge der Bestände trotz ihrer Verschiedenheit, immer wieder adäquat abzubilden. Das ist einerseits der Titel der Verzeichnungseinheit mit der Bezeichnung des Entstehungszwecks und seiner zeitlichen Identifizierung mit Hilfe der Laufzeitangabe und andererseits die Gliederung des ganzen Bestandes. Versuche, mit dem Titel eine Inhaltsbeschreibung zugeben oder ihn durch Deskriptoren oder Schlagworte zu ersetzen, sind gescheitert, weil sie notwendigerweise Auswertungsfragen antizipieren und privilegieren und anderen Fragen damit den Zugang verstellen. Der Titel bezeichnet das Ereignis, daß die Entstehung der Unterlagen verursacht hat. Alles andere muß der Interpretation der Benutzer überlassen bleiben. Die Gliederung hilft beim Verständnis der Titel einzelner Einheiten, indem sie die Kontexte erkennbar macht. Dadurch, daß sie vom Ganzen zu seinen Teilen fortschreitend eine Gesamtkompetenz vollständig in mehreren Ebenen unterteilt, wird der Umfang einzelner Gliederungsgruppen aus der Negation der übrigen Gruppen deutlich, ohne eine vollständige Aufzählung der möglicherweise dazugehörenden Fälle zu erfordern. Die beiden Instrumente, also die Titelformulierung und die Gliederung, sind zwar in ihrem Bedeutungsgehalt normiert, nicht jedoch in ihrer Anwendung. Deshalb können mit ihnen die Besonderheiten jedes Bestands respektiert und präsentiert werden, ohne daß ihm ein vorgegebenes Schema übergestülpt werden muß. Das Findbuch verhilft Benutzern auf zwei Wegen zu den gewünschten Unterlagen: Durch ermittelndes Schließen wird der Platz in der Struktur des Bestandes gefunden und die Beschreibung der Einheiten läßt Schlüsse auf die bei seiner Entstehung möglicherweise vorgenommen Ermittlungen und Erhebungen zu. So schaffen Findbücher Zugang zu Quellen neuen Wissens, das zuvor noch niemand bekannt
7 war, auch nicht den erschließenden Archivaren. Sie kennen nur den Weg dazu, weil sie ihn freigelegt haben. Archivische Findbücher sind bei der Archivbenutzung Instrumente eines Anregungen aufnehmenden, neue Ideen und Perspektiven entwickelnden Suchens und Denkens. Ihnen geht es nicht darum, eine bekannte Angabe durch normierte und deshalb überall gleichförmige Bezeichnung wieder auffindbar zu machen. Dazu benötigt man andere Instrumente. Ihnen geht es um Hinweise auf Neuland. Sie sind Wegweiser für Entdeckungen. Deshalb nehmen sie die Inhalte möglicher Entdeckungen nicht vorweg. Bescheidenerweise benennen sie nur den formalen Rahmen und bezeichnen Gebiete für mögliche Nachforschungen. Gerade diese Funktionen können durch die Nutzung der nicht linearen Verknüpfungen codierter Texte besser dargestellt und leichter benutzbar gemacht werden als auf dem Papier. Sie können sie zudem etwa durch die Anbindung erläuternder Zusatztexe, Graphiken und Bilder an Stellen, an denen sie hilfreich sind, ohne beim schnellen Durchsehen zu stören, noch weiter unterstützen. Online-Findbücher erweitern die Funktionalitäten bisheriger archivischer Erschließung. Sie geben neue Möglichkeiten der archivübergreifenden, gemeinsamen Präsentation von Beständen. So können virtuelle Verbünde zwischen Archiven hergestellt werden und mancher komplizierte Archivalienaustausch könnte sich bei einer Verknüpfung der Findmittel im Internet vielleicht erübrigen. Mit der Online- Präsentation ihrer Findmittel stellen sich die Archive gleichzeitig einem methodischen Wettbewerb, der zur ständigen Verbesserung der Erschließungsqualität genutzt werden kann. Das bedeutet eine neue Qualität des Zugangs zu Archiven. Da es ihr Ziel ist, Benutzern die Verwendung der inneren Strukturen von Archivbeständen zu erleichtern, statt sie vor ihnen zu verstecken, sollte ein Schwerpunkt bei der Weiterentwicklung der Online-Findbücher auf der Handhabung der Gliederung und ihrer übersichtlichen Darstellung auf verschiedenen Aggregationsebenen, vielleicht auch mit dem Einsatz neuer Visualisierungstechniken liegen. Online-Findbücher und EAD kommen aus verschiedenen Zusammenhängen. Es ist aber heute wohl erkennbar, daß ihr Ansatz, obwohl sie sich in der Entwicklung nicht
8 aufeinander bezogen, vergleichbar ist. Die Erfahrungen mit EAD werden sehr hilfreich für die Weiterentwicklung des Online-Findbuchs sein. Die neuen Erschließungsformen liefern den Hinweis auf den zweiten Aspekt des aktuellen Paradigmenwechsels. Die Entwicklung der EDV-Anwendungen in den Archiven zeigt die zunehmende Hinwendung zu den Benutzern. Die Erschließung von Archivgut wird mit den neuen Instrumenten radikal nach außen orientiert und trotzdem, ja gerade dadurch werden die alten Prinzipien archivischer Arbeit neu begründet. Das Provenienzprinzip liefert die Begründung für die Struktur der Findmittel und für die navigierende Recherche. Es begründet eine Bewertungsmethodik, die der Beseitigung von Ballast und Redundanzen dient, und die eindeutige Präsentation und Öffnung der Bestände unterstützt. Eine neue Qualität des Zugangs und der inhaltlichen Auswertung wird möglich, gerade indem der archivischen Arbeit neue Hilfsmittel für eine durchgängige Orientierung an Formen und Strukturen bereitgestellt werden und sie sich zu den Inhalten neutral verhalten kann. Archive als Anbieter von Informationspotentialen Digitale Lesesääle, virtuelle Magazine, Online-Findbücher, alles diese Entwicklungen begründen offensichtlich keine völlige Neuorientierung der archivischen Arbeit. Allerdings tragen sie zur Klärung ihrer Zwecke und Funktionen bei und verschärfen die Frage nach dem Sinn des Berufs. Beide Seiten, sowohl das Verhältnis zur Verwaltung wie die breitere Öffnung zu den Benutzern bekräftigen die traditionellen Grundlagen der Archivwissenschaft. Sie bewirken keine radikale Änderung. Aber sie tragen zu einer Präzisierung der Ziele und Funktionen bei und zeigen Archive als zunehmend aktivere Gestalter des öffentlichen Lebens. Dabei sind sie selbst an der inhaltlichen Ausgestaltung uninteressiert. Ihre Funktion als neutraler Anbieter von Potentialen, als Organisator von Zugängen, also sozusagen als Provider oder Enabler, begründet ihre Bedeutung. Schon bisher haben die Bemühungen um die physische Erhaltung, um die Ausschaltung von Redundanzen bei der Bewertung, um die Präsentation und Bereitstellung den Zweck, die Realisierung der vollständigen und unverfälschten Aussagekraft des Archivguts möglich zu machen. Es geht also immer schon um die
9 Informationspotentiale, die bisher allerdings nicht von den Gegenständen getrennt vorstellbar waren9. Die Qualität der Informationspotentiale des Archivguts hängt direkt von der Erkennbarkeit der vollständigen Erscheinungsform, ihres ursprünglichen Aussehens und aller Veränderungen mit ihrer zeitlichen Bezügen ab. Die analoge Reproduktion mit Hilfe von Mikrofilmaufnahmen zeigt das Prinzip, wie die vollständige Erhaltung der Erkennbarkeit auch bei Verlust der originalen Dinglichkeit möglich ist. Sie schafft nämlich ein Abbild, das sich selbst gleichzeitig mit dem abgebildeten Objekt als Reproduktion zu erkennen gibt. Ein Faksimile, eine Nachbildung oder eine Fälschung dagegen, bleiben selbst dann, wenn sie täuschend echt aussehen, unvollständig, weil sie sich nicht als Nachbildung zu erkennen geben. Das gleiche gilt für digitale Kopien. Von einer digitalen Aufzeichnung kann keine 100%ig identische Kopie hergestellt werden, wie Margaret Hedstrom dargestellt hat10. Deshalb wählt jede Migration Informationspotentiale aus und privilegiert sie gegenüber anderen, die vernichtet werden. Sie stellt eine Nachbildung her, die sich selbst aber nicht als Nachbildung zu erkennen gibt und ihre Entstehung nicht aufdecken kann. Das Prinzip der Mikrofilmaufnahme, die ihre Eigenschaft als Abbild gleichzeitig mit dem dargestellten Gegenstand präsentiert, schafft die Möglichlichkeit, die Ausgangssituation zu rekonstruieren. Auf diesen Umstand weist gerade ein etwa mitfotografierter Maßstab deutlich hin. Er verweist direkt nach außen und fordert dazu auf, die Abbildung nicht zu isolieren von ihrem Zweck, sondern ihre Funktion mit zu bedenken. An Hand der Proportionen läßt sich die ursprüngliche Größe trotz der verkleinerten Abbildung rekonstruieren, selbst wenn sie nicht nachgebildet wurde. Über die Rekonstruierbarkeit der Ausgangslage wird das Informationspotential vollständig erhalten, ohne daß bestimmte inhaltlich festgelegte Informationen privilegiert würden11. Das Prinzip der Rekonstruierbarkeit erübrigt einen nicht begrenzbaren Aufwand für Nachbildungen des Originals, die doch immer unzulänglich sein werden. In der analogen Umgebung ist die dazu erforderliche Darstellung des Abbilds als Abbild selbstverständlich. Ihre materielle Beschaffenheit macht die Wahrnehmbarkeit der Unterschiede zwischen Original und Nachbildung zur Banalität. Diese
10 Selbstverständlichkeit geht bei der Anwendung digitaler Aufzeichnungsformen verloren. Nicht das digitale Image oder die migrierte Kopie ist der modernere Ersatz für die Mikrofilmaufnahme, sondern das von Jeff Rothenberg entwickelte Konzept der Emulation statt Migration realisiert den Ansatz12 der Rekonstrierbarkeit von Informationspotentialen für digitale Aufzeichnungen und formuliert damit ein grundsätzliches Element für eine archivische Strategie. Sowohl die Erhaltung des Originals wie die Ermöglichung seiner vollständigen ideellen Rekonstruktion seines ursprünglichen Zustands sind gleichwertige, nämlich funktional äquivalente Verfahren des Zugangs. Wenn die Ausgangssituation nicht erhaltbar ist, kann ihre Aussagekraft trotzdem durch ihre Rekonstruierbarkeit bewahrt werden. Von dieser Position aus können archivische Strategien entwickelt werden, die in einer elektronischen Verwaltungsumgebung nicht nur die offiziellen Dokumente, sondern auch die e-mails und andere Kommunikationsformen bei ihrer Vorbereitung berücksichtigen können und die den Benutzern der Archive die bestmögliche Offenheit ihrer Bestände anbieten können. Diese Aufgabe ist allerdings etwas komplizierter, als es in der Formel von der Erhaltung des digitalen Erbes publikumswirksam verkürzt wird. Denn sie umfaßt die Entscheidung darüber, was digital und was in anderer Form erhalten werden muß, damit seine Informationspotentiale vollständig rekonstruierbar bleiben. Es sind flexible Strategien gefragt, die verschiedene Aufzeichnungsformen je nach dem Verfolgten Zweck einsetzen13. Die Hauptaufgabe ist dann zu entscheiden. Das kann nur auf der Basis exakter Analysen geschehen. Regeln und Richtlinien sind dafür nicht ausreichend. Um mit solchen Situationen umgehen zu können, sind eine gute Fachausbildung und gründliche Kenntnisse erforderlich, damit eigene Strategien entwickelt werden können. Es müssen, ähnlich wie bisher schon in der Bewertung, mehr Werkzeuge vor allem für die Analyse entwickelt werden, die für konkrete Situationen bereit stehen. Sie benötigt Typisierungen von möglichen Erscheinungsformen und Beschreibungen von Konsequenzen möglicher Reaktionen, also die Aufarbeitung bisheriger Erfahrungen mit den verschiedenen Medien in einer wissenschaftlichen Theorie. Auf der Basis des übergreifenden Zieles, die Rekonstruierbarkeit der Ausgangssituation zu erhalten, kann sich ein neues professionelles Paradigma für digitale Archive entwickeln. Nebenbei zeigen einmal
11 mehr die archivischen Prinzipien ihren unverzichtbaren Stellenwert für die Modernisierung des Berufs. 1 Vgl. die Entwicklung der ISAD (G) und die Diskussion um die Encoded Archival Description im American Archivist, vol 60 und 61, 1997 sowie Mechthild Blck- Veldtrupp, ... in: Angelika Menne-Haritz, Hrsg., Archivsche Erschließung, Aspekte einer Fachkompetenz, Marburg 1999, S. ... 2 Beide Aspekte hängen eng miteinander zusammen, erfordern jedoch getrennte Strategien. Wie schwer allerdings die Abgrenzung von einander ist zeigt die häufige Umorganisation und Neuformierung der entsprechenden Komitees des ICA, der zunächst ein Komitee für Automation hatte, das 1992 aufgeteilt wurde und nun Descriptive Standards und Current Records behandelt. Zum Stand der Diskussion vgl. die Proceedings from the Working Meeting on Electronic Records, Pittsburgh, PA, May 1997, in: Archives and Museums Informatics, vol. 11, nos. 3-4, 1997. 3 Eric A. Havelock, Schriftlichkeit. Das griechische Alhabet als kulturelle Revolution, Weinheim 1990. 4 Hugh A. Taylor, Transformation in the Archives: Technological Adjustement or Paradigm Shift?, in: Archivaria 25, Winter 1987-88, S.12-28. 5 Es wird oft vergessen, daß der Begriff des Life Cycle um einiges älter ist als die Diskussion um die electronic records. Vgl. dazu Terry Cook, What is Past is Prolog: A History of Arcival Ideas Since 1898, and the Future Paradigme Shift, in: Archivaria 43, 1977, S. 17-61. 6 Auch dieser Begriff ist älter und stammt aus dem australischen Archivwesen. Er richtet sich gegen die Unterteilung des Life Cycle in verschiedene Phasen und will statt dessen eine kontinuierliche Entwicklung sehen. Vgl. Jay Atherton, From Life Cycle to Continuum: Some Thoughts on the Records Management - Archives Relationship, in: Archivaria 21, 1985-86, S. 17-61 sowie die Neubelebung des Konzepts mit einem erweiterten Anspruch: Sue McKemmish and Michael Pigott, Records Continuum: Ian Maclean and Australian Archives First Fifty Years, Clayton
12 1994. Das Konzept des Continuum richtet sich ebenso wie das Life Cycle Konzept ausdrücklich gegen die Unterscheidung eines Verwaltungszwecks vom Archivierungszweck und sieht das Records Management als archivische Aufgabe an. 7 Standard Australia Committee IT/21 on Records Management Systems. 8 Akten werden nicht für die Aufbewahrung geschaffen, sondern für die verbrauchende Nutzung bei der Erarbeitung von Entscheidungen. Ihr Informationsgehalt ist üblicherweise gering und zudem durch den Verwendungszweck gefiltert. Doch ihr Informationspotential ist nicht eingrenzbar und nicht eindeutig benennbar. Denn die Aufzeichnungen, die sie enthalten, entstehen für die Entscheidungsproduktion, nicht die verläßliche Erinnerungsfähigkeit der Behörde, noch ihre Rechenschaftsfähigkeit oder die Kontinuität ihrer Entscheidungen. Diese Phänomene können nicht als solche direkt angestrebt werden, weil sie, wenn ins Zentrum der Aufmerksamkeit gezogen werden, automatisch die Problemlösungskapazität okkupieren und von den Sachen ablenken. Es ist so ähnlich wie mit der Brille. Wenn man sie sieht, etwa weil ein Staubkorn oder Fingerabdruck stört, sieht man die mit ihrer Hilfe betrachtete Umwelt solange nicht mehr. 9 Und trotzdem gab es Ansätze, diese Trennung zu denken. Adolf Brenneke knzipierte in seinen Lehrveranstaltungen der 30er Jahre das Provenienzprinzip als abstraktes Konzept, mit dessen Hilfe einem Bestand eine solche Form gegeben werden konnte, die am besten zeigte, wie er entstanden war, auch wenn er zuvor nie in dieser Form vorhanden gewesen war. Sein Ansatz, der sehr viele Ähnlichkeiten mit der Systemtheorie des beginnenden 20ten Jahrhunderts in Wien mit ihren Wurzeln in der Biologie hat, war die Basis für die Unterscheidung zwischen Primärzwecken während der Entscheidungsfindung und Sekundärzwecken bei der Einsicht in eben diese Entscheidungen, wie sie Schellenberg formulierte. Beide Ansätze waren der sich auf Jenkinson berufenden Tradition entgegengesetzt, die den Perspektivenwechsel beim Übergang von der Verwaltung zum Archiv nicht akzeptierte. Vgl. Terry Cook, What is Past is Prologue, S. 19.
13 10 Margaret Hedstrom, Research Issues in Migration and Long-Term Preservation, in: Archives and Museums Infrmatics,vol. 11, No 3-4, 1997, S. 287-291. 11 Informationspotentiale liegen in der Evidenz begründet, die die Aufzeichnungen über ihre Verwendung geben. Diese offensichtliche Nutzung und die dadurch verursachte Veränderung, die ihrerseits eine Mitteilung für andere beteiligte Stellen war und von diesen in einem bestimmten, aus wiederum ihren Reaktionen erkennbaren Sinn verstanden wurde, kann nicht durch Metadaten ersetzt werden. Daten sind Angaben für bestimmte, genau bestimmte Informationsbedürfnisse, die zuvor antizipiert müssen, um im Vorgriff auf ihr Zutagetreten die Antworten auf Vorrat parat zu halten. Der Unterschied der Metadaten zur Evidenz liegt darin begründet, daß sie Antworten geben und nicht Interpretationsspielräume, also Antwortpotentiale eröffnen. 12 Jeff Rothenberg, Ensuring the longevity of digital documents, Scientific American, 1995, p. 43ff 13 Vgl. im gleichen Sinn Margaret Hedstrom, Building Records Keeping Systems: Archives Are Not Alone on the Wild Frontier, in: Archivaria 44, 1997, S. 44-97, wo sie eine flexible Strategie fordert, die auch den Einsatz von Papier, wenn seine speziellen Funktionen gefragt sind, nicht ausschließt.
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