Eine ideale Anfangslektüre
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Eine ideale Anfangslektüre Eine ideale Anfangslektüre I. Das Wunder der eierlegenden Wollmilchsau eine ideale Lektüre als Antwort auf diese Krise Bei der ‚eierlegenden Wollmilchsau‘ handelt es skizziert werden. sich laut Wikipedia um eine umgangssprach- liche Redewendung, mit der eine Sache, Person II. Achttausender und Flachlandtiroler3 oder Problemlösung umschrieben wird, die Die neunte Jahrgangsstufe bedeutet für die „nur Vorteile hat, alle Bedürfnisse befriedigt, Lateinschüler4 traditionell einen Einschnitt: allen Ansprüchen genügt“.1 Dieser Artikel ver- Die Lehrbuchphase ist abgeschlossen, und es sucht nachzuweisen, dass dieses Wunderwesen beginnt die Begegnung mit den originalen für den Lateinunterricht tatsächlich existiert, Werken der lateinischen Literatur, traditi- verwunderlicherweise aber noch nicht als sol- onell oft heute noch mit Cäsar und seinen ches erkannt und flächendeckend als überaus commentarii über den Gallischen Krieg. ertragreiches Nutztier eingesetzt wird. Das An sich könnte diese neubeginnende Phase Schöne an ihm: Es handelt sich nicht um eine etwas Schönes sein, insofern die Schüler jetzt digital genomveränderte Mutation aus einem die Früchte ihrer langjährigen Wortschatz- und modernen Frankensteinlabor, sondern um Grammatikarbeit der Spracherwerbsphase einen altehrwürdigen Text, dessen Zeit nach ernten, weil sie nun in der Lage sein sollten, über anderthalb Jahrtausenden endlich gekom- die unsterblichen Werke der Alten zu lesen. men zu sein scheint. Wie das Hybridwesen der Jede/r unterrichtende Kollege/in weiß, dass eierlegenden Wollmilchsau die Vorzüge ver- das ein frommer Wunsch ist. Die Fachdidaktik schiedener Tierarten in sich vereint, nämlich kennt seit langem das Phänomen des sog. ‚Lek- von Huhn (Eier), Schaf (Wolle), Kuh (Milch) türeschocks‘, das über das letzte Jahrzehnt an und Schwein (Fleisch), so leistet die Lektüre Relevanz und Vehemenz noch zugenommen dieses Autors en passant alles, was für den haben dürfte: Die für Schüler oft demotivie- Lektüreeinstieg nach der Spracherwerbsphase rende Erkenntnis nämlich, dass die Zeit des grundlegend ist und von der fachdidaktischen gesicherten und windgeschützten Boulderns Theorie wie unterrichtlicher Praxis permanent in der Lehrbuchhalle mit klar abgeteilten, postuliert wird:2 Sicherung und Erweiterung kleinschrittigen, gut lernbaren Vokabel- und des Wortschatzes und der Grammatik, nicht Grammatikpensen und leicht berechenbaren allzu komplexer Satzbau für die Gewährlei- Portionen für schriftliche Prüfungen zu Ende stung einer plurima lectio und einer zügigen gegangen ist: Am Fuße steiler, zerklüfteter und Leseprogression, damit einhergehend das Ver- zugiger Gebirgsmassive – der Originalautoren meiden des für die weitere Motivation fatalen – kommen sie sich verloren vor, weil sie schon ‚Lektüreschocks‘ und ein relevanter und alter- auf den ersten Höhenmetern spüren, dass für sadäquater Inhalt. Bevor das Geheimnis um eine Besteigung das gesamte Knowhow und dieses reale Fabelwesen gelüftet wird, soll eine die Kondition eines erfahrenen Bergsteigers knappe, metaphorisch gehaltene Analyse der vonnöten sind. Mag der Expeditionsleiter auch Krise des lateinischen Mittelstufenunterrichts noch so beredt vom Gipfel und der erhabenen versucht und eine Art Anforderungsprofil an Aussicht schwärmen, erscheinen die Mühen des FC 1/2021 37
Michael Lobe Weges doch so groß, dass etliche Flachlandtiro- Gleichwohl sollte der Text alle typischen gram- ler den Sinn eines Aufstiegs nicht einsehen und matischen Erscheinungen aufweisen, wie sie für in stiller Resignation oder ostentativem Trotz den Lektüreunterricht unerlässlich sind: Parti- ein Weitergehen verweigern. zipialkonstruktionen, Gerundia und Gerundiva, Ablativi absoluti etc. III. Die goldene Mitte Nicht zuletzt sollte der Text kulturell relevant Um einen gelingenden Einstieg in den Anstieg sein. Die von ihm thematisierten Gegenstände zu gewährleisten und ohne die Seilschaft zu sollten Anlässe zur Reflexion, zur Diskussion überfordern, bietet sich als Zwischenlösung und zu übergreifenden Betrachtungen bieten. zwischen Boulderhalle und den Achttausen- Das wird nur gelingen, wenn der Text moti- dern ein Gang in die Mittelgebirge an – zu vationale Eignung besitzt, indem er an alters Trainingszwecken, um für die Alpinstrecken adäquate Interessen/ Fragestellungen und die fit zu werden. Welche Anforderungen sind nun Erfahrungswelt der Jugendlichen andocken an einen lateinischen Text zu stellen, der einen kann, um z. B. eine kontroverse Auseinander- fließenden Übergang zwischen Spracherwerbs- setzung mit dem behandelten Thema oder einen und Lektürephase gewährleistet, der die Schüler aktualisierenden Abgleich mit der Gegenwart zu von der Ebene des Sprachlehrbuchs abholt und ermöglichen. sie in sanfter Steigung an die dünner werdende Luft der Originallektüre gewöhnt? IV. brevitas und simplicitas als Zunächst einmal sollte es sich um einen Ori- Musterqualitäten für die Anfangslektüre ginaltext handeln, aus Gründen der Lernprogres- Typische lateinische Texte im ersten Jahr der sion, v. a. aber auch der Motivation: Den Schülern Originallektüre sind z. B. Cäsars Commentarii, sollte nach dem Abschluss des Spracherwerbs Cornelius Nepos Feldherrnviten oder Catulls glaubhaft vermittelt werden können, dass sie nun Carmina. Diese Werke richten sich ursprünglich in der Lage sind, einen echten, authentischen an zeitgenössische Adressaten, die ein gemein- Text aus der Antike zu lesen. samer sprachlicher, historischer und kultureller Der Text sollte sprachlich zugänglich sein, Hintergrund eint. Diese den zeitgenössischen d. h. keine langen Satzperioden und allzu Rezipienten selbstverständliche Basis für das komplexe Stilisierung der Sprache aufweisen. Verstehen dieser Texte muss zweitausend Einfaches Prosalatein bedeutet, dass größere Jahre später für ein ganz anderes Lesepubli- Textmengen in kürzerer Zeit bewältigt werden kum mühsam rekonstruiert werden – junge können, dass Lexik, Grammatik und Syntax Menschen, für die a) Latein keine gesprochene häufiger umgewälzt und so die im Sprachun- Alltagssprache ist, sondern ihnen als Reflexions- terricht erworbenen Kenntnisse gefestigt und und Modellsprache begegnet, und b) denen weiter aufgebaut werden können. Ein größeres die Begrifflichkeit, die Realien, historische und Lesequantum und erhöhtes Lektüretempo kulturelle Hintergründe der römischen Antike verschafft den Schülern die motivierende weitestgehend unbekannt sind. Diese Erkennt- Erfahrung, dass das Lateinlernen der letzten nis spricht selbstverständlich nicht gegen die Jahre nicht umsonst war, sondern sie befähigt, Beschäftigung mit diesen Texten, sondern sinnentnehmende Originallektüre zu betreiben. macht neben der sprachlich-formalen Stili- 38 FC 1/2021
Eine ideale Anfangslektüre sierung auf zusätzliche Schwierigkeiten beim Das Breviarium ist ein auf mehreren Quellen Einstieg in die Originallektüre aufmerksam; basierender und in der Regel9 leicht zu lesen- sinnvoller könnte es sein, mit einem Text zu der Abriss der Geschichte. Nach M. Fuhrmann beginnen, der zwar auch aus der Antike stammt, gab es ein großes Bedürfnis an Orientierungs- aber aufgrund seiner pragmatischen Intention wissen, um „einer schlimmen Entfremdung als Kompendium der römischen Geschichte von der Tradition des eigenen Staatswesens wesentliche Vorzüge für eine Anfangslektüre entgegen(zu)arbeiten.“10 M. von Albrecht sieht aufweist; die Rede ist vom Breviarium historiae als weiteren Grund für die Häufung von Bre- Romanae Eutrops. Die besondere Eignung viarien in der Zeit der Kaiser Valentinian und dieses Textes als Anfangslektüre besteht in den Valens die Zusammensetzung des Senats „aus Tugenden der brevitas und simplicitas. Wie der Provinzlern, denen die römische Geschichte in Titel des Werks andeutet, handelt es sich um eindringlicher und übersichtlicher Form nahe- einen kurzen Abriss der römischen Geschichte gebracht werden muß.“11 – brevitas meint, dass die wichtigsten Episoden römischer Geschichte auf das Wesentliche VI. Eutrops Skizze der römischen Geschichte reduziert dargestellt werden und so in der – Autor, Werk und didaktische Eignung schulischen Lektüre ein rascher Überblick Eutropius war persönlicher Referent (magister über wesentliche Personen und geschichtliche memoriae)12 des Kaisers Valens (364 bis 378) Ereignisse möglich wird. Simplicitas herrscht in und hatte von diesem den Auftrag erhalten, puncto Syntax und stilistischer Anspruchslosig- eine Kurzfassung der römischen Geschichte keit – vorrangiges Ziel Eutrops ist die Vermitt- zu verfassen. Das breviarium historiae Roma- lung von Fakten. nae durchläuft in zehn kurzen Büchern die wichtigsten Fakten der römischen Geschichte V. Die typisch spätantike Gattung vom Ursprung Roms 753 v. Chr. bis zum Tod des Breviariums des Kaisers Iovinian im Jahre 364 n. Chr. Nach In seiner Übersicht über die spätantike Bleckmann lasse Eutrops Haltung gegenüber Geschichtsschreibung5 unterscheidet M. Fuhr- Konstantin und Julian erkennen, dass er kein mann die vorherrschenden Gattungen der Christ war: „Er legt Wert darauf, die Divinisie- spätantiken Geschichtsschreibung: Die christ- rung für jeden Kaiser sorgfältig zu verzeichnen, liche Chronik als „Gesamtschau über den ignoriert dagegen die neuen religiösen Gege- Weltlauf von der Schöpfung bis zur eigenen benheiten so gut wie völlig.“13 Gegenwart“,6 die Monographie über bestimmte Eutrops Werk hatte nach Bleckmann Autori- Epochen, die Spielart der Origo gentis7 und die tät und Gewicht: „Diese Autorität und die hand- Kompendien der römischen Geschichte, die habbare Kürze und der prägnante Stil haben sich wiederum in Biographien, Epitomen (ver- seinem Werk ein Nachleben gesichert.“14 Für kürzende Wiedergaben des Inhalts eines großen den griechischen Osten wurde Eutropius gleich Werks) und Breviarien untergliedern lassen. zweimal ins Griechische übersetzt,15 was sonst Die Kompendien „sollten offenbar der krassen kaum einem römischen Schriftsteller widerfuhr. Unkenntnis entgegenwirken, welche die Periode Im Mittelalter wirkte Eutropius stark nach, der Wirren hinterlassen hatte.“8 und das ‚historische‘ 19. Jahrhundert schätzte FC 1/2021 39
Michael Lobe ihn als Schulautor,16 bis er nach dem Zweiten nüchtern, ebenso weit entfernt von Gesuchtheit Weltkrieg weitgehend in Vergessenheit geriet. S. wie von Formlosigkeit“.21 Günther resümiert: „Neuere Versuche, Eutrop Mit Eutrop als Anfangslektüre wird man Jean neben dem altertumswissenschaftlichen Diskurs Pauls Motto „Sprachkürze gibt Gedankenweite“ auch als Schullektüre wiederzubeleben, sind in gewinnbringend im Unterricht einlösen können Deutschland bislang nicht erfolgreich gewesen.“ – quod erit demonstrandum. Zu Unrecht, eignet er sich doch – neben den oben erwähnten sprachlich-grammatikalischen VII. Drei Beispiele Gründen – ganz besonders dazu, den Schülern Um die Qualitäten der Eutroplektüre konkreti- vor der Lektürephase Kenntnisse über wichtige sierend zu veranschaulichen, seien drei Textbei- historische Personen und Konstellationen der spiele ausgewählt: Die Verschwörung Catilinas, römischen Geschichte und damit ein nützliches der Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen Cäsar Gerüst zur Orientierung an die Hand zu geben, und Pompeius sowie das Attentat auf Cäsar. das Grundlage für die nächsten Jahre ihres Lateinunterrichts sein kann. a) Die coniuratio Catilinae Es hat den Anschein, als ob Eutrop als (Eutrop, brev. 6, 15)22 schulischer Anfangsautor im Abstand von M. Tullio Cicerone oratore et C. Antonio consu- zwanzig Jahren immer wieder auf fachdidak- libus, anno ab urbe condita sexcentesimo octoge- tische Vorschlagswiedervorlage kommt: E. simo nono, L. Sergius Catilina, nobilissimi generis Oberg plädierte 1981 für eine Eutrop-Lektüre vir, sed ingenii pravissimi, ad delendam patriam in der Schule,18 1999/2000 tat dies H. Nieder- coniuravit cum quibusdam claris quidem, sed mayr für Österreich,19 und 2020 sei hiermit ein audacibus viris. a Cicerone urbe expulsus est. weiterer Versuch unternommen – vielleicht socii eius deprehensi in carcere strangulati sunt, ist der Unterricht der Jetztzeit und die rea- ab Antonio altero consule Catilina ipse victus listische Einschätzung seiner Möglichkeiten proelio est et interfectus. und Grenzen nun der Kairos für die verdiente In vier Sätzen und 58 Wörtern, auf denkbar Renaissance eines – wohlgemerkt – unterricht- knappstem Raum verdichtet, wird der Zeitpunkt lich völlig unterschätzten und zu Unrecht in der Handlung, die Haupthandlungsträger, die Vergessenheit geratenen Autors. M. Steinmann wesentlichen Ereignisse und der Ausgang der verdeutlicht: „Trotz des großen Erfolges seines Verschwörung dargestellt – in einfacher, schü- Geschichtswerkes und trotz des relativen Wohl- lerlesbarer Syntax, und doch so, dass lektürere- wollens der Literaturgeschichtsschreibung hat levante Grammatikphänomene wie der zweima- die Forschung (der ersten drei Viertel) des 20. lige Genitiv der Beschaffenheit, das Gerundiv Jahrhunderts Eutrop und sein Breviarium ab und ein Participium coniunctum im Sinne urbe condita etwas stiefmütterlich behandelt.“20 immanenter grammatikalischer Wiederholung Gleiches gilt für den Lateinunterricht der letz- thematisiert werden können. Freilich ist der ten Dezennien, obgleich das 19. und frühere Text schmucklos, ohne Stilisierung und rheto- Jahrhunderte Eutrops Werk gerne als eine der rischen Putz – aber in seiner Reduktion auf das ersten Unterrichtslektüren benutzt hatten, denn wesentliche Faktengerüst (auch das eine Kunst!) „Sprache und Stil sind flüssig und klar, etwas bietet er alle unterrichtlichen Chancen. Der Text 40 FC 1/2021
Eine ideale Anfangslektüre ist relativ schnell zu übersetzen und inhaltlich cum exercitu venit. consules cum Pompeio zu sichern. Seine additive Verknappung kann senatusque omnis atque universa nobilitas ex der Lehrkraft als eine Art Stichwortgeber für urbe fugit et in Graeciam transiit. apud Epirum, nach Belieben weiter auszuführende Aspekte Macedoniam, Achaiam Pompeio duce senatus dienen, die in Form eines Lehrervortrags, eines contra Caesarem bellum paravit. Unterrichtsgesprächs oder in Form vorberei- Auch in diesem Text kann immanente und teter und suo loco abgerufener Kurzreferate für die anschließende Originallektüre propä- vermittelt werden: Etwa das Jahr 63 v. Chr. als deutische Grammatikwiederholung betrieben Höhepunkt der Karriere Ciceros als Konsul, die werden (Participium coniunctum, Prädika- gleichzeitige Aufdeckung der Verschwörung tivum, zweimaliger Ablativus absolutus). In Catilinas, dessen Charakter als depravierter sechs Sätzen und lediglich 96 Wörtern sind alle Adliger mit oligarchischen Umsturzgelüsten im wesentlichen Ereignisse, Personen und auch die Gegensatz zu Cicero als homo novus mit dem epochale Bedeutung des Bürgerkriegs zwischen Wunsch nach Bewahrung der Staatsordnung, Cäsar und Pompeius meisterhaft eingefan- die seinen Aufstieg ermöglichte, Ciceros Reden gen. Der erste Satz ist eine Art Exposition mit gegen Catilina (Quo usque tandem abutere, wertender Einordnung der Monstrosität, des Catilina, patientia nostra?), Catilinas Reaktion verursachten Leids und des schicksalshaften mit der Flucht aus Rom und die Aufstellung Staatsumsturzes durch das bellum civile. Die eines Revolutionsheers in Etrurien, Catilinas Folgesätze stellen die sich überstürzenden Ereig- militärische Niederlage und sein Tod in der nisse des Jahres 49 v. Chr. nach dem Muster Schlacht bei Pistoria, die von Cicero durch- der actio/reactio dar: Cäsars Forderung nach gesetzte Tötung der Anhänger Catilinas mit einem zweiten Konsulat, die ablehnende Reak- weitreichenden Folgen für sein politisches und tion des römischen Senats mit der Forderung, privates Leben, die Episode der catilinarischen Cäsar solle nach Entlassung seiner Legionen als Verschwörung als Menetekel der untergehenden Privatmann nach Rom zurückkehren, Cäsars res publica libera zugunsten einer Clique von Reaktion der Überquerung des Grenzflusses Oligarchen etc. Rubikon als Kriegserklärung an den Senat und die panikartige Flucht des Senats mit Pompeius b) Die Rubikonüberquerung nach Griechenland zum Aufbau einer Vertei- (Eutrop, brev. 6, 19) digungsfront gegen Cäsar. Auch hier wird die Hinc iam bellum civile successit exsecrandum Lehrkraft das von Eutrop nur Skizzierte bunt et lacrimabile, quo praeter calamitates, quae in ausmalen können – es ist das Verdienst Eutrops, proeliis acciderunt, etiam populi Romani fortuna einen Text gewissermaßen als reduktionistische mutata est. Caesar enim rediens ex Gallia victor Partitur für die unterrichtliche Behandlung coepit poscere alterum consulatum atque ita, ut (weiterführende Erzählungen, Diskussionen, sine dubietate aliqua ei deferretur. contradictum Bildbetrachtungen etc.) geschaffen zu haben. est a Marcello consule, a Bibulo, a Pompeio, a Catone, iussusque dimissis exercitibus ad urbem c) Die Iden des März (Eutrop, brev. 6, 25) redire. propter quam iniuriam ab Arimino, ubi Inde Caesar bellis civilibus toto orbe conpositis milites congregatos habebat, adversum patriam Romam rediit. agere insolentius coepit et contra FC 1/2021 41
Michael Lobe consuetudinem Romanae libertatis. cum ergo et Begreifen erst einmal zu üben: insolentius agere, honores ex sua voluntate praestaret, qui a populo consuetudo libertatis, honores ex sua voluntate antea deferebantur, nec senatui ad se venienti praestare, regia ac paene tyrannica facere – ein adsurgeret aliaque regia et paene tyrannica faceret, Arsenal von Begriffen und Gedanken, das wir, coniuratum est in eum a sexaginta vel amplius nachdem wir es hier in einfacher Aufzählung senatoribus equitibusque Romanis. praecipui fue- geboten bekommen, später in anspruchsvolleren runt inter coniuratos duo Bruti ex eo genere Bruti, Autoren hoffen wiederverwenden zu können.“23 qui primus Romae consul fuerat et reges expulerat, et C. Cassius et Servilius Casca. ergo Caesar, cum VIII. Ein Auswahlvorschlag für eine senatus die inter ceteros venisset ad curiam, tribus zusammenhängende Eutrop-Lektüre et viginti vulneribus confossus est. Es bieten sich exemplarisch wichtige Umbruchs- Die Ereignisse des halben Jahres von der momente und Highlights aus den drei Epo- Rückkehr Cäsars nach Rom im Oktober 45 v. chen der Königszeit, Republik und Kaiserzeit Chr. bis zu den Iden des März 44 v. Chr. sind an: Beispielhaft für die Königszeit könnte die in fünf Sätze mit insgesamt 93 Wörtern zusam- Staatsgründung unter König Romulus (1, 1-2), mengedrängt. Auf zwei einfache parataktische die Friedensepoche unter Numa Pompilius (1, Sätze folgt ein etwas komplexeres hypotaktisches 3) und das Ende der Königsherrschaft mit dem Gefüge, das der Lehrkraft die Möglichkeit bietet, Sturz des letzten Königs Tarquinius Superbus neben der immanenten Wiederholung der im (1, 7) gelesen werden. Den Beginn der Repu- Text vorkommenden Phänomene des Ablativus blik markiert der erste Konsul Brutus (1, 8). absolutus, des Participium coniunctum und des Die Phase der frühen Republik könnte an einer zweimaligen Komparativs beim Adverb auch Vorzeigegestalt wie Camillus (1, 20), die mitt- eine Syntaxanalyse einzuüben. Die Kürze des lere Republik durch die punischen Kriege, v. summierenden Abl. abs. bellis civilibus toto a. Hannibal (3, 7-14) und den Aufstieg Roms orbe compositis gibt der Lehrkraft die Möglich- zur Hegemonialmacht exemplifiziert werden. keit, die grenzüberschreitende Ausweitung des Es könnte folgen ein Blick in die Niedergangs- römischen Bürgerkriegs und seine verschie- geschichte der späten Republik mit den Bür- denen Stationen (bellum Alexandrinum, bellum gerkriegen zwischen Marius und Sulla (5, 4-7) Africanum, bellum Hispanicum) zu beleuchten. bzw. zwischen Cäsar und Pompeius (6, 19-21) Thematisiert werden sollte auch die cäsarkri- und der Ermordung Cäsars an den Iden des tische Haltung, wie sie zu Beginn des Absatzes März (6, 25). Den Abschluss bilden könnte ein deutlich wird. E. Oberg zeigt ad locum auf, wie Ausblick in die Epoche des Prinzipats, für die die verwendeten Begriffe nicht nur ein Begreifen Octavian/Augustus (7, 8-10) steht. Mit diesem der geschilderten politischen Phänomene initi- historischen Grundgerüst sollten die Schüler ieren, sondern auch für die spätere Lektüre als in der Lage sein, die Autoren und Werke der eine Art patterns bereitgestellt werden: „Auch nächsten Jahre ihres lateinischen Lektüreunter- hier das für Eutrop charakteristische Aneinan- richts einordnen zu können, ob sie nun Cäsar, derreihen. Aber wie viel Stoff für den Schüler, Cicero, Catull, Sallust, Nepos (späte Republik) politische Vorgänge aus der sprachlichen For- oder Ovid, Horaz, Vergil und Livius (Epoche mulierung heraus zu begreifen, vielmehr, dies des Prinzipats) heißen. 42 FC 1/2021
Eine ideale Anfangslektüre IX. Fazit: Vorzüge von Eutrops Römischer wird, sondern viele Freiräume für das Ausmalen Geschichte als Anfangslektüre der von Eutrop meisterhaft reduzierten histo- In Anlehnung an die meisterhafte brevitas des rischen Skizzen hat – oder um es metaphorisch Eutrop seien die Vorzüge seines Werks als gym- zu sagen: Eutrop ist ein unterschätzter Paul nasialer Anfangslektüre in schlagwortartiger Bocuse in seinem Metier, der eine überaus Aufzählung hergesetzt: Kurze Texte in idealer gehaltvolle Instantnahrung kreiert hat, aus der Portionierung für die einzelne Unterrichts- jeder pädagogisch halbwegs begabte Koch ohne stunde, sinnvoll abgeschlossene Leseeinheiten, Mühe ein abwechslungsreiches und schmack- hohe Lektüregeschwindigkeit und Motivation haftes Gourmetgericht für den Unterricht zau- durch plurima lectio, keine Überforderung der bern wird. Schüler, permanente Möglichkeit zu imma- Auf Eutrop trifft gewiss zu, was Cicero in nenter Wiederholung, pattern drill,24 wesent- seiner Schrift Brutus über die rednerische Bega- liche geschichtliche Fakten, Personen und bung des Juristen Scaevola befand: Verbis erat Hintergründe als Orientierungs- und Einord- ad rem cum summa brevitate mirabiliter aptus25 nungswissen für die weitere Lektüre der Schüler, „Er war auf wundersame Weise befähigt dazu, Gewährleistung von Freiraum für weiterfüh- bei größter Kürze doch den der Sache entspre- rende Informationen sei es durch die Lehr- chenden Begriff zu treffen.“ kraft, sei es durch vertiefende Referate und den Einbezug verschiedener Rezeptionsdokumente, Literatur: Bleckmann, B./ Groß, J (2018): Eutropius Breviarium leistbare schriftliche Hausaufgaben, machbare ab urbe condita. Ediert, übersetzt und kom- mündliche Leistungsmessung (Textwiederho- mentiert von Bruno Bleckmann und Jonathan lung) und nicht zuletzt ein Fundus an Schul- Gross, Paderborn. aufgabentexten, die für Schüler in ihrem ersten Conte, G.B. (1994): Latin Literature. A History, Bal- timore/London, S. 647. Lektürejahr nach der Spracherwerbsphase Fuhrmann, M. (1994): Rom in der Spätantike. Por- bewältigbar sind und durch erwartbar ordent- trät einer Epoche, München/ Zürich. liche Ergebnisse zur Motivation beitragen. Günther, S. (2010): Eutropius, Breviarium ab urbe Es ist Eutrops Verdienst, sich als Schrift- condita in: C. Walde, Die Rezeption der antiken Literatur. Kulturhistorisches Werklexikon, Der steller völlig in den Hintergrund gestellt, die Neue Pauly Supplemente 7, Stuttgart/ Weimar, grundlegenden historischen Fakten auf knap- col. 277-282. pestmöglichem Raum verdichtet und in leicht Keip, M./ Doepner, Th. (2014): Interaktive Fachdi- dahinfließendem Latein zusammengestellt zu daktik Latein, Göttingen. haben. Diese literarische Uneitelkeit, entsa- Lobe, M. (2015): Das Handlungsfeld Lektüreunter- richt, in: S. Kipf/ P. Kuhlmann/ M. Schauer: Per- gungsvoller Kompilationsfleiß und meisterhaft spektiven für den Lateinunterricht, Bamberg. rigorose Beschränkung auf das Wesentliche Maier, F. (1984): Lateinunterricht zwischen Tradition gewährleisten, dass die Schüler Eutrops Werk und Fortschritt. Band 2. Zur Theorie des latei- nischen Lektüreunterrichts, Bamberg. schwungvoll lesen und sich in Kürze eine Menge Niedermayr, H. (1999, 2000): Eutrop statt Caesar? an Lektüreerfahrung und inhaltlichem Wissen Spätantike Geschichtsschreiber als Anfangs-, aneignen können, und nicht zuletzt, dass die Interims- und Ergänzungslektüre Latein Forum Lehrkraft nicht nur das gute Gefühl einer flotten 39, S. 1-25 und 40, S. 1-28. Leseprogression mit der Gesamtgruppe haben Oberg, E. (1981): Warum nicht Eutrop?, AU 24.1, S. 76-77. FC 1/2021 43
Michael Lobe Schanz, M./ Hosius, C. (1970): Geschichte der 7) Ebd. S. 110: „Dort wird jeweils der Ursprung römischen Literatur, Vierter Teil, Erster Band, und die Geschichte eines Germanenvolks München. behandelt.“ Schmidt P. L. (1989): Eutropius, in: R. Herzog/ P.L. 8) Ebd. S. 110. Schmidt (Hgg.): Handbuch der lateinischen 9) Eine Ausnahme bildet der liber de Caesaribus Literatur der Antike. Restauration und Erneu- des Aurelius Victor. M. Fuhrmann op. cit. S. 116: erung, München, S. 201-207. „Das Buch ist leider keine bequeme Lektüre: der Steinmann, M. (2014): Eutropio, Storia di Roma. Stil überbietet die Gedrängtheit und asymmet- Introduzione di Fabio Gasti. Traduzione e note rischen Figuren des Sallust und des Tacitus.“ di Fabrizio Bordone. Testo latino a fronte, FC 10) M. Fuhrmann op. cit. S. 113. 3, S. 244f. 11) M. von Albrecht, op. cit. S. 1174. Utz, C. (1994): Übergang statt Dichotomie. Bestands- 12) Vgl. Bleckmann/ Groß, S. 4. Die drei Ämter des aufnahme und Folgerungen, in: ders. (Hgg.), magister memoriae, ab epistulis und a libellis Vom Lehrbuch zur Lektüre. Vorschläge und verwalteten das kaiserliche Sekretariat (scrinia) Überlegungen zur Übergangsphase, AUXILIA in der römischen Spätantike, wobei der magister 36, Bamberg. memoriae Vereinbarungsprotokolle (memo- Von Albrecht, M. (2012): Geschichte der römischen randa) erstellte, der magister epistularum sich Literatur, Berlin/Boston. mit Botschaften aus Städten und der magister https://de.wikipedia.org/wiki/Eierlegende_ a libellis mit juristischen Verfahren befasste. Wollmilchsau [18.08.2020]. 13) Bleckmann op. cit. S. 19. 14) Ebd. S. 23. Anmerkungen: 15) Um 380 n. Chr. von Eutrops Zeitgenossen Paia- 1) https://de.wikipedia.org/wiki/Eierlegende_ nios, um 600 n. Chr. von Capito. Vgl. Schanz, M. Wollmilchsau [18.08.2020]. / Hosius, C. (1970): Geschichte der römischen 2) Vgl. Maier, F. (1984): Lateinunterricht zwischen Literatur, Vierter Teil, Erster Band, München, Tradition und Fortschritt. Band 2. Zur Theorie S. 79f. des lateinischen Lektüreunterrichts, Bamberg, 16) Vgl. S. Günther, col. 280. Conte, G.B. (1994): insbesondere S.148f., Utz, C. (1994): Übergang Latin Literature. A History, Baltimore/London, statt Dichotomie. Bestandsaufnahme und Fol- S. 647. gerungen, in: ders. (Hgg.), Vom Lehrbuch zur 17) S. Günther, op. cit. col. 280. Lektüre. Vorschläge und Überlegungen zur 18) Oberg, E. (1981): Warum nicht Eutrop?, AU Übergangsphase, Bamberg (AUXILIA 36), S. 24.1, S. 76-77. 5-25., Keip, M./ Doepner, Th. (2014): Interaktive 19) Niedermayr, H. (1999, 2000): Eutrop statt Fachdidaktik Latein, Göttingen, insbesondere Caesar? Spätantike Geschichtsschreiber als S. 149ff., Lobe, M. (2015): Das Handlungsfeld Anfangs-, Interims- und Ergänzungslektüre Lektüreunterricht, in: S. Kipf / P. Kuhlmann / M. Latein Forum 39, S. 1-25 und 40, S. 1-28. Schauer: Perspektiven für den Lateinunterricht, 20) Steinmann, M. (2014): Eutropio, Storia di Roma. Bamberg, S. 34ff. Introduzione di Fabio Gasti. Traduzione e note 3) Die Metapher ‚Flachlandtiroler‘ für Schüler di Fabrizio Bordone. Testo latino a fronte, FC und Schülerinnen impliziert keinerlei Gering- 3, S. 244f. schätzung, sondern ist der gewählten Metapher 21) M. von Albrecht, op. cit., S. 1177. des Bergsteigens geschuldet; man könnte in 22) Text nach Bleckmann/Groß (2018). ähnlicher Bildhaftigkeit und philosophiege- schichtlichem Einschlag auch von proficientes 23) E. Oberg, S. 77 sprechen. 24) Vgl. Obergs Formulierung Kap. VI c. 4) Der Einfachheit halber ist mit ‚Schüler‘ selbst- 25) Cic. Brut. 145, 11f. verständlich immer auch die Schülerin mitge- Michael Lobe meint. 5) M. Fuhrmann, op. cit. S. 108-134. 6) Ebd. S. 109. 44 FC 1/2021
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