Einige Grundüberlegungen zum Konzept und zur Reichweite invektiver Gattungen - Vorwort Marina Münkler
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Vorwort Marina Münkler* Einige Grundüberlegungen zum Konzept und zur Reichweite invektiver Gattungen © 2021 Marina Münkler, licensee De Gruyter Open. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License
2 10.2478/kwg-2021-0026 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 1–9 Der vorliegende Band geht auf eine Tagung Muster können durch rhetorische und literarische zurück, die das Teilprojekt E des Sonderfor- Gattungen bereitgestellt, durch kommunikative schungsbereichs 1285 Invektivität. Konstellatio- Gattungen verfestigt, aber auch durch mediale nen und Dynamiken der Herabsetzung unter dem Affordanzen initiiert werden. Die Erscheinungs- Titel Invektive Gattungen. Formen und Medien formen und Funktionen des Invektiven treten in der Herabsetzung vom 19.–21. Februar 2020 in sozialer, politischer, medialer und ästhetischer Dresden veranstaltet hat.1 Die Tagung ging von Hinsicht jedoch in vielschichtigen, historisch vari- der Frage nach der Funktion von Gattungen für ablen Konstellationen auf und lassen sich nicht invektive Kommunikationen aus und thematisierte immer problemlos zuordnen. Unter dem Aspekt damit eines der zentralen Problemfelder des SFB. dieser komplexen Dynamik gehen wir davon aus, Grundlegend begreift das Konzept der ‚Invekti- dass das Formenspektrum der Invektivität mit vität‘ Phänomene der Schmähung und Herab- traditionellen Gattungstaxonomien nicht hinrei- würdigung als epochen- und kulturübergreifende chend präzise beschrieben ist.3 Wie die Beiträge Arten von Kommunikation, die als Störungs- und des Bandes zeigen, erweisen sich die Modi und Dynamisierungs-, aber auch als Stabilisierungs- Modalitäten des Invektiven einerseits als iterativ, momente gesellschaftliche Ordnungen prägen andererseits als ausgesprochen fluide und trans- und das Potenzial besitzen, Gemeinschaften zu formierbar, da sie abhängig von den sie prägen- verändern oder zu zerstören, durch Ab- und Aus- den Dispositiven, Konstellationen und sozialen grenzung, aber auch zu bilden oder zu stabilisie- Positionierungen an unterschiedliche kommuni- ren.2 Der Terminus der Invektivität bezeichnet kative Situationen angepasst werden, sodass sie jene verbalen und nonverbalen, schriftlichen und in keiner Liste von invektiven rhetorischen oder mündlichen, aber auch bildlichen und medialen literarischen Gattungen aufgehen. Das Feld des Aspekte von Kommunikation, mittels derer Per- Invektiven umfasst überdies auch alltagssprach- sonen oder Gruppen ausgegrenzt, herabgesetzt, liche Sprech- und Schreibweisen, die als kommu- stigmatisiert, beschämt, gekränkt oder lächerlich nikative Gattungen verstanden werden können gemacht werden können. und nicht mit den gängigen literaturwissenschaft- Entgegen dem mitunter ersten Eindruck ent- lichen Systematiken zu erfassen sind. faltet Invektivität ihr herabsetzendes Potenzial Grundsätzlich stellt sich daher die Frage, was nicht einfach in spontanen Akten, sondern zumeist Gattungsbegriffe für die Beschreibung invektiver in mehr oder minder stabilen Mustern. Solche Modalitäten von Kommunikation leisten können und wie sie gattungstheoretisch elaboriert for- muliert werden müssen. Normativ-taxonomische 1 Vgl. Michalsky, Sophia/Haugk, Theresa: Tagungsbericht: Invektive Gattungen. Formen und Medien der Herabset- literarische Gattungsbegriffe, die sich an der her- zung. Interdisziplinäre Tagung des TP E „Sakralität und Sa- kömmlichen Trias von Lyrik, Epik und Dramatik krileg. Die Herabsetzung des Heiligen im interkonfessionel- orientieren, können zwar in vielerlei Hinsicht als len Streit des 16. Jahrhunderts“. 19.02.2020–21.02.2020. überholt gelten, spielen aber in anthropologisch Dresden. In: H-Soz-Kult, 23.04.2020. URL: https://www. hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8733 (letzter Zugriff: 01.11.2021). 2 Vgl. Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivi- 3 Zu grundsätzlichen Aspekten der Gattungsdynamik vgl. tät. Zymner (2007) Gattungsvervielfältigung.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021 3 orientierten Ansätzen nach wie vor eine Rolle.4 Vorworte und Nachworte, aber auch Orte der Für die Beschreibung invektiver Gattungen sind Gattungsdiskussion sein, an denen Transforma- sie freilich zu undifferenziert und überdies als tionen und Neubestimmungen von Gattungskon- anthropologisch rückgebundene Kategorien zu ventionen und -erwartungen oder Abwertungen statisch konzipiert. Geeigneter für die Beschrei- etablierter Gattungen vorgenommen werden, wie bung dynamischer Transformationen erscheinen Antje Sablotny dies in ihrem Beitrag am Beispiel dagegen funktionsgeschichtlich ausgerichtete der invektiven Transformation der Legende in die Gattungskonzepte, die das Verhältnis zwischen aus einem herabsetzenden Wortspiel hervorge- der Sozialabhängigkeit und Zweckbedingtheit gangene Lügende zeigt.10 von Gattungen betonen und sie als „soziokultu- Die rezeptionsästhetischen Gattungstheo- relle Konventionen“ begreifen.5 Demnach kön- rien sind durch praxeologische Ansätze erweitert nen sich Muster auskristallisieren, stabilisieren und stellenweise abgelöst worden, die sich unter und institutionell festigen, die dann als gattungs dem Oberbegriff von ‚Doing Genre‘ als diskursive haft dominante Strukturen beschrieben wer- Prozeduren der Herstellung von Gattungszuord- den können, wenn die sozialen und funktionalen nungen beschreiben lassen. Gattungen bilden Bedürfnisse innerhalb des Literatursystems dies sich nach den praxeologischen Ansätzen nicht ermöglichen. Das heißt nicht, dass Gattungen ausschließlich und nicht einmal in erster Linie als unmittelbare Antworten auf gesellschaftliche durch die Orientierung an vorgängigen Texten Probleme beschrieben würden, aber funktions- oder einem Prototypen, sondern durch iterative geschichtlich orientierte Gattungsbegriffe gehen Bezeichnungen von kommunikativen Akten und davon aus, dass literarische Gattungen innerhalb deren Typisierung als Gattung.11 Solche Typisie- des Systems der Literatur – mit Niklas Luhmann rungen erweisen sich als gattungsprägend, weil gesprochen – Aspekte der sozialen Umwelt in sie mit der Zuordnung zugleich Erwartungsho- ihre Autopoiesis einbauen.6 Dieser funktionsge- rizonte erzeugen, wie Simon Meier-Vieracker in schichtliche Ansatz kann durch den rezeptions- seinem Beitrag zur Wutrede demonstriert. ästhetischen Zugang ergänzt werden, wonach Funktionsgeschichtliche und praxeologische Textreihen ab einem bestimmten Grad der Verfes- Ansätze zur Beschreibung literarischer Gattungen tigung Erwartungshorizonte prägen, d. h. Erwar- können nicht zuletzt auf die rhetorischen Gattun- tungserwartungen aufbauen, die sowohl auf der gen bezogen werden, die bereits in der Antike Produzent:innen- als auch auf der Rezipient:in- von einer Redepraxis und ihrer Funktion sowie nenseite wirken.7 In eine ähnliche Richtung weist deren sozialer Situierung ausgegangen sind. Die der von Gérard Genette eingeführte Begriff der grundlegende Funktion der Rede besteht nach der Architextualität.8 Wie seine Untersuchung von antiken Rhetorik darin, den Zuhörer für die vor- Formen der Transtextualität gezeigt hat, sind für getragene Überzeugung des Redners zu gewin- die Ausprägung von Gattungen nicht zuletzt Para- nen. Diese Funktion kann sowohl argumentativ texte relevant, die – etwa in Titeln und Unterti- als auch affektiv erfüllt werden: Zu den argumen- teln – Zuordnungen von Texten vornehmen und tativen Mitteln gehören belehren (docere) und damit einen Text in bestimmter Weise typisieren, beweisen (probare), zu den affektiven, die noch indem sie ihn etwa als Satire ausweisen und damit einmal nach den besänftigenden und den erre- bestimmte Erwartungshorizonte erzeugen.9 Über genden Modalitäten unterteilt werden, gewin- solche Typisierungsfunktionen hinaus können nen (conciliare), erfreuen (delectare), bewegen Paratexte, wie Widmungsschreiben, Vorreden, (movere) und anstacheln (concitare), deren Wir- kungsästhetik mit Ethos und Pathos verknüpft 4 Zur Reflexion solcher Gattungsbegriffe vgl. Zymner sind.12 Die Zuhörenden sollen von der Schuld oder (2003) Gattungstheorie; Hempfer (1973) Gattungstheorie; Unschuld eines Angeklagten überzeugt, für eine Zur Geschichte von Gattungsbegriffen vgl. Gymnich (2010) Gattung. 5 Vgl. Voßkamp (1977) Gattungen, S. 253. 10 Siehe den Beitrag von Antje Sablotny in diesem Band. 6 Vgl. Voßkamp (1977) Gattungen, S. 258f. Vgl. daneben auch: Sablotny (2019) Metalegende, bes. 7 Vgl. Jauß (1977) Theorie der Gattungen. S. 166f. sowie Münkler (2015) Legende/Lügende. 8 Vgl. Genette (1993) Palimpseste, S. 14. 11 Vgl. Meier/Marx (2019) Doing Genre. 9 Vgl. Genette (2001) Paratexte. 12 Vgl. Schulz (2019) Was ist rhetorische Wirkung.
4 10.2478/kwg-2021-0026 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 1–9 politische Haltung oder Vorgehensweise einge- tigung wiederkehrender kommunikativer Pro nommen werden, einem Lob oder einer Schmä- bleme oder Situationen etabliert haben.15 Damit hung zustimmen. Aus diesen Funktionen sind in erleichtern kommunikative Gattungen gesell- der antiken Rhetorik schon sehr früh Gattungs- schaftliches Handeln, da sie für bestimmte Rede- definitionen hervorgegangen, die ebenfalls eine situationen und Funktionen verfügbare Muster Gattungstrias erzeugten. Nach den Typisierungen für Sprachhandlungen anbieten. Günthner und der Rhetoriklehrbücher seit Aristoteles wurden Knoblauch deuten die kommunikativen Gattun- sie traditionell über ihre institutionelle Verortung, gen von daher als „Verbindungselement zwischen ihre Funktion oder ihre Modalität definiert: die dem subjektiven Wissensvorrat und den sozialen Gerichtsrede (genus iudicale), die Beratungs- Strukturen einer Gesellschaft“.16 Zur Beschrei- rede oder politische Rede (genus deliberativum) bung kommunikativer Gattungen unterscheiden sowie die Lobrede (genus demonstrativum).13 Luckmann, Günthner und Knoblauch zwischen Die funktionale Orientierung und die Ausdiffe- ihrer Binnenstruktur, der Außenstruktur und der renzierung nach institutionellen Orten, Anlässen situativen Realisierungsebene von kommunika- und Modalitäten ermöglichte für die rhetorischen tiven Gattungen.17 Die Binnenstruktur umfasst Gattungen jedoch ein enorm flexibles Gattungs- die verbalen sowie die nonverbalen Anteile des konzept, das Anpassungen und Transformationen kommunikativen Geschehens wie lexiko-seman- jederzeit erlaubte. Das zeigt sich nicht zuletzt an tische und morphologisch-syntaktische Elemente der Schmährede (ψόγος/vituperatio), die von der sowie Mimik und Gestik; die Außenstruktur wird Lobrede (ἔπαινος/laus) als deren tadelndes Pen- vom sozialen Umfeld gebildet, wozu Institutio- dant abgeleitet worden ist, indem die Funktion nen (etwa die Schule), Geschlechterkonstellatio- des Lobens durch die des Tadelns ersetzt wurde. nen (z. B. Gespräche unter Männern) und soziale Freilich kann die Funktion des Tadelns in sehr Gruppen (Handwerker:innen) gehören; zur situ- unterschiedlicher Weise wahrgenommen werden, ativen Realisierungsebene gehören etwa die The- die vom freundlich-kritischen Tadel bis zur sozial menorientierung, die Zuteilung des Rederechts, vernichtenden Schmähung reicht, für die sich seit Sprecherwechsel etc. der Spätantike die Bezeichnung invectiva oratio Solche Muster sind nicht nur für die Alltags- etabliert hat.14 Wie Dennis Pausch in seinem Bei- kommunikation und die in ihr wiederkehrenden trag zeigt, erwies sich für die vituperatio aber Vorgänge höchst relevant, sondern auch für spe- deren Lehrbarkeit im Rahmen der rhetorischen zifische kommunikative Situationen innerhalb von Gattungslehre als ein Problem, denn die Erwart- Institutionen, wie etwa der Schule. Auch hier bie- barkeit einer Schmähung minderte deren Wirkung ten sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für invek- und konnte zudem auf den Schmähenden zurück- tivitätstheoretische Fragestellungen: Welche spe- fallen, wenn sie nicht als spontane, sondern als zifischen invektiven kommunikativen Gattungen geplante Herabsetzung identifiziert wurde. sich etwa in Orientierungskursen für Geflüchtete Etablierte Muster bilden sich nicht nur in lite- ausbilden, deren Integration in erster Linie durch rarischen und rhetorischen Gattungen aus, son- die Distanzierung von den ihnen unterstellten dern auch innerhalb der alltäglichen mündlichen Mentalitäten ihrer Herkunftskulturen erreicht Kommunikation. Solche Muster sind zunächst in werden soll, zeigt der Beitrag von Heike Greschke der Soziologie und daran anschließend in der Lin- und Youmna Fouad in diesem Band. guistik als kommunikative Gattungen beschrie- Sind Luckmanns Untersuchungen zunächst ben worden. Der von Thomas Luckmann konzi- von unmittelbaren Interaktionssituationen aus- pierte und von Susanne Günthner und Hubert gegangen, wie sie für die Schule kennzeichnend Knoblauch weiterentwickelte Begriff der kommu- nikativen Gattung beschreibt konventionalisierte 15 Vgl. Luckmann (1986) Kommunikative Gattungen; kommunikative Vorgänge, die sich zur Bewäl- Günthner/Knoblauch (1994) „Forms are the Food of Faith“; Günthner/Knoblauch (1996) Analyse kommunikativer Gat- tungen. 13 Vgl. Erler/Tornau (2019) Antike Rhetorik. 16 Günthner/Knoblauch (1994) „Forms are the Food of 14 Siehe dazu den Beitrag von Dennis Pausch in diesem Faith“, S. 715f. Band. Vgl. daneben Koster (1980) Invektive; Helmrath 17 Vgl. Günthner/Knoblauch (1994) „Forms are the Food (2010) Streitkultur. of Faith“, S. 704ff.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021 5 sind, so ist das Konzept der kommunikativen gelten, wie Satire21, Polemik22, Pamphlet23 oder Gattungen schon bald auf größere Textkorpora Pasquill24. Bezeichnend ist allerdings, dass diese sowie auf die Kommunikationen in audio-visuel- terminologischen Zuschreibungen in ihrem Inhalt len Medien übertragen worden. Noah Bubenhofer und Umfang umso unschärfer erscheinen, je lang- hat das Konzept der an der mündlichen Sprache lebiger die jeweiligen Gattungen sind. Während es orientierten kommunikativen Gattungen auf die sich beim Pasquill, wie Gerd Schwerhoff in seinem korpusbasierte quantitative Untersuchung von Beitrag verdeutlicht, um eine kurzlebige Gattungs- Texten angewendet und sie mit dem Begriff der bezeichnung der Frühen Neuzeit handelt, ist die Sprachgebrauchsmuster fruchtbar zu machen Gattungsbezeichnung Satire von ungebrochener versucht.18 Dazu müssen bestimmte Aspekte Aktualität. Allerdings ist möglicherweise gerade der Binnenstruktur wie Mimik und Gestik ausge- deshalb umstritten, ob sie überhaupt angemessen blendet und der Fokus auf lexiko-semantische, als Gattung beschrieben werden kann oder ob es morpho-syntaktische und stilistische Merkmale sich vielmehr um eine Schreibweise handelt. Auch gerichtet werden. Daneben hat sich das Konzept die Charakterisierung als Schreibweise greift indes der kommunikativen Gattungen oder Sprachge- zu kurz, da Satirisches nicht unbedingt auf Schrift- brauchsmuster insbesondere zur Beschreibung lichkeit angewiesen ist, sondern sich auch bildlich von spezifischen kommunikativen Formaten des in der Karikatur25 und theatral bzw. audio-visuell in Internets wie dem Blog und dem Chat etabliert.19 den Formaten von Kabarett, Comedy26, theatralen Schon an diesen kommunikativen Formaten zeigt Inszenierungen27 und populären Fernsehshows28 sich, dass Medien kommunikative Gattungen entfalten kann. Von daher ist in jüngeren Unter- nicht nur aufnehmen, sondern aufgrund ihrer suchungen davon ausgegangen worden, dass das Affordanzstruktur auch hervorbringen. Die Unter- Satirische ein Verfahren ist, welches sich im Regis- suchung medialer Affordanzen, die zunächst in ter des Komischen entfaltet und durch Übertrei- der Mediensoziologie entwickelt worden ist, kon- bung soziale Zustände, Gruppen oder Personen als zentriert sich auf die Möglichkeits- und Gelegen- kritikwürdig, lächerlich, inakzeptabel, unerträg- heitsstrukturen von Medien und Plattformen, die lich oder empörend ausweist. Zu den Gattungs- bestimmte Kommunikationsformen und Gattun- bezeichnungen, die eher als Verfahren zu kenn- gen präformieren, wie Katja Kanzler am Beispiel zeichnen sind, gehören auch die hypertextuellen, US-amerikanischer populärer Fernsehformate hyperikonischen und hypermedialen Verfahren demonstriert.20 Sie lässt sich aber auch auf den von Parodie29, Persiflage und Travestie, die eben- Medienwandel der Frühen Neuzeit anwenden, wie falls im Register des Komischen angesiedelt sind. Albrecht Dröse in seinem Beitrag zur Flugschrift Im Register des Ernsten bewegen sich dage- in diesem Band darlegt. gen die Polemik und die Streitschrift, was Ver- Daher stellt sich die Frage, in welchen kommu- nikativen Formen und Mustern, literarischen und 21 Siehe den Beitrag von Burkhard Meyer-Sickendiek in rhetorischen Gattungen sich Invektivität realisiert diesem Band. Vgl. daneben Meyer-Sickendiek (2010) The- orien der Satire. und welche medialen Affordanzen invektive Kom- 22 Zur Polemik im Rahmen der Streitkultur des 16. Jahr- munikationsformen initiieren, situieren und etab- hunderts vgl. den Beitrag von Kai Bremer in diesem Band. lieren. Zweifellos einschlägig sind rhetorische und Vgl. außerdem Stauffer (2003) Polemik; zur Relation Pole- literarische Gattungen, die per se als herabsetzend mik und Invektive vgl. Koster (2010) Invektive und Polemik. 23 Zum Pamphlet vgl. van den Berg (2003) Pamphlet. 24 Zum Pasquill siehe den Beitrag von Gerd Schwerhoff in diesem Band. 25 Zur Karikatur vgl. den Beitrag von Lea Hagedorn in diesem Band. 18 Vgl. Bubenhofer (2009) Sprachgebrauchsmuster, bes. 26 Vgl. Koch (2015) Ethno-Comedy. S. 58–60. 27 Zu invektiven theatralen Inszenierungen in der Form 19 Vgl. Dürscheid (2013); Dürscheid/Frick (2016) Schrei- artivistischer Interventionen siehe den Beitrag von Lars ben digital, bes. S. 109–128; Ayaß (2011) Kommunikative Koch in diesem Band. Gattungen; Lomborg (2011). 28 Vgl. Kanzler (2019) (Meta-)Disparagement Humour 20 Vgl. Fox/Panagiotopoulos/Tsouparopoulou (2015) Af- sowie ihren Beitrag in diesem Band. fordanz; Zillien (2008) Die (Wieder-)Entdeckung der Me- 29 Zur Bildparodie vgl. den Beitrag von Jürgen Müller in dien, bes. S. 165–171. diesem Band.
6 10.2478/kwg-2021-0026 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 1–9 fahren der Ridikülisierung mit Anleihen im Regis- suchungen zu den affektsteuernden Effekten her- ter des Komischen aber nicht ausschließt. Beide absetzender populistischer Kommunikationsakte, geben sich, wie Kai Bremer in seinem Beitrag wie etwa denen Donalds Trumps, zeigen, scheint zur Streitschriften-Literatur des 16. Jahrhunderts zumindest für sie eher Letzteres zu gelten.35 zeigt, als reaktive Gattungen, die sich auf voraus- Von Interesse für die Untersuchung herab- gehendes und als empörend markiertes Handeln setzender Sprechakte ist nicht zuletzt die lexika- und Verhalten beziehen, weniger auf soziale oder lische Ebene. Neben Beleidigungen, die jenseits politische Zustände, die als Zielscheibe satiri- des Aspekts der Kränkung durch ihre rechtli- scher Verfahren dienen.30 Schon solche mit der che Rahmung charakterisiert werden können,36 Behauptung einer ‚Reaktion‘ verbundenen Bezug- sind dies in erster Linie Schimpfwörter, die mit nahmen verweisen auf die erhebliche kommuni- bestimmten Frames verknüpft sind, wie Jan Mar- kative Dynamik invektiver Sprech- oder Bildakte, tin Lies am Beispiel des Schimpfwortgebrauchs in denn sie werden nicht nur in Gattungen wie der den innerevangelischen Kontroversen der zwei- Polemik oder der Streitschrift eingesetzt, son- ten Hälfte des 16. Jahrhunderts zeigt. Schwerer dern fungieren breitgefächert als Legitimation identifizierbar sind dagegen die in verbreiteten invektiver Akte. Nicht selten erfassen invektive Sprachgebrauchsmustern vorgenommenen her- Modalitäten auch die Formebene; sie motivieren absetzenden Prädikationen und Präsuppositionen, beispielsweise ästhetische Innovationen, die sich die – anders als Schimpfwörter oder Ethnophau- aus einer invektiven Konstellation gegenüber den lismen37 – an ihrer Oberfläche nicht unmittelbar hergebrachten Ausdrucksformen ableiten lassen, als schmähend erkennbar bzw. pseudo-wissen- wie Jürgen Müller in seinem Beitrag zur deut- schaftlich verbrämt sein können, wie Anja Loben- schen Bildparodie im 16. Jahrhundert zeigt. Die stein-Reichmann in ihrem Beitrag zur sprachli- invektiven Formen korrelieren ferner mit unter- chen Konstruktion von ‚Rasse‘ zeigt.38 schiedlichen medialen Bedingungen und Kon Zu bedenken ist des Weiteren das Verhält- stellationen, die eigene Darstellungsmöglichkei- nis der unterschiedlichen invektiven Formen ten eröffnen und ausprägen, wie beispielsweise und Muster zueinander: Wie etwa ist die Bezie- den Shitstorm.31 Insofern Invektivität in Bezug hung von etablierten Gattungen, die Modalitäten auf bestimmte kommunikative Konstellationen der Herabsetzung bereits inkludieren, zu neuen und Dynamiken zu analysieren ist, sind Aspekte invektiven Gattungen zu denken? Was unter- der kommunikativen Praxis deshalb auch für die scheidet etwa die Schmährede und die Wutrede? Beschreibung der Formebene zu berücksichtigen. Zu Aspekten der kommunikativen Praxis Siehe daneben auch die Beiträge in: Meibauer (2013) gehören auch Praktiken, die der sprachlichen Hassrede sowie aus linguistischer Sicht Marx (2018) Hate Aggression32 zugeordnet, jedoch auf unterschied- Speech. Einen aufschlussreichen Beitrag liefert daneben lichen Ebenen rubriziert werden. Der sprachlichen Scharloth (2017) Hassrede und Invektivität, der die Bezich- Aggression zurechenbar wären auch alle Formen tigung einer Äußerung als Hassrede aus invektivitätstheo- retischer Perspektive als metainvektive Diskursintervention von hate speech, dem populärsten Konzept zur deutet, die selbst Teil invektiver Kommunikation ist. Bezeichnung invektiver Sprechakte.33 Allerdings 35 Vgl. Koch / Nanz / Rogers (2020) The Great Disruptor, ist – trotz der onomasiologisch-semantischen bes. S. 6–8. Nähe von Aggression und Hass – in der Forschung 36 Zu den juristischen Aspekten vgl. den Kommentar von umstritten, ob hate speech affektgesteuert ist Hilgendorf (2009) Beleidigung; zu den gesprächsrhetori- und, wenn ja, ob sie zuallererst hassindiziert schen Aspekten siehe Meier (2021) Beleidigungen. 37 Vgl. Tenchini (2017) Multi-Akt-Semantik. Den Begriff oder vielmehr hassproduzierend ist.34 Wie Unter- des Ethnophaulismus als abwertende Bezeichnung für eine ethnisch oder rassistisch definierte Gruppe hat der ameri- 30 Vgl. den Beitrag von Kai Bremer in diesem Band. kanische Psychologe Abraham Aron Roback geprägt; vgl. 31 Vgl. Marx (2019) Von Schafen im Wolfspelz; Marx Roback (1944) A Dictionary. (2021) Das Dialogpotenzial von Shitstorms. 38 Vgl. dazu die Beiträge von Jan-Martin Lies und Anja 32 Vgl. die Einleitung von Silvia Bonachhi sowie die Bei- Lobenstein-Reichmann in diesem Band. Siehe daneben träge in: Bonacchi (2017) Sprachliche Aggression. die Beiträge in: Hornscheidt (2011) Schimpfwörter. Grund- 33 Vgl. Butler (2006) Hass spricht. legend auch: Lobenstein-Reichmann (2013) Sprachliche 34 Zur Diskussion um das Konzept hate speech vgl. die Bei- Ausgrenzung; von unschätzbarer Genauigkeit: Klemperer träge in: Wachs / Koch-Priewe / Zick (2021) Hate Speech. (1947) LTI.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021 7 Handelt es sich hier lediglich um einen Begriffs- kommunikativen Affordanzen medialer Formate transfer, geht damit auch ein konzeptioneller erfasst. Die Fragestellung richtet sich zum einen Transfer einher oder handelt es sich um Gat- auf den Formaspekt des Invektiven, zum anderen tungsbezeichnungen, die nichts miteinander zu auf die Effekte von Invektivität für die Konstitu- tun haben? Welche Gattungen erweisen sich als tion und Transformation unterschiedlicher Gattun- besonders anschlussfähig für invektive Akte (als gen. Übergreifend thematisieren die Beiträge die ‚invektivierbar‘)? Welche Rolle spielen invektive Frage, welche Bedeutung einerseits den Gattun- Verfahren (also etwa das Sarkastische, das Ironi- gen für die Performanz, Redundanz und Varianz sche) als Modalitäten im poetologischen Sinne?39 invektiver Rede zukommt, welche Rolle invektive Inwiefern lassen sich invektive Gattungen über Kommunikation andererseits für die Transforma- Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Bildlichkeit dif- tion und Genese von Gattungen beziehungsweise ferenzieren? Welche Affekt- und Emotionsregime von Sprachgebrauchsmustern spielt und wie Gat- etablieren sie dabei jeweils? Wie ist der Formwan- tungen und Muster wiederum auf die invektiven del des Invektiven, etwa das Verhältnis zwischen Dynamiken zurückwirken. Dass die hier behan- vormodernen und modernen beziehungsweise delten Gattungen und Modalitäten des Invek- zeitgenössischen invektiven Gattungen zu den- tiven nicht erschöpfend sein können, versteht ken und zu beschreiben? Wie der Beitrag von Lea sich angesichts der Dynamik invektiver Kommu- Hagedorn zeigt, lässt er sich nicht zuletzt an der nikation nahezu von selbst. Kennzeichnend für Transformation von Gattungsbegriffen wie dem invektive wie metainvektive Kommunikation ist der Karikatur erkennen. In welcher Weise invek- überdies, dass sie sämtliche literarischen, rheto- tive Modalitäten ästhetische Formen zunehmend rischen und kommunikativen Gattungen integrie- prägen, entwickelt der Beitrag von Lars Koch, der ren und transformieren kann und nicht an eine sich den artivistischen Interventionen widmet, Liste invektiver Gattungen gebunden ist, auch mit denen Christoph Schlingensief und das Zent- wenn sich diese für herabsetzende Kommunika- rum für politische Schönheit gesellschaftliche Dis- tionsakte anbieten und dementsprechend häufig kurse und Dispositive und ihre invektiven Effekte genutzt werden. reflektieren und dabei zugleich invektieren. Wie die nachfolgenden Untersuchungen ins- Literaturverzeichnis gesamt verdeutlichen, lassen sich vielfältige Aus- tauschprozesse beobachten, in denen einerseits Ayaß, Ruth (2011): Kommunikative Gattungen, rhetorisch-literarische Gattungen alltagssprachli- mediale Gattungen. In: Habscheid, Stephan (Hg.): Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen. Berlin/ che Elemente integrieren und bearbeiten, ande- Boston: De Gruyter, S. 275–295. rerseits in der Alltagskommunikation ästhetische Berg, Hubert van den (2003): Pamphlet. In: Historisches Schemata angeeignet und transformiert werden. Wörterbuch der Rhetorik 6: Must – Pop. Tübingen: Etablierte literarische und rhetorische Gattun- Niemeyer, Sp. 488–495. gen fungieren damit ebenso als Formarchive, die Bonacchi, Silvia (Hg.) (2017): Verbale Aggression. Muster der Herabsetzung in der Alltagskommuni- Multidisziplinäre Zugänge zur verletzenden Macht der Sprache. Berlin/Boston: De Gruyter. kation verfügbar halten, wie umgekehrt Muster Bubenhofer, Noah (2009): Sprachgebrauchsmuster. der Alltagskommunikation in solchen Gattungen Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kultur- aufgenommen, iteriert und transformiert werden. analyse. Berlin/New York: De Gruyter. Deshalb fokussiert der Band mit den invek- Butler, Judith (2006): Hass spricht. Zur Politik des Perfor- tiven Gattungen als Untersuchungsbereich ein mativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dürscheid, Christa (2013): Medien, Kommunika- Schnittfeld, das rhetorische, literarische und tionsformen, kommunikative Gattungen. Linguistik bildkünstlerische Gattungen sowie kommunika- Online, 22/1, S. 3–16. URL: https://doi.org/10.13092/ tive Gattungen im Sinne mehr oder minder fest lo.22.752 (letzter Zugriff: 30.08.2021). etablierter Sprachgebrauchsmuster und auch die Dürscheid, Christa/Frick, Karina (2016): Schreiben digital: Wie das Internet unsere Alltagskommunikation verändert. Stuttgart: Kröner. 39 Derartige Fragen erörtert der Beitrag von Burkhard Erler, Michael/Tornau, Christian (2019): Einleitung. Meyer-Sickendiek, der die spezifischen Ausprägungen des Was ist antike Rhetorik. In: Erler, Michael/Tornau, Satirischen in der Moderne unter poetologischen Gesichts- punkten untersucht.
8 10.2478/kwg-2021-0026 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 1–9 Christian (Hg.): Handbuch antike Rhetorik, Berlin/ (Hg.): The Great Disruptor. Über Trump, die Medien Boston: De Gruyter, S. 1–16. und die Politik der Herabsetzung. Stuttgart: J. B. Fox, Richard/Panagiotopoulos, Diamantis/Tsouparopoulou, Metzler, S. 1–19. Christina (2015): Affordanz. In: Ott, Michael R./Sauer, Koster, Severin (2010): Invektive und Polemik in der Rebecca/Meier, Thomas (Hg.): Materiale Textkulturen. Antike. Versuch einer Verhältnisbestimmung. In: Konzepte – Materialien – Praktiken. Berlin/Boston/ Wischmeyer, Oda/Scornaienchi, Lorenzo (Hg.): München: De Gruyter, S. 63–70. Polemik in der frühchristlichen Literatur. Texte und Genette, Gérard (1993): Palimpseste. Die Literatur auf Kontexte. Beihefte zur Zeitschrift für die neutesta- zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram mentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Kirche 170. 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