Einige Grundüberlegungen zum Konzept und zur Reichweite invektiver Gattungen - Vorwort Marina Münkler

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Vorwort
Marina Münkler*

Einige Grundüberlegungen zum
Konzept und zur Reichweite
invektiver Gattungen

           © 2021 Marina Münkler, licensee De Gruyter Open. This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives
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Der vorliegende Band geht auf eine Tagung                     Muster können durch rhetorische und literarische
zurück, die das Teilprojekt E des Sonderfor-                  Gattungen bereitgestellt, durch kommunikative
schungsbereichs 1285 Invektivität. Konstellatio-              Gattungen verfestigt, aber auch durch mediale
nen und Dynamiken der Herabsetzung unter dem                  Affordanzen initiiert werden. Die Erscheinungs-
Titel Invektive Gattungen. Formen und Medien                  formen und Funktionen des Invektiven treten in
der Herabsetzung vom 19.–21. Februar 2020 in                  sozialer, politischer, medialer und ästhetischer
Dresden veranstaltet hat.1 Die Tagung ging von                Hinsicht jedoch in vielschichtigen, historisch vari-
der Frage nach der Funktion von Gattungen für                 ablen Konstellationen auf und lassen sich nicht
invektive Kommunikationen aus und thematisierte               immer problemlos zuordnen. Unter dem Aspekt
damit eines der zentralen Problemfelder des SFB.              dieser komplexen Dynamik gehen wir davon aus,
Grundlegend begreift das Konzept der ‚Invekti-                dass das Formenspektrum der Invektivität mit
vität‘ Phänomene der Schmähung und Herab-                     traditionellen Gattungstaxonomien nicht hinrei-
würdigung als epochen- und kulturübergreifende                chend präzise beschrieben ist.3 Wie die Beiträge
Arten von Kommunikation, die als Störungs- und                des Bandes zeigen, erweisen sich die Modi und
Dynamisierungs-, aber auch als Stabilisierungs-               Modalitäten des Invektiven einerseits als iterativ,
momente gesellschaftliche Ordnungen prägen                    andererseits als ausgesprochen fluide und trans-
und das Potenzial besitzen, Gemeinschaften zu                 formierbar, da sie abhängig von den sie prägen-
verändern oder zu zerstören, durch Ab- und Aus-               den Dispositiven, Konstellationen und sozialen
grenzung, aber auch zu bilden oder zu stabilisie-             Positionierungen an unterschiedliche kommuni-
ren.2 Der Terminus der Invektivität bezeichnet                kative Situationen angepasst werden, sodass sie
jene verbalen und nonverbalen, schriftlichen und              in keiner Liste von invektiven rhetorischen oder
mündlichen, aber auch bildlichen und medialen                 literarischen Gattungen aufgehen. Das Feld des
Aspekte von Kommunikation, mittels derer Per-                 Invektiven umfasst überdies auch alltagssprach-
sonen oder Gruppen ausgegrenzt, herabgesetzt,                 liche Sprech- und Schreibweisen, die als kommu-
stigmatisiert, beschämt, gekränkt oder lächerlich             nikative Gattungen verstanden werden können
gemacht werden können.                                        und nicht mit den gängigen literaturwissenschaft-
    Entgegen dem mitunter ersten Eindruck ent-                lichen Systematiken zu erfassen sind.
faltet Invektivität ihr herabsetzendes Potenzial                   Grundsätzlich stellt sich daher die Frage, was
nicht einfach in spontanen Akten, sondern zumeist             Gattungsbegriffe für die Beschreibung invektiver
in mehr oder minder stabilen Mustern. Solche                  Modalitäten von Kommunikation leisten können
                                                              und wie sie gattungstheoretisch elaboriert for-
                                                              muliert werden müssen. Normativ-taxonomische
1 Vgl. Michalsky, Sophia/Haugk, Theresa: Tagungsbericht:
Invektive Gattungen. Formen und Medien der Herabset-          literarische Gattungsbegriffe, die sich an der her-
zung. Interdisziplinäre Tagung des TP E „Sakralität und Sa-   kömmlichen Trias von Lyrik, Epik und Dramatik
krileg. Die Herabsetzung des Heiligen im interkonfessionel-   orientieren, können zwar in vielerlei Hinsicht als
len Streit des 16. Jahrhunderts“. 19.02.2020–21.02.2020.      überholt gelten, spielen aber in anthropologisch
Dresden. In: H-Soz-Kult, 23.04.2020. URL: https://www.
hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8733
(letzter Zugriff: 01.11.2021).
2 Vgl. Ellerbrock/Koch/Müller-Mall et al. (2017) Invektivi-   3 Zu grundsätzlichen Aspekten der Gattungsdynamik vgl.
tät.                                                          Zymner (2007) Gattungsvervielfältigung.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021                                                                    3

orientierten Ansätzen nach wie vor eine Rolle.4            Vorworte und Nachworte, aber auch Orte der
Für die Beschreibung invektiver Gattungen sind             Gattungsdiskussion sein, an denen Transforma-
sie freilich zu undifferenziert und überdies als           tionen und Neubestimmungen von Gattungskon-
anthropologisch rückgebundene Kategorien zu                ventionen und -erwartungen oder Abwertungen
statisch konzipiert. Geeigneter für die Beschrei-          etablierter Gattungen vorgenommen werden, wie
bung dynamischer Transformationen erscheinen               Antje Sablotny dies in ihrem Beitrag am Beispiel
dagegen funktionsgeschichtlich ausgerichtete               der invektiven Transformation der Legende in die
Gattungskonzepte, die das Verhältnis zwischen              aus einem herabsetzenden Wortspiel hervorge-
der Sozialabhängigkeit und Zweckbedingtheit                gangene Lügende zeigt.10
von Gattungen betonen und sie als „soziokultu-                 Die rezeptionsästhetischen Gattungstheo-
relle Konventionen“ begreifen.5 Demnach kön-               rien sind durch praxeologische Ansätze erweitert
nen sich Muster auskristallisieren, stabilisieren          und stellenweise abgelöst worden, die sich unter
und institutionell festigen, die dann als gattungs­        dem Oberbegriff von ‚Doing Genre‘ als diskursive
haft dominante Strukturen beschrieben wer-                 Prozeduren der Herstellung von Gattungszuord-
den können, wenn die sozialen und funktionalen             nungen beschreiben lassen. Gattungen bilden
Bedürfnisse innerhalb des Literatursystems dies            sich nach den praxeologischen Ansätzen nicht
ermöglichen. Das heißt nicht, dass Gattungen               ausschließlich und nicht einmal in erster Linie
als unmittelbare Antworten auf gesellschaftliche           durch die Orientierung an vorgängigen Texten
Probleme beschrieben würden, aber funktions-               oder einem Prototypen, sondern durch iterative
geschichtlich orientierte Gattungsbegriffe gehen           Bezeichnungen von kommunikativen Akten und
davon aus, dass literarische Gattungen innerhalb           deren Typisierung als Gattung.11 Solche Typisie-
des Systems der Literatur – mit Niklas Luhmann             rungen erweisen sich als gattungsprägend, weil
gesprochen – Aspekte der sozialen Umwelt in                sie mit der Zuordnung zugleich Erwartungsho-
ihre Autopoiesis einbauen.6 Dieser funktionsge-            rizonte erzeugen, wie Simon Meier-Vieracker in
schichtliche Ansatz kann durch den rezeptions-             seinem Beitrag zur Wutrede demonstriert.
ästhetischen Zugang ergänzt werden, wonach                     Funktionsgeschichtliche und praxeologische
Textreihen ab einem bestimmten Grad der Verfes-            Ansätze zur Beschreibung literarischer Gattungen
tigung Erwartungshorizonte prägen, d. h. Erwar-            können nicht zuletzt auf die rhetorischen Gattun-
tungserwartungen aufbauen, die sowohl auf der              gen bezogen werden, die bereits in der Antike
Produzent:innen- als auch auf der Rezipient:in-            von einer Redepraxis und ihrer Funktion sowie
nenseite wirken.7 In eine ähnliche Richtung weist          deren sozialer Situierung ausgegangen sind. Die
der von Gérard Genette eingeführte Begriff der             grundlegende Funktion der Rede besteht nach der
Architextualität.8 Wie seine Untersuchung von              antiken Rhetorik darin, den Zuhörer für die vor-
Formen der Transtextualität gezeigt hat, sind für          getragene Überzeugung des Redners zu gewin-
die Ausprägung von Gattungen nicht zuletzt Para-           nen. Diese Funktion kann sowohl argumentativ
texte relevant, die – etwa in Titeln und Unterti-          als auch affektiv erfüllt werden: Zu den argumen-
teln – Zuordnungen von Texten vornehmen und                tativen Mitteln gehören belehren (docere) und
damit einen Text in bestimmter Weise typisieren,           beweisen (probare), zu den affektiven, die noch
indem sie ihn etwa als Satire ausweisen und damit          einmal nach den besänftigenden und den erre-
bestimmte Erwartungshorizonte erzeugen.9 Über              genden Modalitäten unterteilt werden, gewin-
solche Typisierungsfunktionen hinaus können                nen (conciliare), erfreuen (delectare), bewegen
Paratexte, wie Widmungsschreiben, Vorreden,                (movere) und anstacheln (concitare), deren Wir-
                                                           kungsästhetik mit Ethos und Pathos verknüpft
4 Zur Reflexion solcher Gattungsbegriffe vgl. Zymner       sind.12 Die Zuhörenden sollen von der Schuld oder
(2003) Gattungstheorie; Hempfer (1973) Gattungstheorie;    Unschuld eines Angeklagten überzeugt, für eine
Zur Geschichte von Gattungsbegriffen vgl. Gymnich (2010)
Gattung.
5 Vgl. Voßkamp (1977) Gattungen, S. 253.                   10 Siehe den Beitrag von Antje Sablotny in diesem Band.
6 Vgl. Voßkamp (1977) Gattungen, S. 258f.                  Vgl. daneben auch: Sablotny (2019) Metalegende, bes.
7 Vgl. Jauß (1977) Theorie der Gattungen.                  S. 166f. sowie Münkler (2015) Legende/Lügende.
8 Vgl. Genette (1993) Palimpseste, S. 14.                  11 Vgl. Meier/Marx (2019) Doing Genre.
9 Vgl. Genette (2001) Paratexte.                           12 Vgl. Schulz (2019) Was ist rhetorische Wirkung.
4                                                          10.2478/kwg-2021-0026 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 1–9

politische Haltung oder Vorgehensweise einge-           tigung wiederkehrender kommunikativer Pro­
nommen werden, einem Lob oder einer Schmä-              bleme oder Situationen etabliert haben.15 Damit
hung zustimmen. Aus diesen Funktionen sind in           erleichtern kommunikative Gattungen gesell-
der antiken Rhetorik schon sehr früh Gattungs-          schaftliches Handeln, da sie für bestimmte Rede-
definitionen hervorgegangen, die ebenfalls eine         situationen und Funktionen verfügbare Muster
Gattungstrias erzeugten. Nach den Typisierungen         für Sprachhandlungen anbieten. Günthner und
der Rhetoriklehrbücher seit Aristoteles wurden          Knoblauch deuten die kommunikativen Gattun-
sie traditionell über ihre institutionelle Verortung,   gen von daher als „Verbindungselement zwischen
ihre Funktion oder ihre Modalität definiert: die        dem subjektiven Wissensvorrat und den sozialen
Gerichtsrede (genus iudicale), die Beratungs-           Strukturen einer Gesellschaft“.16 Zur Beschrei-
rede oder politische Rede (genus deliberativum)         bung kommunikativer Gattungen unterscheiden
sowie die Lobrede (genus demonstrativum).13             Luckmann, Günthner und Knoblauch zwischen
Die funktionale Orientierung und die Ausdiffe-          ihrer Binnenstruktur, der Außenstruktur und der
renzierung nach institutionellen Orten, Anlässen        situativen Realisierungsebene von kommunika-
und Modalitäten ermöglichte für die rhetorischen        tiven Gattungen.17 Die Binnenstruktur umfasst
Gattungen jedoch ein enorm flexibles Gattungs-          die verbalen sowie die nonverbalen Anteile des
konzept, das Anpassungen und Transformationen           kommunikativen Geschehens wie lexiko-seman-
jederzeit erlaubte. Das zeigt sich nicht zuletzt an     tische und morphologisch-syntaktische Elemente
der Schmährede (ψόγος/vituperatio), die von der         sowie Mimik und Gestik; die Außenstruktur wird
Lobrede (ἔπαινος/laus) als deren tadelndes Pen-         vom sozialen Umfeld gebildet, wozu Institutio-
dant abgeleitet worden ist, indem die Funktion          nen (etwa die Schule), Geschlechterkonstellatio-
des Lobens durch die des Tadelns ersetzt wurde.         nen (z. B. Gespräche unter Männern) und soziale
Freilich kann die Funktion des Tadelns in sehr          Gruppen (Handwerker:innen) gehören; zur situ-
unterschiedlicher Weise wahrgenommen werden,            ativen Realisierungsebene gehören etwa die The-
die vom freundlich-kritischen Tadel bis zur sozial      menorientierung, die Zuteilung des Rederechts,
vernichtenden Schmähung reicht, für die sich seit       Sprecherwechsel etc.
der Spätantike die Bezeichnung invectiva oratio              Solche Muster sind nicht nur für die Alltags-
etabliert hat.14 Wie Dennis Pausch in seinem Bei-       kommunikation und die in ihr wiederkehrenden
trag zeigt, erwies sich für die vituperatio aber        Vorgänge höchst relevant, sondern auch für spe-
deren Lehrbarkeit im Rahmen der rhetorischen            zifische kommunikative Situationen innerhalb von
Gattungslehre als ein Problem, denn die Erwart-         Institutionen, wie etwa der Schule. Auch hier bie-
barkeit einer Schmähung minderte deren Wirkung          ten sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für invek-
und konnte zudem auf den Schmähenden zurück-            tivitätstheoretische Fragestellungen: Welche spe-
fallen, wenn sie nicht als spontane, sondern als        zifischen invektiven kommunikativen Gattungen
geplante Herabsetzung identifiziert wurde.              sich etwa in Orientierungskursen für Geflüchtete
    Etablierte Muster bilden sich nicht nur in lite-    ausbilden, deren Integration in erster Linie durch
rarischen und rhetorischen Gattungen aus, son-          die Distanzierung von den ihnen unterstellten
dern auch innerhalb der alltäglichen mündlichen         Mentalitäten ihrer Herkunftskulturen erreicht
Kommunikation. Solche Muster sind zunächst in           werden soll, zeigt der Beitrag von Heike Greschke
der Soziologie und daran anschließend in der Lin-       und Youmna Fouad in diesem Band.
guistik als kommunikative Gattungen beschrie-                Sind Luckmanns Untersuchungen zunächst
ben worden. Der von Thomas Luckmann konzi-              von unmittelbaren Interaktionssituationen aus-
pierte und von Susanne Günthner und Hubert              gegangen, wie sie für die Schule kennzeichnend
Knoblauch weiterentwickelte Begriff der kommu-
nikativen Gattung beschreibt konventionalisierte        15 Vgl. Luckmann (1986) Kommunikative Gattungen;
kommunikative Vorgänge, die sich zur Bewäl-             Günthner/Knoblauch (1994) „Forms are the Food of Faith“;
                                                        Günthner/Knoblauch (1996) Analyse kommunikativer Gat-
                                                        tungen.
13 Vgl. Erler/Tornau (2019) Antike Rhetorik.            16 Günthner/Knoblauch (1994) „Forms are the Food of
14 Siehe dazu den Beitrag von Dennis Pausch in diesem   Faith“, S. 715f.
Band. Vgl. daneben Koster (1980) Invektive; Helmrath    17 Vgl. Günthner/Knoblauch (1994) „Forms are the Food
(2010) Streitkultur.                                    of Faith“, S. 704ff.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021                                                                        5

sind, so ist das Konzept der kommunikativen                gelten, wie Satire21, Polemik22, Pamphlet23 oder
Gattungen schon bald auf größere Textkorpora               Pasquill24. Bezeichnend ist allerdings, dass diese
sowie auf die Kommunikationen in audio-visuel-             terminologischen Zuschreibungen in ihrem Inhalt
len Medien übertragen worden. Noah Bubenhofer              und Umfang umso unschärfer erscheinen, je lang-
hat das Konzept der an der mündlichen Sprache              lebiger die jeweiligen Gattungen sind. Während es
orientierten kommunikativen Gattungen auf die              sich beim Pasquill, wie Gerd Schwerhoff in seinem
korpusbasierte quantitative Untersuchung von               Beitrag verdeutlicht, um eine kurzlebige Gattungs-
Texten angewendet und sie mit dem Begriff der              bezeichnung der Frühen Neuzeit handelt, ist die
Sprachgebrauchsmuster fruchtbar zu machen                  Gattungsbezeichnung Satire von ungebrochener
versucht.18 Dazu müssen bestimmte Aspekte                  Aktualität. Allerdings ist möglicherweise gerade
der Binnenstruktur wie Mimik und Gestik ausge-             deshalb umstritten, ob sie überhaupt angemessen
blendet und der Fokus auf lexiko-semantische,              als Gattung beschrieben werden kann oder ob es
morpho-syntaktische und stilistische Merkmale              sich vielmehr um eine Schreibweise handelt. Auch
gerichtet werden. Daneben hat sich das Konzept             die Charakterisierung als Schreibweise greift indes
der kommunikativen Gattungen oder Sprachge-                zu kurz, da Satirisches nicht unbedingt auf Schrift-
brauchsmuster insbesondere zur Beschreibung                lichkeit angewiesen ist, sondern sich auch bildlich
von spezifischen kommunikativen Formaten des               in der Karikatur25 und theatral bzw. audio-visuell in
Internets wie dem Blog und dem Chat etabliert.19           den Formaten von Kabarett, Comedy26, theatralen
Schon an diesen kommunikativen Formaten zeigt              Inszenierungen27 und populären Fernsehshows28
sich, dass Medien kommunikative Gattungen                  entfalten kann. Von daher ist in jüngeren Unter-
nicht nur aufnehmen, sondern aufgrund ihrer                suchungen davon ausgegangen worden, dass das
Affordanzstruktur auch hervorbringen. Die Unter-           Satirische ein Verfahren ist, welches sich im Regis-
suchung medialer Affordanzen, die zunächst in              ter des Komischen entfaltet und durch Übertrei-
der Mediensoziologie entwickelt worden ist, kon-           bung soziale Zustände, Gruppen oder Personen als
zentriert sich auf die Möglichkeits- und Gelegen-          kritikwürdig, lächerlich, inakzeptabel, unerträg-
heitsstrukturen von Medien und Plattformen, die            lich oder empörend ausweist. Zu den Gattungs-
bestimmte Kommunikationsformen und Gattun-                 bezeichnungen, die eher als Verfahren zu kenn-
gen präformieren, wie Katja Kanzler am Beispiel            zeichnen sind, gehören auch die hypertextuellen,
US-amerikanischer populärer Fernsehformate                 hyperikonischen und hypermedialen Verfahren
demonstriert.20 Sie lässt sich aber auch auf den           von Parodie29, Persiflage und Travestie, die eben-
Medienwandel der Frühen Neuzeit anwenden, wie              falls im Register des Komischen angesiedelt sind.
Albrecht Dröse in seinem Beitrag zur Flugschrift                Im Register des Ernsten bewegen sich dage-
in diesem Band darlegt.                                    gen die Polemik und die Streitschrift, was Ver-
     Daher stellt sich die Frage, in welchen kommu-
nikativen Formen und Mustern, literarischen und            21 Siehe den Beitrag von Burkhard Meyer-Sickendiek in
rhetorischen Gattungen sich Invektivität realisiert        diesem Band. Vgl. daneben Meyer-Sickendiek (2010) The-
                                                           orien der Satire.
und welche medialen Affordanzen invektive Kom-
                                                           22 Zur Polemik im Rahmen der Streitkultur des 16. Jahr-
munikationsformen initiieren, situieren und etab-          hunderts vgl. den Beitrag von Kai Bremer in diesem Band.
lieren. Zweifellos einschlägig sind rhetorische und        Vgl. außerdem Stauffer (2003) Polemik; zur Relation Pole-
literarische Gattungen, die per se als herabsetzend        mik und Invektive vgl. Koster (2010) Invektive und Polemik.
                                                           23 Zum Pamphlet vgl. van den Berg (2003) Pamphlet.
                                                           24 Zum Pasquill siehe den Beitrag von Gerd Schwerhoff
                                                           in diesem Band.
                                                           25 Zur Karikatur vgl. den Beitrag von Lea Hagedorn in
                                                           diesem Band.
18 Vgl. Bubenhofer (2009) Sprachgebrauchsmuster, bes.      26 Vgl. Koch (2015) Ethno-Comedy.
S. 58–60.                                                  27 Zu invektiven theatralen Inszenierungen in der Form
19 Vgl. Dürscheid (2013); Dürscheid/Frick (2016) Schrei-   artivistischer Interventionen siehe den Beitrag von Lars
ben digital, bes. S. 109–128; Ayaß (2011) Kommunikative    Koch in diesem Band.
Gattungen; Lomborg (2011).                                 28 Vgl. Kanzler (2019) (Meta-)Disparagement Humour
20 Vgl. Fox/Panagiotopoulos/Tsouparopoulou (2015) Af-      sowie ihren Beitrag in diesem Band.
fordanz; Zillien (2008) Die (Wieder-)Entdeckung der Me-    29 Zur Bildparodie vgl. den Beitrag von Jürgen Müller in
dien, bes. S. 165–171.                                     diesem Band.
6                                                               10.2478/kwg-2021-0026 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 1–9

fahren der Ridikülisierung mit Anleihen im Regis-            suchungen zu den affektsteuernden Effekten her-
ter des Komischen aber nicht ausschließt. Beide              absetzender populistischer Kommunikationsakte,
geben sich, wie Kai Bremer in seinem Beitrag                 wie etwa denen Donalds Trumps, zeigen, scheint
zur Streitschriften-Literatur des 16. Jahrhunderts           zumindest für sie eher Letzteres zu gelten.35
zeigt, als reaktive Gattungen, die sich auf voraus-              Von Interesse für die Untersuchung herab-
gehendes und als empörend markiertes Handeln                 setzender Sprechakte ist nicht zuletzt die lexika-
und Verhalten beziehen, weniger auf soziale oder             lische Ebene. Neben Beleidigungen, die jenseits
politische Zustände, die als Zielscheibe satiri-             des Aspekts der Kränkung durch ihre rechtli-
scher Verfahren dienen.30 Schon solche mit der               che Rahmung charakterisiert werden können,36
Behauptung einer ‚Reaktion‘ verbundenen Bezug-               sind dies in erster Linie Schimpfwörter, die mit
nahmen verweisen auf die erhebliche kommuni-                 bestimmten Frames verknüpft sind, wie Jan Mar-
kative Dynamik invektiver Sprech- oder Bildakte,             tin Lies am Beispiel des Schimpfwortgebrauchs in
denn sie werden nicht nur in Gattungen wie der               den innerevangelischen Kontroversen der zwei-
Polemik oder der Streitschrift eingesetzt, son-              ten Hälfte des 16. Jahrhunderts zeigt. Schwerer
dern fungieren breitgefächert als Legitimation               identifizierbar sind dagegen die in verbreiteten
invektiver Akte. Nicht selten erfassen invektive             Sprachgebrauchsmustern vorgenommenen her-
Modalitäten auch die Formebene; sie motivieren               absetzenden Prädikationen und Präsuppositionen,
beispielsweise ästhetische Innovationen, die sich            die – anders als Schimpfwörter oder Ethnophau-
aus einer invektiven Konstellation gegenüber den             lismen37 – an ihrer Oberfläche nicht unmittelbar
hergebrachten Ausdrucksformen ableiten lassen,               als schmähend erkennbar bzw. pseudo-wissen-
wie Jürgen Müller in seinem Beitrag zur deut-                schaftlich verbrämt sein können, wie Anja Loben-
schen Bildparodie im 16. Jahrhundert zeigt. Die              stein-Reichmann in ihrem Beitrag zur sprachli-
invektiven Formen korrelieren ferner mit unter-              chen Konstruktion von ‚Rasse‘ zeigt.38
schiedlichen medialen Bedingungen und Kon­                       Zu bedenken ist des Weiteren das Verhält-
stellationen, die eigene Darstellungsmöglichkei-             nis der unterschiedlichen invektiven Formen
ten eröffnen und ausprägen, wie beispielsweise               und Muster zueinander: Wie etwa ist die Bezie-
den Shitstorm.31 Insofern Invektivität in Bezug              hung von etablierten Gattungen, die Modalitäten
auf bestimmte kommunikative Konstellationen                  der Herabsetzung bereits inkludieren, zu neuen
und Dynamiken zu analysieren ist, sind Aspekte               invektiven Gattungen zu denken? Was unter-
der kommunikativen Praxis deshalb auch für die               scheidet etwa die Schmährede und die Wutrede?
Beschreibung der Formebene zu berücksichtigen.
    Zu Aspekten der kommunikativen Praxis
                                                             Siehe daneben auch die Beiträge in: Meibauer (2013)
gehören auch Praktiken, die der sprachlichen                 Hassrede sowie aus linguistischer Sicht Marx (2018) Hate
Aggression32 zugeordnet, jedoch auf unterschied-             Speech. Einen aufschlussreichen Beitrag liefert daneben
lichen Ebenen rubriziert werden. Der sprachlichen            Scharloth (2017) Hassrede und Invektivität, der die Bezich-
Aggression zurechenbar wären auch alle Formen                tigung einer Äußerung als Hassrede aus invektivitätstheo-
                                                             retischer Perspektive als metainvektive Diskursintervention
von hate speech, dem populärsten Konzept zur
                                                             deutet, die selbst Teil invektiver Kommunikation ist.
Bezeichnung invektiver Sprechakte.33 Allerdings              35 Vgl. Koch / Nanz / Rogers (2020) The Great Disruptor,
ist – trotz der onomasiologisch-semantischen                 bes. S. 6–8.
Nähe von Aggression und Hass – in der Forschung              36 Zu den juristischen Aspekten vgl. den Kommentar von
umstritten, ob hate speech affektgesteuert ist               Hilgendorf (2009) Beleidigung; zu den gesprächsrhetori-
und, wenn ja, ob sie zuallererst hassindiziert               schen Aspekten siehe Meier (2021) Beleidigungen.
                                                             37 Vgl. Tenchini (2017) Multi-Akt-Semantik. Den Begriff
oder vielmehr hassproduzierend ist.34 Wie Unter-
                                                             des Ethnophaulismus als abwertende Bezeichnung für eine
                                                             ethnisch oder rassistisch definierte Gruppe hat der ameri-
30 Vgl. den Beitrag von Kai Bremer in diesem Band.           kanische Psychologe Abraham Aron Roback geprägt; vgl.
31 Vgl. Marx (2019) Von Schafen im Wolfspelz; Marx           Roback (1944) A Dictionary.
(2021) Das Dialogpotenzial von Shitstorms.                   38 Vgl. dazu die Beiträge von Jan-Martin Lies und Anja
32 Vgl. die Einleitung von Silvia Bonachhi sowie die Bei-    Lobenstein-Reichmann in diesem Band. Siehe daneben
träge in: Bonacchi (2017) Sprachliche Aggression.            die Beiträge in: Hornscheidt (2011) Schimpfwörter. Grund-
33 Vgl. Butler (2006) Hass spricht.                          legend auch: Lobenstein-Reichmann (2013) Sprachliche
34 Zur Diskussion um das Konzept hate speech vgl. die Bei-   Ausgrenzung; von unschätzbarer Genauigkeit: Klemperer
träge in: Wachs / Koch-Priewe / Zick (2021) Hate Speech.     (1947) LTI.
Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021                                                                          7

Handelt es sich hier lediglich um einen Begriffs-           kommunikativen Affordanzen medialer Formate
transfer, geht damit auch ein konzeptioneller               erfasst. Die Fragestellung richtet sich zum einen
Transfer einher oder handelt es sich um Gat-                auf den Formaspekt des Invektiven, zum anderen
tungsbezeichnungen, die nichts miteinander zu               auf die Effekte von Invektivität für die Konstitu-
tun haben? Welche Gattungen erweisen sich als               tion und Transformation unterschiedlicher Gattun-
besonders anschlussfähig für invektive Akte (als            gen. Übergreifend thematisieren die Beiträge die
‚invektivierbar‘)? Welche Rolle spielen invektive           Frage, welche Bedeutung einerseits den Gattun-
Verfahren (also etwa das Sarkastische, das Ironi-           gen für die Performanz, Redundanz und Varianz
sche) als Modalitäten im poetologischen Sinne?39            invektiver Rede zukommt, welche Rolle invektive
Inwiefern lassen sich invektive Gattungen über              Kommunikation andererseits für die Transforma-
Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Bildlichkeit dif-         tion und Genese von Gattungen beziehungsweise
ferenzieren? Welche Affekt- und Emotionsregime              von Sprachgebrauchsmustern spielt und wie Gat-
etablieren sie dabei jeweils? Wie ist der Formwan-          tungen und Muster wiederum auf die invektiven
del des Invektiven, etwa das Verhältnis zwischen            Dynamiken zurückwirken. Dass die hier behan-
vormodernen und modernen beziehungsweise                    delten Gattungen und Modalitäten des Invek-
zeitgenössischen invektiven Gattungen zu den-               tiven nicht erschöpfend sein können, versteht
ken und zu beschreiben? Wie der Beitrag von Lea             sich angesichts der Dynamik invektiver Kommu-
Hagedorn zeigt, lässt er sich nicht zuletzt an der          nikation nahezu von selbst. Kennzeichnend für
Transformation von Gattungsbegriffen wie dem                invektive wie metainvektive Kommunikation ist
der Karikatur erkennen. In welcher Weise invek-             überdies, dass sie sämtliche literarischen, rheto-
tive Modalitäten ästhetische Formen zunehmend               rischen und kommunikativen Gattungen integrie-
prägen, entwickelt der Beitrag von Lars Koch, der           ren und transformieren kann und nicht an eine
sich den artivistischen Interventionen widmet,              Liste invektiver Gattungen gebunden ist, auch
mit denen Christoph Schlingensief und das Zent-             wenn sich diese für herabsetzende Kommunika-
rum für politische Schönheit gesellschaftliche Dis-         tionsakte anbieten und dementsprechend häufig
kurse und Dispositive und ihre invektiven Effekte           genutzt werden.
reflektieren und dabei zugleich invektieren.
    Wie die nachfolgenden Untersuchungen ins-
                                                            Literaturverzeichnis
gesamt verdeutlichen, lassen sich vielfältige Aus-
tauschprozesse beobachten, in denen einerseits              Ayaß, Ruth (2011): Kommunikative Gattungen,
rhetorisch-literarische Gattungen alltagssprachli-               mediale Gattungen. In: Habscheid, Stephan (Hg.):
                                                                 Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen. Berlin/
che Elemente integrieren und bearbeiten, ande-
                                                                 Boston: De Gruyter, S. 275–295.
rerseits in der Alltagskommunikation ästhetische
                                                            Berg, Hubert van den (2003): Pamphlet. In: Historisches
Schemata angeeignet und transformiert werden.                    Wörterbuch der Rhetorik 6: Must – Pop. Tübingen:
Etablierte literarische und rhetorische Gattun-                  Niemeyer, Sp. 488–495.
gen fungieren damit ebenso als Formarchive, die             Bonacchi, Silvia (Hg.) (2017): Verbale Aggression.
Muster der Herabsetzung in der Alltagskommuni-                   Multidisziplinäre Zugänge zur verletzenden Macht der
                                                                 Sprache. Berlin/Boston: De Gruyter.
kation verfügbar halten, wie umgekehrt Muster
                                                            Bubenhofer, Noah (2009): Sprachgebrauchsmuster.
der Alltagskommunikation in solchen Gattungen                    Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kultur-
aufgenommen, iteriert und transformiert werden.                  analyse. Berlin/New York: De Gruyter.
    Deshalb fokussiert der Band mit den invek-              Butler, Judith (2006): Hass spricht. Zur Politik des Perfor-
tiven Gattungen als Untersuchungsbereich ein                     mativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
                                                            Dürscheid, Christa (2013): Medien, Kommunika-
Schnittfeld, das rhetorische, literarische und
                                                                 tionsformen, kommunikative Gattungen. Linguistik
bildkünstlerische Gattungen sowie kommunika-
                                                                 Online, 22/1, S. 3–16. URL: https://doi.org/10.13092/
tive Gattungen im Sinne mehr oder minder fest                    lo.22.752 (letzter Zugriff: 30.08.2021).
etablierter Sprachgebrauchsmuster und auch die              Dürscheid, Christa/Frick, Karina (2016): Schreiben digital:
                                                                 Wie das Internet unsere Alltagskommunikation
                                                                 verändert. Stuttgart: Kröner.
39 Derartige Fragen erörtert der Beitrag von Burkhard       Erler, Michael/Tornau, Christian (2019): Einleitung.
Meyer-Sickendiek, der die spezifischen Ausprägungen des          Was ist antike Rhetorik. In: Erler, Michael/Tornau,
Satirischen in der Moderne unter poetologischen Gesichts-
punkten untersucht.
8                                                                 10.2478/kwg-2021-0026 | 6. Jahrgang 2021 Heft 1: 1–9

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Kulturwissenschaftliche Zeitschrift - 1/2021                                                                           9

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