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Bayerische Landeszentrale 4 | 11 für politische Bildungsarbeit Einsichten und Perspektiven Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Wie steht es mit der Integration? Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen NS-Gedenkstätten in Frankreich Bayerisch-israelische Absichtserklärung zur Bildungskooperation Neue Publikationen Jahresausblick 2012
Einsichten und Perspektiven Autoren dieses Heftes Impressum Dr. Christian Babka von Gostomski, Afra Gieloff, Martin Kohls, Dr. Harald Lederer und Einsichten Stefan Rühl sind Mitarbeiter der Gruppe 22 „Grundsatzfragen der Migration, Migrationsfor- und Perspektiven schung, Ausländerzentralregister, Statistik“ im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg. Verantwortlich: Eva Feldmann-Wojtachnia ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Jugend und Monika Franz, Europa am Centrum für angewandte Politikforschung der Ludwig-Maximilians-Universität Praterinsel 2, München. 80538 München Dr. Manuela Glaab ist Akademische Oberrätin am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissen- schaft der Ludwig-Maximilians-Universität München und Leiterin der Forschungsgruppe Deutsch- Redaktion: land am Centrum für angewandte Politikforschung. Monika Franz, Stephan Hildensperger und Christoph Huber sind Mitarbeiter der Landeszentrale für politische Dr. Christof Hangkofer, Bildungsarbeit. Christoph Huber, Dr. Guido Hitze ist Historiker mit den Schwerpunkten Landes- und Parteiengeschichte (Nord- Werner Karg rhein-Westfalen, Schlesien, politischer Katholizismus, CDU) und Referatsleiter („Gedenkstätten und Erinnerungskultur“) in der Landeszentrale für politische Bildung des Landes Nordrhein- Westfalen. Gestaltung: Werner Karg leitet das Veranstaltungsreferat in der Landeszentrale für politische griesbeckdesign Bildungsarbeit. www.griesbeckdesign.de Veranstaltungshinweis Druck: creo Druck & Die Weiße Rose im Gedächtnis Münchens Medienservice GmbH, Wandel und Kontinuitäten Gutenbergstraße 1, 96050 Bamberg Montag, 12. Dezember 2011, 19.00 Uhr Literaturhaus München, Salvatorplatz 1, 4. Stock, Saal Titelbild: Globalisierungs- kritische Aktivisten beim Vortrag: Dr. Andreas Heusler, Historiker am Stadtarchiv München G8-Treffen in Heiligendamm Podiumsgäste: Dr. Ludwig Spaenle, Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus im Juni 2007 Prof. Dr. Margit Szöllosi-Janze, Lehrstuhl für Neueste Geschichte und Quelle: ullstein bild Zeitgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München Die Landeszentrale konnte die Ur- Markus Schmorell, Familienangehöriger von Alexander Schmorell heberrechte nicht bei allen Bildern Dr. Hans-Jochen Vogel, Altoberbürgermeister dieser Ausgabe ermitteln. Sie ist aber Moderation: Amelie Fried, Publizistin bereit, glaubhaft gemachte Ansprüche nachträglich zu honorieren. Die Erinnerung an die Weiße Rose ist in München seit der ersten Gedenkfeier am 4. November 1945 nicht verloschen, wenngleich im historischen Stadtgedächtnis unterschiedlich präsent. Bereits 1946 widmete die Ludwig-Maximilians-Universität den Opfern des studentischen Widerstands eine Gedenktafel, später folgten weitere Denkmäler in der Stadt sowie die Benennung von Straßen, Plätzen oder Schulen nach einzelnen Personen der Weißen Rose. Die Veranstaltung will mit Einfüh- rungsvortrag und Podiumsdiskussion eine prüfende Bestandsaufnahme vergangener und aktueller Formen dieses Erinnerns wagen. Sie will überdies beispielhaft aufzeigen, dass Erinnerungskultur kein statisches Phänomen ist, sondern einer permanenten Veränderung unterliegt. Jede Generation hat ihre Art und Weise, wie sie Vergangenes vergegenwärtigt, bewertet und Schlüsse für das jewei- lige Hier und Jetzt zieht. Erinnerungskultur ist somit immer auch eine Aussage über die Gegenwart des Gemeinwesens. Veranstalter: Weiße Rose Stiftung e.V. und Stiftung Literaturhaus. Mit freundlicher Unterstützung der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit. Eintritt: Euro 9,-/7,- 230 Einsichten und Perspektiven 4 | 11
Einsichten und Perspektiven Inhalt Eva Feldmann-Wojtachnia und Manuela Glaab 232 Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutsch- land Christian Babka von Gostomski, Afra Gieloff, Martin Kohls, Harald Lederer, Stefan Rühl 246 Wie steht es mit der Integration? Personen mit Migrationshintergrund in Bayern Guido Hitze 260 „Es ist furchtbar, aber es geht!“ Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kultur und Identität Christoph Huber 276 Mauern und Namen NS-Gedenkstätten in Frankreich Stephan Hildensperger 284 zeit.raum@bayern Der Heimat ein Gesicht geben Werner Karg 288 Bayerisch-israelische Absichtserklärung zur Bildungskooperation 292 Neue Publikationen der Landeszentrale 294 Jahresausblick 2012 Einsichten und Perspektiven 4 | 11 231
Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wa ndel der politischen Pa rtizipation in Deutschland Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland Von Eva Feldmann-Wojtachnia und Manuela Glaab Proteste beim Abriss des Nordflügels des Stuttgarter Hauptbahnhofs im August 2010 Quelle: Alle Fotos im Artikel von ullstein 232 Einsichten und Perspektiven 4 | 11
Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wa ndel der politischen Pa rtizipation in Deutschland Demnächst könnte „Stuttgart 21“ im Duden als Fachbegriff nachzuschlagen sein: als selbstregulierte, direkte politische Artikulationsform unterschiedlichster Bevölke- rungsgruppen. Geeint werden die Teilnehmer an den Protestaktionen durch das Ziel, ihre Unzufriedenheit mit der Intransparenz und mangelnden Glaubwürdigkeit der Entscheidungsprozesse zum Verkehrs- und Städtebauprojekt auszudrücken und diese möglichst zu korrigieren. Handelt es sich bei einer solchen Mobilisierung auf der Straße um eine neue Qualität des politischen Aktivismus, welche die Frage nach einer Erneuerung der repräsentativen Demokratie durch direkte Partizipationsformen auf den Plan ruft? Oder verstärkt diese Form des konfrontativen Protests die Kluft zwischen Bürgern und Politik, zwingt letztere aber zu handeln? Politischer Aktivismus ist mitnichten ein neues Phänomen sierte Beteiligungsformen, die zwischen Aktionen im Netz und kennt die vielfältigsten Ausdrucksformen. Seit der und an realen Orten switchen. Auch sind die Grenzen zwi- Begriff in den zwanziger Jahren geprägt wurde, haben sich schen Generationen oder sozialen Gruppen ganz offenkun- zahlreiche Varianten von Aktionsformen, beispielweise De- dig durchlässiger geworden. monstrationen, Boykottaktionen, Mahnwachen oder Un- Aber es gibt auch Initiativen seitens der Politik, die terschriftensammlungen, entwickelt. Gegenwärtig scheint eine Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenhalts der politische Aktivismus jedoch eine neue Qualität zu und die aktive Mitwirkung an der Politik zum Ziel haben. gewinnen. Es lässt sich beobachten, wie die Politik in Zeiten So rief Bundespräsident Christian Wulff mit der Schaffung der globalen Finanzkrise auf eine Vermittlungskrise zusteu- des BürgerForum 2011 (www.bund.buergerforum2011.de) ert, die angesichts der niederschwelligen Vernetzungsmög- die Bürgerinnen und Bürger dazu auf, in Eigenregie in loka- lichkeiten von alarmierten Bürgerinnen und Bürgern eine len BürgerForen zu diskutieren, wie der gesellschaftliche Tiefendimension mit unüberschaubaren, schwer steuerba- Zusammenhalt in Deutschland verbessert werden kann. ren Konsequenzen erlangt. Neu an der aktuellen Protest- Ziel dieser online-basierten Konsultationsofferte ist es, bewegung sind jedoch nicht die Aktionsformen an sich, Menschen mit ihren eigenen Themen am politischen Wil- sondern ihre Intensität und das Tempo, die durch die Inter- lensbildungsprozess zu beteiligen und für politisches Enga- netvernetzung erreicht werden. Deutlich sichtbarer und gement zu motivieren. Noch ist es jedoch zu früh einzu- direkter sind auch die politischen Konsequenzen, die sogar schätzen, was aus einer solchen Konsultation längerfristig so weit reichen können, dass sie wie im „Fall Guttenberg“ resultiert. Wenngleich im Ergebnis ein bundesweites Bür- einen Spitzenpolitiker zum Rückzug zwingen oder eine gerprogramm mit konkreten Vorschlägen für Politik und Kehrtwende in der Energiepolitik mit herbeiführen. Die Gesellschaft entwickelt wurde, so stellt sich die Frage, ob sogenannten „Wutbürger“ (Wort des Jahres 2010) und und welche politischen Konsequenzen letztlich gezogen „Occupy“-Aktivisten bevorzugen flexible, nicht formali- werden. Einsichten und Perspektiven 4 | 11 233
Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wa ndel der politischen Pa rtizipation in Deutschland „Flashmob“-Aktion zum 60-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes im Mai 2009 in Berlin Politische Partizipation und Demokratie maximiert werden soll. Enthalten sich relevante Teile der Bevölkerung, so wird dies als Zeichen mangelnder System- Für das Funktionieren der Demokratie ist politische unterstützung und einer möglichen Gefährdung der Sys- Partizipation, verstanden als Handlungen, „die Bürger temstabilität gewertet. Neue, unkonventionelle Formen des freiwillig mit dem Ziel unternehmen, Entscheidungen politischen Aktivismus wie „Flashmob“ oder „YES MAN“ auf den verschiedensten Ebenen des politischen Systems könnten hier als kreativer Inputgeber für politische Ent- zu beeinflussen“,1 unverzichtbar. Dies äußert sich in scheidungsprozesse betrachtet werden.3 In der Perspektive unterschiedlichsten Formen aktiver Bürgerbeteiligung. output-orientierter Demokratietheorien kommt es dagegen Je nach demokratietheoretischer Perspektive bestehen auf die Systemperformanz an. Die Bürgerbeteiligung erfolgt hinsichtlich des notwendigen Beteiligungsniveaus wie vorwiegend durch die Teilnahme an Wahlen, um demokra- auch der adäquaten Partizipationsformen jedoch unter- tische Herrschaft zu legitimieren und zu kontrollieren. schiedliche Auffassungen.2 Aber auch die Nichtteilnahme an Wahlen erscheint solange unproblematisch, soweit hierdurch Zufriedenheit mit dem Partizipatorische Demokratietheorien betonen die Input- Output, also den Leistungen des politischen Systems, zum Dimension, also die politische Beteiligung der Bürgerinnen Ausdruck gebracht wird. und Bürger, die sich nicht auf die Teilnahme an Wahlen und Offensichtlich ist den Protestierenden eine solche Abstimmungen beschränken, sondern in allen Bereichen Grundzustimmung nicht mehr möglich. 1 Max Kaase: Vergleichende Partizipationsforschung, in: Dirk Bergschlosser, Ferdinand Müller-Rommel (Hg.): Vergleichende Politikwissen- schaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1997, S. 160. 2 Vgl. Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2010. 3 Vgl. Felix Ludwig, Jana Trumann, Tim Zosel: Flashmob und Co. Politische Partizipation und Bildung oder nur Aktion?, in: kursiv. Praxis politische Bildung „Politische Partizipation“ (2011), H. 4, S. 25. 234 Einsichten und Perspektiven 4 | 11
Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wa ndel der politischen Pa rtizipation in Deutschland Die aktuell zu beobachtenden, vielfältigen Erschei- Wirkkraft der Social Media oft auch eine globale Dimen- nungsformen des politischen Aktivismus bringen zwei- sion. felsohne eine weitreichende Unzufriedenheit mit der etablierten Politik zum Ausdruck. Sie zeigen aber auch, Allerdings ist kritisch zu hinterfragen, ob politischer dass beachtliche Teile der Bevölkerung bereit sind, sich Aktivismus bei der Lösung der artikulierten Probleme aktiv und teilweise unter hohem persönlichem Einsatz tatsächlich helfen kann. Denn unabhängig von der an der politischen Willensbildung zu beteiligen. Klassifizierung von verfassten und nicht-verfassten Partizipationsformen und ihrer Bewertung im Hinblick Ein deutlich anderes Bild ergibt sich im Bereich der kon- auf Funktion, Reichweite und Legalität stellt sich hier ventionell verfassten politischen Partizipation, die in den die Frage nach der normativen Grundlegung des institutionalisierten Bahnen der repräsentativen Demo- Politikbegriffs. Partizipation im Sinne von politischer kratie verläuft, rechtlich geregelt ist und dementsprechend Teilhabe und demokratischen Mitwirkung in möglichst eine hohe Legitimitätsgeltung besitzt. So ist die Beteiligung vielen unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft ist an Wahlen in der Gesamttendenz auf allen Ebenen rückläu- dabei als Schlüsselbegriff zu verstehen, wenngleich fig. Bei der Bundestagswahl 2009 wurde mit 72,2 Prozent Politik sicherlich allein über das Partizipationsprinzip Wahlbeteiligung das niedrigste Niveau seit Bestehen der nicht neu definiert werden kann. Als Protestverhalten Bundesrepublik erreicht. Noch deutlich geringer fällt die entziehen sich die neuen Formen des politischen Akti- Wahlbeteiligung auf der Europa-, Landes- und kommuna- vismus dieser Auseinandersetzung, wenn sie nicht auf len Ebene aus. Und auch die Parteien, denen eine tragende Interessenausgleich und Diskurs ausgelegt sind, son- Funktion in der politischen Meinungs- und Willensbildung dern als Aktionismus in erster Linie auf Einzelaktionen zukommt, beklagen seit langem einen Mitgliederschwund. und deren öffentliche Sichtbarkeit abzielen bzw. die Besonders betroffen hiervon sind die Volksparteien CDU Identifikation mit der eigenen Gruppe zum Ziel haben und SPD, die jeweils nur noch um die 500.000 Mitglieder und die Politik letztlich als Adressat fehlt. zählen. Die Forderung nach „mehr Demokratie“ deutet Normalisierung des Unkonventionellen darauf hin, dass es bei den Protesten vor Ort – dafür steht „Stuttgart 21“ nur als ein Beispiel – nicht allein um den kom- Politischer Aktivismus und Protestbewegungen in munalen Konflikt geht, sondern „um eine scharfe Ausei- Deutschland sind keine Momentaufnahmen, sondern ein- nandersetzung um nicht mehr akzeptierte Formen und zuordnen in eine längerfristige Entwicklung. Rückblickend Verfahren bisheriger Bürgerbeteiligung“.4 Nicht die Ab- auf die Geschichte der politischen Kultur in Deutschland schaffung der repräsentativen, parlamentarischen Demo- gab es bereits einige Hochzeiten des außerparlamentari- kratie an sich steht zur Debatte, jedoch ein deutlich recht- schen Bürgerprotestes. Hierzu zählen zweifelsohne die zeitiger Einbezug der Bürgerinnen und Bürger im Prozess „Montagsdemonstrationen“ in der DDR, die die politische der politischen Entscheidungsfindung mit ernsthaften Wende mit dem Fall der Mauer 1989 einläuteten. In der Konsequenzen seitens der Politik. Bundesrepublik ist die Achtundsechziger-Bewegung her- Insbesondere junge Menschen wollen ihre Stimme vorzuheben, mit Studentenrevolten, Aktionen des zivilen nicht mehr (oder nicht nur) am Wahltag oder innerhalb der Ungehorsams und Ostermärschen, außerdem Massende- bestehenden Strukturen abgeben. Direktere Beteiligungs- monstrationen und kilometerlange Menschen- und Lich- formen, auf der Straße oder im Netz, ohne aufwändigen terketten gegen den NATO-Doppelbeschluss und gegen zeitintensiven Vorlauf oder längerfristige, bindende Mit- das Wettrüsten. Schon in den siebziger Jahren war von einer gliedschaften und ein handlungsbezogener Erlebnischarak- „partizipatorischen Revolution“ (Max Kaase) die Rede. ter stehen hier im Vordergrund. Kennzeichnend für den Damit wurden unverfasste Beteiligungsformen, die sich neuen politischen Aktivismus ist zudem eine eher punktu- außerhalb institutionalisierter Bahnen, in spontanen oder elle, situative Beteiligung ressourcenstarker, gut vernetzter geplanten Mobilisierungsprozessen vollziehen, auf eine Bevölkerungsteile, die nicht mehr eindeutig nur einer Gene- griffige Formel gebracht. Sie nehmen seither neben den ver- ration oder sozialen Herkunft zugeordnet werden können. fassten, elektoralen und parteibezogenen Aktivitäten einen Das teils lokal begrenzte Engagement erhält durch die nicht mehr wegzudenkenden Platz im politischen Gesche- 4 Rita Süssmuth: Mangelt es an Offenheit und Bürgerbeteiligung?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 61 [„Demokratie und Beteiligung“] (2011), H. 44-45, S. 4. 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Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wa ndel der politischen Pa rtizipation in Deutschland Montagsdemonstration mit ca. 120.000 Teilnehmern im Oktober 1989 in Leipzig hen ein. Momentan erleben wir daher zwar einen enormen viel stärker von institutionenorientierten, „konventio- Aufschwung an politisch lebhaftem Aktivismus, im Kern nellen“ Gelegenheitsaktivitäten bestimmt, als es die jedoch kein neues Phänomen der Bürgerbeteiligung. Diese Medienberichterstattung über spektakuläre Protest- in Anlehnung an die Political-Action-Studie5 auch als „un- aktionen vermitteln mag. Hinzu kommt, dass Parteien konventionell“ bezeichnete Partizipation umfasst sowohl und andere Großorganisationen vielfach selbst als legale als auch nicht-legale Varianten. Das Spektrum reicht Initiatoren von Protestkampagnen auftreten. von der Teilnahme an Unterschriftensammlungen über ge- nehmigte Demonstrationen bis hin zu Boykotts, Straßen- Die „Normalisierung des Unkonventionellen“ (Dieter blockaden oder Gebäudebesetzungen. Fuchs) manifestiert sich in der gestiegenen Akzeptanz un- verfasster Beteiligungsformen. Sowohl die Bereitschaft, bei Inzwischen gilt die begriffliche Unterscheidung zwi- den zumeist themenbezogenen und zeitlich begrenzten Ak- schen konventionellen und unkonventionellen Beteili- tionsformen mitzumachen, als auch die tatsächliche Betei- gungsformen als überholt, weil sie kaum mehr den ligung hieran sind längerfristig gestiegen. Hatte sich Mitte vorherrschenden Partizipationsmustern entspricht. der siebziger Jahre erst ein Drittel der Bundesbürger über- Zum einen finden die legalen Varianten dieser Betei- haupt einmal an einer solchen Aktion beteiligt, so avancier- ligungsformen breite Akzeptanz in der Bevölkerung ten diese im Verlauf der achtziger Jahre zu einer Aus- und beschränken sich längst nicht mehr auf postmate- drucksform der Mehrheit.6 Hervorzuheben ist jedoch, dass rialistische Protestmilieus. Zum anderen wird die Praxis Aktionen des zivilen Ungehorsams – wozu beispielsweise 5 Samuel Barnes/Max Kaase u.a.: Political Action. Mass Participation in Five Western Democracies, Beverly Hills (CA) 1979. 6 Vgl. Bernhard Weßels: Politisierung entlang neuer Konfliktlinien?, in: Ansgar Klein, Rainer Schmalz-Bruns (Hg.): Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen, Bonn 1997, S. 205–230. 236 Einsichten und Perspektiven 4 | 11
Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wa ndel der politischen Pa rtizipation in Deutschland Proteste an der Freien Universität Berlin gegen die Notstandsgesetze im Mai 1968 wilde Streiks, Sit-ins und Verkehrsblockaden zu rechnen Ablesbar ist dies vor allem daran, dass Bürger mit hoher for- sind – von der großen Mehrheit der Bürger als nicht legitim maler Schulbildung unkonventioneller Partizipation beson- betrachtet werden. Dementsprechend spielen sie auch nur ders aufgeschlossen gegenüber stehen.8 eine untergeordnete Rolle in deren Aktionsspektrum. Von einer Umkehr dieses Trends kann auch in den Eine wichtige Determinante stellt außerdem das Alter darauffolgenden Jahrzehnten nicht die Rede sein.7 Immer dar. Demnach ist die aktive Beteiligung, vor allem aber mehr Bürger bevorzugen offenbar ein punktuelles, zeitlich eine positive Einstellung gegenüber unkonventionellen begrenztes politisches Engagement. Dies korrespondiert Partizipationsformen in der jungen Generation beson- mit einem gewandelten Politikverständnis, das als eher situ- ders stark ausgeprägt. Partizipation ist dabei untrenn- ativ, kontextabhängig, erlebnis- und betroffenheitsorien- bar mit der Identitätsbildung von Jugendlichen verbun- tiert zu beschreiben ist. Zudem ist die potentielle Beteili- den und bewegt sich zunächst im gesellschaftlichen, gungsbereitschaft im Allgemeinen höher einzuschätzen als vorpolitischen Raum. Sich für die eigene Umwelt zu die tatsächliche Beteiligung an politischen Aktionen. Dazu interessieren und sich mit den Interessen anderer über bietet die Forschung mehrere, sich ergänzende Erklärungs- den privaten Nutzen hinaus kritisch auseinanderzuset- ansätze an: Die Mobilisierung wird von der individuellen zen, sind soziale Grundbedürfnisse und elementare sozioökonomischen Ressourcenausstattung beeinflusst. Identitätserfahrungen, die bereits Kinder machen.9 7 Vgl. ausführlicher Manuela Glaab: Politische Partizipation versus Enthaltung, in: Manuela Glaab/Werner Weidenfeld/Michael Weigl (Hg.): Deutsche Kontraste 1990-2010. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Frankfurt am Main 2010, S. 101-137. 8 Vgl. Andreas Hadjar, Rolf Becker: Bildungsexpansion und politisches Engagement – Unkonventionelle politische Partizipation im Zeitverlauf, in: Ingo Bode/Albert Evers/Ansgar Klein (Hg.), Bürgergesellschaft als Projekt. Eine Bestandsaufnahme zu Entwicklung und Förderung zivilgesellschaftlicher Potenziale in Deutschland, Wiesbaden 2009, S. 101–124. 9 Ausführlicher siehe: Eva Feldmann-Wojtachnia: Identität und Partizipation. Bedingungen für die politische Jugendbildung im Europa der Bürger und Bürgerinnen, C·A·P Analyse (2007), Nr. 6, S. 6-10. Einsichten und Perspektiven 4 | 11 237
Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wa ndel der politischen Pa rtizipation in Deutschland Globalisierungskritische Aktivisten beim G8-Treffen in Heiligendamm im Juni 2007 Weniger eindeutig ist der Zusammenhang zwischen ver- spielsweise im Zuge der Reformpolitik der rot-grünen Bun- schiedenen Sozialisationsfaktoren sowie Motiven politi- desregierung zu Protesten von Erwerbslosen und weiteren scher Unzufriedenheit und der Protestneigung. Die Einbin- Bevölkerungsteilen, die sich von Arbeitslosigkeit bedroht dung in soziale Netzwerke spielt vor allem bezüglich des sahen. Vor allem in den Jahren 1998 sowie 2003/04 wurde parteibezogenen Engagements eine Rolle, fördert aber auch ein hoher Aktivitätsgrad ermittelt; schwerpunktmäßig in die unkonventionelle Partizipation. Im Bereich der nicht- Ostdeutschland, aber auch bundesweit kam es zu Protesten. institutionalisierten Partizipation, die sehr stark an konkre- Mit den wiederum so genannten „Montagsdemonstratio- te Anlässe gebunden ist, ist somit von einer hohen Varianz nen“ gegen den Sozialabbau durch die Hartz-IV-Gesetz- der Erklärungsfaktoren auszugehen.10 gebung im Sommer 2004, bei denen über eine Million Men- Darüber hinaus ist zu betonen, dass die Datenlage schen auf die Straße gingen, erreichte die Mobilisierung im Bereich der unkonventionell-unverfassten Aktivitäten ihren Höhepunkt. Die Protestkonjunktur wurde außerdem insgesamt betrachtet eine recht diskontinuierliche Ent- durch globalisierungskritische Bewegungen belebt, die im wicklung abbildet. Dies hat zum einen methodische Ursa- vergangenen Jahrzehnt wachsenden Zulauf auch in chen (variierende Frageinstrumente und Indikatoren sowie Deutschland erhielten. Die „alten“ postmaterialistischen Datenlücken), verweist zum anderen aber auch auf die star- Bewegungskerne der siebziger und achtziger Jahre werden ke Kontextabhängigkeit dieser Partizipationsformen. Eine dabei zusehends abgelöst durch Nichtregierungsorgani- Längsschnittanalyse von Protestereignisdaten ergibt daher sationen (NGOs), die ein globalisierungskritisches, inter- stark schwankende Protestkonjunkturen.11 So kam es bei- national vernetztes Bewegungsumfeld auf den Plan rufen 10 Vgl. Oscar W. Gabriel: Politische Partizipation, in: Jan W. van Deth (Hg.): Deutschland in Europa. Ergebnisse des European Social Survey 2002–2003, Wiesbaden 2011, H. 4, S. 317–338. 11 Umfassend dazu Dieter Rucht (Hg.): Protest in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt am Main 2001. 238 Einsichten und Perspektiven 4 | 11
Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wa ndel der politischen Pa rtizipation in Deutschland können.12 Im Zentrum der Protestaktivitäten steht die ben im fließenden Übergang von virtuellen Netzen und Kritik an Kapitalismus und Neoliberalismus. Große öffent- der Realität „vor Ort“, dabei geht es meist um weit liche Aufmerksamkeit erregten auch die gegen IWF, Welt- mehr als um Spaßaktionismus. Ziel ist es, die eigene, oft bank und WTO sowie gegen internationale Gipfeltreffen gesellschaftskritische oder konträre Position gesell- gerichteten Demonstrationen. Die Mobilisierungsbasis der schaftlich sichtbar zu machen, aber auch globalisierungskritischen Bewegungen in Deutschland Aufmerksamkeit für neue Themen zu generieren. wurde hier durch die Einbeziehung benachbarter, vor allem friedens- und sozialpolitischer Themenfelder noch erwei- Man wird dem Begriff der Jugendpartizipation nicht ge- tert. recht, verkürzt man ihn nur auf eine rein politische Sicht- weise; ein umfassendes Verständnis schließt immer auch Politischer Aktivismus in der jungen Bildungs- und Sozialisationsprozesse ein. Entwicklungs- Generation psychologisch betrachtet sind Jugendliche etwa ab 14 Jah- ren zu strukturellem Denken und dem Abstrahieren der Junge Menschen stehen heute mehr als je zuvor unter einem subjektiven Lebenswelt in sozialen und politischen Zusam- enormen Mobilitäts- und Flexibilitätsdruck, besonders menhängen in der Lage. Etwa zeitgleich setzt eine – wie dann, wenn sie auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen möchten. auch immer geartete – politische Identitätsentwicklung ein. Daher wägen sie sehr kritisch ab, wofür und mit welcher Jugendliche prägen hier erste eigene Einstellungen und Intensität sie ihre persönlichen Ressourcen einsetzen. Be- Verhaltensweisen aus, die sie relativ stabil über die Jugend- vorzugt werden Gelegenheitsstrukturen und Handlungs- phase hinweg beibehalten.14 Dies allein bringt allerdings kontexte zur Beteiligung, die sie nicht längerfristig binden nicht unmittelbar eine nachhaltige, strukturelle Jugendbe- und einengen. Die 13. Shell-Jugendstudie (Jugend 2010) be- teiligung hervor, hierzu sind neben einer gezielten gesell- zeichnet die junge Generation als großteils „pragmatisch schaftspolitischen Bildungsstrategie zur Förderung und und illusionslos“, aber nicht automatisch als passiv und teil- Verankerung der nötigen Kompetenzen auch gute Gelegen- nahmslos gegenüber ihrem politischen und gesellschaftli- heiten und Erfahrungsräume wie letztlich auch verbindliche chen Umfeld. Im Gegenteil: Wie soziologische Unter- Rahmensetzungen in Politik und Gesellschaft gefragt. Oft- suchungen zeigen, hat sich das politische Interesse, so wie mals fehlen hier die (jugendgerechten) Zugänge oder es ste- die Mitgliedschaft in Organisationen, Vereinen und Verbän- hen zu große bürokratische Hürden im Weg. den, inzwischen sogar verstärkt.13 Als ein attraktiver, interaktiver Ort der Beteiligung erscheint daher vielen Jugendlichen gerade das Internet, wo Doch die Attraktivität politischer Partizipationsmög- eigener Input sowie die eigene Meinung unkompliziert und lichkeiten wird von jungen Menschen unterschiedlich direkt eingebracht werden können. Regelmäßig untersu- bewertet, wenn auch die Abkehr von konventionellen chen die KIM- und JIM-Studie15 das Medienverhalten von parteigebundenen Formen und Wahlen nicht vorschnell Kindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutsch- als allgemeine Politikverdrossenheit gewertet werden land. Demzufolge haben nahezu 100 Prozent der 12- bis 19- sollten. Denn dem steht die zunehmende Bereitschaft Jährigen Internetzugang, zumeist über ihre Eltern, jedoch zur aktiven Mitwirkung in Initiativen oder Vereinen verfügt die Hälfte der älteren Jugendlichen bereits über gegenüber. Nicht ein Desinteresse an Politik als solcher, einen persönlichen Anschluss im eigenen Zimmer. Die JIM- sondern ihre zunehmende Kritik an den herkömmli- Studie weist zudem einen Zusammenhang zwischen der chen Beteiligungsformaten ist entscheidend. Dies führt Häufigkeit und Dauer der Internetnutzung und dem Bil- zu einem Zulauf zu interaktiven und innovativen dungsgrad der Jugendlichen nach. Zwar nutzen Jugendliche Aktionsformen, die in ihrer überschaubaren Kurzfris- mit höherem Bildungsgrad das Internet öfter, aber kürzer tigkeit und lokalen Anbindung niederschwellig und als Jugendliche mit niedrigerem Bildungsgrad. Mädchen dadurch enorm attraktiv sind – besonders für die junge nutzen das Internet ebenfalls etwas weniger als Jungen. Am Generation. Den öffentlichen Raum neu zu „erobern“ – beliebtesten bei Jugendlichen sind die verschiedenen Kom- wie Piraten im übertragenen und wörtlichen Sinne – munikations- und Austauschmöglichkeiten unter Gleich- oder im „Flashmob“ „Gemeinschaft auf Zeit“ zu erle- altrigen und somit Suchmaschinen und Provider im Netz, 12 Vgl. Dieter Rucht, Roland Roth: Globalisierungskritische Netzwerke, Kampagnen und Bewegungen, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Frankfurt am Main/New York 2008, S. 493-512. 13 Vgl. Wolfgang Gaiser, Martina Gille, Johann de Rijke: Zur Lage der Jugend. Lebenssituation und Engagement in Gewerkschaften und Jugendverbänden, in: kursiv. Praxis politische Bildung (2011), H. 4, S. 8-18. 14 Vgl. Monika Buhl: Politische Identitätsbildung im Jugendalter, in: kursiv. Praxis politische Bildung (2006), H. 1, S.20. 15 Siehe: http://www.mpfs.de (Stand: 28. 11. 2011). Einsichten und Perspektiven 4 | 11 239
Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wa ndel der politischen Pa rtizipation in Deutschland Startseite von „schülerVZ“ wobei Google deutlich an der Spitze liegt. Hoch beliebt sind schaft sind die vielfältigen „neuen“ elektronischen Partizi- Social-Web-Angebote oder Seiten mit user generated con- pationsformen (unter den Stichworten „E-Partizipation“, tent, wo eigene Inhalte eingearbeitet werden können. Hier „digitale Demokratie“, „fluid oder real-time democracy“) erwähnen die Jugendlichen „YouTube“, „schülerVZ“ und überwiegend als technische Adaptionen herkömmlicher „Wikipedia“. Daher hätte unter Umständen ein Jugendkon- Formen der Bürgerbeteiligung zu betrachten. Das Spek- sultationsportal eine gute Akzeptanzchance; zumal bei etwa trum reicht von einfachen Informationstools bis hin zu der Hälfte der Jugendlichen ein Interesse an aktueller Bun- anspruchsvollen, auf Deliberation zielende Anwendungen des- und Lokalpolitik verzeichnet werden kann und es wie Online-Konsultationen. Diese unter dem Begriff der Jugendliche durchaus für wichtig halten, über neue Ent- „E-Demokratie“ subsumierten Formen der E-Partizipation wicklungen schnell Bescheid zu wissen. lassen sich in einen staatlichen sowie einen nicht-staatlichen, zivilgesellschaftlichen Bereich systematisieren, wenngleich E-Partizipation und Netzaktivismus diese in der Nutzungspraxis häufig miteinander verknüpft sind.16 Mit der rasanten Entwicklung der digitalen Medien stellt So hat sich die Bundesregierung dazu verpflichtet, sich immer drängender die Frage, inwieweit das Internet als für die derzeitige Legislaturperiode (2009–2012) eine E- ein zentraler Ort für Partizipation und Bürgerbeteiligung Government Strategie 2.0 vorzulegen, um die E-Partizipa- betrachtet werden muss. Die Mobilisierungserfolge von tion in Deutschland zu fördern.17 Diese setzt sich zum Ziel, Netzaktivisten haben eindrucksvoll vor Augen geführt, moderne Kommunikationswege für alle öffentlichen Ein- dass durch die neuen Informations- und Kommunikations- richtungen zu etablieren, um damit das Interesse an gesell- technologien (IuK) ganz neue Dimensionen politischer schaftspolitischen Themen und eine direkte Teilhabe der Beteiligung eröffnet werden. Aus Sicht der Politikwissen- Bürgerinnen und Bürger an der Politik zu fördern. Unter 16 Vgl. Glaab (wie Anm. 7). 17 Aktueller Diskussionstand des BMI-Strategiepapiers siehe: http://www.CIO.bund.de/cln_164/DE/E-Government/Nat_%20E- Government/nat_eGovernment_node.html (Stand: 28. 11. 2011). 240 Einsichten und Perspektiven 4 | 11
Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wa ndel der politischen Pa rtizipation in Deutschland anderem soll mit dieser Initiative, die vom Bundesinnenmi- dien belegen, dass es trotz einiger Nutzungsbarrieren eine nisterium (BMI) ausgeht, auch die Internetnutzung durch immer größere Reichweite erlangt. Aktuellen Internet- bislang unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen gefördert Strukturdaten der Forschungsgruppe Wahlen aus 2011 zu- werden. folge nutzen etwa drei Viertel der Bevölkerung in Deutsch- Hierzu wurde 2008 die Internetplattform „e-kon- land das Internet. In Westdeutschland sind 75 Prozent on- sultation.de“ im Auftrag des BMI als neues Konsultations- line, in Ostdeutschland hingegen nur 69 Prozent. Eine Kluft instrument eingerichtet, auch mit dem Ziel, dieses Verfahren besteht weiterhin zwischen der Internetnutzung durch für andere politische Ressorts verfügbar zu machen. Of- Männer (80 Prozent) und Frauen (67 Prozent). Vor allem fensichtlich bevorzugen jedoch die Bürgerinnen und Bürger aber stellt die formale Bildung einen wichtigen Faktor der andere, selbstgesteuerte Foren im Netz und ziehen hier kei- Internetaffinität dar. Während nahezu alle Deutschen mit ne Rückschleife zu Angeboten der offiziellen Politik. Auch Hochschulreife (94 Prozent) und auch 85 Prozent mit versucht das Bundesjugendministerium mit weiteren Ak- Mittlerer Reife das Internet nutzen, tun dies nur 57 Prozent teuren der Jugendpolitik und der Jugendarbeit, im Rahmen derjenigen mit Hauptschulabschluss und Lehre. In der der Umsetzung der EU-Jugendstrategie (2010–2018)18 in Gruppe derjenigen mit Hauptschulabschluss ohne Lehre Deutschland und mittels des „Strukturierten Dialogs“ neue, liegt die Nutzung sogar nur bei 34 Prozent.20 zum Teil online-gestützte Kommunikationsformen mit jugendlichen Zielgruppen zu finden und flankierend über Anwendungen des Web 2.0 und Social Media wie Face- das institutionalisierte, offene EU-Konsultationsverfahren book oder Twitter entfalten eine zusätzliche Dynamik Jugendpartizipation voranzubringen. und haben das Potenzial, auch politikferne Teile der IuK-Technologien werden aber auch und vor allem Bevölkerung zu erreichen. Neue Formen der Versamm- unabhängig von staatlichen Initiativen genutzt. Von beson- lungsöffentlichkeit entwickeln sich in diesen Foren, die derem Interesse ist die Tatsache, dass zivilgesellschaftliche jedoch von jüngeren, „well-informed citizens“ über- Organisationen diese mit wachsendem Erfolg zur internen durchschnittlich genutzt werden. Einige Autoren spre- Organisation sowie zur Mobilisierung und Koordination chen daher davon, dass vor allem eine Informationselite von Protesten nutzen. Schlagworte wie „Cyberaktivismus“, und weniger der „einfache Bürger“ gestärkt werden.21 „E-Aktivismus“ oder „Onlineaktivismus“ verweisen auf Auch eine jüngst veröffentlichte Studie des IfD Allens- diesen Trend. Eine vom Bundesministerium des Innern in bach kommt zu der Feststellung, dass insbesondere die Auftrag gegebene Studie entdeckt im Bereich von Aktivis- Gruppe der politischen Netzaktivisten das Internet als mus, Kampagnen und Lobbying auch die technisch fort- Chance für mehr demokratische Teilhabe begreift.22 schrittlichsten Angebote der E-Partizipation.19 Zu den neueren, rein internetbasierten Aktionsformen zählen zum Nach der Datenlage sind dazu etwa zehn Prozent der Bür- Beispiel die Einrichtung von E-Petitionsplattformen, das ger zu rechnen. Sie werden charakterisiert als eine selbstbe- Lahmlegen von Websites durch gezielte Überlastung oder wusste Minderheit, die meist aus höheren Bildungs- und das Fluten ausgesuchter Adressaten mit E-Mails. Das On- Einkommensschichten stammt, überwiegend männlich ist lineportal „abgeordnetenwatch.de“ steht beispielhaft für und vor allem in der jüngeren Generation der unter 30- Formate, die auf mehr Transparenz im politischen Prozess Jährigen zu finden ist. Die Protestneigung verbindet sich in abzielen. dieser Gruppe mit der Überzeugung, politisch etwas bewir- Das Partizipationspotenzial des Internet resultiert ken zu können. So meinen 60 Prozent, durch das Internet aus der Tatsache, dass es die Interessenartikulation zu gerin- würde der Druck auf die Politik steigen, „bei wichtigen gen Kosten, ortsunabhängig, mit hoher Geschwindigkeit Entscheidungen stärker auf die Meinung der Bevölkerung und prinzipiell unbegrenzter Reichweite ermöglicht. Stu- Rücksicht zu nehmen“.23 18 Siehe: Entschließung des Rats vom 27. November 2009 über einen erneuerten Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa (2010–2018) (2009/C 311/01). 19 Vgl. Hilmar Westhom (u.a.): E-Partizipation – Elektronische Beteiligung von Bevölkerung und Wirtschaft am E-Government. Studie im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, Ref. IT 1., Berlin 2008, S. 7. 20 Vgl. http://www.forschungsgruppe.de/Aktuelles/Internet-Strukturdaten/web_III_11.pdf. (Stand 23.11.2011). 21 So z.B. Matthew Scott Hindman: The Myth of Digital Democracy. Princeton, NJ u.a. 2009. 22 Vgl. Renate Köcher, Oliver Bruttel: Social Media, IT & Society (1. Infosys-Studie), Allensbach 2011. Dabei handelt es sich um eine reprä- sentative Studie, die das Institut für Demoskopie Allensbach (IfD) im Auftrag der IT-Beratung Infosys Limited durchgeführt hat. Diese stützt sich auf 1.906 im Mai 2011 durchgeführte Interviews (Bevölkerung ab 16 Jahre); abrufbar unter: http://www.infosys.com/german/newsroom/press-releases/documents/social-media-it-society2011.pdf; alle in diesem und den folgenden Abschnitten zitierten Daten sind dort zu entnehmen. 23 Vgl. Köcher, Bruttel (wie Anm. 20), hier S. 13. Einsichten und Perspektiven 4 | 11 241
Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wa ndel der politischen Pa rtizipation in Deutschland Mark Zuckerberg (geb. 1984), Gründer von Facebook, im April 2010 Es gibt gute Gründe dafür anzunehmen, dass das Potenzial ist. Aber auch die breite Bevölkerung erkennt zuneh- der E-Partizipation noch nicht ausgeschöpft ist. Dafür mend die Beteiligungschancen, die das Internet eröffnet. spricht nicht nur die Tatsache, dass das Internet mit seinen Die große Mehrheit der Befragten erhofft sich hier- vielfältigen Anwendungen es ermöglicht, sich schnell und durch mehr politische Transparenz und Informationen. ohne größeren Aufwand zu engagieren. Dessen sind sich 56 So würden es 68 Prozent befürworten, wenn die Kom- Prozent der Bevölkerung und 88 Prozent der Netzakti- munalpolitik im Vorfeld von Großprojekten generell visten bewusst. Tatsächlich handelt es sich bei den jungen Internetforen einrichten würde, damit die Bürger die Netzaktivisten um eine Bevölkerungsgruppe, die politisch Möglichkeit der Stellungnahme erhalten. 63 Prozent überdurchschnittlich aktiv ist. Während sich nur 17 Prozent befürworten dasselbe Verfahren bei allgemeinen politi- der Gesamtbevölkerung in den traditionelleren Formen der schen Diskussionen und Gesetzesvorhaben. konventionellen wie auch unkonventionellen politischen Partizipation stark engagieren, sind es der Allensbach-Stu- Die empirischen Forschungen zu diesen Fragen stehen erst die zufolge in der Gruppe der Netzaktivisten 46 Prozent. am Anfang, sodass dieser digitale Zugang als Push-Faktor Sie planen Unterschriftenaktionen ebenso wie Demons- (und im Falle der jungen Generation sicherlich zugleich trationen, sie sind Mitglieder in Parteien und Aktive in auch Pull-Faktor) sowie die zu erwartenden Effekte der E- NGOs. Es zeichnen sich hier Konturen eines Milieus ab, zu Partizipation noch schwer einschätzbar sind. Dennoch hat dem die etablierten Parteien nur schwer Zugang finden – am es den Anschein, dass in Deutschland etwas in Bewegung ehesten gelingt dies noch den Grünen. gekommen ist. Spätestens seit dem Wahlerfolg der Piraten in Berlin haben alle Parteien erkannt, dass sie sich dem The- Der Erfolg der Piratenpartei zeigt hingegen, welches menfeld der E-Partizipation widmen müssen und es auch Partizipationspotenzial in diesem Bereich vorhanden nicht versäumen dürfen, die IuK-Technologien selbst kon- 242 Einsichten und Perspektiven 4 | 11
Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wa ndel der politischen Pa rtizipation in Deutschland Wahlparty der Piratenpartei in Berlin-Kreuzberg am Abend der Senatswahl im September 2011 sequenter zu nutzen. Auch bei der Planung von Großpro- Fazit jekten könnten diese hilfreich sein, z.B. in Form von On- Formen des politischen Aktivismus stehen derzeit im Fokus line-Konsultationen oder zur Unterstützung von Bürgerfo- der öffentlichen Aufmerksamkeit. Tatsächlich nutzen die ren. Dabei gilt es zu beachten: E-Partizipation soll Bürger- Bürgerinnen und Bürger die ihnen zur Verfügung stehen- nähe herstellen, erreicht aber nicht zwangsläufig einen den Partizipationsmöglichkeiten – seien es konventionell- Querschnitt der Bevölkerung. Auch die Allensbach-Studie verfasste oder auch unkonventionell-unverfasste Formen – gelangt zu der Feststellung, dass es in hohem Maße von der je nach Bedarf und Betroffenheit ganz selbstverständlich. persönlichen Betroffenheit sowie dem generellen politi- Allerdings hat die Erweiterung des Partizipationsreper- schen Interesse und Engagement abhängig ist, inwieweit die toires nicht zu einer generellen Zunahme des politischen Bürger von den neuen Möglichkeiten der Information und Engagements geführt. Vor allem im Bereich der elektoralen Mitwirkung Gebrauch machen.24 Vorhandene Partizipati- und parteibezogenen Beteiligung sind in den vergangenen onslücken werden sich also durch E-Partizipation kaum beiden Jahrzehnten rückläufige Tendenzen zu beobachten von selbst schließen. Zudem sollten Legitimationsprobleme gewesen. Nur ein kleiner Teil der politisch Interessierten nicht übersehen werden, die aus den ungleichen Beteili- entscheidet sich für längerfristige Beteiligungsformen, wie gungschancen ressourcenstarker und -schwacher Bevölke- beispielsweise für eine Parteimitgliedschaft. Aber auch bei rungsteile – hier vor allem aufgrund der Nutzungsbarrieren den mehr spontanen, unverfassten Partizipationsformen im Bereich der IuK-Technologien – resultieren. weist der Trend nicht durchweg nach oben. Relevante Teile 24 Vgl. Köcher, Bruttel (wie Anm. 22), hier S. 14. Einsichten und Perspektiven 4 | 11 243
Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wa ndel der politischen Pa rtizipation in Deutschland der Bevölkerung haben sich von der Politik zurückgezogen Der Begriff der „Partizipationseliten“25 mag eine Zuspit- und sind kaum noch zum Wählen oder gar zum zung darstellen, macht aber deutlich, dass sich die besser „Mitmachen“ zu motivieren. Andere engagieren sich direkt gebildeten und beruflich besser gestellten Teile der Bevölke- und mehr oder minder spontan, sind dann aber nicht bereit, rung im traditionellen wie virtuellen Bereich überdurch- die Konsequenzen vor Ort zu tragen, wie manche schnittlich engagieren – und damit auch bessere Chancen Bürgerinitiative, die gegen den Aus- und Aufbau von haben, ihre Anliegen durchzusetzen. In Zeiten der Krise Großanlagen für erneuerbare Energien protestiert. sollte es eher das Ziel aller sein, Lösungsperspektiven zu erarbeiten, um die Energie der „Wutbürger“ in konstruk- Wozu führt also ein solcher politischer Aktivismus? tive Mitwirkung zu leiten und den Dialog zwischen Bürger Dabei geht es um viel grundlegendere Fragen als nur und Politik neu zu denken und weiterzuentwickeln. Protest um die neuesten Erscheinungsformen des Bürgerpro- allein können wir uns nicht leisten. ❚ testes. Zur Debatte gestellt werden muss die Frage, wie das beobachtbare Engagement nachhaltig in der Gesell- Literatur: schaft zu verankern und mit entsprechender politischer Relevanz und Rahmensetzung zu versehen ist. Eine Samuel Barnes u.a.: Schlüsselrolle kommt hier letztlich der politischen Bil- Political Action. Mass Participation in Five Western dung zu, wenn sie im Sinne einer nachhaltigen Stär- Democracies, Beverly Hills (CA) 1979. kung von Partizipation und Förderung von Demokra- tiekompetenz über eine reine Informationsfunktion Jutta Bergmann-Gries: hinaus reicht. Auch in Zeiten eines basisdemokratischen Wutbürger, Parteigänger, Nichtwähler. Was bedeuten sie Aktivismus wäre es falsch, eine solche (notwendige) für die politische Bildung?, in: kursiv. Praxis politische Rückschleife zum Diskurs über bürgergesellschaftliches Bildung („Politische Partizipation“) 2011, H. 4, S. 27–36. Engagement, Selbstregulierungsprozesse und Selbst- verantwortung in der Demokratie zu überspringen. Feldmann-Wojtachnia, Eva et. al. (Hg.): Allerdings muss sich die politische Bildungsarbeit zeit- Youth participation in Finland and Germany. Status gemäß auf ihre neue Aufgabe einrichten, will sie ein dif- Analysis and data based recommendations. Helsinki/ ferenziertes, politisches und soziales Bewusstsein schaf- München 2010. fen und somit die politische Reflexion und konstruktive Neubestimmung von Bürgerengagement anregen. Dieter Fuchs: The Normalization of the Unconventional. Forms of Konkret heißt das auch, in dem Dialog mit den politischen Political Action and New Social Movements, in: Gerd Akteuren zu treten und gemeinsam längerfristige, attrakti- Meyer, Franciszek Ryszka (Hg.): Political Participation ve Partizipationsstrukturen besonders für Jugendliche aus- and Democracy in Poland and West Germany, Warschau zuhandeln. Die sich überstürzenden Nachrichten der 2011, H. 4, S. 148–169. Finanz- und Eurokrise erfordern eine tiefer gehende Diskussion zur gesellschaftlichen Dimension politischer Oscar W. Gabriel: Entscheidungen in Deutschland und Europa. Politisches Politische Partizipation, in: Jan W. van Deth (Hg.): Engagement entsteht nicht von selbst, sondern im Deutschland in Europa. Ergebnisse des European Social Austausch und in der breiten Auseinandersetzung über Survey 2002/2003, Wiesbaden 2011, H. 4, S. 317–338. Identität und Werte in Gesellschaft und Politik. Schließlich kontrastiert eine in vielen Umfragen ermittelte hohe Manuela Glaab: Partizipationsbereitschaft mit einem nur begrenzten tat- Mehr Partizipation wagen? Der Wandel der politischen sächlichen Engagement. Hier tun sich eine Partizipations- Beteiligung und seine Konsequenzen für die deutschen lücke und die Frage nach sozialer Beteiligungsgerechtigkeit Parteien, in: dies. (Hg.): Impulse für eine neue Parteien- auf, die auch durch Formen der E-Partizipation bisher nicht demokratie. Analysen zu Krise und Reform, in: Schriften- geschlossen und beantwortet werden kann. 25 Manuela Glaab: Mehr Partizipation wagen? Der Wandel der politischen Beteiligung und seine Konsequenzen für die deutschen Parteien, in: dies. (Hg.): Impulse für eine neue Parteiendemokratie. Analysen zu Krise und Reform, in: Schriftenreihe der Forschungsgruppe Deutsch- land, Bd. 15, München 2003, S. 126. 244 Einsichten und Perspektiven 4 | 11
Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Zum Wa ndel der politischen Pa rtizipation in Deutschland reihe der Forschungsgruppe Deutschland, Bd. 15, Mün- Dirk Jörke: chen 2003, S. 117–140. Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 1–2, 2011, S. 13–18. Manuela Glaab: Politische Partizipation versus Enthaltung, in: Manuela Dieter Rucht (Hg.): Glaab/Werner Weidenfeld/Michael Weigl (Hg.): Deutsche Protest in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen Kontraste 1990–2010. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – und Entwicklungen, Frankfurt am Main 2001 Kultur, Frankfurt am Main 2010, S. 101–137. Dieter Rucht, Roland Roth: Globalisierungskritische Netzwerke, Kampagnen und Andreas Hadjar, Rolf Becker: Bewegungen, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.): Die Bildungsexpansion und politisches Engagement – Unkon- sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Hand- ventionelle politische Partizipation im Zeitverlauf, in: buch. Frankfurt am Main/New York 2008, S. 493–512. Ingo Bode/Adalbert Evers/Ansgar Klein (Hg.), Bürgergesellschaft als Projekt. Eine Bestandsaufnahme zu Manfred G. Schmidt: Entwicklung und Förderung zivilgesellschaftlicher Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2010. Potenziale in Deutschland, Wiesbaden 2009, S. 101–124. Bernhard Weßels: Matthew Scott Hindman: Politisierung entlang neuer Konfliktlinien?, in: Ansgar The Myth of Digital Democracy. Princeton, NJ u.a. 2009. Klein, Rainer Schmalz-Bruns (Hg.): Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland. Möglichkeiten Max Kaase: und Grenzen, Bonn 1997, S. 205–230. Partizipatorische Revolution – Ende der Parteien?, in: Joachim Raschke (Hg.), Bürger und Parteien. Ansichten Hilmar Westholm u.a.: und Analysen einer schwierigen Beziehung, Bonn 1982, E-Partizipation – Elektronische Beteiligung von Bevölke- S. 173–189. rung und Wirtschaft am E-Government. Studie im Auf- trag des Bundesministeriums des Innern, Ref. IT 1. Berlin Max Kaase: 2008. Vergleichende politische Partizipationsforschung, in: Dirk Berg-Schlosser, Ferdinand Müller-Rommel (Hg.): Verglei- chende Politikwissenschaft 1997, S. 159–174. Renate Köcher, Oliver Bruttel: Social Media, IT & Society (1. Infosys-Studie), Allensbach 2011. Einsichten und Perspektiven 4 | 11 245
W ie steht es mit der Integration? Wie steht es mit der Integration? Personen mit Migrationshintergrund in Bayern1 Von Christian Babka von Gostomski, Afra Gieloff, Martin Kohls, Harald Lederer und Stefan Rühl Karte 1 verdeutlicht den Anteil der Menschen mit Migra- ius-soli-Regelung2 verliert die Unterscheidung nach der tionshintergrund auf Basis des Mikrozensus 2009 an der Nationalität jedoch zunehmend an Aussagekraft. Bevölkerung der Länder, wobei die neuen Länder im Mi- krozensus aus statistischen Gründen als eine Gebietseinheit Der Integrationsstand der Migrantinnen und Migranten ausgewiesen werden. In Hamburg (27,0%), Bremen und ihrer Nachkommen lässt sich so nur noch unzurei- (26,3%), Baden-Württemberg (26,2%), Hessen (24,6%), chend abbilden. Zum einen werden durch die alleinige Ver- Berlin (24,3%) und Nordrhein-Westfalen (24,0%) haben je- wendung der Staatsangehörigkeit eventuell mögliche In- weils rund ein Viertel aller Einwohner einen Migrations- tegrationsprobleme unterschätzt, da Ausländer nur eine hintergrund. Etwa im Bundesdurchschnitt liegen Bayern Teilgruppe der durch internationale Wanderungen gepräg- (19,2%), Rheinland-Pfalz (18,5%) und das Saarland ten Bevölkerung darstellen. Zum anderen werden aber auch (17,3%). Unterdurchschnittliche Anteile von unter 17% Integrationserfolge von Migrantinnen und Migranten un- sind in Niedersachsen (16,6%), Schleswig-Holstein terschätzt, wenn erfolgreiche Personen mit Migrationshin- (12,6%) und vor allem in den neuen Ländern (4,7%) zu tergrund in den Statistiken nicht der Gruppe der Ausländer, verzeichnen. sondern der Gruppe der Deutschen zugeordnet werden.3 Als Folge dieser Defizite der amtlichen Statistiken hat das Die amtlichen Statistiken in Deutschland zu soziode- Statistische Bundesamt im Jahr 2005 mit einem entspre- mographischen und sozialstrukturellen Themenberei- chenden Fragenprogramm das Konzept der „Bevölkerung chen (z.B. Bevölkerungs-, Bildungs-, Arbeitsmarkt- mit Migrationshintergrund“ in den Mikrozensus einge- statistik) unterschieden bis vor wenigen Jahren in aller führt. Regel nur zwischen Deutschen und Ausländern. Der Beitrag wendet sich im Folgenden zunächst Aufgrund von Einbürgerungen, der Vielfalt des Migra- kurz dem Begriff der Integration zu. Anschließend folgen tionsgeschehens und der seit dem Jahr 2000 geltenden Ausführungen zur Bevölkerung mit und ohne Migrations- 1 Der Artikel gibt die persönliche Ansicht der Autoren wieder. 2 ius soli meint das Prinzip, nach dem ein Staat seine Staatsbürgerschaft an alle Kinder verleiht, die auf seinem Staatsgebiet geboren werden. Mit der Staatsangehörigkeitsreform 2000 wurden mit dem sogenannten „Optionsmodell“ Elemente des ius soli für die zweite Einwanderer- generation eingeführt, bei dem bis zur Volljährigkeit eine doppelte Staatsbürgerschaft besteht und sich die Person dann in der Regel bis zum 23. Lebensjahr für eine Staatsbürgerschaft entscheiden muss. 3 Kurt Salentin, Frank Wilkening: Ausländer, Eingebürgerte und das Problem einer realistischen Zuwanderer-Integrationsbilanz, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 55 (2003), H. 2, S. 278-298, hier S. 294. 246 Einsichten und Perspektiven 4 | 11
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