Afrikas demografische Vorreiter - Wie sinkende Kinderzahlen Entwicklung beschleunigen - Berlin-Institut für ...

 
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Berlin-Institut          für Bevölkerung
                                                                                                                     und Entwicklung

            Afrikas
            demografische
            Vorreiter
            Wie sinkende Kinderzahlen
            Entwicklung beschleunigen

swachstum in Afrika südlich der Sahara +++ regionale Vorreiter zeigen wirksame Maßnahmen +++ Tunesien bleibt Vorbild bei Frauenrechten +++ demog
dungschancen für Mädchen steigen +++ ohne Jobs keine Dividende +++ Werbung für Kondome in Botsuana erfolgreich +++ Wandel der Altersstruktur er
Über das Berlin-Institut

Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist ein unabhängiger Thinktank, der
sich mit Fragen regionaler und globaler demografischer Veränderungen beschäftigt. Das
Institut wurde 2000 als gemeinnützige Stiftung gegründet und hat die Aufgabe, das
Bewusstsein für den demografischen Wandel zu schärfen, nachhaltige Entwicklung zu
fördern, neue Ideen in die Politik einzubringen und Konzepte zur Lösung d
                                                                        ­ emografischer
und entwicklungspolitischer Probleme zu erarbeiten.

In seinen Studien, Diskussions- und Hintergrundpapieren bereitet das Berlin-Institut
wissenschaftliche Informationen für den politischen Entscheidungsprozess auf.

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Afrikas demografische
Vorreiter
Wie sinkende Kinderzahlen Entwicklung beschleunigen
Impressum

Originalausgabe
Juni 2019

© Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugs­
weise Verwertung bleibt vorbehalten.

Herausgegeben von
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Schillerstraße 59
10627 Berlin
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Design und Layout: Jörg Scholz (www.traktorimnetz.de)
Druck: Laserline Berlin

Einige thematische Landkarten wurden auf Grundlage des Programms
EasyMap der Lutum+Tappert DV-Beratung GmbH, Bonn, erstellt.

ISBN: 978-3-946332-46-6

Die Autoren:

Alisa Kaps, 1991, Masterstudium in Wirtschafts- und Sozialgeografie
an der Universität Salzburg. Ressortleiterin Internationale ­Demografie
am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.

Ann-Kathrin Schewe, 1992, Masterstudium Internationale Entwick-
lung und BWL an der Sciences Po Paris und der Stockholm School of
Economics. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berlin-Institut für
Bevölkerung und Entwicklung.

Dr. Reiner Klingholz, 1953, Promotion im Fachbereich Chemie an der
Universität Hamburg, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung
und Entwicklung.

Das Berlin-Institut dankt dem Auswärtigen Amt für die Finanzierung
des Projekts. Für den Inhalt der Studie trägt das Berlin-Institut die
alleinige Verantwortung.
INHALT
VORWORT...........................................................................................................................4

DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE...............................................................................................5

1. WARUM AFRIKAS BEVÖLKERUNG SO STARK WÄCHST –
   UND WIE SICH DAS BEEINFLUSSEN LÄSST.....................................................................6

2. AFRIKAS VORREITER IN SACHEN BEVÖLKERUNGSWANDEL.........................................16
2.1 ÄTHIOPIEN.........................................................................................................................................17
2.2 KENIA................................................................................................................................................. 20
2.3 BOTSUANA.........................................................................................................................................22
2.4 GHANA...............................................................................................................................................25
2.5 SENEGAL............................................................................................................................................27
2.6 MAROKKO.........................................................................................................................................30
2.7 TUNESIEN..........................................................................................................................................32

3. AUS ERFAHRUNGEN LERNEN UND NEUE MÖGLICHKEITEN NUTZEN.............................35
3.1 GESUNDHEIT.................................................................................................................................... 36
3.2 BILDUNG ...........................................................................................................................................41
3.3 EINKOMMEN UND JOBS..................................................................................................................44
3.4 WILLE ZUM WANDEL...................................................................................................................... 45

4. WAS TUN?.....................................................................................................................47

QUELLEN.......................................................................................................................... 50
WENN WENIGER MEHR
BEDEUTET
Die Frage, wie viele Kinder die Menschen be-      Während die weit entwickelten Staaten des       ländern aufsteigen. Dieser Weg zeichnet sich
kommen, wie groß ihre Familien sind und wie       Nordens einigen Nachholbedarf in Sachen         jetzt auch in den ersten afrikanischen Län-
stark sich letztlich eine ganze Bevölkerung       Produktionsweisen und Konsumgewohnhei-          dern ab. Es lohnt sich die politischen, sozia-
vermehrt, berührt sensible Themen. Kein           ten haben, beginnen sich die Staaten in Afri-   len und wirtschaftlichen Rahmenbedingun-
Individuum und kein Land schätzen es, wenn        ka vermehrt mit der Frage des eigenen Be-       gen dieser Entwicklung genauer zu betrach-
sich Kräfte von außen bei derartigen Überle-      völkerungswachstums zu beschäftigen. Die        ten, denn aus diesen Länderbeispielen lässt
gungen und Entscheidungen einmischen. Das         Region galt lange als dünn besiedelt, weshalb   sich viel lernen und sie können Vorbilder für
Recht auf reproduktive Selbstbestimmung           mehr Menschen als Vorteil zu sehen waren,       andere Länder des Kontinents sein.
gehört für die Vereinten Nationen zu den          denn sie bedeuten mehr Produktivkräfte,
universellen Grundrechten und zu den Zielen       mehr Konsumenten und dadurch wirtschaft-        Über die Frage, wie sich hohes Bevölkerungs-
einer menschenrechtsbasierten Politik.            liches Wachstum. Aber mittlerweile ist klar,    wachstum demokratisch und menschen­
                                                  dass eine Entwicklung vieler Länder durch       würdig reduzieren lässt, sollte offen, klar
Trotzdem ist die Frage, ob und wie stark eine     den Zuwachs an Bewohnern immer weiter           und pragmatisch gesprochen werden, vor
Bevölkerung wächst, nicht nur ein privates,       erschwert wird. Wo es schwieriger wird, die     allem dann, wenn dies zu einer Verbesserung
sondern auch ein gesellschaftliches Thema.        Versorgung der Menschen mit dem Nötigsten       der Lebensbedingungen in den betroffenen
Hohe Kinderzahlen und ein starkes Bevöl-          zu garantieren, wächst die Gefahr von sozia-    Staaten führen kann. Zugegeben, das Thema
kerungswachstum werden dann zu einem              len Konflikten.                                 ist heikel. Es ist in vielen Gesprächsrunden
­nationalen Problem, wenn die Zahl der Men-                                                       der „Elefant im Raum“, also das Problem, das
 schen deutlich schneller zunimmt als die Zahl                                                    jeder kennt, aber keiner beim Namen nennt.
 der Arbeitsplätze und die Möglichkeit für alle   Sinkende Kinderzahlen sind die                  Dies ist nicht im Sinne einer nachhaltigen
 die notwendige Infrastruktur in Form von Ge-     ­Voraussetzung für und die Folge von            Entwicklung.
 sundheitsdiensten, Schulen oder Wohnraum          Entwicklung
 zu schaffen. Ohnehin kann anhaltendes Be-                                                        Die vorliegende Studie beschreibt, in welcher
 völkerungswachstum auf einem begrenzten          Die Erfahrungen aus anderen Ländern, die        Form einige Regierungen Afrikas mit diesen
 Planeten genauso wenig funktionieren wie         sich aus der Armut herausgearbeitet haben,      Fragen umgehen, welche Instrumente sie
 eine Lebensweise, welche die Grundlagen der      etwa in Asien oder Lateinamerika, zeigen,       nutzen, um direkt oder indirekt das Bevölke-
 menschlichen Existenz gefährdet. Genau des-      dass sich mit sinkenden Kinderzahlen die        rungswachstum in ihren Ländern zu beein-
 halb heißt es schon 1992 in der Erklärung der    Chance auf einen Entwicklungsschub ergibt,      flussen, und welche Erfolge sie dabei haben.
 UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung         der den vielen jungen Menschen neue Pers-       Nachahmung erwünscht.
 in Rio de Janeiro in Grundsatz 8, die Staaten    pektiven eröffnet und eine Dynamik in Gang
 sollten „nicht nachhaltige Produktionsweisen     setzen kann, die breiten Teilen der Bevöl-
 und Konsumgewohnheiten abbauen und               kerung zu einem höheren Lebensstandard          Berlin, im Juni 2019
 beseitigen und eine geeignete Bevölkerungs-      verhilft. Länder, denen dies gelingt, fahren
 politik fördern“.                                eine „demografische Dividende“ ein. Aber        Reiner Klingholz
                                                  möglich wird dies nur, wenn sich zuvor das      Direktor
                                                  Bevölkerungswachstum durch rückläufige          Berlin-Institut für Bevölkerung
                                                  Geburtenziffern verlangsamt.                    und Entwicklung

                                                  Viele Länder Asiens, die einst wenig Hoff-
                                                  nungen auf eine positive Entwicklung hatten,
                                                  konnten von der demografischen Dividende
                                                  profitieren und zu Schwellen- und Industrie­

4 Afrikas demografische Vorreiter
DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE
Nirgendwo sonst auf der Welt wächst die Be-       sich gerade dorthin bewegen. Im Osten des          tischen Lehren, die Entscheider vor Ort und
völkerung so rasch wie in Afrika. Bis zur Mitte   Kontinents trifft das auf Kenia und Äthiopien      deren Unterstüt­zer aus den Beispielen für
des Jahrhunderts dürften auf dem Kontinent        zu, im Süden auf Botsuana, im Westen auf           erfolgreiche Politiken und Maßnahmen zie-
2,5 Milliarden Menschen leben – fast doppelt      Ghana und Senegal sowie im Norden auf              hen können.
so viele wie heute. Der schnelle Zuwachs          Tunesien und Marokko. Die Auswahl der nä-
an Einwohnern birgt für die afrikanischen         her betrachteten Staaten erfolgte anhand der       Die internationale Staatengemeinschaft sollte
Staaten enorme Herausforderungen. Denn            Entwicklung wichtiger sozioökonomischer Pa-        die afrikanischen Länder gezielter dabei
das Mehr an Menschen muss künftig nicht           rameter, die nachweislich direkt oder indirekt     unterstützen, Maßnahmen in den Kernent-
nur mit Nahrungsmitteln, Gesundheits- und         zu sinkenden Kinderzahlen beitragen. Dazu          wicklungsbereichen Gesundheit, Bildung
Bildungsdienstleistungen versorgt werden,         gehören vor allem die Kindersterblichkeit,         und Arbeitsplätze voranzubringen, um damit
sondern auch die Möglichkeit haben, einen         der Bildungsstand – insbesondere bei Frau-         die Wirtschaft zu befördern und die Gebur-
Arbeitsplatz zu finden und ein auskömmliches      en – sowie die Einkommen, gemessen an den          tenziffern sinken zu lassen. Weil das Bevöl-
Einkommen zu erzielen – Aufgaben, die viele       Armutsraten. Daneben haben wir Indikatoren         kerungswachstum die Fragen von Stabilität,
Staaten Afrikas schon heute überfordern.          zur Gleichberechtigung und Urbanisierung he-       Regierbarkeit, Krisenprävention, irregulärer
Grund für das hohe Bevölkerungswachstum           rangezogen, sowie gesellschaftliche Normen         Migration sowie gerechter und nachhaltiger
sind vor allem die anhaltend hohen Kinder-        und das politische Engagement der Regie­           Entwicklung tangiert, ist es auch ein Thema
zahlen, die noch dazu einen Wandel der            rungen für Familienplanung ­berücksichtigt.        für die deutsche Außenpolitik. Daher sollte
Altersstruktur verhindern, aus der sich ein                                                          die Bundesregierung unter anderem
Entwicklungsschub ergeben könnte wie ihn          Die Länderkapitel zeigen, dass es bereits posi-
etwa asiatische Staaten erlebt haben. Die         tive Beispiele für eine erfolgreiche Demogra-       die Thematik des Bevölkerungswachstums
Altersstruktur des „demografischen Bonus“         fiepolitik in Afrika gibt und das in Staaten mit    stärker ins Zentrum der außen- und ent-
liegt für die meisten Länder Afrikas in weiter    ganz unterschiedlichen geschichtlichen und          wicklungspolitischen Beziehungen mit dem
Ferne. Um Entwicklungsfortschritte zu ma-         kulturellen Hintergründen. Jene Länder, die in      afrikanischen Kontinent rücken und sach­
chen und den Bonus in eine „demografische         ihrer demografischen Entwicklung weniger            liche Diskussionen darüber auf internatio-
Dividende“ umzuwandeln, müsste sich der           weit fortgeschritten sind, haben deshalb            nalem Parkett salonfähig machen;
Rückgang der Fertilitätsraten1 in Afrika drin-    einen entscheidenden Vorteil: Sie können auf
gend beschleunigen.                               das verfügbare Wissen über die wesentlichen         sich bei Internationalen Organisationen
                                                  Einflussfaktoren für sinkende Kinderzahlen          wie der Weltbank und dem IWF dafür ein-
                                                  zurückgreifen und daraus bevölkerungspoliti-        setzen, dass Missverständnisse rund um
Von regionalen Vorreitern lernen                  sche Maßnahmen ableiten. Eine Sammlung an           die demografische Dividende aus dem Weg
                                                  Praxisbeispielen gibt einen Überblick, wo und       geräumt werden, vor allem jenes, wonach
Von „Afrikas demografischer Entwicklung“ zu       mit welchen Maßnahmen dies bereits gelingt.         sich diese ohne sinkende Kinderzahlen
sprechen ist angesichts der enormen Vielfalt                                                          realisieren lässt;
auf dem Kontinent allerdings schwierig. Denn                                                          in der EU sowie auf internationalen Foren
sowohl beim Niveau der Geburtenziffern, als       Was zu tun ist                                      eine ehrliche und faktenbasierte Diskussion
auch bei den Fortschritten einzelner Länder                                                           über die Potenziale und Risiken der demo-
im demografischen Übergang gibt es eine           Die Verantwortung dafür, dass die Weichen           grafischen Entwicklung in Afrika anregen
große Spannbreite. Das wirft die Frage auf,       für einen sozioökonomischen Aufstieg gestellt       und Politikmaßnahmen entsprechend
warum es diese Unterschiede gibt und welche       werden, liegt vor allem in den Händen der           ­ausrichten;
Einflussfaktoren vor Ort dafür verantwortlich     ­afrikanischen Regierungen und Gesellschaf-
sind.                                              ten. Sie können die demografische Zukunft          den Austausch über Lehren und erfolg­
                                                   ihrer Länder teilweise steuern. Diese Studie       reiche Interventionen zwischen afrika­
Die vorliegende Studie wirft einen genaueren       soll zu einer informierten und sachlichen          nischen Staaten fördern, die unterschied-
Blick auf sieben regionale Vorreiter – also auf    ­Diskussion über die Chancen und Heraus-           lich weit im demografischen Übergang
Länder, die entweder schon eine vergleichs-         forderungen des Bevölkerungswachstums             vorangeschritten sind und deshalb vonein-
weise niedrige Fertilitätsrate aufweisen oder       in Afrika beitragen. Dazu gehören die prak-       ander lernen können.

                                                                                                                                    Berlin-Institut 5
1  WARUM AFRIKAS
   BEVÖLKERUNG SO STARK
WÄCHST – UND WIE SICH
DAS BEEINFLUSSEN LÄSST
Seit 1950 hat sich Afrikas Bevölkerung mehr       Mehr Menschen, endliche Ressourcen                 Mangelnde Bildung und fehlende Einkom­
als verfünffacht. Ein Ende des Wachstums                                                             mensmöglichkeiten hemmen die wirtschaft­
ist, anders als im Rest der Welt, noch nicht in   Dieser Zusammenhang lässt sich in Afrika           liche Entwicklung und erschweren dadurch
Sicht. Bis zur Mitte des Jahrhunderts dürfte      allerdings nicht beobachten, vielmehr ver­         den Weg aus der Armutsfalle. Da das vor­
die Zahl der Afrikaner von heute 1,3 auf 2,5      schärft das hohe Bevölkerungswachstum              handene Wirtschaftswachstum auf immer
Milliarden Menschen ansteigen, sich also fast     viele jener Probleme, denen sich der Konti­        mehr Köpfe verteilt werden muss, sind die
verdoppeln. Damit dürfte über die Hälfte des      nent ohnehin gegenüber sieht. Schon heute          Wohlstandsgewinne mäßig oder bleiben
weltweiten Bevölkerungszuwachses in den           ist die Mehrzahl der Staaten – insbesondere        gänzlich aus. Die Folge: 40 Prozent der
kommenden 30 Jahren auf Afrika entfallen.         jene südlich der Sahara – kaum in der Lage,        Menschen in den Ländern südlich der Sahara
Während heute weniger als ein Fünftel der         die erforderliche Gesundheits- und Bildungs­       müssen täglich mit weniger als umgerechnet
Weltbevölkerung auf dem Kontinent lebt,           infrastruktur für die Menschen bereitzustel­       zwei US-Dollar auskommen und leben damit
dürfte es bis 2050 schon mehr als ein Viertel     len, geschweige denn genügend Jobs, die            unterhalb der von der Weltbank definierten
sein.1                                            ein auskömmliches Leben ermöglichen. Das           Armutsgrenze.8 Geringe Lebensperspektiven
                                                  dürfte sich in absehbarer Zeit kaum ändern:        aber bedeuten überall in den Entwicklungs­
Das Bevölkerungswachstum Afrikas war lange        Noch immer können über 37 Millionen Grund­         ländern hohe Kinderzahlen und anhaltendes
Zeit kein Thema von großer Bedeutung, denn        schulkinder in Afrika nicht zur Schule gehen       Bevölkerungswachstum. Der Problemkreis­
die Region galt als dünn besiedelt. 1950          und mit jedem Jahr wird die Gruppe der             lauf beschleunigt sich damit aus sich selbst
lebten dort rund 230 Millionen Menschen,          Kinder, die eingeschult werden sollten, um         heraus.
gerade mal 8 auf einem Quadratkilometer.2         rund 5 Millionen größer.4, 5 Selbst wenn sie ihr
Da sowohl die Zahl günstiger Arbeitskräfte        Recht auf Bildung einlösen können und eine         Weil lebenswichtige Ressourcen wie Wasser
als auch die Größe der lokalen Absatz­            Schule erfolgreich abschließen, wartet auf         oder Ackerland nicht mit der Einwohnerzahl
märkte begrenzt war, schienen ausländische        sie die nächste kritische Situation: Aktuell       mitwachsen, häufen sich Spannungen und
­Investitionen nach dem Ende der Kolonialzeit     wird die Gruppe der jungen Erwerbsfähigen          Verteilungskonflikte. Der Klimawandel dürfte
 aus unternehmerischer Sicht wenig lohnend.       ­zwischen 15 und 35 Jahren jährlich um             dies künftig weiter befeuern und immer mehr
 Asien, wo schon 1970 mit 2,1 Milliarden Men­      zehn bis zwölf Millionen Menschen größer.         Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu
 schen deutlich über die Hälfte der Weltbevöl­     Allerdings werden auf dem gesamten afri­          verlassen. Ebenso dürften mangelnde Zu­
 kerung lebte, bot andere Renditechancen und       kanischen Kontinent pro Jahr nur etwa drei        kunftsperspektiven Afrikas Jugend häufiger
 war wesentlich interessanter.3                    Millionen formale Arbeitsplätze geschaffen.6, 7   dazu bewegen, sich anderenorts auf die Su­
                                                                                                     che nach besseren Lebensmöglichkeiten zu
Zudem ist ein starkes Bevölkerungswachstum                                                           machen. Ihr Weg führt sie in die ausufernden
per se kein Problem. Solange sich das Mehr an                                                        Megastädte, in andere afrikanische Länder
Menschen versorgen lässt, mit den notwendi­                                                          und in vergleichsweise geringem Ausmaß bis
gen Dienstleistungen und vor allem mit Ar­                                                           nach Europa.
beitsplätzen, trägt es zum Wirtschaftswachs­
tum und zur Wohlstandsmehrung bei. Dann
bedeuten mehr Menschen mehr Produzenten,
mehr Konsumenten und mehr Innovatoren.

6 Afrikas demografische Vorreiter
Wenn weniger Kinder sterben, werden               Von hohen zu niedrigen Sterbe- und Geburtenraten
auch weniger geboren
                                                  Wo auch immer Kinder bessere Überlebenschancen haben, entscheiden sich Eltern ein bis zwei G  ­ enerationen
                                                  später für weniger Nachwuchs. Dieser Zusammenhang zwischen sinkender Kindersterblichkeit und rück-
Ob sich die Lebensbedingungen der Men-
                                                  läufigen Kinderzahlen lässt sich in allen Ländern weltweit im Zuge ihrer demografischen Transformation
schen in Afrika künftig verbessern, ist eng da-   ­beobachten.
ran geknüpft wie rasch die dortigen Staaten
den demografischen Übergang vollziehen.           Todesfälle je 1.000                                                                                   Kinder
Dieses Modell kann als einzige ökonomische        Lebendgeburten                                                                                        je Frau
Theorie den Entwicklungsweg aller Nationen        350                                                                                                           7
von einer vorindustriellen Lebensweise hin
zu einer modernen Gesellschaft beschreiben.       300                                                                                                           6
Der Übergang beginnt in einer Phase, in
der die Menschen viele Kinder haben, aber         250                                                                                                           5
aufgrund begrenzter Lebensbedingungen
auch viele Personen jeden Alters sterben.         200                                                                                                           4
Solange sich Geburten- und Sterbeziffern
                                                  150                                                                                                           3
einigermaßen die Waage halten, wächst die
Bevölkerung nicht oder kaum. Erst wenn sich       100                                                                                                           2
die Versorgung mit Nahrungsmitteln verbes-
sert und erste Errungenschaften von Hygiene        50                                                                                                           1
und Medizin die Lebensbedingungen verbes-               Südkorea                          Brasilien                          Bangladesch
sern, sinkt in Phase 2 die Sterblichkeit – ins-     0                                                                                                           0
besondere von Kindern und Müttern – und
                                                        1950– 1955
                                                        1955– 1960
                                                        1960– 1965
                                                        1965– 1970
                                                        1970– 197 5
                                                        1975– 1980
                                                        1980– 1985
                                                        1985– 1990
                                                        1990– 1995
                                                        1995– 2000
                                                        2000– 2005
                                                        2005– 2010
                                                        2010– 201 5

                                                                                         1950– 1955
                                                                                         1955– 1960
                                                                                         1960– 1965
                                                                                         1965– 1970
                                                                                         1970– 197 5
                                                                                         1975– 1980
                                                                                         1980– 1985
                                                                                         1985– 1990
                                                                                         1990– 1995
                                                                                         1995– 2000
                                                                                         2000– 2005
                                                                                         2005– 2010
                                                                                         2010– 201 5

                                                                                                                            1950– 1955
                                                                                                                            1955– 1960
                                                                                                                            1960– 1965
                                                                                                                            1965– 1970
                                                                                                                            1970– 197 5
                                                                                                                            1975– 1980
                                                                                                                            1980– 1985
                                                                                                                            1985– 1990
                                                                                                                            1990– 1995
                                                                                                                            1995– 2000
                                                                                                                            2000– 2005
                                                                                                                            2005– 2010
                                                                                                                            2010– 201 5
die mittlere Lebenserwartung steigt. Weil
die Geburtenziffern zunächst auf dem alten,
hohen Niveau bleiben oder nur geringfügig
zurückgehen, wächst die Bevölkerung unter
diesen Bedingungen stark.                         Entwicklung von Kindersterblichkeit (Todesfälle bei unter Fünfjährigen je 1.000 Lebendgeburten)
                                                  und Geburtenziffer (durchschnittliche Kinderzahl je Frau), 1950 bis 2015
Nach den Mortalitätsraten sinken der Theorie      (Datengrundlage: UNDESA10)
nach zeitversetzt auch die Fertilitätsraten
(Phase 3) – und zwar immer in dieser Reihen-
folge. Dies jedenfalls war in allen Ländern,      Während die Sterblichkeit sinkt, schreitet              Langsamer Fertilitätsrückgang
die in ihrer demografischen Entwicklung den       in der Regel jene sozioökonomische Ent-
afrikanischen Ländern voraus sind, der Fall.      wicklung, die dazu geführt hat, dass mehr               Mit Ausnahme der vergleichsweise weit
Denn der Rückgang der Kindersterblichkeit         Menschen überleben, weiter voran: Die                   entwickelten Staaten im Norden und Süden
ist eine notwendige (aber keine hinreichende)     Gesundheitsversorgung verbessert sich                   Afrikas befinden sich die meisten Länder
Voraussetzung dafür, dass sich die Menschen       weiter, Schulen und Universitäten bieten                des afrikanischen Kontinents noch in
für weniger Nachwuchs entscheiden. Weil sie       neue Bildungsmöglichkeiten, es entstehen                Phase 2 oder am Anfang von Phase 3 des
eine Weile brauchen, um zu realisieren, dass      formale Arbeitsplätze und Frauen erlangen               demografischen Transformationsprozesses.
mehr Kinder überleben, als sie eigentlich         mehr Rechte. Diese Prozesse eröffnen den                Nahrungsmittelimporte, Notfallhilfen und
erwartet haben, dauert es etwa ein bis zwei       Menschen neue Perspektiven und eine indivi-             eine verbesserte gesundheitliche Versorgung
Generationen, bis sie beginnen die Größe          duellere Lebensplanung. Überall, wo dies ge-            haben zwar die Kindersterblichkeit deutlich
ihrer Familien zu planen und mit geeigneten       schah, sind die Geburtenziffern zurückgegan-            reduziert – auch in wenig entwickelten Län-
Mitteln und Möglichkeiten zu begrenzen.9 10       gen. Entsprechend verlangsamt sich in dieser            dern wie Tschad, der Zentralafrikanischen
                                                  dritten Phase des demografischen Übergangs              Republik und Sierra Leone.11 Die anschlie-
                                                  das Bevölkerungswachstum. Es klingt aus                 ßend notwendigen sozioökonomischen
                                                  in Phase 4, wenn die Geburtenrate auf das               Fortschritte schreiten in Afrika bislang aber
                                                  Niveau der Sterberate gesunken ist. Soweit              kaum voran. Vielerorts fehlen den Menschen
                                                  die Theorie beziehungsweise die Erfahrung
                                                  aus den weiter entwickelten Staaten.

                                                                                                                                               Berlin-Institut 7
die Perspektiven für ein selbstbestimmtes               Noch immer hohe Nachwuchszahlen
Leben, weshalb die dortigen Staaten nur sehr
langsam in und durch die dritte Phase des               Nirgendwo sonst auf der Welt liegen die durchschnitt-
                                                        lichen Kinderzahlen höher als in Afrika. In über 25
demografischen Übergangs kommen. Die                    Prozent der afrikanischen Staaten bekommen Frauen
Kinderzahlen verharren dementsprechend                  im Schnitt mehr als fünf Kinder. In Niger, sind es
auf einem hohen Niveau: Zwar sind auch                  sogar mehr als sieben Kinder pro Frau. Die hohen
in Afrika die Geburtenziffern in den letzten            Nachwuchszahlen bescheren dem Kontinent ein
beiden Jahrzehnten gesunken, doch mit                   rasantes Bevölkerungswachstum. Bis 2050 dürften
durchschnittlich 4,4 Kindern bringen Afrika-            mit Nigeria, Äthiopien und der Demokratischen
                                                        Republik Kongo drei afrikanische Länder in die „Top
nerinnen heute im Schnitt noch fast doppelt
                                                        Ten“ der bevölkerungsreichsten Staaten weltweit
so viel Nachwuchs zur Welt, wie Frauen in               aufgestiegen sein.17
anderen Teilen der Welt.12

Insgesamt sinken die Geburtenziffern in
Afrika bislang deutlich langsamer als zuvor             Große regionale Unterschiede
in anderen Weltregionen.13 Während in Asien
die Geburtenziffer zwischen 1965 und 1985               Der Blick auf die afrikanischen Durchschnitts-             Durchschnittliche
von 5,7 auf 3,5 Kinder pro Frau gesunken                werte verschleiert jedoch die große Spann-                 ­Kinderzahl je Frau, 2018
ist – ein Rückgang um 40 Prozent –, sank                breite, die es in Sachen demografischer                        unter 1,5
sie in Afrika nicht nur 20 bis 30 Jahre spä-            Entwicklung auf dem Kontinent gibt. An                         1,5 bis unter 2
ter sondern auch nur um gerade einmal 17                einem Ende des Spektrums stehen hoch ent-                      2 bis unter 3
Prozent.14 Selbst die Vereinten Nationen                wickelte Inselstaaten wie Mauritius und die                    3 bis unter 4
waren von dieser schleppenden Entwick-                  ­Seychellen, sowie weiter entwickelte Länder
                                                                                                                       4 bis unter 5
lung immer wieder überrascht und mussten                 im Norden und Süden wie Südafrika oder
                                                                                                                       5 bis unter 6
dementsprechend ihre Vorausberechnungen                  Tunesien. Hier liegen die Geburtenziffern bei
                                                                                                                       6 und mehr
zum Bevölkerungswachstum in Afrika in der                unter 3 Kindern pro Frau – in ­Mauritius sogar
jüngeren Vergangenheit mehrfach nach oben                bei 1,4 Kindern – und sie dürften nach den                (Datengrundlage: PRB 16)
korrigieren.15 16 17

Der Weg durch den demografischen                                                                                                       USA
Übergang                                                                                                                                                     Bevölkerung
                                                                                                                                             China
Im Zuge ihrer sozioökonomischen Entwicklung                                                                 Tunesien                                 Deutschland
durchlaufen alle Länder der Welt den demografischen
Übergang – wenn auch zeitversetzt und mit unter-                                                       Ghana
schiedlichen Geschwindigkeiten. Durch die Verbes-
serung der Lebensbedingungen sinkt dabei zunächst                                                    Äthiopien
die Sterbe- und zeitversetzt die Geburtenrate. In
                                                                                      Senegal
der Zwischenzeit wächst die Bevölkerung stark.
In Phase 4 pendeln sich schließlich Geburten- und
Sterberate auf einem niedrigeren Niveau ein und
das Bevölkerungswachstum kommt zum Erliegen.                                                 Niger
Abgesehen von einigen süd- und nordafrikanischen
Staaten stehen die Länder auf dem afrikanischen                                                                                                              Sterberate
Kontinent überwiegend noch am Anfang dieser Ent-
wicklung: Da die Kindersterblichkeit bereits deutlich
gesunken ist, die Fertilitätsraten aber auf einem                                                                                                            Geburtenrate
hohen Niveau verharren, erlebt Afrika ein rasantes             Phase 1             Phase 2               Phase 3                   Phase 4               Phase 5
­Bevölkerungswachstum.

                                                        Schematische Darstellung der Entwicklung von Geburten- und Sterberate
                                                        sowie der Gesamtbevölkerung in Abwesenheit von Migration
                                                        (eigene Darstellung)

8 Afrikas demografische Vorreiter
Prognosen der Vereinten Nationen bis 2020
                                                                                                               weiter sinken.18 In ihrer demografischen Ent-
                                                                                                               wicklung sind diese Staaten also vergleichs-
                                                                                                               weise weit vorangeschritten und erfahren
                                                                                                               dementsprechend nur noch ein geringes
                                                                                                               Bevölkerungswachstum.

                                                                                                               Einige Länder – insbesondere in Ostafrika –
                                                                                                               erleben aktuell einen raschen Rückgang ihrer
                                                                                                               Fertilitätsraten. In Ruanda etwa sind die
                                                                                                               Kinderzahlen seit 1990 von 6,5 auf etwa 4
                                                                                                               gesunken, in Äthiopien im gleichen ­Zeitraum
                                                                                                               sogar von über 7 Kindern pro Frau auf einen
                                                                                                               ähnlichen Wert. Deutlich weniger bis gar
                                                                                                               keine Fortschritte lassen sich dagegen in
                                                                                                               den meisten west- und zentralafrikanischen
                                                                                                               Staaten beobachten, wo die Geburtenziffern
                                                                                                               im Schnitt noch immer bei 5,2 respektive 5,5
                                                                                                               Kindern pro Frau liegen.19 In einigen Ländern
                                                                                                               – darunter Angola, Mali und Tschad – sind
                                                                                                               die Veränderungen bei der Geburtenziffer
                                                                                                               bislang so gering, dass Experten anzweifeln,
                                                                                                               dass der sozioökonomische und demogra-
                                                                                                               fische Wandel hier tatsächlich schon einge-
                                                                                                               setzt hat.20 21

Spät und langsam                                       Kinder je Frau
                                                       7
Beim Fertilitätsrückgang hinkt Afrika anderen Welt-
regionen bislang deutlich hinterher. Während Staaten          Lateinamerika und Karibik               Afrika
                                                       6
in Lateinamerika und Asien zwischen 1960 und 1980
einen rasanten Rückgang der Kinderzahlen erlebten,            Asien
begannen diese in Afrika erst 20 bis 30 Jahre später   5
und mit einer deutlich niedrigeren Geschwindigkeit
                                                              Ozeanien
zu sinken. Mit über vier Kindern pro Frau liegt die    4
durchschnittliche Geburtenziffer in Afrika heute auf
dem Niveau, das asiatische und lateinamerikanische            Nordamerika
                                                       3
Staaten bereits in den 1970er Jahren aufwiesen.
                                                              Europa
                                                       2

                                                        1

                                                       0
                                                            1950 – 1955– 1960– 1965– 1970– 1975– 1980– 1985– 1990– 1995– 2000– 2005– 2010– 2015–
                                                            1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020

                                                       Durchschnittliche Kinderzahl je Frau in unterschiedlichen Weltregionen, 1950 bis 2015
                                                       (Datengrundlage: UNDESA21)

                                                                                                                                               Berlin-Institut 9
Kein demografischer Bonus in Sicht                tet, allerdings noch in weiter Ferne. Denn der           westafrikanische Länder wie Mali, Tschad
                                                  demografische Bonus eröffnet sich laut den               und Angola können nicht vor 2060 auf einen
Der langsame Rückgang der Kinderzahlen            Vereinten Nationen erst, wenn der Anteil der             Bonus hoffen.27
bedeutet nicht nur ein anhaltend hohes Be-        zu versorgenden jungen Menschen unter 15
völkerungswachstum und eine Verschärfung          Jahren an der Gesamtbevölkerung unter 30                 Selbst dieser bedrohlich langsam klingende
der Versorgungslage. Die hohen Geburten-          Prozent sinkt und der Anteil der über 64-Jäh-            Wandel der Altersstruktur setzt voraus,
ziffern verhindern auch einen Wandel der          rigen noch keine 15 Prozent erreicht hat.25              dass die Fertilitätsraten in diesen Ländern
Altersstruktur, der einen wirtschaftlichen        Anders definiert: Erst wenn auf jede abhän-              künftig so stark sinken wie zuvor in anderen
Aufschwung mit sich bringen könnte, wie           gige Person mindestens 1,7 Erwerbsfähige im              Weltregionen. Angesichts der bisher eher
ihn asiatischen Tigerstaaten wie Südkorea,        Alter zwischen 15 und 64 kommen, erreichen               langsamen Abnahme der Geburtenziffern ist
Thailand oder Singapur erlebt haben. Denn         Staaten eine günstige Ausgangssituation, die             sogar diese Entwicklung fraglich. Ob und wie
bei sinkenden Kinderzahlen werden die nach-       einen wirtschaftlichen Aufschwung leich-                 rasch Afrika seinen Entwicklungsrückstand
wachsenden Geburtenjahrgänge kleiner und          ter macht.26 Laut den Vorausschätzungen                  verkürzen und seinen Menschen Perspek-
der Schwerpunkt der Bevölkerung verschiebt        der Vereinten Nationen dürfte das in den                 tiven bieten kann, hängt also wesentlich
sich zu den jungen Erwerbsfähigen. Dadurch        meisten afrikanischen Ländern südlich der                davon ab, wie schnell der demografische
stehen der Wirtschaft überproportional viele      Sahara und nördlich der Ländergrenzen von                Übergang voranschreitet. Sinkende Kinder-
Menschen zur Verfügung, die arbeiten und          Namibia, Südafrika und Botsuana frühestens               zahlen je Frau sind dafür eine zwingende
produktiv sein können. Gleichzeitig nimmt         ab dem Jahr 2035 der Fall sein. Zentral- und             ­Notwendigkeit.28
die Zahl der Kinder und Jugendlichen ab,
die von der arbeitenden Bevölkerung mit
Nahrungsmitteln, Schulen und Gesundheits­         Unterschiedlich lange bis zum Bonus
leistungen versorgt werden müssen.
                                                  Ein demografischer Bonus eröffnet sich dann, wenn mehr Menschen im Erwerbsalter stehen als junge und alte
Diese günstige Altersstruktur wird als de-        Menschen zu versorgen sind. Dank eines rasanten Fertilitätsrückgangs in den 1960er und -70er Jahren konnte
                                                  Mauritius bereits in den 1980er Jahren von einer ökonomisch günstigen Altersstruktur profitieren. Während
mografischer Bonus bezeichnet, der sich           der Inselstaat diesen bereits in eine Dividende – also einen demografiebedingten Entwicklungsschub – um-
bei guten politischen und wirtschaftlichen        münzen konnte, liegt der demografische Bonus für andere afrikanische Länder noch in weiter Ferne. So kann
Rahmenbedingungen in einen wirtschaft-            Niger – das Land mit dem derzeit höchsten Bevölkerungswachstum weltweit – frühestens um 2080 auf einen
lichen Aufschwung ummünzen lässt, die             Bonus hoffen.
sogenannte demografische Dividende. Damit
dies gelingt, muss der Nachwuchs möglichst        2,5
gut qualifiziert sein und die notwendigen
                                                          demografischer        Mauritius
Arbeitsplätze vorfinden. Ökonomen sind sich
                                                          Bonus
einig, dass der wirtschaftliche Aufstieg der      2,0
asiatischen Tigerstaaten zu großen Teilen                                            Marokko
auf die Nutzung des demografischen Bonus
zurückzuführen ist.22                             1,5
                                                                                            Äthiopien
                                                                                                                    Senegal
Weiter entwickelte Länder im nördlichen und
                                                                                                        Nigeria
südlichen Afrika, sowie manche afrikanische       1,0
Inselstaaten haben diese günstige Alters-                                                                   Niger
struktur bereits erreicht. Sie verfügen über
eine große Zahl junger, zunehmend gut quali-      0,5
fizierter Erwerbsfähiger. Was dort bisher fehlt
sind die entsprechenden Jobs.23, 24 Für die
Mehrzahl der afrikanischen Staaten ist eine        0
Altersstruktur, die eine Chance auf einen de-
                                                        1950
                                                        1955
                                                        1960
                                                        1965
                                                        1970
                                                        1975
                                                        1980
                                                        1985
                                                        1990
                                                        1995
                                                        2000
                                                        2005
                                                        2010
                                                        2015
                                                        2020
                                                        2025
                                                        2030
                                                        2035
                                                        2040
                                                        2045
                                                        2050
                                                        2055
                                                        2060
                                                        2065
                                                        2070
                                                        2075
                                                        2080
                                                        2085
                                                        2090
                                                        2095
                                                        2100

mografiebedingten Entwicklungsschub bie-
                                                  Verhältnis der Erwerbsbevölkerung im Alter zwischen 15 und 64 Jahren zur abhängigen Bevölkerung
                                                  (Menschen im Alter von 0 bis 14 und über 64 Jahren), 1950 bis 2100
                                                  (Datengrundlage: UNDESA28)

10 Afrikas demografische Vorreiter
Was zu sinkenden Kinderzahlen führt              Wo Kinder früh sterben

Wie aber lässt sich dieser Prozess beschleu-     Je nachdem wo auf dem afrikanischen Kontinent ein Kind geboren wird, stehen seine Chancen seinen fünften
                                                 Geburtstag zu erleben unterschiedlich gut: Die besten Aussichten haben Neugeborene in den hochentwickelten
nigen, und zwar ohne Zwangsmaßnahmen,
                                                 Inselstaaten Seychellen und Mauritius, gefolgt von den nordafrikanischen Ländern. Wenig rosig sind die Aus-
wie sie etwa aus China bekannt sind? Welche      sichten dagegen in Tschad und der Zentralafrikanischen Republik: Hier stirbt etwa jedes achte Kind vor seinem
Einflussflussfaktoren zu sinkenden Kin-          fünften Lebensjahr.32
derzahlen führen, ist wissenschaftlich gut
belegt. Ebenso sind verschiedene Interven-
tionen bekannt, die den sozioökonomischen
                                                                                           Tunesien
Fortschritt beschleunigen und – direkt oder           Marokko
indirekt – zu sinkenden Geburtenziffern füh-
ren. Dabei sind folgende sozioökonomische                                Algerien
                                                                                                      Libyen
­Parameter zentrale Stellschrauben:                                                                                        Ägypten
                                                 Westsahara

                                     Kap Verde
                                                   Mauretanien
                                                                      Mali                Niger
                                                 Senegal                                                                    Sudan       Eritrea
                                                                                                        Tschad                                       Dschibuti
                                                  Gambia              Burkina
 Gesundheit                                                           Faso
                                                      Guinea                 Benin
                                                                       Ghana       Nigeria               Zentral-                            Äthiopien
Solange Eltern im Ungewissen sind, wie viele                               Togo                          afrikanische Südsudan
                                                 Guinea-
ihrer Kinder überleben und das Erwachse-         Bissau                                                  Republik
                                                                                           Kamerun
nenalter erreichen, bekommen sie in der          Sierra Leone                Äquatorial
                                                                  Elfenbein­ Guinea                                                                      Somalia
Regel viel Nachwuchs. Denn Kinder stellen in              Liberia küste                                                         Uganda Kenia
                                                                         São Tomé                    Kongo
traditionellen Gesellschaften eine zusätzliche                                               Gabun           Demokratische                               Ruanda
                                                                         und Príncipe
Arbeitskraft und ein Versprechen auf Ver-                                                                    Republik                                    Burundi
                                                                                                             Kongo
sorgung im Alter dar. Wenn die Kinderzahlen      Kindersterblichkeit (Todesfälle je                                                  Tansania
sinken sollen, muss deshalb vor allem die                                                                                                                     Seychellen
                                                 1.000 Lebendgeburten), 2015-2020
Überlebenswahrscheinlichkeit des Nach-              unter 30
wuchses verbessert werden. Das Sterberisiko         30 bis unter 50                                    Angola                       Malawi
von Säuglingen und Kleinkindern liegt in                                                                              Sambia
                                                    50 bis unter 70
Afrika – trotz großer Fortschritte – im welt-       70 bis unter 90                                                                   Mosambik
weiten Vergleich noch immer am höchsten.            90 bis unter 110                                                    Simbabwe
                                                                                                      Namibia                                     Madagaskar
Im Schnitt stirbt eines von 14 Kindern vor                                                                        Botsuana
                                                    110 und mehr
seinem fünften Geburtstag.29 Meist sind da-                                                                                                                        Mauritius
                                                    keine Daten
bei Atemwegserkrankungen, Durchfall oder                                                                                                Eswatini
Malaria die Ursachen, also Erkrankungen, die     (Datengrundlage: UNDESA 31)
sich durch einfache Maßnahmen verhindern                                                                       Südafrika
lassen.                                                                                                                        Lesotho

Auch die Gesundheit der Mütter ist wichtig.
Eine medizinische Betreuung während der
Schwangerschaft und nach der Geburt ist          Burkina Faso sogar nur jede vierte.30 Um die
allerdings längst noch nicht überall in Afrika   Gesundheit von Kindern und Müttern weiter
selbstverständlich: In einigen afrikanischen     zu verbessern, ist der Ausbau der Gesund-
Ländern wird nur etwa die Hälfte der Ge-         heitsinfrastruktur sowie eine gute Ausbildung
burten medizinisch betreut, in Tschad und        des medizinischen Personals zentral.31 32

                                                                                                                                                     Berlin-Institut 11
Bildung                                          Bevölkerung (20 bis 64 Jahre) mit mindestens
                                                  Sekundarbildung, in Prozent, 2015
Bildung ist nach Meinung vieler Experten das          unter 15
beste „Verhütungsmittel“, denn sie wirkt über         15 bis unter 20
unterschiedliche Kanäle auf die Lebensver-            20 bis unter 30
hältnisse der Menschen und damit auch auf             30 bis unter 40
die Kinderzahlen ein. Gebildete Menschen              40 bis unter 50
leben in der Regel gesünder und haben es              50 und mehr
leichter, ein auskömmliches Einkommen zu              keine Daten
erzielen. Im Alter sind sie deshalb weniger
auf ihre Kinder als Versorger angewiesen.33       (Datengrundlage: Wittgenstein Centre39)
Wenn Eltern selbst eine Schule besucht ha-
ben legen sie zudem mehr Wert darauf, dass        Wo Sekundarschulbildung
ihre Kinder ebenfalls eine gute Ausbildung        ein Privileg bleibt
erhalten. Auch weil damit höhere Kosten ver-
bunden sind, entscheiden sich Eltern häufiger     In vielen Ländern Afrikas ist eine gute Schulausbildung keine
für weniger Nachwuchs.34                          Selbstverständlichkeit. Zwar werden heute etwa 80 Prozent
                                                  der Kinder eingeschult, allerdings verlassen viele die Schule
                                                  vorzeitig wieder und nur wenige besuchen eine weiterführende
Für sinkende Geburtenziffern spielt vor allem     Schule. In 26 von 54 Staaten besitzt weniger als ein Viertel
die Bildung von Frauen eine wichtige Rolle –      der Bevölkerung eine Sekundarbildung. Gerade diese hat aber
und das aus mehreren Gründen: Erstens steigt      nachweislich einen großen Einfluss auf den Rückgang der
mit dem Bildungsstand der Mütter die Über-        Geburtenziffern.
lebenswahrscheinlichkeit von Kleinkindern,
da gebildete Frauen besser über Hygiene,
gesunde Ernährung und Impfungen infor-             Einkommensmöglichkeiten und                           Wenn mehr Menschen ein sicheres Einkom-
miert sind.35 Zweitens heiraten Frauen später      wachsender Wohlstand                                  men erzielen und produktiv arbeiten, bringt
und werden später Mütter, je länger sie eine                                                             das nicht nur bessere Lebensbedingungen
Schule besuchen. Durch Bildung ergeben sich       Die Kinderzahlen sinken immer dort, wo                 für jeden Einzelnen mit sich, sondern auch
für sie drittens individuellere Lebensperspek-    sich die Lebensbedingungen der Menschen                mehr Handlungsoptionen für den Staat. Eine
tiven, die über die Rolle als Mutter hinausge-    verbessern. Neben einer besseren Ge-                   wachsende Volkswirtschaft spült Geld in die
hen.36 All das trägt dazu bei, dass sich Frauen   sundheitsversorgung und einem höheren                  Staatskassen, das in den Ausbau der Ge-
mit Sekundarbildung in Afrika im Schnitt          Bildungsniveau sind dafür auch die Einkom-             sundheits- und Bildungsinfrastruktur und in
etwa zwei Kinder weniger wünschen und die-        mensmöglichkeiten entscheidend. Denn erst,             den Aufbau eines Rentensystems investiert
sen Wunsch auch besser umsetzen können.37         wenn Menschen nicht mehr von der Hand in               werden kann. Soziale Sicherungssysteme
Mit dem Bildungsstand der Frauen sinkt des-       den Mund leben müssen und der Subsistenz­              können dann die Rolle der Kinder für die
halb in der Regel auch die Geburtenziffer. Am     falle entkommen können, beginnen sie ihr               Altersversorgung übernehmen. Ökonomen
größten ist dieser Effekt, wenn sie nach der      eigenes Leben zu planen und anders über                haben untersucht, welchen Einfluss staatliche
Grundschule auch eine weiterführende Schu-        die Familiengröße nachzudenken.40 Um ein               Sicherungssysteme wie die Rente auf die Ge-
le besucht haben: So bekommen Frauen mit          Absinken der Fertilitätsraten in Afrika zu             burtenziffern in Europa und den Vereinigten
Sekundarschulbildung in Kenia und Äthiopien       erreichen, ist es deshalb dringend notwendig           Staaten hatte: Die Erhöhung der staatlichen
weniger als halb so viel Nachwuchs, wie jene,     formale und produktivere Arbeitsplätze in              Sozialleistungen um zehn Prozent des Brutto­
die nie eine Schule besucht haben.38 39           der Industrie und im Dienstleistungssektor zu          inlandsprodukts ging dort mit einer Reduzie-
                                                  schaffen. Bislang arbeitet über die Hälfte – in        rung der Fertilitätsraten zwischen 0,7 und
                                                  den wenig entwickelten Ländern sogar rund              1,6 Kindern je Frau einher.42 43
                                                  70 Prozent – der afrikanischen Bevölkerung
                                                  in der kleinbäuerlich geprägten Landwirt-
                                                  schaft, die meist wenig produktiv ist und
                                                  für die junge Generation keine attraktiven
                                                  Zukunftsaussichten bietet.41

12 Afrikas demografische Vorreiter
Anteil der Bevölkerung unter der Armuts­                                                                         Gesellschaftliche Normen
grenze (1,90 US-Dollar/Tag) in Prozent,                                                                          und Traditionen
2007 bis 2017, jeweils letztes
verfügbares Jahr
                                                                                                                Die meisten afrikanischen Gesellschaften sind
    unter 10                                                                                                    sehr traditionell geprägt, insbesondere auf
    10 bis unter 25                                                                                             dem Land, wo im Schnitt über die Hälfte der
    25 bis unter 40                                                                                             afrikanischen Bevölkerung lebt.48 Hier nehmen
    40 bis unter 55                                                                                             die (Groß-)Familie und die Dorfgemeinschaft
    55 bis unter 70                                                                                             als soziales Sicherungsnetz einen wichtigen
    70 und mehr                                                                                                 Stellenwert ein – nicht zuletzt, weil es an
    keine Daten                                                                                                 staatlichen Sicherungsprogrammen mangelt.
                                                                                                                Jung zu heiraten und möglichst früh Kinder zu
(Datengrundlage: Weltbank43)                                                                                    bekommen ist hier vor allem für Mädchen aus
                                                                                                                armen Familien oft eine notwendige soziale
Wo die Menschen am ärmsten sind                                                                                 Absicherung. Ihre zentrale Lebensaufgabe
                                                                                                                wird dabei meist auf Mutterschaft und die
In vielen afrikanischen Staaten muss ein großer Teil der Bevöl-                                                 Geburt eines männlichen Erben reduziert.49
kerung mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen. In
der Demokratischen Republik Kongo und Madagaskar trifft das
auf acht von zehn Menschen zu. Wo Armut die Entwicklungs-
                                                                                                                Zudem sind Afrikas Gesellschaften – bei aller
chancen hemmt und es keine staatlichen Sicherungssysteme                                                        Diversität – nahezu überall sehr religiös.
gibt, bekommen Eltern meist viel Nachwuchs, in der Hoffnung                                                     ­Kinderreichtum wird hier oft als erstrebens-
im Alter abgesichert zu sein.                                                                                    wert gesehen. Selbst bei der jungen Gene-
                                                                                                                 ration verbleiben die Wunschkinderzahlen
                                                                                                                 auf einem vergleichsweise hohen Niveau. So
 Gleichberechtigung der Geschlechter                     Welchen Status Frauen in der Gesellschaft               wünschen sich Afrikanerinnen im Schnitt rund
                                                         einnehmen, ob sie einen gleichberechtigten              zwei Kinder mehr als Frauen in anderen Ent-
Fast überall in Afrika wünschen sich Frauen              Zugang zu Bildung und dem Arbeitsmarkt                  wicklungsländern, bei den Männern sind es
weniger Kinder als Männer. Am größten sind               haben und als Führungspersonen eine Vor-                sogar fast drei Kinder mehr. Selbst Frauen mit
die Unterschiede in den Ländern der Sahel-               bildfunktion für die heranwachsende Gene-               Sekundarschulbildung wünschen sich in Afrika
region. Hier wünschen sich Frauen zwischen               ration junger Mädchen einnehmen, bestimmt               im Schnitt ein Kind mehr als anderswo.50 51
ein und zwei Kinder weniger als Männer, in               deshalb mit darüber, wie rasch sich ein Ferti-
Tschad sind es sogar drei.44 Dass die Kinder­            litätsrückgang vollzieht.47
zahlen gerade dort so hoch sind, liegt –
­neben den geringen Bildungswerten – auch
 daran, dass Frauen wenig Mitspracherecht in             Wo Frauen besonders benachteiligt sind
 der Familie besitzen.45
                                                         Nahezu überall in Afrika wünschen sich Frauen we-
Wo es Frauen an Gleichberechtigung man-                  niger Nachwuchs als ihre Partner, doch die Entschei-
gelt, bekommen sie tendenziell mehr Nach-                dung über die Zahl der Kinder liegt häufig in den
                                                         Händen der Männer. In Sachen Gleichberechtigung
wuchs. Können sie sich dagegen gegenüber                 gibt es große Unterschiede auf dem Kontinent, wie      Gender Inequality
ihren Männern und der Familie durchsetzen                ein Blick auf den Gender Inequality Index der Ver-     Index, 2017
– etwa, weil sie besser gebildet sind und zum            einten Nationen zeigt. Dieser bewertet die Diskri-        unter 0,40
Familieneinkommen beitragen – sinken er-                 minierung von Frauen in den Bereichen Gesundheit,         0,40 bis unter 0,50
fahrungsgemäß auch die Kinderzahlen.46                   Bildung, Erwerbsbeteiligung und politische Mit­
                                                                                                                   0,50 bis unter 0,55
                                                         sprache. Dabei stellt „0“ absolute Gleichberechti-
                                                         gung und „1“ die höchste Ungleichheit zwischen den        0,55 bis unter 0,60
                                                         Geschlechtern dar.                                        0,60 bis unter 0,65
                                                                                                                   0,65 und mehr
                                                                                                                   keine Daten

                                                                                                                (Datengrundlage: UNDP47)

                                                                                                                                               Berlin-Institut 13
Wo der Kinderwunsch hoch ist                             All das trägt dazu bei, dass sich Frauen wie             Familienplanung
                                                         Männer in den Städten deutlich weniger Kin-
Vielerorts in Afrika wird Kinderreichtum nicht als       der wünschen. Die höheren Lebenskosten in               Die oben beschriebenen Faktoren beeinflus-
Belastung und Kostenfaktor gesehen, sondern viel
                                                         der Stadt machen diesen Wunsch allerdings               sen, wie viele Kinder sich Frauen und Männer
mehr als ein Segen. Vor allem afrikanische Männer
wünschen sich viele Kinder, im Schnitt fast doppelt so   häufig auch zu einer Notwendigkeit. Denn in             wünschen und wirken damit indirekt auf
viele wie Männer in anderen Entwicklungsländern.         der Stadt, wo Wohnraum und Nahrungsmittel               die Geburtenziffern. Ob die Menschen den
                                                         teurer sind, bedeutet jedes zusätzliche Kind            möglichen Wunsch, ihre Familiengröße zu
                                                         vor allem mehr Kosten, während Kinder auf               begrenzen, auch in die Tat umsetzen können,
                                                         dem Land als Arbeitskräfte oft einen öko-               hängt aber schlussendlich von ihrem Wissen
                                                         nomischen Mehrwert darstellen. Die Gebur-               über und dem Zugang zu Verhütungsme-
                                                         tenziffern liegen deshalb in Städten deutlich           thoden ab. Nur wenn Menschen über den
                                                         niedriger ist als in ländlichen Regionen. In            Umgang und den Nutzen von Kontrazeptiva
                                                         Äthiopien, Angola und Sambia bekommen                   aufgeklärt sind und auch freien Zugriff darauf
                                                         Frauen, die in der Stadt leben, fast drei Kin-          haben, können sie darüber entscheiden, wie
                                                         der weniger als jene auf dem Land.54 55                 viele Kinder sie möchten und in welchem
                                                                                                                 Abstand diese zur Welt kommen sollen.
Durchschnitt­-
liche Wunschkinder­
zahl unter Männern,                                      Wo Menschen in der Stadt leben                          Wenn es um die Aufklärung und die Bereit­
2000 bis 2017,                                                                                                   stellung von Verhütungsmitteln geht, hinken
jeweils letztes                                          In den Städten liegen die Kinderzahlen überall in       viele afrikanische Länder allerdings hinter­
                                                         Afrika niedriger als auf dem Land, denn dort ist
verfügbares Jahr
                                                         der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen, Bildung,
                                                                                                                 her: In Tschad, der Zentralafrikanischen
    unter 3,5                                            Arbeitsplätzen und nicht zuletzt Verhütungsmetho-       Republik und Mauretanien kennt etwa jede
    3,5 bis unter 4,5                                    den deutlich einfacher. Allerdings lebt in über 30      dritte Frau keine einzige moderne Verhü-
                                                         Staaten Afrikas mehr als die Hälfte der Menschen auf    tungsmethode.56 Sorgen über mögliche
    4,5 bis unter 5,5
                                                         dem Land. Um einen raschen Fertilitätsrückgang zu       Nebenwirkungen sind noch immer verbreitet,
    5,5 bis unter 6,5                                    erreichen, gilt es vor allem dort die Basisversorgung   auch bei jungen Menschen.57 Die Nutzungs-
    6,5 bis unter 7,5                                    zu verbessern.
                                                                                                                 rate moderner Verhütungsmittel ist im Ver-
    7,5 und mehr
                                                                                                                 gleich zu anderen Weltregionen demenspre-
    keine Daten
                                                                                                                 chend niedrig: In Süd- und Ostafrika nutzt im
(Datengrundlage: DHS51)                                                                                          Schnitt nur jede fünfte Frau zwischen 15 und
                                                                                                                 49 Jahren eine moderne Verhütungsmethode,
                                                                                                                 in West- und Zentralafrika nur jede zehnte.58
 Urbanisierung                                                                                                   Das liegt auch am mangelnden Zugang zu
                                                                                                                 Verhütungsmitteln: Laut einer Studie des
Afrikas Städte wachsen im Schnitt jährlich                                                                       US-amerikanischen Guttmacher-Instituts hat
um etwa 3,5 Prozent.52 Was stadtplanerisch                                                                       etwa die Hälfte der Frauen in Afrika, die eine
eine Herausforderung bedeutet, kann für den                                                                      Schwangerschaft vermeiden wollen, keinen
                                                         Anteil der urbanen
demografischen Wandel eine Chance darstel-               Bevölkerung an der
                                                                                                                 Zugang zu modernen Verhütungsmethoden.59
                                                                                                                 60 61
len. Denn in den Städten haben Menschen                  Gesamtbevölkerung,
leichter Zugang zu Gesundheitsdiensten, zu               in Prozent, 2018
Bildung, zu Arbeitsplätzen und nicht zuletzt                 unter 25
auch zu Mitteln zur Familienplanung. Da                      25 bis unter 35
Frauen in den Städten häufiger einer Beschäf-                35 bis unter 45
tigung nachgehen und sich neue Rollen- und                   45 bis unter 60
Familienbilder schneller durchsetzen, ist es
                                                             60 bis unter 70
hier auch um die Gleichberechtigung meist
                                                             70 und mehr
besser gestellt als in ländlichen Regionen.53
                                                             keine Daten
                                                         (Datengrundlage: UNDESA55)

14 Afrikas demografische Vorreiter
Wo die Familiengröße planbar ist                        Formal haben heute über 80 Prozent der            Wo Regierungen sich für
                                                        afrikanischen Staaten eine Bevölkerungspo-        Familienplanung engagieren
Längst nicht jede Frau, die gerne weniger Nachwuchs     litik mit dem Ziel, die Kinderzahlen je Frau zu
zur Welt bringen würde, kann diesen Wunsch auch                                                           Wie sehr sich Regierungen für Familienplanungspro-
                                                        reduzieren und das Bevölkerungswachstum
umsetzen, denn vielerorts ist der Zugang zu Verhü-                                                        gramme engagieren, lässt sich nicht an einer einzel-
tungsmethoden schwierig. Während in Kenia, Marok-       zu bremsen.62 Doch bei der Umsetzung ha-
                                                                                                          nen Zahl festmachen. Der Family Planning Program
ko und einigen anderen Ländern über die Hälfte der      pert es vielerorts. Bevölkerungswachstum          Effort Index bewertet deshalb anhand von 30 Indi-
Frauen moderne Kontrazeptiva nutzen, tut dies im        und Familienplanungsprogramme standen             katoren die Stärke nationaler Programme, die rück-
Südsudan oder in Eritrea nicht einmal jede Zehnte –     bislang selten im Mittelpunkt des politischen     läufige Kinderzahlen erreichen wollen: Wie ist der
meist, weil diese schlichtweg nicht verfügbar sind.61   Denkens in Afrika, meist hatten andere The-       politische Rahmen des Programms, wie verläuft seine
                                                        men Vorrang. Auch auf internationaler Ebene       Umsetzung? Wird der Zugang zu und die Nutzung von
                                                        wird das Thema seit Jahrzehnten mit Samt-         Verhütungsmethoden dadurch tatsächlich verbessert
                                                                                                          und funktioniert deren Bereitstellung? In dem Index
                                                        handschuhen angefasst. Zu groß sind die           schneiden die afrikanischen Länder unterschiedlich
                                                        Vorbehalte, sich von außen in sensible The-       gut ab: Während Ruanda, Tunesien oder Marokko
                                                        men wie Sexualität und Reproduktion einzu-        sich mit asiatischen Staaten messen können, die auf
                                                        mischen. Hinzu kommt, dass die Sichtweisen        diesem Feld bereits große Fortschritte erzielt haben,
                                                        afrikanischer Politiker häufig von kulturellen    sind andere Länder Afrikas weit abgeschlagen.
                                                        Normen geprägt sind, die viele Kinder als
                                                        erstrebenswertes Lebensziel auffassen. Eine
Anteil verheirate-                                      große und wachsende Bevölkerung sehen
ter Frauen im Alter ­                                   viele Machthaber als wirtschaftlichen und
zwischen 15 und 49                                      geopolitischen Vorteil, eine Auffassung, die
Jahren, die moderne
                                                        früher in fast allen Ländern der Welt verbrei-
Mittel zur Familien­-
planung nutzen,                                         tet war.63
in Prozent, 2018
    unter 15
                                                        Derartige Einschätzungen führen dazu, dass
    15 bis unter 20
                                                        die Theorie der demografischen Dividende,         Family Planning
                                                        auf die Afrika dringend angewiesen wäre           Program Effort
    20 bis unter 25
                                                        und deren großen Nutzen die Weltbank              Index, 2014
    25 bis unter 35
                                                        2015 in einer Studie dargestellt hat, von den         unter 40
    35 bis unter 55
                                                        Verantwortlichen auf dem Kontinent häufig             40 bis unter 45
    55 und mehr
                                                        fehlerhaft interpretiert wird.64 Denn vieler-         45 bis unter 50
    keine Daten
                                                        orts herrscht die Vorstellung, eine große,
                                                                                                              50 bis unter 55
(Datengrundlage: PRB60)                                 junge Bevölkerung alleine sei der Garant
                                                                                                              55 bis unter 60
                                                        für einen wirtschaftlichen Aufschwung.65
                                                                                                              60 und mehr
                                                        Dass ein Rückgang der Kinderzahlen und
                                                                                                              keine Daten
 Der politische Wille zur Veränderung                   kleiner werdende Nachwuchsjahrgänge die
                                                        Grund­voraussetzung für einen demografie-         (Datengrundlage: Avenir Health66)
Wann und wie schnell die Kinderzahlen in                bedingten Wirtschaftsaufschwung sind, wird
einem Land zurückgehen, hängt auch davon                dabei gerne außen vor gelassen.
ab, wie sich die jeweiligen Regierungen dafür
einsetzen. Dazu gehören einerseits indirekte            Damit sich die Sichtweise auf die Bevölke-
Maßnahmen, wie Bemühungen das Gesund-                   rungsdynamik verändert, bedarf es daher
heits- und Bildungssystem auszubauen und                einer nüchternen Analyse, einer Anerkennung
Arbeitsplätze zu schaffen. Aber auch direkt             wissenschaftlich belegbarer Zusammenhänge
wirkende Projekte, in denen die Regierungen             sowie einem Umdenken auf den politischen
offen für Aufklärung und Familienplanung                Ebenen in den afrikanischen Staaten und
werben, sowie nationale Programme, die das              in der internationalen Zusammenarbeit mit
Verständnis und das Bewusstsein der Be-                 diesen Ländern.66
völkerung für die Vorteile kleinerer Familien
stärken sollen, sind zentral.

                                                                                                                                              Berlin-Institut 15
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