BUNDESMINISTERIUM FÜR JUSTIZ - ENDBERICHT FÜR DAS

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ENDBERICHT FÜR DAS
           BUNDESMINISTERIUM FÜR JUSTIZ

   Verfolgbarkeit nationalsozialistischer Verbrechen:
         Der Komplex Lublin-Majdanek und die
                 österreichische Justiz

                            Projekt der
Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz (FStN)
            durchgeführt von Jänner 2009 bis Oktober 2010

               Leitung:        Dr. Winfried R. Garscha
               Koordination:   Dr.in Claudia Kuretsidis-Haider
Projekt: Verfolgbarkeit nationalsozialistischer Verbrechen: Der Komplex Lublin-Majdanek und die österreichische Justiz
                                                                     Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz
                                         Projektleitung: Dr. Winfried R. Garscha (winfried.garscha@doew.at; 0699 10332810)

1. Ausgangslage

Die Frage der Beteiligung österreichischer Täter an den nationalsozialistischen Verbrechen
wird – seit einer diesbezüglichen polemischen Aussage Simon Wiesenthals aus dem Jahre
1966, die sich nicht zuletzt auf die im Raum Lublin bei den Vernichtungsaktionen eingesetz-
ten österreichischen SS-Angehörigen bezog – insbesondere dahingehend kontrovers disku-
tiert, ob von einem exorbitant hohen Anteil von Österreichern beim Vollzug des Massen-
mords an den Juden/Jüdinnen gesprochen werden kann. Diese Annahme ist auch der Hin-
tergrund der Kritik an Österreich, nicht genügend zur Ausforschung und Aburteilung der
letzten noch lebenden NS-TäterInnen zu unternehmen.
Auf einer Pressekonferenz der Israelitischen Kultusgemeinde im Juni 2008 wiederholte der
Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums Jerusalem, Efraim Zuroff, aus Anlass der Nichtauslie-
ferung des in Kroatien wegen Kriegsverbrechen gesuchten Milivoj Ašner (Georg Aschner)
den Vorwurf, Österreich sei ein „Paradies für NS-Verbrecher”, den er schon im Februar 2006
nach Besprechungen mit den damaligen Ministerinnen für Justiz und Inneres, Karin Gastin-
ger und Liese Prokop, erhoben hatte.
Im Juli 2007 schrieb das Justizministerium eine Belohnung für Hinweise zur Ergreifung der
beiden meistgesuchten österreichischen NS-Täter – Alois Brunner und Aribert Heim – aus.
Die damalige Justizministerin Maria Berger machte damit deutlich, dass sie mit ihrer Minis-
terschaft endgültig jenes Moratorium für die Verfolgung von NS-Verbrechen beenden wollte,
das Mitte der 1970er Jahre begann und nur unter dem parteifreien Justizminister Nikolaus
Michalek mit der Anklageerhebung gegen den in die NS-Kindereuthanasie involvierten Ge-
richtspsychiater Heinrich Gross im Jahre 1999 kurz unterbrochen wurde (nach dem Tod des
Angeklagten im Dezember 2005 erfolgte die Einstellung dieses bislang letzten Verfahrens
wegen NS-Verbrechen in Österreich am 28. April 2006).
Neben der oben erwähnten Auslieferungssache Ašner war es 2007/2008 vor allem der Fall
der ehemaligen Aufseherin des Frauenlagers im KZ Majdanek, Erna Wallisch, der die interna-
tionalen Medien beschäftigte. Erna Wallisch war bereits in den 1963 bis 1973 geführten Vor-
erhebungen der Staatsanwaltschaft Graz gegen Alois Kurz und 63 weitere Tatverdächtige
wegen Verbrechen im KZ Majdanek als Beschuldigte geführt worden. Nicht zuletzt auf Initia-
tive Zuroffs hatte die österreichische Justiz das Verfahren gegen sie wieder aufgenommen,
nachdem in Polen Zeugenaussagen mit belastenden Angaben aufgetaucht waren, die bei der
Verfahrenseinstellung 1973 durch die Staatsanwaltschaft Graz nicht bekannt gewesen wa-
ren. Die Beschuldigte starb am 16. Februar 2008. Mit ihrem Tod wurde auch die angedachte

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Projekt: Verfolgbarkeit nationalsozialistischer Verbrechen: Der Komplex Lublin-Majdanek und die österreichische Justiz
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                                         Projektleitung: Dr. Winfried R. Garscha (winfried.garscha@doew.at; 0699 10332810)

Variante eines Gutachterauftrages an die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz für einen mögli-
chen Wiener Majdanek-Prozess hinfällig. Allerdings regte Justizministerin Berger an, den Fall
Wallisch als Anlass zu nehmen, die Gründe für die bisher ausgeblieben Bestrafung österrei-
chischer StraftäterInnen im Zusammenhang mit dem KZ Lublin-Majdanek zu klären und da-
bei auch zu prüfen, ob möglicherweise noch nicht ausgeforschte Tatverdächtige wegen dort
begangener Verbrechen vor Gericht gestellt werden könnten. Am 24. Juni 2008 erteilte das
Bundesministerium für Justiz der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz den diesbezüglichen Auf-
trag (GZ. BMJ-A 306.324/0007-III 4/2008). Damit wurde einerseits in Österreich zum ersten
Mal die systematische Erforschung eines bisher wenig beachteten Konzentrations- und Ver-
nichtungslagers in einem wichtigen Teilaspekt, nämlich der verübten Verbrechen und ihrer
Bestrafung, ermöglicht; andererseits erhielten durch den Vergleich polnischer, deutscher
und österreichischer Majdanek-Prozesse komparatistische Forschungen zur Bestrafung von
Kriegs- und Humanitätsverbrechen einen wichtigen Impuls.

2. Durchführung des Projekts

Angesichts der Komplexität der Fragestellung des Projektes, die umfangreiche Archivstudien
in Deutschland und Polen erforderlich machte, erwies es sich als notwendig, zusätzlich zum
Auftrag des BMJ weitere Geldquellen zu erschließen und das Gesamtvorhaben nach jeweils
separat zu finanzierenden Modulen zu gliedern.
Modul A (Titel: Verfolgbarkeit nationalsozialistischer Verbrechen: Der Komplex Lublin-Majda-
nek und die österreichische Justiz) wurde vom BMJ finanziert. Die generelle Frage, inwieweit
NS-Gewaltverbrechen überhaupt noch verfolgbar und verfolgungswürdig sind, war das zen-
trale Thema einer noch vor Projektbeginn durchgeführten international besetzten Podiums-
diskussion im Bundesministerium für Justiz, die am Vorabend der Konferenz „Nachkriegspro-
zesse als Bestandteil von Transitional Justice und als Impulsgeber für die NS-Forschung”
(27./28. November 2008) stattfand.
Schwerpunkte dieses Moduls waren die Auslotung der Möglichkeiten zur Durchführung wei-
terer Majdanek-Verfahren und die Auseinandersetzung der österreichischen Justiz mit den
Verbrechen im Lagerkomplex Lublin-Majdanek im internationalen Vergleich.
Modul B (Titel: „Österreich – ein Paradies für NS-Verbrecher? ” Die Majdanek-Verfahren im
internationalen Vergleich), finanziert vom Jubiläumsfonds der Österreichischen National-
bank, bildete, gemeinsam mit dem vom BMJ geförderten Projektteil, das Kernstück des For-
schungsvorhabens, in dessen Mittelpunkt neben dem Vergleich der Prozesse in Polen,

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Projekt: Verfolgbarkeit nationalsozialistischer Verbrechen: Der Komplex Lublin-Majdanek und die österreichische Justiz
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                                         Projektleitung: Dr. Winfried R. Garscha (winfried.garscha@doew.at; 0699 10332810)

Deutschland und Österreich die unterschiedliche „Effizienz” der strafrechtlichen Verfolgung
mutmaßlicher Majdanek-TäterInnen stand.
Modul C (Titel: Die Rolle von ZeitzeugInnen bei der Aufklärung der Verbrechen im Konzen-
trations- und Vernichtungslager Majdanek), finanziert vom Nationalfonds der Republik Öster-
reich, beleuchtete die Möglichkeiten und Schwierigkeiten bei der Einbeziehung von Beteilig-
ten der Verfahren der 1970er und 1980er Jahre in die Historiografie der juristischen Aufar-
beitung. Dabei wurde untersucht, in welchem Ausmaß und zu welchen Tatkomplexen Über-
lebende des Lagers in einem allfälligen „letzten” Majdanek-Prozess zur Klärung der ange-
klagten Tatbestände beitragen könnten. Ein Ergebnis des Projekts war, dass die wenigen
noch lebenden Häftlinge nicht mehr hinreichend mobil sind, um an der ursprünglich geplan-
ten Enquete „ÖsterreicherInnen als Opfer und Täter in Majdanek – Möglichkeiten und Gren-
zen der Strafverfolgung” persönlich teilnehmen zu können. Deshalb wurde der Blick auf die
generelle Thematik der „Konfrontation von Opfern und TäterInnen in Kriegsverbrecherpro-
zessen” (so der der Titel der am 28. Oktober 2010 durchgeführten Enquete im BMJ) gerich-
tet. Die Perspektive der ZeitzeugInnen konnte durch Video- und Toneinspielungen von Inter-
views mit Überlebenden des NS-Terrors eingebracht werden; unter ihnen die Warschauerin
Danuta Brzosko-Mędryk, deren Zeugenaussage maßgeblich für die Auslieferung der im Düs-
seldorfer Majdanek-Prozess angeklagten Österreicherin Hermine Ryan, geb. Braunsteiner,
durch die amerikanischen Justizbehörden war.
Modul D (Titel: Die strafrechtliche Verfolgbarkeit nationalsozialistischer Verbrechen im Kom-
plex Lublin-Majdanek. Die deutschen Prozesse: Quellen, Überblick und Vergleich mit Öster-
reich) richtete den Fokus auf die Analyse der deutschen Majdanek-Prozesse seit den 1960er
Jahren. Dieses ergänzende Modul wurde durch einen kleinen Beitrag des Zukunftsfonds der
Republik Österreich ermöglicht. Bemühungen, die deutschen Majdanek-Prozesse gründlicher
zu untersuchen und hierfür die Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte als Partnerin zu ge-
winnen, blieben erfolglos.

Zur Durchführung des Projekts war es notwendig, die Dokumente, deren Kenntnis für die
Einschätzung der in Polen, Deutschland und Österreich geführten staatsanwaltschaftlichen
Untersuchungen und Gerichtsverfahren erforderlich war, als Kopien am Projektstandort Wien
zu sammeln. Dies erfolgte einerseits durch eine Mikrofilmkopie der 15 Bände des Grazer Ge-
richtsakts, ergänzt durch Xeroxkopien des Tagebuchs der Staatsanwaltschaft Graz und der
die Grazer Ermittlungen betreffenden Dokumente im Bundesministerium für Justiz, anderer-

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Projekt: Verfolgbarkeit nationalsozialistischer Verbrechen: Der Komplex Lublin-Majdanek und die österreichische Justiz
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                                         Projektleitung: Dr. Winfried R. Garscha (winfried.garscha@doew.at; 0699 10332810)

seits in Form von je drei Archivreisen nach Deutschland und Polen, bei denen sowohl die
dortigen Akten ausgewertet als auch Kopien in Auftrag gegeben wurden.
Die Finanzierung der Archivreisen erfolgte, außer aus den vom Bundesministerium für Justiz
bereit gestellten Mitteln, auch durch Eigenbeiträge der Beteiligten. Ferner wurden (von Ste-
phan Klemp, Elissa Mailänder Koslov und Bertrand Perz) Auswertungsergebnisse von Akten
aus deutschen Archiven und der in Klagenfurt aufbewahrten Akten des österreichischen „Ak-
tion-Reinhardt”-Verfahrens – d.i. das 1972 abgebrochene und 1976 eingestellte Strafverfah-
ren gegen Ernst Lerch und Helmut Pohl – zugekauft.

Im Einzelnen wurden auf den – von jeweils mehreren Mitgliedern des Projektteams unter-
nommenen – Archivreisen folgenden Aufgaben wahrgenommen:
•   In der Zentralen Stelle der deutschen Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg, die
zweimal besucht wurde, konnten sowohl die umfangreichen Karteien und Verfahrensregister
eingesehen als auch eine Auswertung des von der Zentralen Stelle geführten Vorermitt-
lungsverfahren wegen des Tatkomplexes Lublin-Majdanek durchgesehen werden. Als beson-
ders hilfreich erwies es sich, dass dem Projektteam – als Gast der Zentralen Stelle – die Lud-
wigsburger Staatsanwälte für einen intensiven Meinungs- und Erfahrungsaustausch zur Ver-
fügung standen. Die ursprüngliche Bereitschaft der Zentralen Stelle, Aktenkopien im Wege
der Amtshilfe unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, scheiterte an den entsprechenden Re-
gelungen der württembergischen Justizverwaltung.
•   Im Nordrhein-Westfälischen Landesarchiv/Hauptstaatsarchiv Düsseldorf wurde der 476
Faszikel umfassende Akt des Düsseldorfer Majdanek-Prozesses komplett durchgearbeitet
und ausgewertet. Kopien konnten aufgrund der Sparmaßnahmen der Landesregierung im
Bereich Wissenschaft und Kunst, die u.a. die faktische Schließung der Kopierstelle im Lan-
desarchiv zur Folge hatte, nur in sehr eingeschränktem Umfang in Auftrag gegeben werden.
•   Bei drei Aufenthalten im Archiwum Państwowego Muzeum na Majdanku (APMM, Archiv
des Staatlichen Museums Majdanek) in Lublin wurden auf der Basis der dort aufbewahrten
Teilkopien von polnischen Prozessen Auswertungen vorgenommen, die sich bei der Recher-
che nach den Originaldokumenten im Warschauer IPN-Archiv als sehr nützlich erwiesen. Von
besonderer Bedeutung war die mehrmalige Begehung des Geländes des ehemaligen Kon-
zentrationslagers, weil dadurch eine Zuordnung verschiedener Aussagen in den Prozessdo-
kumenten zu den örtlichen Gegebenheiten möglich wurde. Darüber hinaus konnten in Ge-
sprächen mit dem dort tätigen Team engagierter und kompetenter WissenschafterInnen und
ArchivarInnen wichtige Erkenntnisse zur Geschichte des Lagers ausgetauscht werden; das

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                                         Projektleitung: Dr. Winfried R. Garscha (winfried.garscha@doew.at; 0699 10332810)

APMM hat sich an der Abschlusskonferenz am 28./29. Oktober 2010 beteiligt und wird daran
mitwirken, die Ergebnisse des Forschungsprojekts auch in Polen zu popularisieren. Mitarbei-
terInnen der Gedenkstätte veranstalteten mit dem Team der österreichischen Forschungs-
stelle Nachkriegsjustiz einen Stadtrundgang zu den ehemaligen Amtsgebäuden der deut-
schen Besatzungsverwaltung, darunter die Wirkungsstätten des SS- und Polizeiführers Odilo
Globočnik und das Hauptquartier der „Aktion Reinhardt”. Über den letzten der drei Arbeits-
besuche in Lublin-Majdanek berichtete die Web-Site der Gedenkstätte Majdanek
(http://www.majdanek.pl/news.php?nid=188) in polnischer und englischer Sprache, außer-
dem erschien ein ausführlicher Bildbericht über die Konferenz in Wien (28./29. Oktober
2010): http://www.majdanek.pl/news.php?nid=247.
•   Die Durchsicht von Akten polnischer Gerichtsverfahren erfolgte im Archiv der Główna Ko-
misja Ścigania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu („Hauptkommission zur Strafverfol-
gung von Verbrechen gegen das polnische Volk”) am Sitz des Instytut Pamięci Narodowej
(Institut des Nationalen Gedenkens, IPN) in der Warschauer Towarowa-Straße. Bei mehre-
ren der eingesehenen Strafverfahren wegen Verbrechen im KZ Majdanek stellte sich die Ak-
tenlage als ausreichend dicht heraus, um den Ablauf der Verfahren und die Vorgangsweise
von Gericht und Staatsanwaltschaft rekonstruieren zu können. Angeklagte waren deutsche
und österreichische SS-Angehörige sowie deutsche und polnische Häftlinge, die als „Kapos”
tätig waren.
•   Die gegenwärtige Herangehensweise polnischer Strafverfolgungsbehörden an bisher un-
bestraft gebliebene NS- und Kollaborationsverbrechen erläuterte der stellvertretende Gene-
ralprokurator Dariusz Gabrel, Direktor der Hauptkommission zur Strafverfolgung von Verbre-
chen gegen das polnische Volk, in einem ausführlichen Gespräch im Oktober 2009 im Justiz-
ministerium in Warschau: Von den knapp 1.300 Untersuchungen, die die Hauptkommission
jährlich führt, betreffen 300 NS-Verbrechen, 900 kommunistische Verbrechen, und 60-70
Tatvorwürfe betreffend Verbrechen gegen den Frieden bzw. Kriegsverbrechen. Während die
Hauptkommission ab den 1950er Jahren in erster Linie Dokumente archivierte und Rechts-
hilfe für ausländische Verfahren leistete, bereitet sie seit 1999 auch polnische Strafverfahren
– u.a. wegen der Beteiligung an NS-Verbrechen – vor. Von den letztgenannten Fällen konn-
ten einige wenige mit Urteil abgeschlossen werden.
•   Zwei jeweils mehrstündige Diskussionen mit den Staatsanwälten der Lubliner Bezirksstel-
le der Hauptkommission zur Strafverfolgung von Verbrechen gegen das polnische Volk (Od-
działowa Komisja Ścigania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu w Lublinie) erwiesen sich
von großem Nutzen für den Fortgang des Projekts, da hierbei offene Fragen der Strafverfol-

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                                         Projektleitung: Dr. Winfried R. Garscha (winfried.garscha@doew.at; 0699 10332810)

gungspraxis in Polen geklärt und die Entwicklung des Völkerstrafrechts nach 1945 aus polni-
scher Sicht erörtert werden konnten. Hervorzuheben ist aus österreichischer Sicht u.a., dass
nicht nur die Hauptkommission in Warschau, sondern auch die Bezirkskommissionen eine
Bearbeitung von Strafverfahren wegen zeitlich lange zurückliegender Verbrechen ohne stän-
dige Bereitstellung historischer Expertisen nicht für möglich halten, weshalb alle derartigen
Einrichtungen der Justizverwaltung auch HistorikerInnen beschäftigen.
•   Mit beiden Anklagevertretern des Düsseldorfer Majdanek-Prozesses (dem Kölner Ober-
staatsanwalt i. R. Wolfgang Weber, derzeit Bergisch-Gladbach) und dem Düsseldorfer
Staatsanwalt i.R. Dieter Ambach) konnten, in jeweils mehrstündigen Gesprächen, offene
Fragen zur Vorbereitung und Durchführung des Prozesses, insbesondere auch zu dem die
Grenzen der deutschen Strafprozessordnung ausreizenden, einfühlsamen Umgang des Ge-
richts mit den in den Zeugenstand gerufenen Majdanek-Überlebenden, geklärt werden.

Eine Zwischenevaluierung im August 2009 ergab die Notwendigkeit einer inhaltlichen Aus-
weitung und, dadurch bedingt, zeitlichen Verlängerung des Projekts. Zwei Gründe waren
hierfür ausschlaggebend:
•   Trotz des Fehlens des (skartierten) Handakts der Oberstaatsanwaltschaft Graz erwies
sich der Bestand an österreichischen Justizakten zum Komplex Lublin-Majdanek größer als
zum Zeitpunkt der Projektkonzeption bekannt war (so tauchten 2009 weitere Bände des
Majdanek-Verfahrens im Aktenlager des Landesgerichts Graz auf; außerdem wurde seitens
des Bundesministerium für Justiz der umfangreiche Ministeriumsakt zum Komplex Lublin-
Majdanek zur Verfügung gestellt).
•   Die Originalakten des Düsseldorfer Majdanek-Prozesses stellten sich als weitaus ergie-
biger für die forschungsleitenden Fragestellungen des Projekts heraus, als anhand der in
den Grazer Akten vorhandenen Kopien erwartet werden konnte. Sie enthalten zahlreiche In-
formationen, die eine justizgeschichtliche Analyse – insbesondere im Vergleich zu den übri-
gen in Deutschland geführten Majdanek-Prozessen sowie im Vergleich zur Ermittlungstätig-
keit polnischer und österreichischer Strafverfolgungsbehörden – erlauben.

3. Popularisierung der Ergebnisse des Forschungsprojekts

Eine – auch im Internet publizierte – Vorstellung des Projekts mit ersten Zwischenergebnis-
sen erfolgte durch Winfried R. Garscha im Juli 2009 in den „Mitteilungen des DÖW” („Das KZ
Lublin-Majdanek: ‚Relais-Stelle’ für den Massenmord”, Folge 192, S. 1-2).

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                                         Projektleitung: Dr. Winfried R. Garscha (winfried.garscha@doew.at; 0699 10332810)

Im April und Mai 2010 führte die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz gemeinsam mit dem Jü-
dischen Institut für Erwachsenenbildung eine gut besuchte Veranstaltungsreihe zum Thema
„KZ-Verbrechen in Majdanek – Der Düsseldorfer Prozess (mit Ausschnitten aus dem Doku-
mentarfilm von Eberhard Fechner)” durch. Als zentraler Bezugspunkt diente dabei der in den
Jahren 1976 bis 1984 entstandene viereinhalbstündige Dokumentarfilm „Der Prozeß” von
Eberhard Fechner. Die einleitenden wissenschaftlichen Kurzvorträge behandelten die The-
men: „Der Düsseldorfer Prozess (1975-1981) und seine filmische Dokumentation”, „Der Ös-
terreicher Globocnik und ‚sein’ KZ in Lublin”, „Die Rolle der jüdischen ZeugInnen im Düssel-
dorfer Prozess”, „Hermine Braunsteiner und Erna Wallisch – österreichische SS-Aufseherin-
nen in Majdanek” sowie „Majdanek vor Gericht: Höchststrafen – Skandalurteile – verweiger-
te Gerechtigkeit”.

Auf der 34. Jahrestagung der German Studies Association in Oakland (USA) hielt die Projekt-
koordinatorin Claudia Kuretsidis-Haider einen Vortrag zum Thema „Österreichische Majda-
nek-Täter vor Gericht. Prozesse in Polen, Deutschland und Österreich seit 1944” und stellte
dabei einen transnationalen Vergleich der Methoden und Effizienz der juristischen Strafver-
folgung in diesen drei Ländern bei der Ahndung der Verbrechen im KZ Lublin-Majdanek an.
Weitere Referate hielten Elissa Mailänder Koslov/CIERA Paris und Bertrand Perz/Universität
Wien – Institut für Zeitgeschichte. Projektleiter Winfried R. Garscha, der als „Commentator”
fungierte stellte das Projekt vor und verwies auf die Rolle der österreichischen Justizverwal-
tung für dessen Initiierung und Finanzierung.

Am 29. Oktober 2010 wurden die Ergebnisse der Forschungsarbeit auf der internationalen
Konferenz „Das KZ Lublin-Majdanek und die Justiz. Polnische, deutsche und österreichische
Prozesse im Vergleich – eine Bilanz” in Wien präsentiert und von FachkollegInnen aus Öster-
reich, Deutschland und Polen sowie einem interessierten Publikum diskutiert. Ko-Veranstal-
ter waren das Wiener Wissenschaftliche Zentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaf-
ten (PAN) und die Staatliche Gedenkstätte Majdanek.
Die am Vorabend (28. Oktober 2010) im Rahmen der Wiener Vorlesungen durchgeführte
Enquete „Gegenüberstellung: Die Konfrontation von Opfern und TäterInnen in Kriegsverbre-
cherprozessen” erörterte die Frage, welche Schlussfolgerungen aus dem Umgang mit den
Überlebenden in NS-Prozessen für die Behandlung von Zeugen und Zeuginnen in aktuellen
Kriegsverbrechenprozessen gezogen werden können.

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                                         Projektleitung: Dr. Winfried R. Garscha (winfried.garscha@doew.at; 0699 10332810)

Winfried R. Garscha, Claudia Kuretsidis-Haider sowie die Projektsachbearbeiter Siegfried
Sanwald und Andrzej Selerowicz werden die Ergebnisse in der Reihe „Veröffentlichungen der
Forschungsstelle Nachkriegsjustiz” im Grazer Verlag Clio publizieren (siehe dazu die Inhalts-
angabe des Bandes „Das KZ Majdanek und die Justiz. Strafverfolgung und verweigerte Ge-
rechtigkeit in Polen, Deutschland und Österreich 1944 bis 2008” im Anhang) und am drei-
ßigsten Jahrestag des Urteilsspruches des Düsseldorfer Majdanek-Prozesses am 30. Juni
2011 auf einer von der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf und der Justizakademie Reck-
linghausen organisierten Veranstaltung im Justizzentrum Düsseldorf präsentieren. Mither-
ausgeber wird die Staatliche Gedenkstätte Majdanek sein; einige Beiträge des Bandes sollen
2012 auf Polnisch in der wissenschaftlichen Zeitschrift der Gedenkstätte – den „Zeszyty Maj-
danka” – veröffentlicht werden.

4. Das gescheiterte Grazer Majdanek-Verfahren (1963-1973)

Das KZ Majdanek war – neben Mauthausen, Dachau, Buchenwald und Auschwitz – eines je-
ner Lager, in denen das Wachpersonal zu einem relevanten Anteil aus Österreich stammte.
In dem seit 1963 anhängigen Strafverfahren gegen Alois Kurz u.a. ermittelte die Staatsan-
waltschaft Graz wegen der Beteiligung von österreichischen Tatverdächtigen – ehemalige
Angehörige der Wachmannschaft (Kurz war Kompanieführer der SS-Lagerwache), Kapos
und einen KZ-Arzt – an Massenerschießungen von jüdischen Häftlingen und sowjetischen
Kriegsgefangenen, Einzeltötungen und der Teilnahme an Selektionen von nicht mehr ar-
beitsfähigen Häftlingen 1942-1944.
Die gegen mehrere Hundert Verdächtige eingeleiteten Vorerhebungen musste alsbald in
mehr als 90 Prozent der Fälle eingestellt werden, weil sich schnell herausstellte, dass die
betreffenden Personen bereits verstorben oder keine österreichischen Staatsangehörigen
waren. Für das Verfahren gegen die verbleibenden 64 Beschuldigten wurden im Zuge von
Rechtshilfeersuchen zahlreiche im Ausland lebende ZeugInnen befragt und Vernehmungs-
protokolle ausgewertet, die polnische und deutsche Strafverfolgungsbehörden sowie teilwei-
se auch der israelischen Polizei zur Verfügung stellten.
Obwohl eine Fülle an Beweismitteln beschafft werden konnte – der Verlauf der Vorerhebun-
gen der Staatsanwaltschaft Graz 1963 bis 1973 zeigt, dass die österreichische Justiz be-
trächtliche Anstrengungen unternahm, noch lebende Tatverdächtige vor Gericht zu stellen –,
wurde das Verfahren am 12. Jänner 1973 durch die Oberstaatsanwaltschaft Graz mit der Be-
gründung eingestellt, dass es trotz jahrelanger und intensiver Erhebungen nicht gelungen

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                                         Projektleitung: Dr. Winfried R. Garscha (winfried.garscha@doew.at; 0699 10332810)

sei, konkrete Beweise zu finden, um auch nur einem Tatverdächtigen Mord oder eine Mit-
schuld daran nachweisen zu können. Allerdings kamen in den nachfolgenden Jahren im Zu-
ge des Düsseldorfer Prozesses Informationen ans Tageslicht, die die ursprünglichen Anschul-
digungen erhärteten und präzisierten. Die Einstellung des Grazer Verfahrens erfolgte somit
zu einem Zeitpunkt, als Tatvorwürfe noch nicht hinreichend aufgedeckt waren, deren Klä-
rung in dem bevorstehenden Gerichtsverfahren in Düsseldorf (über das die Grazer Staatsan-
waltschaft durch die staatsanwaltschaftliche Zentralstelle Köln laufend informiert wurde) er-
wartet werden konnten. Die zeitliche Nähe zum gescheiterten Versuch der österreichischen
Justiz, Verbrechen in den Konzentrationslagern Auschwitz und Mauthausen zu ahnden (Frei-
sprüche in Wiener und Linzer Geschworenengerichtsverfahren am 10. März, 4. Mai und 27.
Juni 1972), würden eine Orientierung der Oberstaatsanwaltschaften, durch den Verzicht auf
die Anklageerhebung eine Fortsetzung dieser Serie von zweifelhaften Freisprüchen durch die
LaienrichterInnen und damit weitere negative Reaktionen in der internationalen Öffentlich-
keit zu vermeiden, plausibel erscheinen lassen. Eine abschließende Einschätzung, warum die
– aus heutiger Sicht eindeutig verfrühte – Verfahrenseinstellung tatsächlich erfolgte, ist al-
lerdings wegen des Fehlens des OStA-Handaktes nicht mehr möglich.
Besonders auffallend ist die ungenügende Kenntnis des zuständigen Staatsanwalts Dr. Ar-
thur Flick sowohl hinsichtlich des damaligen Wissensstandes bezüglich der Vorgänge im KZ
Majdanek als auch hinsichtlich der damals bereits hinlänglich bekannten Methoden, deren
sich die nationalsozialistischen Täter zur Tarnung ihrer Verbrechen bedienten. Zusätzlich
wurden ihm noch zwei weitere große Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen aufgebür-
det: das Verfahren gegen Gerulf Mayer wegen der Teilnahme an Massenmorden in mehre-
ren Orten des Distrikts Radom und das aus diesem ausgeschiedene Verfahren gegen Karl
Macher wegen Nicht-Verhinderung der Ermordung polnischer Jüdinnen und Juden in Tomas-
zów-Mazowiecki. Das heißt, eine Überlastung war gleichsam vorprogrammiert.
Wenn noch dazu offenkundig wenig Bereitschaft vorhanden war, Aussagen von Täterzeugen
kritisch zu hinterfragen und auf der anderen Seite – wie der Abschlussbericht der Grazer
Staatsanwaltschaft vom 31. Oktober 1972 deutlich zeigt – die Aussagen von Opferzeugen
ausschließlich danach bewertet werden, ob sie den Verteidigern der Angeklagten glaubwür-
dig erscheinen würden, und keine eigene Anstrengungen der Staatsanwaltschaft und des
Gerichts unternommen werden, um den möglicherweise Prozess entscheidenden Kern dieser
Aussagen zu überprüfen, dann ist die vorzeitige Einstellung das zwangsläufig nächstliegende
Ergebnis eines Ermittlungsverfahrens. Es liegt die Vermutung nahe, dass der Grazer Staats-
anwalt dabei auch die Erfahrungen vorangegangener NS-Prozesse berücksichtigte. Das gilt

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Projekt: Verfolgbarkeit nationalsozialistischer Verbrechen: Der Komplex Lublin-Majdanek und die österreichische Justiz
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                                         Projektleitung: Dr. Winfried R. Garscha (winfried.garscha@doew.at; 0699 10332810)

in ganz besonderem Maße für den Murer-Prozess in Graz 1963, in dem der vorsitzende Rich-
ter es zugelassen hatte, dass Verteidiger, aber sogar Zuhörer ZeugInnen einschüchterten
und verächtlich machten, wodurch sie unglaubwürdig wirkten.
Wird jedoch eine Vorgangsweise eingeschlagen wie im Düsseldorfer Majdanek-Prozess, dann
können auch, obwohl Verbrechen Jahrzehnte zurückliegen, Aussagen zu einem konkreten
Tatnachweis führen, zumal, wenn der/die Vernehmende die ZeugInnen in weiterer Folge mit
gezielten und kompetenten Fragen zum Tathergang und zur Frage, welche Personen daran
beteiligt waren, hinführt. Der Umgang von Staatsanwaltschaft und Gerichtshof mit den Zeu-
gInnen im Düsseldorfer Prozess war sowohl durch Einfühlungsvermögen für deren Erinne-
rungsprobleme, als auch durch Respekt vor dem Schicksal der Befragten gekennzeichnet,
was – abgesehen von der menschlichen Komponente – letztlich zu gerichtlich verwertbaren
Zeugenaussagen führte.

Der im Rahmen des Projekts analysierte Ministeriumsakt zu Majdanek zeigt jedoch, dass von
zentraler Bedeutung letztlich Entscheidungen auf politischer Ebene waren. Der Schlussbe-
richt der Staatsanwaltschaft Graz wurde vom Bundesminister für Justiz persönlich abge-
zeichnet.
Das Grazer Majdanek-Verfahren unterschied sich nicht prinzipiell von anderen Verfahren we-
gen NS-Verbrechen in den 1960er und 1970er Jahren: Weder die obligatorische Einholung
historischer Gutachten noch eine Bündelung juristischer und fachwissenschaftlicher Kompe-
tenz nach dem Vorbild der polnischen Hauptkommission zur Ermittlung von NS-Verbrechen
oder der Zentralen Stelle der deutschen Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg und ähn-
licher deutscher Einrichtungen auf Landesebene (z.B. den beiden Zentralstellen zur Verfol-
gung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen im Land Nordrhein-Westfalen bei den Staats-
anwaltschaften Dortmund und Köln) wurde von Seiten der österreichischen Justizpolitik der
1960er und 1970er Jahre für erforderlich gehalten.
Zwar wäre aufgrund der Bundeskompetenz des Justizministeriums eine separate Einrichtung
in Österreich nicht nötig gewesen. Aufgrund der Erfahrungen mit den Zentralstellen in eini-
gen deutschen Bundesländern sowie der Hauptkommission für die Erforschung nationalsozi-
alistischer Verbrechen in Polen kann jedoch mit Sicherheit gesagt werden, dass die Einrich-
tung einer personell hinreichend ausgestatteten Abteilung innerhalb des BMJ jene Anleitung
der in NS-Strafsachen ermittelnden Staatsanwälten ermöglicht hätte, die die Voraussetzung
für gründlicher vorbereitete und mit größerer zeitgeschichtlicher Kompetenz geführte Pro-
zesse in Österreich gewesen wäre. Dass die anderswo selbstverständliche Bündelung juristi-

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Projekt: Verfolgbarkeit nationalsozialistischer Verbrechen: Der Komplex Lublin-Majdanek und die österreichische Justiz
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                                         Projektleitung: Dr. Winfried R. Garscha (winfried.garscha@doew.at; 0699 10332810)

scher und fachspezifischer (in diesem Fall: zeitgeschichtlicher) Kompetenz nicht einmal an-
gedacht wurde, liegt zweifellos in der Beharrlichkeit von bewährten Mustern bürokratischer
Abläufe. Eine Methode der Vorbereitung von Strafverfahren, bei der ExpertInnen für die je-
weilige Prozess-Materie von Anbeginn ein Verfahren begleiten und mit ihrem Fachwissen
Umwege zu vermeiden und Relevantes herauszufiltern helfen, war im österreichischen Straf-
prozess unvorstellbar, bis die großen Wirtschaftsstrafverfahren der 2000er Jahre bewiesen,
dass es Materien gibt, die mit der klassischen Auslagerung der Fachkompetenz in ein Exper-
tengutachten nicht bewältigt werden können. Erst 2010 wurde – auf Initiative von Justizmi-
nisterin Claudia Bandion-Ortner – dieses Modell der „Teamarbeit”, zumindest partiell und
vorerst beschränkt auf große Wirtschaftsstrafverfahren, umgesetzt.

In einer Hinsicht ist allerdings das Grazer Majdanek-Verfahren – wie jedes große Verfahren
wegen NS-Verbrechen – von bleibender Bedeutung: durch die Ermittlungstätigkeit von
Staatsanwalt und Untersuchungsrichter, durch zahlreiche Vernehmungsprotokolle von Zeu-
ginnen und Zeugen sowie durch das Zusammentragen historischer Dokumente leistet die
Justiz einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für die Historiografie. Angesichts der spärli-
chen historischen Originalquellen zum KZ Majdanek sind in diesem Fall die Akten der Ge-
richtsverfahren von allergrößtem Wert für die Geschichtswissenschaft. Das gilt auch für das
Grazer Verfahren.
Die archivalische Hinterlassenschaft der NS-Prozesse führte nicht nur zu einer beträchtlichen
Ausweitung des Quellenbestandes für die NS- und Holocaustforschung, sondern ermöglicht
es auch, die Arbeit der Justiz selbst umfassend zu analysieren. Die Quellensicherung liegt
somit auch im ureigensten Interesse der Justizverwaltung selbst. Skartierungsaktionen wie
jene der OStA Graz für den gesamten Zeitraum bis einschließlich 1976 sind daher nicht nur
rechtlich bedenklich, sondern auch politisch nicht nachvollziehbar.

5. Ergebnis der Suche nach möglicherweise noch nicht bestraften Majda-
nek-TäterInnen

Mit der Erteilung des Forschungsauftrages zum Umgang der Justiz mit den Verbrechen im
Komplex Lublin-Majdanek war die Aufgabenstellung verbunden, zu prüfen, ob – und gege-
benenfalls gegen welche Personen – noch die Einleitung eines Strafverfahrens wegen derar-
tiger Verbrechen möglich erscheint.

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Projekt: Verfolgbarkeit nationalsozialistischer Verbrechen: Der Komplex Lublin-Majdanek und die österreichische Justiz
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                                         Projektleitung: Dr. Winfried R. Garscha (winfried.garscha@doew.at; 0699 10332810)

Zu diesem Zweck wurden zunächst alle in den vom Projektteam gesichteten österreichi-
schen, deutschen und polnischen Justizakten genannten Personen, die entweder in der
Wachmannschaft Dienst versahen oder als „Funktionshäftlinge” eingesetzt waren, in eine
eigens hierfür angelegten Datenbank eingegeben, die schließlich ca. 1.700 Namen umfasste.
In einem zweiten Arbeitsschritt erfolgte die Aussortierung all jener Personen, die entweder
bereits verstorben waren (bzw. aufgrund ihres Alters verstorben sein mussten) oder nach-
weisbar keinen Österreichbezug aufwiesen. Diese Aufgabe gestaltete sich v.a. deshalb als
äußerst arbeitsaufwändig, weil die Mehrzahl jener – oft noch jugendlichen – „Volksdeut-
schen” aus Rumänien und Kroatien, die 1942/43 mehr oder weniger freiwillig als SS-Männer
für den Bewachungsdienst in Konzentrationslagern wie Majdanek rekrutiert worden waren,
über Wiener Kasernen in ein deutsches KZ gebracht wurden, wo sie eine Grundausbildung
erhielten, bevor sie auf die einzelnen Konzentrationslager aufgeteilt wurden (meist handelte
es sich um die Konzentrationslager Sachsenhausen und Oranienburg bei Berlin). Viele unter
ihnen, die nach Kriegsende nicht in ihre Heimatländer zurückkehren konnten, „strandeten”
in Österreich, einige unter ihnen wanderten von hier aus nach Übersee aus, andere erwar-
ben die österreichische Staatsbürgerschaft. Nur die letztgenannte Gruppe verblieb in der Lis-
te jener, deren mögliche Verstrickung in Verbrechen in und um Majdanek mit Hilfe der ge-
sammelten Akten überprüft wurde. Da das Geburtsdatum in der Mehrzahl der Fälle nicht be-
kannt war, mussten zusätzliche Recherchen angestellt werden, welche der eruierten Perso-
nen zu jener „Alterskohorte” gehören, deren Bestrafung überhaupt noch möglich ist. Bei der
Bestimmung dieser Personengruppe war davon auszugehen, dass Verdächtige im Alter von
mehr als 95 Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr vernehmungsfähig sind; Ver-
dächtige, die zum Zeitpunkt der möglichen Straftat das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet
hatten, können aufgrund der geltenden Verjährungsbestimmungen nicht mehr vor Gericht
gestellt werden. Angesichts der Tatsache, dass Majdanek zwar im Juli 1944 befreit wurde,
aber das Bewachungspersonal auf andere Konzentrationslager aufgeteilt wurde, umfasst die
genannte „Alterskohorte” somit Personen mit Geburtsdatum zwischen ca. 1914 und dem 7.
Mai 1924 (im Fall der im KZ Majdanek verübten Verbrechen: 21. Juli 1923).
Überprüft wurden auch die in österreichischen oder deutschen Gerichtsverfahren schon ein-
mal als Beschuldigte geführten Verdächtigen, um festzustellen, ob die Akten gegen sie Tat-
vorwürfe enthalten, denen in den genannten Verfahren nicht nachgegangen wurde, sodass
ihre Strafverfolgung ohne Verletzung des Prinzips ne bis in idem möglich wäre.
Dies traf insbesondere auf zwei Hauptbeschuldigte des Grazer Verfahrens – Alois Kurz und
Georg Wallisch, den geschiedenen Ehemann der eingangs erwähnten Erna Wallisch – zu.

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                                         Projektleitung: Dr. Winfried R. Garscha (winfried.garscha@doew.at; 0699 10332810)

Beide Personen sind jedoch, was aus den Akten nicht zu entnehmen war, bereits verstorben.
Die Daten dieser und einer Reihe weiterer möglicher Verdächtiger konnten in Meldeanfragen
eruiert werden, die über das BMJ an das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terroris-
musbekämpfung weitergeleitet, bzw. über die Zentrale Stelle der deutschen Landesjustiz-
verwaltungen in Ludwigsburg an das Bundeskriminalamt sowie an die Deutsche Rentenver-
sicherung gestellt wurden.

6. Welche nationalsozialistischen Straftaten können – vom Standpunkt der
Geschichtswissenschaft – noch strafrechtlich verfolgt werden?

Obwohl, solange potentielle NS-TäterInnen noch leben, das zufällige Auftauchen eines/einer
Verdächtigen nie ausgeschlossen werden kann, können vom Standpunkt der Geschichtswis-
senschaft mit großer Sicherheit zwei Verbrechenskomplexe als noch geeignet für die Einlei-
tung von Gerichtsverfahren angesehen werden:
•   Straftaten, für die in relevantem Umfang historische Dokumente existieren
Dies gilt in erster Linie für die nationalsozialistischen Medizinverbrechen, in geringerem Aus-
maß auch für Wehrmachtsverbrechen, da für die meisten Einheiten Divisionstagebücher und
ähnliche administrative Quellen überliefert sind. Wie sich am Fall des am 11. August 2009
vom Landgericht München zu einer (am 11. November 2010 rechtskräftig gewordenen) le-
benslänglichen Freiheitsstrafe verurteilten Wehrmachtsoffiziers Josef Scheungraber zeigte,
kann auch bei einem schwachen Zeugenbeweis das Vorliegen derartiger Dokumente
(Diensttagebücher, Dienstverteilungspläne) für eine Verurteilung ausreichen. Inwieweit die
wenigen in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren in Österreich bekannt gewordenen Fälle
möglicher Verstrickung in Wehrmachtsverbrechen diesen Kriterien entsprechen, wäre Auf-
gabe juristischer Ermittlungen, die allerdings – wie gerade der oben erwähnte Fall Scheun-
graber zeigt – durch zusätzliche Recherchen in Militärarchiven abgestützt werden müssten.
•   Verbrechen, die aufgrund ihres exzeptionellen Charakters ZeugInnen auch noch nach
    Jahrzehnten deutlich in Erinnerung blieben
Dazu gehört v.a. der Verbrechenskomplex der so genannten Endphaseverbrechen, d.h. jene
teilweise entsetzlichen Gewalttätigkeiten in den letzten Wochen der NS-Herrschaft, die v.a.
in Ostösterreich gewissermaßen vor der Haustür der Bevölkerung stattfanden. Eine große
Anzahl dieser Verbrechen wurde – nicht zuletzt durch Aussagen von unmittelbaren Tatzeu-
gInnen – in den Volksgerichtsprozessen 1945 bis 1955 aufgeklärt; es ist jedoch keineswegs
auszuschließen, dass entweder ZeugInnen, die bisher geschwiegen haben, sich zu einer

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                                         Projektleitung: Dr. Winfried R. Garscha (winfried.garscha@doew.at; 0699 10332810)

Aussage bereit erklären, oder in der Nachkriegszeit untergetauchte Tatverdächtige mit den
heute zur Verfügung stehenden technischen Mitteln (bspw. elektronisches Telefonbuch) aus-
geforscht werden könnten.
Bisher beruhte das Auftauchen derartiger Tatverdächtiger auf Zufallsfunden, wenn bspw. ei-
ne studentische Arbeitsgruppe im Zuge der Durchsicht eines Gerichtsverfahrens wegen End-
phaseverbrechens auf den Namen eines Tatbeteiligten stößt, wie zuletzt im Fall des in den
Massenmord von Rechnitz 1945 verwickelten Angehörigen der SS-Panzer-Division „Wiking”
Adolf Storms. Dieser wurde daraufhin von der Staatsanwaltschaft Duisburg im November
2009 wegen Mordes angeklagt, starb aber vor Prozessbeginn am 28. Juni 2010.

Der Fall Erna Wallisch, der, wie eingangs dargestellt, den Ausgangspunkt für das For-
schungsprojekt zum Umgang der Justiz mit dem KZ Majdanek bildete, zeigt, dass jedoch
selbst dort, wo zunächst nur Zeugenaussagen zur Verfügung stehen, die Einleitung eines
Strafverfahrens sinnvoll sein kann. Indem die Justiz derartigen Anschuldigungen nachgeht,
stellt sie ihren Verfolgungswillen bezüglich nationalsozialistischer Straftaten unter Beweis
und signalisiert gleichzeitig, dass sie die lebenslangen Traumata der KZ-Häftlinge ernst
nimmt, auch wenn sich am Ende des Verfahrens herausstellen sollte, dass die noch verfüg-
baren Beweismittel für eine Anklageerhebung nicht ausreichen.
Voraussetzung dafür, dass derartigen Anschuldigungen Glaubwürdigkeit zugebilligt werden
kann, ist, dass der/die Zeuge/Zeugin und der/die Beschuldigte einander über einen längeren
Zeitraum wiederholt begegneten – sei es als Häftling und Aufsichtsperson in einer Haftstät-
te, oder u.U. auch als Angehörige von SS- oder Polizeieinheiten, in denen eine bestimmte
personelle Kontinuität gegeben war.
Auch in diesen Fällen ist jedoch der Rückgriff auf historische Dokumente unerlässlich; im ge-
genständlichen Fall handelte es sich bspw. darum festzustellen, welche SS-Aufseherin außer
Erna Wallisch zum fraglichen Tatzeitpunkt schwanger war, da die Zeugin selbstverständlich
die mutmaßliche Täterin nicht beim Namen nennen, sondern nur beschreiben konnte.

7. Schlussfolgerungen für die gegenwärtige Justizpolitik

Ein unerwartetes Ergebnis der in Punkt 5 geschilderten Recherche nach potentiellen Tatver-
dächtigen war, dass die im österreichischen Strafrecht gültige Privilegierung junger Erwach-
sener zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr bedeutet, dass ausgerechnet jene Altersgruppe,
die den Großteil der oben genannten „volksdeutschen” SS-Freiwilligen der Bewachungs-

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                                         Projektleitung: Dr. Winfried R. Garscha (winfried.garscha@doew.at; 0699 10332810)

mannschaft ausmachte, in Österreich nicht mehr verfolgt werden kann. Dies traf übrigens
auch auf den während der Laufzeit des Projekts aktuell gewordenen Fall des aus Kroatien
stammenden Josias Kumpf zu, der von den USA nach Österreich abgeschoben wurde, weil
er es verabsäumt hatte, bei der Einwanderung seine Bewachertätigkeit im SS-Ausbildungsla-
ger Trawniki bei Lublin anzugeben. Kumpf, gegen den in Österreich wegen der Verjährungs-
bestimmungen kein Strafverfahren eingeleitet werden konnte, war im Lager Trawniki, wie
auch viele „volksdeutsche” SS-Männer in Majdanek, indirekter Tatbeteiligter des Massen-
mords im Zuge der so genannten Aktion Erntefest am 3./4. November 1943.

Dem – unter Bezugnahme auf den Fall Kumpf – in der internationalen Presse erhobenen
Vorwurf, Österreich sei ein „sicherer Hafen” für Kriegsverbrecher, kann im Hinblick auf die
Verjährungsbestimmungen für NS-Verbrechen keine rechtsstaatliche Alternative entgegen-
gesetzt werden. Dies gilt jedoch nicht für Kriegsverbrechen, wie sie in den 1990er Jahren
auf dem Balkan begangen wurden.
Auch in gegenwärtigen Konflikten ist der Anteil von Straftätern unter 21 Jahren, die an der
unmittelbaren Ausführung von Kriegs- und Humanitätsverbrechen beteiligt sind, nicht zu un-
terschätzen. In jenen durchaus denkbaren Fällen, in denen sowohl Täter als auch Angehöri-
ge der Opfer nach Ende der Kriegshandlungen in Österreich Zuflucht fanden und die öster-
reichische Staatsbürgerschaft annahmen, ergibt sich für die Verfolgung derartiger Verbre-
chen eine Zuständigkeit der österreichischen Justiz. Bleibt die geltende Privilegierung junger
Erwachsener hinsichtlich der Verjährungsbestimmungen auch für Kriegs- und Humanitäts-
verbrechen aufrecht, wird sich Österreich ab 2015/16 neuerlich dem Vorwurf aussetzen, ein
„sicherer Hafen” für Kriegsverbrecher zu sein. Die genannte Arbeitsgruppe wird daher Vor-
schläge für eine Änderung der Rechtslage diskutieren.

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