ENGEL DER EINSAMEN - Irma Aregger
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A LT E R S B E T R E U U N G ENGEL DER EINSAMEN Die Betagtenbetreuerin Maria-Rosa Rota ist für ihre Kundschaft ein Rettungsanker im Seniorenalltag. Sie ist Zuhörerin und Diskussionspartnerin, massiert schmerzende Füsse – und kommt ganz nebenbei manch begrabenem Hund auf die Spur. Tex t : I r m a A r e g g e r Fot o s : S t e p h a n R a p p o Maria-Rosa Rota, in jungen Jahren als kaufmännische Angestellte tätig, hat per Zufall – wie das Leben manch- mal so spielt – den für sie idealen Beruf gefunden: Eine Freundin suchte dringend eine Ferienablösung für die Haushaltshilfe bei einer älteren Dame, Maria-Rosa E sprang ein und merkte sofort, dass diese Aufgabe weit- s kommt schleichend oder abrupt – der Part- aus vielschichtiger war als staubzusaugen und einzu- ner, mit dem man zusammen alt werden woll- kaufen. Sie spürte bei der alten Dame viel Einsamkeit te, wird krank. Oder stirbt. Der geplante und ein Hadern mit der eigenen Geschichte. Im Alter Lebensabend findet nicht gemeinsam, son- bekam sie einen anderen Stellenwert in ihrer Familie, dern nur noch einsam statt. Der Alltag wird plötzlich war sie das schwächste Glied und sollte nun zäh, die Hüfte schmerzt, die Hand zittert, das damit fertig werden. Gedächtnis lässt nach. Für Pflege- und Betreuungsfäl- Maria-Rosa interessierte sich für die individuelle Be- le gibt es allerlei Angebote, da klopft zum Beispiel die treuung alter Menschen und absolvierte eine Ausbil- Spitex an, hilft saubermachen, führt Therapeutisches dung zur Altersbegleiterin. Kurz darauf zog sie ihren durch, misst den Blutdruck und schaut, dass verschrie- ersten Auftrag an Land, die Begleitung einer Seniorin, bene Medikamente eingenommen werden. Was aber, deren Kinder im Ausland Familien gegründet hatten wenn zwar das Tägliche alleine machbar ist, dabei je- und nur selten den Weg in die alte Heimat und zur an- doch die Seele zu kurz kommt, weil die Einsamkeit der gegrauten Mutter fanden. Wenig später wurde Maria- einzige Dauergast in der Wohnung ist? Rosa von einer Bekannten angefragt, ob sie Kapazitä- In der Schweiz gibt es 1566 Alters- und Pflegeheime ten habe, mit ihr zusammen ein Ehepaar zu betreuen: – so viele zählte das Bundesamt für Statistik im Jahr Die 92-jährige Rentnerin Johanna G.* kam nach einer 2018. Pro 1000 Einwohner ab 65 Jahren sind 61 Plätze Hüftoperation direkt vom Spital nachhause, eine Reha verfügbar. Ein Platz im Heim kostet rund 9000 Fran- war überhaupt keine Option, schliesslich wollte sie ihren ken im Monat. 108 000 Franken im Jahr. Zwei Drittel Mann nicht zu lang allein lassen. Maria-Rosa fiel der davon zahlt der Heimbewohner aus seinem eigenen Part zu, Johanna in ihrem Zuhause wieder in den All- Portemonnaie. Es muss also ein ganz schön grosses sein. tag zu integrieren, Schritt für Schritt dort hinzukom- Oft ist der Weg ins Heim die letzte Lösung für den be- men, wo sie gewesen war, bevor die Operation sich tagten Menschen. Anders als früher ziehen die Gross- aufgedrängt hatte. Doch während Johanna langsam wie- eltern nicht mehr ins Stöckli oder in die kleinere der in ihren vier Wänden Fuss fasste, verschlechterte Wohnung im gemeinsamen Haus, wenn ihre Enkelkin- sich der Gesundheitszustand ihres Ehemanns rapid. der zur Welt kommen. Heute wohnen sie vielleicht im Bald darauf verstarb er. Maria-Rosa blieb an Johannas selben Dorf oder im gleichen Kanton, nicht wenige aber haben ihre nächsten Angehörigen viel weiter weg, so- * Name der Redaktion bekannt dass die schnelle Bitte um einen Botengang oder der spontane Ausflug ins Grüne gar nicht möglich ist. annabelle 4/20
Seite. Sie half ihr bei der Trauerbewältigung und sorgte dafür, dass sie sich ein Stück Unabhängigkeit bewahren konnte. Johanna muss ihre Kinder jetzt nicht ständig um Hilfe bitten, um ihren Alltag zu bewältigen. Sie be- weist ihnen und sich selbst, dass sie das alles ziemlich mit Fremden geteilt. Wenn man Hilfe braucht, ist meist gut allein hinbekommt. Darauf ist Johanna stolz. die Tochter da, und lieber wäre es einem natürlich, wenn Immer am Dienstag, pünktlich um 9 Uhr, öffnet man gar nicht danach fragen müsste. Jemandem fürs Johanna ihre Haustüre, gepflegt und adrett gekleidet. Reden oder Begleiten eines Ausfluges Geld zu zahlen? Das Aufrechtstehen macht ihr Mühe, trotz der neuen Das kommt für viele ältere Menschen nicht infrage.» Hüfte, es fehlt ihr die Kraft. Johanna und Marie-Rosa Dass Maria-Rosa regelmässig vorbeischaue, bedeute für begrüssen sich herzlich, Maria-Rosa zieht die Schuhe Tochter wie Mutter ein Stück Lebensqualität und Frei- aus, obwohl das nicht nötig wäre, wie Johanna jedes heit, meint Sandra. «Für Mama, die inzwischen gut ge- Mal versichert. Das frische Brot, das Maria-Rosa mit- lernt hat, allein zu wohnen, ist der Dienstag ein wichtiger bringt, trägt sie in die Küche, schneidet es auf und stellt Fixpunkt in ihrer Woche.» Ihr selbst, die beruflich und es in einem silbernen Körbchen auf den Esstisch, von privat recht eingespannt sei, nehme Maria-Rosa viel ab. Johanna bereits am Vorabend mit dem guten Porzellan Das moralische Dilemma, für Dienstleistungen zu eingedeckt. Erst wird zusammen gefrühstückt und ein bezahlen, die in der Familie eigentlich als selbstverständ- wenig geplaudert. Dazu wöchentlich die gleiche Frage: lich gelten, kennt Maria-Rosa nur zu gut. Die Hemm- «Hast du die Kunz gestern Abend gesehen?» Mit «Kunz» schwelle, sie zu buchen, ist recht gross. Und doch: Haben meint Johanna die Quizsendung «1 gegen 100» auf SRF, sich ältere Menschen einmal auf Maria-Rosa eingelas- moderiert von Susanne Kunz. Dabei geht es den beiden sen, wollen sie sie nicht mehr missen. Das hat einerseits nicht um die schwierigen Quizfragen, sondern vielmehr mit ihrer einfühlsamen Art zu tun, andererseits damit, ums Outfit der Frau Kunz, kleidertechnisch, frisuren- dass sie eine neutrale Position einnimmt, wenn in fami- mässig. Ist dies ausreichend erörtert, werden alltägli- liären Dingen etwas Dampf abgelassen wird. Dann ist che oder familieninterne Themen besprochen, die es Maria-Rosa, die nachhakt, die bohrt, die Spannun- Johanna mit ihrer Tochter, die in der Nähe wohnt, nicht gen auf den Grund geht. Es könne durchaus schmerz- näher bereden will. haft sein, den Spiegel vors Gesicht gehalten zu bekommen, Die Tochter Sandra G.* ist sehr dankbar, dass ihre aber wer sagt denn, dass ältere Menschen bloss geschont Mutter Johanna das Angebot von Maria-Rosa in An- werden wollen? Sie wünschten tiefgründige Gespräche, spruch nimmt. «Meine Mama gehört noch zu der Ge- um die eigene Biografie besser zu verstehen. Maria- neration, die nach aussen hin stets perfekt dastehen Rosa lässt ihren Kunden zudem viel Raum für Eigen- will», berichtet sie, «die eigenen Gefühle werden nicht ständigkeit, damit sie in ihrem Alltag die eigenen “SUPERVISION HILFT MIR, MICH ABZUGRENZEN, DAS IST MIR PERSÖNLICH SEHR WICHTIG” Was heisst schon wieder «Preset» am CD-Player? Auch da hilft Maria-Rosa Rota annabelle 4/20
M i t He rz u n d Tat Maria-Rosa Rota (61) begleitet seit mehr als 15 Jahren ältere Menschen, die allein sind und das Bedürfnis haben, sich auszutauschen, sich abzulenken, die nicht dauernd ihre eigenen Kinder beanspruchen wollen oder können. Sie hilft ihrer Klientel, die Eigenständigkeit zu bewahren, um möglichst lang in den eigenen vier Wänden zu bleiben. Sie ist Zuhörerin und Diskussions- partnerin, vermittelt auch mal zwischen den Generatio- nen. Rota hat sich zur Altersbegleiterin ausbilden lassen. «Betagtenbegleitung ist nicht mein Beruf, es ist meine Berufung», sagt sie. Maria-Rosa Rota ist verheiratet und Mutter eines erwachsenen Sohnes. Sie lebt in Thalwil. mariarosarota.ch Fähigkeiten wieder entdecken können. Auch wenn nicht mehr alles gleich gut läuft wie früher, die Lösungen für vermeintliche oder wirkliche Probleme selbst zu finden, stärke das Selbstbewusstsein und gebe ihnen die Frei- Ein bisschen auch wie Freundinnen: Betagtenbegleiterin heit, möglichst lang unabhängig daheim zu bleiben. Maria-Rosa und ihre «Dienstagsklientin» Johanna Die Leistungen der Spitex für den Pflegefall werden von der Krankenkasse unterstützt. Hauswirtschaftliche Hilfe fällt nicht unter die obligatorische Versicherung und muss aus dem eigenen Budget beglichen werden. solchen Situationen sei es wichtig, dass sie immer und Ebenso wie die Dienste von Maria-Rosa. Zu ihrem An- immer wieder zuhöre, Verständnis zeige, aber auch mal gebot gehört weder das Pflegen von älteren oder gebrech- kritisch hinterfrage. Warum will ihre Klientin die Toch- lichen Menschen noch das Putzen der Wohnungen. Seit ter nicht mal in den Arm nehmen? Über den eigenen über 15 Jahren bietet Maria-Rosa das Zwischenmensch- Schatten springen, Fehler eingestehen? liche an. Sie hat sich zum ganzheitlich psychologischen Gespräche über zwischenmenschliche Probleme füh- Coach, zur Altersbegleiterin, zur Leiterin Senioren- ren die Bewohner in Altersheimen untereinander nur sport ausbilden lassen, und sie geht regelmässig zur selten. Manche genieren sich, sie wollen andere deswegen Supervision. «Supervision hilft mir, mich abzugrenzen, nicht belästigen und ziehen sich lieber in die eigenen vier mein berufliches Handeln zu prüfen und zu verbessern, Zimmerwände zurück. Maria-Rosa könnte ihnen hel- das ist mir persönlich sehr wichtig», sagt sie. fen. Doch solche externen Senioren-Begleitungsange Zudem besitzt Maria-Rosa einen Fusspflege-Koffer, bote sind im Budget der Heime nicht vorgesehen. den sie bei ihren Terminen im Altersheim mitbringt. In der Wohnung von Johanna wird nun das Früh- «Ihn benutze ich eher als Vehikel», sagt sie, «beim Pfle- stück abgeräumt. Johanna streift ihre Hausschuhe ab, gen der Füsse oder beim Massieren der Fussreflexzonen tauscht sie gegen lacklederne Halbschuhe und wartet komme ich den Menschen physisch nahe, wir lachen ge- geduldig, bis ihr Maria-Rosa in den Mantel hilft. Sie er- meinsam, Humor muss ja mit zunehmenden Alter nicht greift mit der einen Hand den Gehstock, mit der ande- zwingend abnehmen. Oft tauchen auch Erinnerungen ren ihren Autoschlüssel. «Dienstags gibt es jeweils eine auf, traumatische Ereignisse, die nicht verarbeitet sind.» kleine Ausfahrt zum Wocheneinkauf, nicht wahr, So hat ihr letzthin eine Kundin von den Schuldgefüh- Maria-Rosa, dann bist du meine private Chauffeuse!», len gegenüber ihrer Tochter erzählt, schon dem Klein- sagt Johanna. Ansonsten lenke sie ihren alten Mercedes kind habe sie zu wenig Liebe geben können – dabei habe ja lieber allein. «Fahren kann ich übrigens viel sie es stets nur gut gemeint. Damit es niemandem am besser als laufen!» Wir wollen es ihr natürlich gern Materiellen fehlte, habe sie viel gearbeitet, dadurch sei glauben. • ihr das Kind durch die Schwiegermutter entfremdet Mehr Informationen und Angebote zur Seniorenpf lege worden. Die Tochter ist mittlerweile schon siebzig Jah- zuhause finden Sie unter anderem bei: Prosenectute.ch, re alt. «Natürlich beschäftigt mich diese Geschichte. Redcross.ch, Pf lege-entlastung.ch, Caritascare.ch, Pf legehilfe.ch, Seniorenbetreuungschweiz.ch Dass es jemand bis ins hohe Alter nicht schafft, ein Fa- milienproblem zu klären!», sagt Maria-Rosa Rota. In
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