DIE UKRAINE IN DEN AUGEN DEUTSCHLANDS - BILDER UND WAHRNEHMUNGEN EINES LANDES IM UMBRUCH - GIZ

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Die Ukraine in den
Augen Deutschlands
Bilder und Wahrnehmungen eines Landes im Umbruch
Projektleitung:
                      Andreas von Schumann
Leiter des Büros für politische Kommunikation, Deutsche Gesellschaft für
           Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH, Kiew

                            Roman Ivanov
stellvertretender Leiter des Büros für politische Kommunikation, Deutsche
   Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH, Kiew

                       Projektteam und Interviewer:
                   Katharina Binhack, Frankfurt
                       Alyssa Damm, Berlin
                      Dr. Oliver Gnad, Berlin
                      Olena Gordienko, Kiew
                      Mariia Henning, Kiew
                       Roman Ivanov, Kiew
                      Veranika Karzan, Kiew
                       Maryna Kovtun, Kiew
                     Olena Ovcharenko, Kiew
                  Andreas von Schumann, Kiew
                       Valentina Six, Berlin
                        Illia Tolstov, Kiew
                       Sigrid Vesper, Berlin
                      Nataliia Vlasiuk, Kiew

                         Methodische Begleitung:
                         Dr. Mischa Skribot
LUMIQUE Gesellschaft für strategische Managementservices mbH, Wien

                               Bearbeitung:
                           Dr. Oliver Gnad
             Bureau für Zeitgeschehen (BfZ) GmbH, Berlin
Vorwort                                                         6   4. Ukraine als Objekt und Subjekt in den internationalen Beziehungen    74

Prolog: Zäsuren in der Wahrnehmung der Ukraine                 10   Deutschland: Mittler oder wankelmütiger Opportunist?                   76
                                                                    Ukrainische und europäische Passivität                                 81
1. Ukrainebilder: Krim, Krieg, Krise, Korruption               20   Sonderverhältnis: Die ukrainisch-russischen Beziehungen                83

Euromaidan: Wandel der Wahrnehmungen                           24   5. Zukunftsbilder – Zukunftsperspektiven                                90
Zur Rolle deutscher Medien: Mehr Qualität, mehr Themen, bitte! 29
                                                                    Erfolgsfaktoren kontinuierlichen Wandels                               91
2. Identität(en) und kulturelle Vielfalt                       32   Ökonomisch ein schlafender Riese                                       92
                                                                    Junge Menschen – Potenzial für die Zukunft der Ukraine                 96
Zweisprachigkeit                                              34    Gehen oder blieben?                                                    98
Kulturlandschaften                                            37
Klassisches und Kulturleben der Gegenwart                     38    Sondertexte (Textkästen)
Religion und Religiosität                                     40
Offenheit und Individualität                                  43    Donbass-Ukrainer verdienen mehr Solidarität                            27
                                                                    Mangelnde Anerkennung beruflicher Bildung                              69
3. Reformagenda und gesellschaftlicher Wandel                  44   Ukrainische Parteien – personale Interessenallianzen                   70
                                                                    Zukunft der Ukraine als Lackmustest für die
Teil I: Bedingungsfaktoren gesellschaftlichen Wandels         45    europäische Idee                                                       71
Reformerfolge und Reformstau                                  45    Das Rückgrat der Ukraine ist ihre starke Zivilgesellschaft             72
Katerstimmung und zunehmender                                       Gesellschaftlicher Austausch als Schlüssel
Pessimismus in der Reformdebatte                              50    zur Modernisierung                                                      88
Macht und Einfluss der Oligarchen                             53    Binnenflucht und Internally Displaced Persons (IDP)                    101
Oligarchie und Pressefreiheit                                 55
Fehlendes Vertrauen der Bevölkerung in politische Eliten      56    Anhänge                                                                102

Teil II: Sektorreformen – ein geteiltes Echo                  58    Zur Methodik der Studie                                                103
Baustelle Justiz: Bislang bloß ein Polizei-Reförmchen         58    Datenerhebung in persönlichen Interviews                               105
Energie – ein Schlüsselsektor                                 59    Auswertung der erhobenen Daten                                         106
Neues Umweltbewusstsein, ökologische                                Gesprächspartner                                                       110
Altlasten und Umweltkriminalität                              60
„Das staatliche Gesundheitswesen ist eine Katastrophe“        61
Externe Sicherheit:
Bündnisfähig oder auf sich allein gestellt?                   63
Kampf der Korruption: Konsequentes Lippenbekenntnis           65
Qualitätsmängel und Käuflichkeit im Hochschulwesen            67
Vorwort   W      ahrnehmungen sind keine Wahrheiten. Sie sind vielmehr das Ergebnis
                 subjektiver Interpretationen – der Vermengung von Erlebtem, Erinner­
          tem, Gefühltem, Konstruiertem. Wahrnehmungen sind stark von der Zeit und
          dem Umfeld geprägt, in denen sie entstehen.

          Wenn im Rahmen dieser Studie zur Wahrnehmung der Ukraine in Deutschland
          etwa ein Gesprächspartner darauf hinweist, „wir reden viel über die Ukraine,
          aber nicht mit ihr“, dann kann man diesem Eindruck nachgehen und fragen, wie
          er wohl entstanden ist, ob er zutreffend ist oder irreführt. Doch Wahrheitsfin­
          dung war nicht unser Anliegen. Vielmehr wollten wir herausdestillieren, welche
          Gemeinsamkeiten unterschiedliche Wahrnehmungen von unterschiedlichen Per­
          sonen aufweisen, welche Konturen die Bilder von der Ukraine aufweisen, welches
                                                                                               7
          Profil und welche Verzerrungen erkennbar werden.

          So können wir zwei durchgängige Grundlinien nachzeichnen. Die erste: Der
          Blick auf die Ukraine wird als zu eng, das Wissen als zu lückenhaft, die Auf­
          merksamkeit als zu flüchtig und die Bewertungen werden als zu wenig fundiert
          empfunden. Vor dem Hintergrund der vielfältigen Kooperationsbeziehungen
          zwischen der Ukraine und Deutschland erstaunt diese Perzeption. In den Erge­
          bnissen findet man eine Reihe plausibler und weniger plausibler Gründe für diese
          bruchstückhafte Auseinandersetzung mit der Ukraine. Es wird deutlich, dass es
          sich hierbei nicht nur um ein „Darstellungsproblem“ der Ukraine handelt, son­
          dern dass die verzerrte Wahrnehmung vor allem vom Betrachter erzeugt wird.

          Eine andere Grundlinie, die sich durch alle Gespräche zieht, ist der tiefe Wunsch,
          dass sich Deutschland und die Deutschen mehr und intensiver mit der Ukraine
          auseinandersetzen. Begründet wird diese Hoffnung mit mehreren Motiven:
          mit historischen Verantwortungen der Deutschen, der kulturellen Vielfalt
          der Ukraine, dem wirtschaftlichen Potenzial des Landes, der Notwendigkeit,
          Stabilität im Osten Europas zu schaffen, oder mit möglichen Impulsen für die
          Weiterentwicklung der EU.

          Doch das auffälligste Motiv war die Begeisterung über die Entdeckungen unserer
          Gesprächspartner in ihrer eigenen Annäherung an die Ukraine. Unabhängig vom
          konkreten Anlass, die Ukraine in den Mittelpunkt ihres Interesses zu stellen,
          hoben die meisten das „weiße Blatt“ zu Beginn hervor, das sich schnell zu einer
          „bunten Leinwand“ wandeln sollte.
Vorwort

              Die Erhebung der Studie „Die Ukraine in den Augen Deutschlands“ wurde                                          reichen Gesamtbildern zusammengefügt werden. Je nachdem, in welcher
              methodisch analog zu den GIZ-Wahrnehmungsstudien „Deutschland in den                                           (beliebigen) Reihenfolge man die Kapitel liest, ergeben sich unterschiedlich
              Augen der Welt“ durchgeführt1. Unser Erkenntnisinteresse ist, wie die Ukraine                                  nuancierte Narrative der Ukraine. Die Hand des Autors wird so in den Hin­
              in Deutschland im Kontext ihrer internationalen Beziehungen und inneren Ent­                                   tergrund treten; stattdessen kann das Rohmaterial dank der zahlreichen Zitate
              wicklungen wahrgenommen wird, wo ihre spezifischen Stärken und Schwächen                                       vom Leser selbst angeordnet und interpretiert werden.
              gesehen werden und welche Erwartungen sich vor diesem Hintergrund an die
              Zukunft des Landes knüpfen.                                                                                    Erwähnt werden sollte schließlich auch, dass es sich bei der vorliegenden Studie
                                                                                                                             um einen dezidiert deutschen Blick auf die Ukraine handelt – was angesichts
              Hierzu wurden im Herbst 2017 persönliche Einzelinterviews mit 44 aus­                                          der Auswahl unserer Gesprächspartner auch nicht verwundert. Wir haben diese
              gewählten Ukraine-Kennern aus Deutschland geführt. Neben einer Auflistung                                      hoch selektive Herangehensweise aus zweierlei Gründen gewählt: zum einen, weil
              der 44 Gesprächspartner findet sich im Anhang eine detaillierte Erläuterung zur                                Deutschland ein Schlüsselpartner der Ukraine auf ihrem Weg in eine selbstbe­
              methodischen Gestaltung der Studie.                                                                            stimmte europäische Zukunft ist. Zum anderen, weil die Deutsche Gesellschaft
8                                                                                                                                                                                                               9
                                                                                                                             für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) als ein Unternehmen der Bundes­
              Der Text wählt drei unterschiedliche Perspektiven, um den Leser an die Ukraine                                 regierung gefordert ist, ihre Arbeit stets den veränderten Rahmenbedingungen
              heranzuführen: Im einführenden Prolog wird bewusst der Standpunkt eines                                        anzupassen, damit sie wirksam ist und Akzeptanz findet.
              historisch-politischen Analysten westlicher Prägung eingenommen, weil diese
              Wahrnehmung und Interpretation dem Leser wohl am vertrautesten sind.                                           Und so ist diese Wahrnehmungsstudie nicht nur ein Beitrag zur Debatte zur
              Hier werden wichtige Wegmarken ukrainischer Geschichte im 20. Jahrhundert                                      künftigen Einbettung der Ukraine in eine sich neu herausbildende europäische
              nachgezeichnet. Sie sollen helfen, die subjektiven Wahrnehmungen unserer                                       politische Ordnung. Sie soll ferner darlegen, wie sich das Ukraine-Bild seit den
              Gesprächspartner in den historischen und zeitgenössischen Kontext zu stellen.                                  Ereignissen auf dem Kiewer Maidan 2013/2014 fortentwickelt hat und wie
                                                                                                                             das Leben der Menschen in der Ukraine aus einer kritischen Außenperspektive
              Der Hauptteil widmet sich dann ganz den Aussagen und Eindrücken unserer                                        wahrgenommen wird.
              Interviewpartner. Ihre Wahrnehmungen wurden in einem mehrstufigen Ver­
              fahren zu Kernaussagen verdichtet – ein Vorgehen, das in der qualitativen Sozial­                              Andreas von Schumann, Kiew
              forschung als „Intersubjektivität“ bezeichnet wird. Durch diese Methode entsteht
              eine Sammlung kumulierter und gewichteter subjektiver Wahrnehmungen, die
              sich Stück für Stück zu einem kollektiven Gesamtbild fügen – ohne jedoch den
              Anspruch zu erheben, Objektivität oder gar Wahrheit zu sein.

              Struktur, Ordnung und Dramaturgie des Textes wurden bewusst so gewählt, dass
              das daraus entstehende Gesamtbild allein vor den Augen des Lesers entsteht und
              möglichst als fragmentiertes Mosaik erhalten bleibt. Jedes Kapitel steht für sich
              allein und kann doch mit anderen Kapiteln zu ganz unterschiedlichen, facetten­

              1 Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (Hg.), Deutschland in den Augen der Welt. Zentrale
              Ergebnisse der GIZ-Erhebung „Außensicht Deutschland – Rückschlüsse für die Internationale Zusammenar-
              beit“, Bonn/Eschborn 2012 (Download: https://www.giz.de/de/downloads/de-deutschland-in-den-augen-der-
              welt-2012.pdf); Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (Hg.), Deutschland in den Augen der
              Welt. Zentrale Ergebnisse der zweiten GIZ-Erhebung 2015, Bonn/Eschborn 2015 (Download: https://www.giz.
              de/de/downloads/giz2015-de-deutschland-in-den-augen-der-welt_2015.pdf). Die dritte GIZ-Deutschlandstudie
              erscheint im ersten Quartal 2018.
Prolog:           Als ich 1990 zum ersten Mal in den Westen, genauer: in die

Zäsuren in der
                  USA reiste, hatte ich ziemlich große Schwierigkeiten, meinen
                  Gesprächspartnern zu erklären, aus welchem Land ich kam. Klar,
                  ich hielt mich für einen Ukrainer und hatte sogar einen entspre­

Wahrnehmung der
                  chenden Eintrag in meinem sowjetischen Pass. Immerhin existierte so
                  etwas wie eine „Ukrainische Sowjetische Sozialistische
                  Republik“ - mit eigener Regierung, eigenem Parlament, und sie war

Ukraine
                  sogar offiziell Mitglied in der UNO, wofür 1945 Stalin voraus­
                  blickend gesorgt hatte. So antwortete ich auf die Frage „Where are                                     11
                  you from?“ unbeirrt und völlig arglos: „From Ukraine.“
                  Auf meine Gesprächspartner machte dies überhaupt keinen Ein­
                  druck. „Sorry?“, fragten die Höflicheren. „What?“, versuchten die
                  anderen ihre gesammelten TV-Kenntnisse abzurufen. „Bahrain?“
                  „Nein“, korrigierte ich geduldig. „Ukraine.“
                  „What’s that?“
                  „Eine der Republiken der Sowjetunion.“
                  „Oh, Russia!“, nickten die Amerikaner begeistert, als hätten sie das
                  große Los gezogen.
                  „Nein“, ich versuchte, so viel Geduld wie möglich aufzubringen.
                  „Russland ist auch eine der Republiken der Sowjetunion.“
                  Auf diese Eröffnung reagierten sie konsterniert. Russland eine der
                  Republiken Russlands? Irgendjemand war hier verrückt. Klar, wer.
                  Am Ende meiner Reise begegnete ich einem Mann, den meine
                  Erklärung nicht im Geringsten aus der Fassung brachte.
                  „Which Ukraine“, reagierte er vollkommen sachlich.
                  „Russian one or Polish one?“
                  Nun war ich an der Reihe und konnte nur verlegen murmeln:
                  „Soviet one. So far”.1

                  1 Aus: Mykola Rjabtschuk, Die reale und die imaginierte Ukraine. Essay, Frankfurt: edition suhrkamp,
                  2013, S. 11-12.
Zäsuren in der Wahrnehmung der Ukraine

                                                                                                          ter russischer Sowjetherrschaft. Der deutsche                         und eigenständiger UN-Gründungsmit­
                                                                                                          Genozidforscher Gunnar Heinsohn bezeichnete                           gliedschaft); die Bevölkerung musste wieder
                                                                                                          den Hungertod der ukrainischen Bevölkerung                            massenhafte Repressionen („Kollaborateure“),
                                                                                                          einmal als „die schnellste gegen eine einzelne                        Deportationen (Intelligenzija) und Umsied­
                                                                                                          Volksgruppe gerichtete Massentötung des 20.                           lungsmaßnahmen (nationalistisch gesinnte
                                                                                                          Jahrhunderts und womöglich der Geschichte“1.                          Westukrainer, ethnische Minderheiten)
                                                                                                          Ob Stalin und Molotow damit gezielt die                               erdulden. Mit dem Tod Stalins im Frühjahr
                                                                                                          Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukraine                               1953 und der Machtübernahme Nikita Chru­
                                                                                                          torpedieren wollten oder ob das Massensterben                         schtschows fanden die russischen Repressalien
                                                                                                          eine Verkettung rücksichtslos durchgeführter                          gegen die Ukraine ein Ende; der im Donez­
                                                                                                          Kollektivierungsmaßnahmen, Ernteent­                                  becken aufgewachsene Chruschtschow war es
                                                                                                          nahmen und Schlechtwetterperioden ist, bleibt                         auch, der die 300 Jahre zu Russland gehörende
                                                                                                          umstritten. Tatsache ist, dass die ukrainische                        Halbinsel Krim im Mai 1954 kurzerhand der
     Mit dem landestypisch frotzelnden Humor            Aus diesem Schattendasein scheint die Ukraine     Bevölkerung am Vorabend des deutschen                                 Ukraine zuschlug2.
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     beschreibt der Kiewer Schriftsteller und Jour­     immer nur dann herauszutreten, wenn sie zum       Überfalls auf die Sowjetunion eine Gesellschaft
     nalist Mykola Rjabtschuk das ewige Dilemma         Spielball geopolitischer Ambitionen angren­       am Rande des sozialen und wirtschaftlichen                            Im Kalten Krieg war die Ukraine nicht nur
     seines Landes: Es hinterlässt keinen mentalen      zender Mächte wird; und es ist bezeichnend,       Zusammenbruchs war.                                                   die Kornkammer der Sowjetunion, sondern
     Abdruck, ist beinahe ohne eigene Wahrneh­          dass die Ukraine viel eher in den Erzählungen                                                                           auch ihre Waffenschmiede und vorgerückter
     mung und steht – so weit heute lebende Gene­       dieser angrenzenden Mächte zur Geltung            Hitlers Ostfeldzug, der vor allem die Erobe­                          Standort der strategischen Streitkräfte der
     rationen zurückblicken können – im Schatten        kommt als aus ihrer eigenen Geschichtsschrei­     rung von Siedlungsgebieten in der Ukraine                             UdSSR. Hier hatte das sowjetische Militär das
     seines großen östlichen Nachbarn, Russland.        bung heraus: So war die moderne Staatswer­        und die Unterjochung des Landes als Roh­                              Gros ihrer nuklearen Mittelstreckenwaffen
     Schon ihr Landesname weist der Ukraine eine        dung 1917 nur durch den Niedergang und            stoff-Kolonie zum Ziel hatte, führte nicht nur                        stationiert, hatte im militärischen Sperrgebiet
     Randlage an der Peripherie großer Reiche zu;       die militärische Niederlage des zaristischen      zur weitgehenden Zerstörung ukrainischer                              Sewastopol auf der Krim große Verbände ihrer
     das altostslawische Wort ukraina bedeutet          Russlands möglich geworden (unterstützt           Städte und Infrastruktur, sondern auch zur                            atomar ausgerüsteten Flotte liegen und überall
     „Grenzgebiet“ (nämlich zu den turkstämmi­          durch Deutschland). Diese Unabhängigkeit          fast vollständigen Auslöschung der jüdischen                          im Land kampfbereite Divisionen mit Blick
     gen Reiternomaden entlang des sogenannten          endete bereits 1922 – nach der faktischen         Bevölkerung. In ihren Lagern tötete die SS                            gen Westen stationiert.
     „Wilden Feldes“, den Steppengebieten der           Eroberung und Besetzung durch Trotzkis Rote       rund 1,4 Millionen Gefangene; die Massener­
     heutigen Süd- und Ostukraine).                     Armee – mit der vollständigen Eingliederung       schießung Kiewer Juden in der Schlucht von                            Dass die Ukraine im Verbund der UdSSR eine
                                                        der West- und Ostukraine in den Verband der       Babyn Jar im September 1941 gehört zu jenen                           exponierte Rolle als Garnison und industri­
     Es scheint, als gäbe es nur zwei Zuschreibun­      Sozialistischen Sowjetrepubliken.                 Schreckensbildern, die das kollektive Gedächt­                        elles Rückgrat spielte, war nur wenigen im
     gen, wenn die Ukraine als völkerrechtlich-his­                                                       nis der deutschen Nachkriegsgenerationen                              Westen bewusst. Ins öffentliche Bewusstsein
     torischer Gegenstand wahrgenommen wird:            Während das westeuropäische Geschichtsbe­         geprägt haben.                                                        rückte die Ukraine erst im April 1986, als
     entweder als machtpolitische Projektions­          wusstsein mit Blick auf die Ukraine erst wieder                                                                         im nordukrainischen Tschernobyl nahe der
     fläche regionaler Großmächte (Habsburger,          mit dem Überfall des Deutschen Reiches auf        Die Rückeroberung der Ukraine durch die                               Stadt Prypjat Block 4 des Kernkraftwerks
     Polen, Deutsche, Russen, Osmanen) oder als         die Sowjetunion im Sommer 1941 einsetzt,          Rote Armee im Oktober 1944 führte nicht                               havarierte. Es war der erste Nuklearunfall, der
     historisch-kulturell zerrissenes Land zwischen     ist in der ukrainischen Memoria bis heute         nur zur faktischen Gleichschaltung des                                auf der siebenstufigen internationalen Bewer­
     Ost und West. Und so kommt es, dass das            ein ganz anderes Ereignis prägend: der als        Landes (trotz formalem Autonomie-Status                               tungsskala als GAU – größter anzunehmender
     zweitgrößte Land Europas in der öffentlichen       „Holodomor“ bezeichnete millionenfache
     Wahrnehmung bestenfalls eine untergeordnete        Hungertod der ukrainischen Landbevölkerung
                                                                                                          1 Gunnar Heinsohn, Lexikon der Völkermorde, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998; Timothy Snyder, Bloodlands: Europa zwischen Hitler
     Rolle spielt und zivilisationsgeschichtlich kei­   Anfang der 1930er Jahre, verursacht durch die     und Stalin, München: Beck 2011.
     nen merklichen Fußabdruck hinterlässt.             Zwangs­kollektivierung der Landwirtschaft un­     2 Gwendolyn Sasse, The Crimea Question. Identity, Transition and Conflict, Harvard University Press 2007.
Zäsuren in der Wahrnehmung der Ukraine

     Unfall — eingestuft wurde. Dieser Unfall wird                        von Russland realisieren wollten, willigten sie             titelte: „Autoritarismus mit menschlichem                           das am 5. Dezember 1994 am Rande der
     heute als ein Schlüsselereignis im Niedergang                        in eine kooptierende Zusammenarbeit mit                     Antlitz“5 .                                                         KSZE-Konferenz in der ungarischen Haupt­
     der Sowjetunion eingestuft, verdeutliche er                          der Nomenklatura ein, die – wie bisher – mit                                                                                    stadt zwischen Russland, den USA und dem
     doch, wie marode die Infrastruktur im Lande                          Hilfe staatlicher Organe und informeller                    Die westliche Wahrnehmung der Ukraine                               Vereinigten Königreich unterzeichnet wurde.
     war, wie leichtfertig die sowjetischen Behörden                      Netzwerke die Macht im Staate ausübte. Umso                 im Übergang von Leonid I. (Krawtschuk) zu                           Mit Verweis auf die Schlussakte von Helsinki
     mit dem Vorfall umgingen und wie wenig das                           mehr, als dass nach dem Verbot der Kommu­                   Leonid II. (Kutschma) – so es in dieser Phase                       verständigten sich die Unterhändler in drei
     Regime in der Lage war, die Folgen in den                            nistischen Partei im Jahre 1991 ein Macht­                  überhaupt Aufmerksamkeit für das Land                               getrennten Erklärungen, als Gegenleistung
     Griff zu bekommen. So wurde die Katastrophe                          vakuum entstand, das rasch von personalen                   zwischen Ost und West gab – war die eines                           für einen Atomwaffenverzicht Kasachstans,
     von Tschernobyl zum Sinnbild eines Systems,                          Verbänden – Seilschaften – gefüllt wurde.                   wohlwollenden Autoritarismus. Ohnehin                               Weißrusslands und der Ukraine die Sou­
     das nun in einen beschleunigten Prozess des                                                                                      galt das Augenmerk des Westens den Staaten                          veränität und die bestehenden Grenzen dieser
     Niedergangs eintrat.                                                 Mit diesem Pakt bremsten die Kräfte des                     Mitteleuropas, die sich gerade erst aus der                         Länder zu achten. Das Budapester Memoran­
                                                                          Neuanfangs nach Ansicht Rjabtschuks „viele                  Umklammerung der Sowjetunion befreit                                dum hat völkerrechtlich keinen bindenden
     Nach dem gescheiterten Moskauer August­                              Jahre lang die Entwicklung eines echten                     hatten. Im Dezember 1997 beschloss der                              Charakter, ist vielmehr eine Absichtserklärung
     putsch 1991 erklärte sich die Ukraine am ­­                          Mehrparteiensystems. Sie haben es zu verant­                Europäische Rat in Luxemburg die Aufnahme                           – eine Tatsache, die für die Frage der Sou­
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     24. August als erster großer sowjetischer                            worten“, so Rjabtschuk, „dass das von der                   von Beitrittsgesprächen mit zehn mittel- und                        veränität und Integrität der Ukraine im Zuge
     Kernstaat für unabhängig und löste sich – dem                        postkommunistischen Nomenklatura in                         osteuropäischen Staaten, darunter auch die                          der Krim-Annexion und des Krieges in der
     Beispiel der baltischen Staaten, Armeniens und                       der Ukraine realisierte oligarchische Projekt               drei postsowjetischen baltischen Staaten.                           Ostukraine eine weitreichende Bedeutung
     Georgiens folgend – aus dem sozialistischen                          formal den Namen und die Merkmale eines                                                                                         bekommen sollte.
     Staatenverbund heraus. Mykola Rjabtschuk                             demokratischen, nationalstaatlichen Projektes               Ein solcher Annäherungskurs stand weder
     interpretiert diese Loslösung als eine „doppelte                     erhielt.4“                                                  für die Ukraine noch für Weißrussland zur                           Mitte der 1990er Jahre, nach Abschluss des
     Emanzipation“ – nämlich „der Bürgerge­                                                                                           Debatte: Als postsowjetische Kernstaaten                            Budapester Memorandums, verschwand die
     sellschaft vom Staat und der Nation vom                              Anders als in den baltischen Staaten, wo die                mit engen historischen, gesellschaftlichen,                         Ukraine faktisch für ein Jahrzehnt aus der
     Imperium“3.                                                          Zivilgesellschaften nach dem Zusammenbruch                  wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen                       Wahrnehmung der westlichen Öffentlichkeit.
                                                                          der Sowjetunion die Kontrolle über den                      zu Russland war ein Ausgreifen westlicher In­                       Allenfalls die Erinnerung an das Reaktor­
     Nach dem Unabhängigkeitsreferendum am 1.                             Staatsapparat übernahmen und das autoritär                  stitutionen in den Cordon sanitaire Russlands                       unglück von Tschernobyl, das sich im April
     Dezember 1991 wurde der ehemalige ZK-                                zentralistische System in ein pluralistisches,              vollkommen undenkbar. Ganz abgesehen                                1996 zum zehnten Mal jährte, und die Frage
     Sekretär Leonid Krawtschuk mit überwälti­                            liberal-demokratisches verwandelten, verharrte              von der Tatsache, dass sowohl Weißrussland                          der Erneuerung des schützenden Betonmantels
     gender Mehrheit zum ersten Präsidenten der                           die Ukraine weitgehend in ihren alten Macht­                wie auch die Ukraine im Dezember 1991 die                           („Sarkophag“) um den havarierten Atom­
     unabhängigen Ukraine gewählt – und damit                             strukturen. Auch wenn es den alten Eliten                   Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)                             meiler produzierten im Westen noch Schlag­
     eine Elitenkontinuität gewährleistet, die nicht                      nicht gelang, die Kräfte einer emanzipierten                mitbegründet hatten, deren Ziel es war, einen                       zeilen. Ohnehin galt alle Aufmerksamkeit der
     nur zu einer „unvollendeten Revolution“                              Bürgergesellschaft vollends ihrem autoritären               gemeinsamen Wirtschafts- und Sicherheits­                           Zukunft Russlands, das in den 1990er Jahren
     führte (Taras Kuzio), sondern – wie sich                             Herrschaftsanspruch zu unterwerfen, so war                  raum in Nachfolge der Sowjetunion zu etablie­                       in eine schwere wirtschaftliche und soziale
     hera­usstellen sollte – auch den Grundstein für                      die Zivilgesellschaft dennoch nicht in der                  ren. Ohnehin stand für den Westen nicht                             Krise rutschte und unter der schwachen und
     ein durch und durch korruptes politisches Sys­                       Lage, den baltischen Pfad einzuschlagen. Was                die Demokratisierung oder wirtschaftliche                           erratischen Führung Boris Jelzins alle Mühe
     tem legen sollte. Denn Postkommunisten und                           blieb, war ein „erzwungener Pluralismus“                    Modernisierung der Ukraine im Vordergrund,                          hatte, den russischen Staat in Einheit zu be­
     Nationalisten gingen eine unheilige Allianz                          (Lucan Way) und eine hybride Demokratie                     sondern ihre atomare Abrüstung.                                     wahren (u. a. erster Tschetschenienkrieg).
     ein: Weil die nach nationaler Unabhängigkeit                         mit zunehmend autoritären Zügen. Oder wie
     strebenden Kräfte nun endlich die Loslösung                          die Zeitschrift East European Reporter einmal               Das gelang schließlich mit dem Abschluss                            Dieses Mauerblümchen-Dasein der Ukraine
                                                                                                                                      des sogenannten Budapester Memorandums,                             änderte sich erst, als im Herbst 2004 der Prä­
     3 Mykola Rjabtschuk, Die reale und die imaginierte Ukraine, Frankfurt am Main: Suhrkamp (edition suhrkamp 2418) 2006, S. 88.

     4 Mykola Rjabtschuk, Die reale und die imaginierte Ukraine, Frankfurt am Main: Suhrkamp (edition suhrkamp 2418) 2006, S. 93 f.   5 Mykola Rjabtschuk, Authoritarianism with a Human Face, in: East European Reporter, Vol.5 (November/December 1992), S. 52-56.
Zäsuren in der Wahrnehmung der Ukraine

     sidentschaftswahlkampf um die Nachfolge           endlich zu öffnen und zu erneuern. Eine Hoff­
     Leonid Kutschmas begann. Der Wahlkampf            nung, die bald zerstob, weil Juschtschenko und
     war überschattet von einem – niemals              Timoschenko ihr politisches Kapital rasch im
     aufgeklärten – Vergiftungsversuch des libe­       fortwährenden Prestigewettstreit aufbrauchten.
     ralen Präsidentschaftskandidaten Wiktor           Schon bei den Parlamentswahlen 2006 schlug
     Juschtschenko. Ein Plot wie in einem Holly­       das Pendel wieder zugunsten von Januko­
     wood-Streifen mit vermeintlich klar verteilten,   wytschs „Partei der Regionen“ aus und Janu­
     archetypischen Rollen: das machtgierige           kowytsch wurde überraschend Ministerprä­
     Russland als kalt kalkulierender Hegemon,         sident. Doch bereits ein Jahr später musste er
     die freiheitsliebende Ukraine als Opfer. Über     das Amt nach vorgezogenen Parlamentswahlen
     Nacht füllte das Geschehen in Kiew die            wieder an Julija Timoschenko abtreten, die
     Frontseiten der großen Tageszeitungen und des     schließlich bis Anfang 2010 – nun in scharfer
     Boulevards.                                       Abgrenzung zu Präsident Juschtschenko – die
                                                       Amtsgeschäfte der ukrainischen Regierung
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     Juschtschenko hatte sich im Wahlkampf nicht       führte.
     nur für einen konsequenten Antikorrup­
     tionskurs stark gemacht; auch machte er aus       Retrospektiv erscheint es, als sei die ukraini­
     seiner antirussischen bzw. proeuropäischen        sche politische Elite in den Jahren 2004 bis
     Gesinnung keinen Hehl. Obwohl Juschtschen­        2014 beinahe ausschließlich mit internen Po­
     ko aufgrund seiner Vergiftung vier Wochen         sitionierungskämpfen befasst gewesen. Aber es
                                                                                                         »Das Ukraine-Bild in Deutschland ist sehr
     vor der Wahl seinen Wahlkampf beenden             ging um mehr: Zum ersten Mal wurde inner­         schwankend – zwischen Begeisterung (nach den
     musste, gelang ihm nach dem ersten Wahlgang       halb der politischen Institutionen des Landes
     der Einzug in die Stichwahl gegen Wiktor          ein offener Machtkampf zur Ausrichtung der        Maidan-Revolutionen) und Ernüchterung (auf­
     Janukowytsch, den amtierenden Ministerprä­        Ukraine zwischen Ost und West ausgetragen.
     sidenten und Protegé Moskaus. Zwar gewann         Während Wiktor Juschtschenko einen klaren         grund der politischen Stagnation und Reform­
     Janukowytsch die Stichwahl am 21. Novem­          Westkurs verfolgte, den Beitritt der Ukraine
     ber 2004 zunächst knapp. Als sich jedoch          sowohl zur EU wie zur NATO befürwortete
                                                                                                         verschleppung).«­ (534)1
     der Vorwurf des Wahlbetrugs erhärtete und         und sich deutlich gegen Moskau positionierte
     sich die öffentlichen Proteste zur „Orangen       (etwa während der Georgienkrise 2008, was
     Revolution“ ausweiteten, verfügte der Oberste     nach Ansicht zahlreicher Beobachter zu wie­
     Gerichtshof der Ukraine eine Wiederholung         derholten „kalten Sanktionen“ Moskaus durch
     des zweiten Wahlganges. Aus diesem Urnen­         Kappen der Gaslieferungen führte), wollte
     gang ging Wiktor Juschtschenko am 26.             Ministerpräsident Wiktor Janukowytsch das
     Dezember 2004 mit knapp 52 Prozent der            Land nicht vollends von Moskau wegführen:
     abgegebenen Stimmen als Sieger hervor.            Zwar sprach er sich für eine Annäherung an
                                                       die Europäische Union aus, aber eine
     Mit Wiktor Juschtschenko und der kämp­            NATO-Mitgliedschaft stand für ihn außer
     ferisch-charismatischen Julija Timoschenko,       Frage.
     die im Januar 2005 ukrainische Minister­
     präsidentin wurde, schien sich die Ukraine        Angesichts der enttäuschenden Bilanz der Re­
                                                                                                         1 Die Ziffern am Ende der hervorgehobenen Zitate beziehen sich auf die Kodierung der einzelnen Kern­
     nach einem Jahrzehnt des Autoritarismus nun       formkräfte führten die Präsidentschaftswahlen     aussagen innerhalb der Datenmaterials der Studie.
Zäsuren in der Wahrnehmung der Ukraine

     im Februar 2010 zu einer Wiederherstellung      versuchte Putin an russischen Interessen in       Ziele in der Ostukraine nicht erreicht; aber es      mit Ukraine-Kennern in Deutschland statt.
     der alten Kräfteverhältnisse: Der Sieg Wiktor   der Ukraine zu retten, was noch zu retten         kann sich sicher sein, dass der Westen Kiew          Ihr Blick auf das osteuropäische Land reflek­
     Janukowytschs in der Stichwahl gegen Julija     war. Nach Absetzung der legitimen Krim-Re­        militärisch nicht zur Seite stehen wird, sollte es   tiert nicht nur sein jahrzehntelanges Ringen
     Timoschenko rückte die Ukraine wieder ein       gierung und ersten gewaltsamen Ausschrei­         zu einer Verschärfung des Konflikts im Don­          um Neuausrichtung, Modernisierung und
     Stück weit gen Osten. Und sie wurde wieder      tungen in der Krim-Hauptstadt Simferopol          bass kommen. So droht jede weitere Eskalation        Selbstbestimmung angesichts tiefer kulturel­
     autoritärer. Um von seinen eigenen korrup­      besetzten russische Armeeangehörige hand­         dieses niederschwelligen Konflikts zu einem          ler und sozialer Spannungen. Die Analysen
     ten Machenschaften abzulenken, wandte sich      streichartig ukrainische Militärstützpunkte       ausgewachsenen Stellvertreterkrieg zwischen          und Meinungen unserer Interviewpartner
     Janukowytsch zunächst gegen seine einstige      sowie wichtige Infrastrukturknotenpunkte auf      Russland und dem Westen zu werden.                   sind zugleich eine Momentaufnahme zum
     politische Widersacherin und ließ Julija        der Halbinsel. Hastig ließ Putin die Mario­                                                            Zustand Europas und „des Westens“. Von
     Timoschenko wegen Korruptionsverdachts          nettenregierung in Simferopol für den 16.         Gleichzeitig wächst sowohl im Land als auch          beiden – einer aktiven Zivilgesellschaft wie
     den Prozess machen. Weil das Verfahren und      März 2014 ein Referendum einberufen, um           in der internationalen Gemeinschaft die              einer interessierten europäischen Öffentlich­
     die Haft weder menschenrechtlichen noch         die Bevölkerung der (autonomen) Krim über         Befürchtung, dass der Reformwille nachlässt          keit – wird abhängen, in welche Richtung sich
     rechtsstaatlichen Grundsätzen genügten,         einen Anschluss der Halbinsel an die Russische    und die hohen Erwartungen der Bevölkerung            die Ukraine entwickeln wird. Auch Deutsch­
     setzte Brüssel zeitweise die Verhandlung des    Föderation abstimmen zu lassen. Nur zwei          an die strukturellen Veränderungen des Landes        land – wie die Europäische Union insgesamt –
18                                                                                                                                                                                                          19
     EU-Assoziierungsabkommens mit Kiew aus.         Tage nach dem Referendum wurde im Kreml           zunehmend enttäuscht werden.                         wird von dieser Richtungsentscheidung nicht
     Währenddessen verfolgte Janukowytsch eine       ein entsprechender Vertrag zum Beitritt der                                                            unberührt bleiben.
     immer widersprüchlichere Schaukelpolitik        Krim sowie der Stadt Sewastopol zur Rus­          Vor diesem – durchaus ernüchternden –
     zwischen Moskau und Brüssel, die seinen         sischen Föderation geschlossen und schließlich    Hintergrund fanden zwischen September
     innen- wie außenpolitischen Handlungsspiel­     am 21. März 2014 vom russischen Födera­           und November 2017 insgesamt 44 Gespräche
     raum immer weiter einschränkte.                 tionsrat ratifiziert. Unmittelbar danach begann
                                                     die verdeckte Intervention russischer Milizen
     Als Moskau Kiew aufgrund seines EU-Kurses       in der Ostukraine mit dem Ziel, den Ostteil
     mit Wirtschaftssanktionen unter Druck setzte    des Landes aus dem ukrainischen Staatsver­
     und damit den Beitritt der Ukraine zur Eura­    bund herauszulösen.
     sischen Zollunion erzwingen wollte, suspen­
     dierte die ukrainische Regierung unter Minis­   Allen Beteiligten war klar, dass dies das Ende
     terpräsident Mykola Asarow am 21. November      der europäischen Sicherheitsordnung bedeu­
     2013 kurzerhand die Unterzeichnung des          tete, wie sie 1990 in der Charta von Paris nie­
     EU-Assoziierungsabkommens. Es war dies der      dergelegt worden war. Unklar jedoch war, wo
     Beginn der Massenproteste auf dem Kiewer        diese eskalierende Gewalt enden würde. Derart
     Maidan. Nach wochenlanger Belagerung des        dynamisch hatte sich europäische Geschichte
     Kiewer Maidans gingen am 18./19. Februar        zuletzt im Oktober und November 1989 ent­
     2014 Sondereinheiten des ukrainischen Innen­    wickelt, als es nach monatelangen Protesten in
     ministeriums gewaltsam gegen die Protestie­     Ostdeutschland zum Fall der Berliner Mauer
     renden vor. Im Kugelhagel der Berkut-Einhei­    und dem Sturz des SED-Regimes gekommen
     ten fanden 80 Menschen den Tod.                 war.

     Danach überschlugen sich die Ereignisse:        Heute, vier Jahre nach dem Euromaidan, ist
     Während Wiktor Janukowytsch nach dem            die Ukraine im geopolitischen Niemandsland
     Massaker auf dem Maidan über seinen             zwischen Ost und West angekommen. Moskau
     Heimat-Oblast Donezk nach Moskau floh,          hat zwar seine militärischen und politischen
1. Ukrainebilder:
Krim, Krieg, Krise,
Korruption
                                                                                                                            21

                                                                           I  n Deutschland ist das Interesse an der
                                                                              Ukraine äußerst volatil, das Ukraine-Bild
                                                                           durchsetzt von Stereotypen und pauschalen
                                                                           Zuschreibungen. Während die öffentliche
                                                                           Aufmerksamkeit zwischen Desinteresse in
                                                                           Zeiten der vermeintlichen Ereignislosigkeit
                                                                           bis hin zu solidarischer Anteilnahme in Zeiten
                                                                           der Krise schwankt, verortet sich das stereo­
                                                                           type Bild der Ukraine entlang der vier „K“:
                                                                           Krim, Krieg, Krise, Korruption. Tenor ist:
                                                                           „Deutschland nimmt die Ukraine vor allem als
                                                                           Land der Krise und des Krieges wahr. Andere
                                                                           Meldungen schaffen es kaum in die deutschen
                                                                           Medien. Vielleicht noch Korruption und
                                                                           Reformstau. Aber über das bereits Erreichte
                                                                           und die neuen Gestaltungsräume für die junge
                                                                           Generation erfährt man nichts.“

                                                                           Ohnehin sei „das Wissen über die Ukraine
                      „Die Diskussion in Deutschland ist viel zu stark     in Deutschland von vielen Missverständ­
                      eine Problematisierungsdebatte. Wenn man es          nissen geprägt“, erklärt ein junger Osteuro­
                      umdreht und das enorme Potenzial der Ukraine,
                                                                           pa-Experte. Das reicht von den russischen
                      die in der überwiegenden Mehrheit proeuropäisch
                      ist, in den Mittelpunkt stellt, dann reden wir von   Herrschaftsansprüchen über die Krim bis hin
                      einem Land im Aufbruch, das die EU enorm             zu den düsteren Kolportagen über faschistische
                      stärken könnte.“ (856)                               Einflüsse im Land.“
Ukrainebilder: Krim, Krieg, Krise, Korruption

     „Die breite Bevölkerung in Deutschland geht                                                      „Deutschland nimmt die Ukraine vor allem als
     davon aus, dass in der Ukraine überall Ukrai­                                                    Land der Krise und des Krieges wahr. Andere
     ner leben – außer im Osten und auf der Krim,                                                     Meldungen schaffen es kaum in die deutschen
     da leben Russen. Sehr viel differenzierter ist das                                               Medien. Vielleicht noch Korruption und Re­
     Bild in der breiten Öffentlichkeit nicht.“ (879)                                                 formstau. Aber über das bereits Erreichte und
                                                                                                      die neuen Gestaltungsräume für die junge Gene­
                                                                                                      ration erfährt man nichts.“ (661)

22                                                                                                                                                                                                          23
     Solche Zerrbilder gingen auf die russische       „Viele Deutsche halten Tschaikowsky ja auch     Einige Interviewpartner gewähren ei­              nationalistisch orientiertes Land, das ohne den
     Medien- und Propagandapolitik der Jahre          für einen Polen“ – allesamt beredte Beispiele   nen Einblick in ihre eigene, schrittweise         Euromaidan niemals eine europäische Pers­
     2014/2015 zurück. Insofern habe Russland         weit verbreiteter Unkenntnis und Ignoranz,      Ukraine-Annäherung – an ein völkerrechtli­        pektive bekommen hätte.“ Und eine andere
     sein Ziel der Desinformation und illegitimen     so die Ansicht zahlreicher Interviewpartner.    ches Subjekt, das auch für sie seinerzeit kaum    Gesprächspartnerin lässt uns an einem Er­
     Einflussnahme durchaus erreicht, glaubt ein                                                      fassbar gewesen sei: „In der Schule habe ich in   weckungserlebnis ganz anderer Art teilhaben:
     Berliner Medienschaffender. So gehe die breite   Deutsche scheinen sich die Ukraine vor          Verbindung mit der Ukraine zwar etwas von         „Als ich zum ersten Mal in Lemberg war, hatte
     Bevölkerung in Deutschland etwa davon aus,       allem über Russland zu erschließen. „Für        Landwirtschaft und Kornkammer Europas             ich den Eindruck, postsowjetische Menschen
     „dass in der Ukraine überall Ukrainer leben –    die gewöhnlichen Deutschen ist die Ukraine      gehört, aber als eigenständiges Land habe ich     laufen durch Österreich.“ Stets ist es die eigene
     außer im Osten und auf der Krim, da leben        ein unbekanntes Land, das oft als Teil der      die Ukraine erst wahrgenommen, als ich schon      Brille oder ein verzerrendes Prisma, das den
     Russen“.                                         Sowjetunion, später Russlands gesehen           berufstätig war.“                                 Blick der Menschen auf die Ukraine formt;
                                                      wird. Die ukrainische Sprache und Kultur                                                          unbefangene, wertfreie Beobachtungen sind
     Überhaupt glänzten die Deutschen nach            werden als lokale Variante der russischen       Ähnlich formuliert es eine Politikerin mitt­      kaum anzutreffen.
     Ansicht der Befragten vor allem durch            Kultur betrachtet.“ Die Vorstellung einer       leren Alters: „Bis Mitte der 1990er Jahre
     Unwissen: „Wenn ich in meinem Umfeld zur         von Russland unabhängigen Ukraine ist also      habe ich die Ukraine nicht als eine eigene        Überhaupt wabert über allem die dumpfe
     Ukraine angesprochen werde“, so eine der         keineswegs ein Gemeinplatz. „Erst langsam       Nation wahrgenommen. Die nationalen               Notion einer ernüchternden, postsowjetischen
     Befragten, „dann werden dort oft sehr undif­     wächst in Deutschland ein Bewusstsein, dass     Töne, die ich in Kiew hörte, fühlten sich eher    Perspektivlosigkeit – der politischen und
     ferenzierte Wahrnehmungen deutlich. Oft          die Ukraine nicht Russland ist.“ Wohl sei       unangenehm an. Das hat sich dann aber bei         wirtschaftlichen Stagnation wegen und auf­
     wird ein sehr schablonenhaftes Bild gezeich­     den meisten Deutschen bewusst, „dass in der     mir erheblich gewandelt. Später haben die         grund der schleppenden Reformbemühungen
     net. Und nicht selten wird die Ukraine noch      Ukraine so etwas wie eine Schlacht zwischen     Orange Revolution und der Maidan emotional        (Dezentralisierung, Antikorruption, Justiz-,
     immer als Teil Russlands oder der ehema­         Ost und West stattfindet“; gleichwohl           viel ausgelöst.“ Und offenbar gebe es auch        Polizei- und Gesundheitswesen etc.). Weithin
     ligen Sowjet­union gesehen.“ Und ein anderer     wünschten sich manche hierzulande eine          unterschiedliche Sichtweisen auf die Ukraine      wird die Ansicht vertreten, dass „vor allem die
     beklagt: „Die Deutschen wissen sehr wenig        neutrale Ukraine zwischen Russland und der      zwischen Ost- und Westdeutschen: „Mir fällt       korrupten und unzuverlässigen politischen
     über die Ukraine, ihre Geschichte und ihre       EU. „Da fehlt es oft an Verständnis, dass die   auf“, so ein Berliner Medienschaffender, der      Entscheidungsträger das ukrainische Image
     Pro­bleme. Dass dieses Land so groß ist und      Ukraine unabhängig und für ihre Entwick­        mit einer Ukrainerin verheiratet ist, „dass oft   im Ausland verderben“. Dieses Negativ-Image
     mehr Atomwaffen als Russland hatte, weiß         lung selbst verantwortlich sein will, so wie    ältere Menschen aus der Ex-DDR glühende           habe Auswirkungen bis hin zu der Frage, ob
     hier kein Mensch. Die Ukraine ist für die        jedes andere Land.“                             Putinisten und Russlandversteher sind. Sie        die Deutschen bereit wären, die Ukraine in
     Deutschen weit weg“, so einer der Befragten.                                                     betrachten die Ukraine als ein rechtsradikales,   ihrem Unabhängigkeitsstreben notfalls mit
Ukrainebilder: Krim, Krieg, Krise, Korruption

     Rüstungsgütern zu unterstützen: „Wäre die
     Ukraine genauso transparent wie Estland, wäre
                                                                                                          „Für mich ist der Euromaidan neben dem
     es viel leichter, in Deutschland zu argumen­                                                         Mauerfall das Größte, was ich politisch-his­
     tieren, der Ukraine mit defensiven Waffen zu
     helfen.“                                                                                             torisch miterleben durfte.“ (686)
     Letztlich erwarten sich die befragten
     Ukraine-Kenner mehr Solidarität und
     Aufmerksamkeit für ein Land, das in seiner
     Stabilität und Integrität bedroht ist: „Die
     Haltung (der Deutschen) zur Ukraine ist eher
     skeptisch und wenig wohlwollend. Man würde
     eigentlich etwas anderes gegenüber einem
     Land erwarten, das um seine Unabhängigkeit
24                                                                                                                                                                                                               25
     und für demokratische Strukturen kämpft.“                                                            Rolle. „In Deutschland hat der Euromaidan           Erlebnis war, liest man nicht nur zwischen den
     Die Erwartungshaltung jener, die die Verhält­                                                        die Wahrnehmung über die Ukraine stark              Zeilen: „Was mich unglaublich geprägt hat,
     nisse in der Ukraine eng begleiten, ist also                                                         beeinflusst und auch geändert“, schildert ein       sind die Ereignisse der Orangen Revolution
     „mehr Solidarität“. „Die erste Assoziation,                                                          junger Mann seine Eindrücke. „Mittlerweile          und auch meine Anwesenheit auf dem Maidan
     die ich mit der Ukraine verbinde, ist Solida­                                                        unterscheiden die Menschen zwischen der             im Januar und Februar 2014. Ich war bei den
     rität – Solidarität, die sie von uns Europäern                                                       Ukraine als eigenständigem Land und Russ­           Barrikaden dabei.“
     verdient. Denn die Ukraine ist ein spannendes                                                        land.“ Und ein anderer ergänzt: „Die Bezie­
     Land mit großem Potenzial in so vielen Berei­                                                        hung zur Ukraine hat sich infolge des Maidans        Diese Ereignisse haben die Ukraine für
     chen.“ Leider sei die „Sympathie-Ressource“                                                          verändert – es interessiert, was die Ukraine        lange Zeit in den Mittelpunkt der medialen
     der Deutschen gegenüber der Ukraine nicht                                                            wohl für ein Land ist. Man hat angefangen,          Berichterstattung gerückt. Und „durch die
     allzu groß; „wir haben mehr Verständnis für                                                          die Ukraine als eine selbstständige Einheit         Bemühungen, im Gespräch zu bleiben, durch
     Russland und zu wenig positive Erfahrung mit                                                         wahrzunehmen.“                                      Reisen der Außenminister, Präsidenten, Poli­
     ukrainischen Politikern.“ Ohnehin betrachte                                                                                                              tiker und Bürgermeister rückte die Ukraine
     man die Ukraine in Brüssel derzeit eher als                                                           Aber die Kiewer Ereignisse des Winters             stärker ins Bewusstsein“. Summa summarum:
     finanzielle und politische Belastung, „deren                                                         2013/2014 haben nicht nur das Bild der              „Das Medienbild der Ukraine ist deutlich
     EU-Mitgliedschaft zu anstrengend und zu                                                              Ukraine hierzulande verändert; sie haben auch       vielfältiger und informierter geworden. Was
     kompliziert wäre“.                                                                                   die Menschen selbst geprägt. So erklärt eine        aber die breite Bevölkerung betrifft, so ist
                                                                                                          Frau: „Das erste politische Ereignis, an das sich   diese noch immer eklatant unterinformiert.“
     Euromaidan: Wandel der Wahrneh­                                                                      meine Kinder erinnern werden, wird nicht            Und der Berliner Gesprächspartner ergänzt –
     mungen                                                                                               die Bundestagswahl 2013 sein, sondern der           durchaus ernüchtert: „Aber das trifft wohl für
                                                                                                          Euromaidan und Putin.“ Und ein Befragter            die allermeisten Länder zu …“
     Der Euromaidan hat zu einer veränderten und                                                          aus München ergänzt beinahe euphorisch:
     differenzierteren Wahrnehmung der Ukraine                                                            „Für mich ist der Euromaidan neben dem              Doch obwohl die Deutschen nach Ansicht
     in Deutschland geführt – schließlich war das                                                         Mauerfall das Größte, was ich politisch-his­        vieler Befragter nun besser über die Ukraine
     EU-Assoziierungsabkommen der Auslöser                                                                torisch miterleben durfte.“ Ein anderer Mann        informiert sind, sich ein differenzierteres Bild
     für den Konflikt und Deutschland spielte in      „Meine Freunde haben viele Stereotype über die      war seinerzeit während der Proteste auf dem         machten und anerkannten, dass die EU und
     der Konfliktschlichtung eine maßgebliche         Ukraine. Das hat sich nach 2014 gewandelt.“ (499)   Maidan zugegen; wie eindrücklich dieses             Deutschland nun eine größere Verantwortung
Ukrainebilder: Krim, Krieg, Krise, Korruption

                                                                                                                                Donbass-Ukrainer verdienen
                                                                                                                                     mehr Solidarität

                                                                                                          Einige der Gespräche thematisierten auch die    Ansicht, dass man den Konflikt im Donbass
                                                                                                          Lage der Menschen in der Ostukraine – jenem     nicht militärisch lösen könne, sondern nur,
                                                                                                          Teil des Landes, der seit dem Frühjahr 2014     indem die Ukraine das attraktivere Modell
                                                                                                          von Separatisten regiert wird und dessen        anbiete; letztlich stehe man mit Russland in
                                                                                                          Bevölkerung bis heute unter kriegerischen       einem „Wettbewerb der Lebensstandards“. Das
                                                                                                          Auseinandersetzungen zu leiden hat.             könne „ein sehr langer Weg werden“.

                                                                                                          Der Blick auf diese Region ist von Resi­        Tatsächlich aber interessiere Kiew die Lage
                                                                                                          gnation, aber auch einem hohen Maß an           der Menschen in der Ostukraine nicht wirk­
26                                                                                                        Solidarität für die notleidende Bevölkerung     lich – was über kurz oder lang Folgen für            27
                                                                                                          gekennzeichnet. Es sei schon zutreffend, so     den inneren Zusammenhalt des Landes haben
     gegenüber der Ukraine haben, könnte diese
                                                                                                          ein älterer Gesprächspartner aus Berlin, dass   werde: „Solange sich Kiew nicht um die Le­
     Perspektive schon bald wieder verblassen.
                                                                                                          im Donbass ein „kriminelles Regime“ herrsche;   bensqualität der Menschen in der Ostukraine
     Denn die Trägheit der politischen Reformen
                                                                                                          aber es sei wichtig, die Bevölkerung „nicht     kümmert, ist es diesen Menschen doch
     in der Ukraine desillusioniere: „Als ich im
                                                                                                          zu kriminalisieren“. Nicht alle verstünden,     egal, von welcher korrupten Elite sie regiert
     September 2015 erstmals in die Ukraine ge­
                                                                                                          „dass im Osten die gleichen Menschen mit        werden. Warum sollte der Osten des Landes
     fahren bin, hatte ich aufgrund der Maidan-Er­
                                                                                                          den gleichen Interessen und Wünschen leben“.    den Westbindungsambitionen Kiews folgen,
     eignisse eine sympathisierende Grundhaltung.
                                                                                                          Stattdessen würden „diese Leute auf die rus-    wenn es ihm perspektivisch dadurch nicht
     Doch nach meinen Gesprächen war ich
                                                                                                          sische Seite verschoben“ und suggeriert, sie    besser geht?“
     ernüchtert – wegen der vielen Schwierigkeiten,
                                                                                                          seien keine wahren Ukrainer. Dasselbe gelte
     das Land zu verändern.“ Dabei sei doch das
                                                                                                          für die Menschen auf der Krim.                  Eine ähnliche Erfahrung hat auch ein Ham-
     EU-Assoziierungsabkommen eine Chance, die
                                                                                                                                                          burger Wissenschaftler gemacht, als er im
     „Revolution der Würde“ zu einem Erfolg zu
                                                                                                          Häufig höre man, dass die Menschen in der       Osten der Ukraine reiste: „Ich habe in Krama-
     machen und die Ukraine zu modernisieren,
                                                                                                          Ostukraine „Angst vor Kiew“ hätten und          torsk und Slowjansk mit den Leuten gespro-
     umzugestalten.
                                                                                                          Repressalien fürchteten, sollte die Ukraine     chen“, erzählt er. „Der Tenor war: ‚Es ist uns
                                                                                                          einmal wieder in Einheit zusammengeführt        vollkommen egal, ob wir Russen oder Ukrai­
      Die Folge: Das mediale Interesse – und
                                                                                                          werden. Aber „die aggressive Politik Kiews      ner sind. Wir wollen unsere Ruhe haben.‘“ Man
     damit die Aufmerksamkeit der deutschen
                                                                                                          wird zu einer immer stärkeren Entzweiung        wolle nur ein normales Leben führen.
     Öffent-lichkeit für die Ukraine – nimmt
                                                                                                          führen“. Das Gegenteil sei notwendig, um die    Dass sich die Region nun zusehends von
     kontinuierlich ab. „Die Ukraine spielt in den
                                                                                                          Einheit des Landes zu bewahren: „Die Grenz-     Kiew abwende, erkläre sich zum Teil auch
     Medien keine besondere Rolle mehr.“ Noch
                                                      „In Deutschland wird die Ukraine oft mit Krieg      territorien in der Ostukraine müssen bewusst    aus der Wirtschaftspolitik Kiews der letzten
     könne sich die Ukraine als Opfer darstellen
                                                      und Krise gleichgesetzt. Aufgrund der Nachrichten   ökonomisch mehr gefördert werden als andere     Jahrzehnte: „Aus dem Donbass wurde schon
     und so auf internationale Unterstützung
                                                      fragen sie, wie man denn dorthin fliegen kann       Gebiete. Sie sollten Schaufenster gegenüber     immer viel herausgeholt, aber nicht viel
     hoffen. Aber das sei für die Zukunft zu wenig:
                                                      und ob ich eine schusssichere Weste tragen muss,    Russland und den Separatisten sein.“            hineingesteckt“, weiß eine Berliner Beobach-
     „Es braucht ein positives Image – und das
     kann man nur mit offener Kommunikation
                                                      wenn ich dort bin. Vielen ist nicht klar, dass
                                                      der Krieg nur in einem kleinen Teil des Landes
                                                                                                          Auch ein Berliner Wissenschaftler ist der       terin.                                           >
     erreichen.“                                      stattfindet.“ (872)
Ukrainebilder: Krim, Krieg, Krise, Korruption

         Dahingegen kritisiert ein anderer Beobachter      sion darüber, ob eine Teilung des Landes in               Berliner Journalist, „dass die prorussischen   traum in der Ostukraine eines Tages zu einem
         die andauernde Fokussierung auf die Lage in       einen (russophilen) Ostteil und einen (euro-              Landesteile künftig nicht mehr über die        guten Ende führe – selbst wenn der Preis
         der Ostukraine und spricht von einer „Don-        philen) Westteil nicht die beste Lösung sei.              Zukunft des Landes mit abstimmen können“.      dafür der Verlust der Krim sei: „Das Szenario
         bassisierung“ der Debatte über die Zukunft                                                                  Nur wenige Beobachter glauben, dass die        in zehn Jahren ist, dass Russland nicht mehr
         der Ukraine. Keine Frage: Die Abkommen von        Denn tatsächlich drifte das Land inzwischen               Teilung des Landes auch Vorteile mit sich      in der Ostukraine und die Krim nicht mehr
         Minsk seien wichtig, „aber die Reformen sind      weiter auseinander als zu irgendeinem                     bringen würde – wenn überhaupt, dann bloß      autonom ist, sondern ein unabhängiger Staat“,
         noch wichtiger für die Zukunft des Landes.        anderen Zeitpunkt seiner jüngeren Ge­                     für den Westteil der Ukraine.                  so ein Berliner Journalist.
         Beides muss parallel laufen.“ Die Regierung       schichte. Das Land sei „innerlich gespalten               Eher überwiegt die Hoffnung, dass der Alp-
         in Kiew könne nicht länger den Krieg im           in einen Teil, der in den Krieg hineingezogen
         Donbass als Entschuldigung für eine Ver-          wurde, und den, der verschont wurde“. Der
28       schleppung der dringend benötigten Reformen       im Frieden lebende Landesteil setze sich mit                                                                                                               29
         heranziehen.                                      dem Krieg nicht genügend auseinander, so
                                                           eine Berliner Politikerin. „Wer den Krieg nicht
         All das macht aus Sicht der Interviewpartner      kennt, versteht auch nicht die aktuelle Lage,
         deutlich, dass dem Land eine aktive Debatte       in der sich das Land befindet.“ Angesichts            Zur Rolle deutscher Medien: Mehr                    ten über die Ukraine kommen in Deutschland
         über die Zukunft des Donbass innerhalb einer      dieser Lage sei die Herausbildung einer               Qualität, mehr Themen, bitte!                       immer erst, wenn es eine Krise gibt.“
         geeinten Ukraine fehle: „Ich fand es total        nationalen Identität beinahe unmöglich. Als
                                                           Petro Poroschenko 2014 Präsident wurde,
                                                                                                                 Nach Ansicht zahlreicher Befragter spielen die      Während des Euromaidans hätten deutsche
         erschreckend, dass es bei den meisten In-
                                                           habe man noch von einer vereinten Ukraine
                                                                                                                 deutschen Medien eine entscheidende Rolle           Medien keine eigenen Korrespondenten in
         tellektuellen der Westukraine überhaupt kein
                                                                                                                 bei der Erzeugung von Ukraine-Bildern in der        Kiew gehabt; die Ukraine sei vor allem von
         Bewusstsein dafür gab, dass man mit der           gesprochen, so ein junger Osteuropa-Experte
                                                                                                                 deutschen Öffentlichkeit.                           den Korrespondentenbüros in Warschau oder
         Bevölkerung der Ostukraine die Kommunika-         aus München. Aber seitdem sei die Spaltung
         tion suchen muss.“                                des Landes rapide vorangeschritten. Seine                                                                 Moskau abgedeckt worden. Das habe anfangs
                                                                                                                 Wohl wissend, dass Medien ereignisgetrieben         bisweilen auch das Bild geprägt, das von dem
                                                           Vermutung: „Die mobilisierende Kraft des
                                                                                                                 sind und auch heute noch immer der jour­            Konflikt gezeichnet worden sei. Auch heute,
         Stattdessen gebe es spätestens seit der           Krieges scheint nicht stark genug zu sein, um
                                                                                                                 nalistische Glaubenssatz „Allein schlechte          vier Jahre nach den Maidan-Ereignissen, ar­
         Orangen Revolution 2004 eine – vor allem im       Trennendes zu überwinden.“
                                                                                                                 Nachrichten sind gute Nachrichten“ gelte, the­      beiteten nur zwei deutsche Journalisten in der
         Westen des Landes geführte – Debatte über
                                                                                                                 matisierten viele Interviewpartner die Rolle der    Ukraine. „Leider fällt es denen schwer, einen
         eine mögliche Abspaltung der Ostukraine:          Andere Beobachter, wie ein ostdeutscher
                                                                                                                 Medien als gesellschaftliche Meinungsmacher.        Platz für ihre Artikel in den Printmedien zu
         „In der Intelligenzija gibt es durchaus Dis­      Wissenschaftler, glauben, dass der Krieg die
         kurse, die auf einen Verzicht des Donbass         Teilung des Landes weiter vorangetrieben
                                                                                                                                                                     bekommen, da kein Interesse an dem Land beste­
                                                                                                                 Besonders pointiert artikulierte ein Berliner       ht.“ Und weil das Gros der Berichterstattung
         hinauslaufen. Aber das ist aus Gründen der        habe; „in den 1990er Jahren war die Ukraine
                                                                                                                 Medienschaffender seine Wahrnehmungen:              über die Ukraine auch weiterhin aus Moskau
         Solidarität und wegen des gezahlten Blutzolls     ein geeinteres Land“.
                                                                                                                 „Das Jahr 2015 war ein Gelegenheitsfenster für      und Warschau abgewickelt werde, schließe sich
         völlig undenkbar. In der Bevölkerung würde        Aus diesen Stimmen ist eine tiefgreifende
                                                                                                                 mehr Aufmerksamkeit in Deutschland.“ Dies           der Kreis: In der täglichen Berichterstattung
         das als Verrat am eigenen Volk wahrge-            Verunsicherung ob der Aussicht auf eine
                                                                                                                 habe sich aber bereits wieder geschlossen. De­      falle die Ukraine eben „hin­ten runter“.
         nommen.“ Doch offenbar beschreiben diese          geeinte Ukraine herauszuhören – eine Verun-
                                                                                                                 swegen sollte man sich aber nicht wünschen,
         Wahrnehmungen tieferliegende Phänomene:           sicherung, die sich bei manchem in Zynismus
         Seit langem gibt es eine (inoffizielle) Diskus-   entlädt: Kiew könne doch „froh sein“, so ein      >   „dass etwas Schlimmes in der Ukraine passiert,
                                                                                                                 nur um mehr Aufmerksamkeit in Deutschland
                                                                                                                                                                     Stellten der Maidan, die Krim-Annexion und
                                                                                                                                                                     der darauffolgende Krieg in der Ostukraine
                                                                                                                 zu bekommen“. Und ein anderer: „Nachrich­           die Höhepunkte der medialen Berichterstat­
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