EU-Strategien zur Geschlechter- und Lohngleichstellung und die Auswirkungen der Wirtschaftskrise

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AUFSÄTZE                                                                                                   wsi mitteilungen 1/2015

                                                                                       EU-Strategien zur Geschlechter-
                                                                                       und Lohngleichstellung und die
                                                                                       Auswirkungen der Wirtschaftskrise
                                                                                       Seit mehreren Jahrzehnten haben die Europäische Kommission und Institutionen auf
                                                                                       europäischer Ebene eine Führungsrolle bei der Förderung von Maßnahmen zur Gleich-
                                                                                       stellung der Geschlechter in der Europäischen Union (EU) übernommen. Obwohl hierbei
                                                                                       der Gender Pay Gap1 das relevante Maß für die Benachteiligungen von Frauen auf dem
                                                                                       Arbeitsmarkt wäre, wurde das geschlechtsspezifische Lohngefälle vielfach nur nachrangig
                                                                                       oder gar nicht thematisiert. Und selbst in „progressiveren Phasen“ der EU-Gleichstellungs-
                                                                                       politik dominierte das Interesse an Maßnahmen zur Steigerung der (Frauen-)Erwerbsbetei-
                                                                                       ligung. Der Ausbruch der Wirtschaftskrise ist eine weitere Erklärung dafür, dass wir es der-
                                                                                       zeit mit einer fragilen Gleichstellungspolitik zu tun haben und es an belastbaren Strategien
                                                                                       zur Entgeltgleichheit im Rahmen der europäischen politischen Architektur fehlt.2

                                                                                       MARK SMITH, PAOL A VILL A

                                                                                                                                                                  re Entwicklung der EBS führte jedoch zu einem zunehmen-
                                                                                       1. Einleitung                                                              den Verlust der Sichtbarkeit von Gleichstellungsaspekten,
                                                                                                                                                                  der schließlich im endgültigen Verschwinden des Gender-
                                                                                       Die Koordinierung der Beschäftigungspolitik auf EU-Ebe-                    Mainstreaming in der Neuformulierung der EBS-Strategie
                                                                                       ne existiert seit 1997, als die Europäische Beschäftigungs-                im Jahr 2010 gipfelte. Die im Kontext der Wirtschaftskrise
                                                                                       strategie (EBS) gestartet wurde. Seitdem beeinflusst sie das               vorgenommenen politischen Richtungsänderungen sowie
                                                                                       politische Denken und veranlasst Regierungen zur Imple-                    das schwindende Engagement der europäischen Instituti-
                                                                                       mentierung arbeitsmarktpolitischer Reformen. Vor dem                       onen führten schließlich zu weiteren negativen Folgen für
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                                                                                       Hintergrund demografischer Herausforderungen ist es das                    die Gleichstellung (Villa/Smith 2013). Diese Veränderun-
                                                                                       ultimative Ziel der EBS, ein möglichst hohes Beschäfti-                    gen spiegeln sowohl die Umstrukturierung des Rahmens
                                                                                       gungsniveau zu erreichen. Da jedoch eine Steigerung der                    der EBS als auch neue länderübergreifende Governance-
                                                                                       Erwerbsbeteiligung nicht ohne eine höhere Frauenerwerbs-                   Strukturen zur Bewältigung der finanziellen und wirtschaft-
                                                                                       quote zu erzielen ist, müssen zur weiteren Förderung der                   lichen Aspekte der Krise wider, nicht zuletzt hinsichtlich
                                                                                       Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt geschlechts-                    der Bedingungen für Finanzhilfeprogramme in bestimmten
                                                                                       spezifische Ungleichheiten beseitigt werden. Diese Aus-                    Staaten. Die Risiken für ungleiche Bezahlung haben sich
                                                                                       gangsüberlegung hat die Europäische Beschäftigungsstra-                    somit erhöht, während gleichzeitig der Stellenwert der Ent-
lichung online oder offline) sind nicht gestattet.

                                                                                       tegie (EBS) zeitweilig bestimmt und somit (bestimmte)                      geltgleichheit bei der Politikgestaltung ausgehöhlt wurde.
                                                                                       Gleichstellungsaspekte integriert. Im Gegensatz dazu fan-                      Dieser Beitrag bietet eine kritische Analyse des EU-
                                                                                       den geschlechtsspezifische Ungleichheiten mit schwächeren                  Engagements für die Gleichstellung der Geschlechter
                                                                                       Bezügen zu den Beschäftigungszielen weniger Beachtung.
                                                                                       Und tatsächlich sind auch die vorhandenen Lohnungleich-
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                                                                                       heiten zwischen Frauen und Männern eine Art „blinder
                                                                                                                                                                  1    in der deutschen Debatte hat sich zunehmend der Begriff
                                                                                       Fleck“: direkt auf das geschlechtsspezifische Lohngefälle                      „gender Pay gap“ durchgesetzt; synonym wird auch „ge-
                                                                                       gerichtete Maßnahmen wurden nur selten diskutiert, ge-                         schlechtsspezifisches lohngefälle“ oder „geschlechtsspe-
                                                                                       fördert oder verabschiedet.                                                    zifische entgeltlücke“ verwendet.

                                                                                           Gleichwohl war das Engagement für die Gleichstellung
                                                                                                                                                                  2   Übersetzung aus dem englischen: sebastian streb.
                                                                                       der Geschlechter im Erwerbsleben in den frühen Phasen                          Die Autoren danken Christina Klenner und den anonymen
                                                                                       der Europäischen Beschäftigungsstrategie hoch. Die weite-                      gutachtern für ihre hilfreichen Kommentare.

                                                                                                                      https://doi.org/10.5771/0342-300X-2015-1-13                                                          13
                                                                                                               Generiert durch IP '46.4.80.155', am 15.11.2021, 02:41:16.
                                                                                                        Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.
AUFSÄTZE

           im Rahmen der EBS und untersucht den Einfluss europä-                      und Peer Review, Monitoring und den Austausch von be-
           ischer Entscheidungen auf die Gleichstellungspolitiken der                 währten Verfahren („best practices“) (siehe auch Maier in
           Mitgliedstaaten, wobei der Fokus auf der Entgelt(un)gleich-                diesem Heft). Dementsprechend geben die Beschäftigungs-
           heit zwischen Frauen und Männern liegt. Abschnitt 2 gibt                   leitlinien und die länderspezifischen Empfehlungen einen
           einen Überblick über die EBS sowie die Rolle der Gleich-                   Hinweis auf die Ausrichtung des EBS-Projekts und die zu
           stellungspolitik und die Bedeutung der Entgeltgleichheit.                  dieser Zeit geltenden Prioritäten.
           In Abschnitt 3 untersuchen wir die sich verändernde Rol-                        Die implizite Annahme des EBS-Rahmens besteht dar-
           le der Gleichstellung der Geschlechter während der gesam-                  in, dass niedrige Beschäftigungsquoten mit den Charakte-
           ten Entwicklung der EBS – mit einem besonderen Augen-                      ristika der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in Zusam-
           merk auf den Aspekt ungleicher Bezahlung – anhand                          menhang stehen. Daher fußen die politischen Rezepte auf
           offizieller Dokumente. Abschnitt 4 zeigt gleichfalls anhand                einem angebotsorientierten Ansatz, der regulatorischen
           von EU-Dokumenten und Policy Reviews die politischen                       und aktivierenden Maßnahmen zur Förderung des Eintritts
           Richtungsänderungen im Hinblick auf Löhne während der                      in das Berufsleben eine Schlüsselrolle zuweist, und der spe-
           Krisenphase 2008-2012 auf. Abschnitt 5 betrachtet ab-                      ziell auf Frauen zielt. Der angebotsorientierte Ansatz be-
           schließend die geringen Fortschritte bei der Verringerung                  deutet, dass sich die Politikempfehlungen in erster Linie mit
           des Gender Pay Gap und benennt Herausforderungen für                       der Beseitigung von Hindernissen für Frauenerwerbstätig-
           die Zukunft.                                                               keit befassen (durch flexible Arbeits[zeit]gestaltung, Teilzeit,
                                                                                      Kinderbetreuungsangebote), jedoch zu Geschlechterun-
                                                                                      gleichheiten wie dem geschlechtsspezifischen Lohngefälle
                                                                                      oder der Geschlechtersegregation auf dem Arbeitsmarkt
                                                                                      schweigen. Trotz der Defizite dieses Ansatzes wurde er aus
           2. Die Europäische Beschäftigungs-                                         Gender-Perspektive begrüßt, da die Notwendigkeit aner-
              strategie, Geschlechtergleichstellung                                   kannt wurde, die Integration von Frauen in bezahlte Arbeit
                                                                                      sowie die Gleichstellung der Geschlechter im Erwerbsleben
              und Entgeltungleichheit
                                                                                      zu fördern (Rubery et al. 1999).
                                                                                          Als die EBS erstmals aufgelegt wurde, waren die Erwar-
           Das goldene Zeitalter der europäischen Wirtschaft nach                     tungen hoch, hiermit Ungleichheiten zwischen den Ge-
           Ende des Zweiten Weltkriegs, das durch hohes Wirtschafts-                  schlechtern deutlich abbauen zu können. Tatsächlich hat
           wachstum und niedrige Arbeitslosigkeit geprägt war, wur-                   die EU in vielen Ländern die Entscheidungen nationaler
           de durch die Ölschocks der 1970er Jahre unterbrochen.                      politischer Entscheidungsträger beeinflusst und zur Verab-
           Nach einem Jahrzehnt, in dem sich die Politik insbesonde-                  schiedung und Umsetzung geschlechtersensibler politischer
           re auf hohe Arbeitslosenzahlen konzentrierte, markierte                    Maßnahmen beigetragen (Rubery et al. 2003). Jedoch mach-
           das Delors-Weißbuch aus dem Jahr 1993 einen Wendepunkt                     te sich später angesichts der ausgeblendeten Themen – ins-
           in der Debatte, indem es den Fokus auf geringe Beschäfti-                  besondere wegen der mangelnden Beachtung der Entgelt-
           gungsquoten richtete und versuchte, Arbeitsmarktpolitik                    ungleichheit – sowie aufgrund sukzessiver politischer
           mit anderen makroökonomischen keynesianischen Maß-                         Richtungsänderungen auf EU-Ebene, die zur fortschreiten-
           nahmen zu verknüpfen. Dieser Wandel rückte die niedrigen                   den Marginalisierung der Geschlechtergleichstellung führ-
           Frauenerwerbsquoten und bestimmte geschlechterbezoge-                      ten, auch zunehmend Ernüchterung breit (Villa 2013).
           ne Ungleichheiten klar und deutlich in den Fokus.                              Unsere Fokussierung auf politische Maßnahmen, die
                Die Gleichstellung der Geschlechter erfuhr durch diesen               die Entgeltungleichheit zwischen Frauen und Männern an-
           Prozess einen beträchtlichen Schub, da die Integration von                 gehen, erlaubt es uns, die sich verschiebenden Schwerpunk-
           Frauen in den Arbeitsmarkt und die Förderung von Chan-                     te der Gleichstellungspolitik innerhalb der Europäischen
           cengleichheit als zentral erachtet wurden. Darüber hinaus                  Beschäftigungsstrategie in den Blick zu nehmen. Die un-
           waren die politischen Rahmenbedingungen günstig, ange-                     gleiche Bezahlung von Frauen und Männern ist eines der
           sichts einer kritischen Masse sozialdemokratischer Regie-                  greifbarsten Ergebnisse von Geschlechterungleichheiten
           rungen sowie bestimmter zentraler Stakeholder auf europä-                  und eine der am schwersten zu schließenden Lücken: Der
           ischer Ebene, die sich nach der vierten Weltfrauenkonferenz                Gender Pay Gap bleibt ein anhaltendes Merkmal der Ge-
           in Peking 1995 rund um das Thema der Gleichstellung von                    schlechterungleichheit in der EU. Als ein statistischer Indi-
           Frauen und Männern zusammengeschlossen hatten (Villa                       kator zur Messung von Entgeltungleichheit zwischen Män-
           2013; Stratigaki 2004).                                                    nern und Frauen spielt er eine entscheidende Rolle bei der
                Die EBS setzt sich aus unverbindlichen Beschäftigungs-                Analyse von Geschlechterungleichheiten und liefert empi-
           leitlinien, Berichten der Mitgliedstaaten zu erzielten Fort-               rische Belege für das Ausmaß von geschlechtsspezifischen
           schritten sowie länderspezifischen Empfehlungen zusam-                     Ungleichgewichten und Ungleichheiten auf dem Arbeits-
           men. Die Form der Steuerung, die sogenannte offene                         markt. Die direkte und indirekte Diskriminierung, der Man-
           Methode der Koordinierung, setzt auf Soft-Law-Mechanis-                    gel an beruflichen Aufstiegschancen, die horizontale und
           men, wie beispielsweise Politikempfehlungen, Benchmarking                  vertikale Segregation, die Konzentration von Frauen in

14                                        https://doi.org/10.5771/0342-300X-2015-1-13
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wsi mitteilungen 1/2015

 schlecht bezahlten Jobs, die Unterbewertung und unvoll-           nige entscheidende Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt
 ständige Ausschöpfung der Fähigkeiten von Frauen, ge-             und darüber hinaus. Indem er die Differenz beim Stunden-
 schlechtsbezogene Ungleichgewichte in der Bildung, die            lohn in den Blick nimmt, liefert er zwar eine standardisier-
 ungleiche Verteilung von häuslichen Aufgaben sowie Ste-           te Kennzahl für einen Vergleich, erfasst jedoch keine mittel-
 reotype – all diese Faktoren sind mitbestimmend für Ent-          und langfristigen Auswirkungen in der Erwerbsbiografie.
 geltungleichheiten.                                                    Das geschlechtsspezifische Lohngefälle wird am Brutto-
     Im jüngsten Bericht der Europäischen Kommission zur           stundenlohn für alle Voll- und Teilzeitbeschäftigte gemessen,
 Gleichheit zwischen Männern und Frauen heißt es: „Des-            für alle Branchen errechnet und erlaubt einen Länderver-
 pite consistent efforts over decades, women are paid on           gleich unter Berücksichtigung des unterschiedlichen Anteils
 average 16 % less than men per hour of work. […] If current       von in Teilzeit arbeitenden Frauen. Um aber die aus unter-
 convergence speeds continue, it will take more than 70 years      schiedlicher Arbeitszeit und verschiedenen Karrieremustern
 to close the gender pay gap” (COM 2014, S. 18). Wie im            resultierende Lohnungleichheit zu ermitteln, ist es darüber
 Bericht der belgischen Ratspräsidentschaft gut dokumen-           hinaus notwendig, die Differenz auf Basis monatlicher (oder
 tiert ist (Council of the EU 2010), ist ungleiche Bezahlung       jährlicher oder lebenslanger) Einkommen zu berechnen. In
 ein Merkmal, das die Situation von Frauen in sämtlichen           der Tat ist ein großer Teil der geschlechtsspezifischen Diffe-
 Mitgliedstaaten unabhängig von unterschiedlichen wohl-            renz beim monatlichen Einkommen auf die doppelte Benach-
 fahrtsstaatlichen Arrangements und Arbeitsmarktsystemen           teiligung von Frauen zurückzuführen: die des niedrigeren
 charakterisiert. Nichtsdestotrotz gab es außer einer Verrin-      durchschnittlichen Stundenlohns und ebenso jene, dass Frau-
 gerung der Entgeltungleichheit in den 1970er Jahren infol-        en öfter in Teilzeit arbeiten (Council of the EU 2010, S. 25ff.).
 ge der europäischen Richtlinien zu „Equal Pay“ – also zur         Häufigere Karriereunterbrechungen sind eine weitere zu be-
 gleichen Bezahlung von gleicher und gleichwertiger Arbeit         rücksichtigende Benachteiligung, die zu größeren Einkom-
– sehr wenig Bewegung beim Gender Pay Gap. Dieses Phä-             menslücken im Laufe des Erwerbslebens von Frauen führt
 nomen ist insbesondere bemerkenswert, wenn man es mit             und mit dem Risiko von unzureichenden Renten im Alter
 dem signifikanten Anstieg der Frauenerwerbsquote sowie            einhergeht.3 Das geschlechtsspezifische Lohngefälle ist eine
von Beschäftigungsmöglichkeiten und Ausbildungsniveaus             bedeutende Determinante der ökonomischen Unabhängig-
vergleicht und den Umstand berücksichtigt, dass Mädchen            keit von Frauen, doch bei der Betrachtung der Unabhängig-
 in der Schule besser sind als Jungen und den Großteil der-        keit von Frauen müssen wir die geschlechtsspezifischen Dif-
 er ausmachen, die eine Hochschulausbildung abschließen.           ferenzen von monatlichen, jährlichen und lebenslangen
     Der Gender Pay Gap, wie er als „unbereinigter“ Indika-        Einkommen berücksichtigen, da diese die kumulierten Nach-
 tor gemessen wird, bezieht sich auf den durchschnittlichen        teile einer Karriere in einem vom Gender-Bias geprägten
Unterschied beim Bruttostundenverdienst zwischen Frauen            Arbeitsmarkt widerspiegeln.
 und Männern. Die unbereinigte Lücke erfasst viele der gen-            Angesichts ihrer Bedeutung ist es möglicherweise über-
 derspezifischen Prozesse auf dem Arbeitsmarkt sowie jen-          raschend, dass die Entgelt(un)gleichheit innerhalb der EBS
 seits der Erwerbssphäre, die zu Ungleichheiten zwischen           weitgehend nebensächlich war. Ganz so, als ob sie nicht als
 Männern und Frauen führen (Whitehouse 2003; Smith                 ein entscheidendes Hindernis für den Zugang von Frauen
2012). Das alternative „bereinigte“ geschlechtsspezifische         zu Arbeit und zur Verbreiterung der Beschäftigungsbasis
 Lohngefälle misst die Differenz, nachdem eine Reihe wei-          angesehen wurde. Kurz gesagt, hat der verfolgte angebots-
 terer möglicher beobachtbarer Erklärungsfaktoren (wie z. B.       orientierte Ansatz zu Politikempfehlungen geführt, die sich
Alter, Ausbildung, Beruf, Dauer der Betriebszugehörigkeit)         wesentlich mehr um die Beseitigung von Hindernissen für
 berücksichtigt wurden. Der Fokus auf dieses (kleinere) be-        Frauen beim Zugang in den Arbeitsmarkt (d. h. Erleichte-
 reinigte geschlechtsspezifische Lohngefälle verdeutlicht, wie     rung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie) als um die
 Diskriminierung weiter fortbesteht, wenn bestimmte Cha-           Beseitigung von Hindernissen zur Gleichstellung von Frau-
 rakteristika berücksichtigt werden. Es ist wichtig zu beach-      en auf dem Arbeitsmarkt drehen (d. h. Schließung des
 ten, dass diese Charakteristika ebenfalls durch die ungleiche
 Behandlung von Frauen und Männern auf dem Arbeits-
 markt beeinflusst werden. Tatsächlich sind unterschiedliche
 Investitionen in die Ausbildung von Frauen und Männern,
                                                                   3    eine jüngere schätzung zeigt, dass der geschlechtsspezifi-
 die individuelle Wahl von Berufen und Arbeitszeit (inklu-              sche unterschied bei Renten beträchtlich ist: 39 % für die
 sive Teilzeit und Überstunden) sowie Karrieremuster auf                eu-27, das heißt mehr als das doppelte des „unbereinig-
 dem Arbeitsmarkt selbst durch geschlechtsspezifische Pro-              ten“ geschlechtsspezifischen lohngefälles (16 %). 17 der
                                                                        27 länder weisen geschlechtsspezifische Rentenunter-
 zesse geprägt, die die Arbeitsmarktpartizipation, die Bewer-           schiede auf, die bei 30 % oder höher liegen (enege
 tung von „Fähigkeiten“ durch Arbeitgeber sowie Einstel-                2013a). Zwischen den beiden werten existiert jedoch kein
 lungs- und Beförderungsprozesse beeinflussen.                          einfacher Zusammenhang: in manchen Fällen können
                                                                        Renten vorher existierende ungleichheit vermindern,
     Dennoch übersieht auch der unbereinigte Gender Pay
                                                                        während sie in anderen Fällen die ungleichheit vergrö-
 Gap, obwohl er die Auswirkungen zahlreicher ungleich-                  ßern, teilweise als nicht-intendierte nebenwirkung des
 heitsrelevanter geschlechtsspezifischer Prozesse erfasst, ei-          Rentensystems.

                                                                https://doi.org/10.5771/0342-300X-2015-1-13                                                15
                                                         Generiert durch IP '46.4.80.155', am 15.11.2021, 02:41:16.
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AUFSÄTZE

ÜBERSICHT 1

Wandel des Stellenwerts der Geschlechter- und Lohnungleichheit in der Europäischen Beschäftigungsstrategie

Phase                                     Entwicklung der Struktur der EBS und                        Länderspezifische Empfehlungen,         Gemeinsame Beschäftigungsbe-
                                          Sichtbarkeit von Chancengleichheit und                      in denen die Lohnungleichheit           richte (Anzahl der Wörter, die der
                                          Geschlechtergleichstellung                                  zwischen Frauen und Männern             Diskussion des geschlechtsspezifi-
                                                                                                      erwähnt wird                            schen Lohngefälles gewidmet wird)
Phase 1                                   4 säulen                                                    At (2001; 2002)                         325 wörter (1999)
1998 – 2002                               18 – 22 Beschäftigungsleitlinien                            De (2001; 2002)                         588 wörter (2000)
(15 mitgliedstaaten)                      1 säule (von 4) zu Chancengleichheit                        ee (2001; 2002)                         874 wörter (2001)
                                          3 leitlinien zu gender-themen                               Fi (2002)                               969 wörter (2002)
                                          1 horizontale leitlinie zu                                  ie (2001; 2002)
                                            gender-mainstreaming wurde 1999                           lu (2002)
                                            hinzugefügt                                               uK (2000; 2001; 2002)

                                                                                                      Insgesamt:
                                                                                                      6 mitgliedstaaten (von 15)
                                                                                                      13 länderspezifische empfehlungen
Phase 2                                   3 übergeordnete Ziele:                                      At (2003; 2004)                         keine erwähnung (2003)
2003 – 2005                                                                                           De (2003; 2004)                         826 wörter (2004)
(25 mitgliedstaaten im Jahr               – Vollbeschäftigung                                         Fi (2003)
2004)                                                                                                 ie (2003; 2004)
                                          – Arbeitsplatzqualität und                                  lu (2003; 2004)
                                            Arbeitsproduktivität                                      nl (2003; 2004)
                                                                                                      Pt (2003; 2004)
                                          – sozialer Zusammenhalt und ein                             uK (2003; 2004)
                                            integrativer Arbeitsmarkt

                                          10 Beschäftigungsleitlinien                                 Insgesamt:
                                                                                                      8 mitgliedstaaten (von 25)
                                          1 leitlinie zu Chancengleichheit, einschließlich            15 länderspezifische
                                          des systematischen gender-mainstreamings                    empfehlungen
                                          neuer Politiken
Phase 3                                   Die Beschäftigungsleitlinien und                            At (2009)                               134 wörter (2005)
2005 – 2009                               die Grundzüge der Wirtschaftspolitik                        CY (2007; 2008)                         44 wörter (2006)
(27 mitgliedstaaten im Jahr               werden zusammen in einem einzelnen jährli-                  CZ (2007; 2008)                         50 wörter (2007)
2007)                                     chen set von „integrierten leit-                            sK (2007; 2008)                         58 wörter (2008)
                                          linien” aufgeführt:                                                                                 66 wörter (2009)
                                          24 integrierte leitlinien, davon                            Insgesamt:
                                          8 zu Beschäftigung                                          4 mitgliedstaaten (von 25 – 27)
                                          Keine leitlinie zu Chancengleichheit, aber                  7 länderspezifische empfehlungen
                                          “equal opportunities, discrimination and gen-
                                          der mainstreaming” erwähnt in der Präambel
                                          (eC 2005, s. 29)
 Phase 4                                  10 integrierte leitlinien, davon                            At (2012)                               50 wörter (2010)
 2010 – 2020                              4 zu Beschäftigung                                          CY (2011)                               keine erwähnung (2011)
 (28 mitgliedstaaten im Jahr                                                                          CZ (2011)                               40 wörter (2013)
 2013)                                    keine leitlinien zu Chancengleichheit, aber                 insgesamt:
                                          “visible gender equality perspective” erwähnt               3 mitgliedstaaten (von 27)
                                          in der Präambel (eC 2010f)                                  3 länderspezifische empfehlungen

Anmerkung: Analyse der länderspezifischen empfehlungen durch die Autoren.

Quelle: Zusammenstellung der Autoren basierend auf smith/Villa (2012, s. 5).

                                         geschlechtsspezifischen Lohngefälles und Förderung wirt-
                                         schaftlicher Unabhängigkeit). Dieses schwache Engagement                        3. Die Entwicklung der EBS und
                                         und der Mangel an wirksamen Maßnahmen zur Beseitigung                              Maßnahmen zur Verringerung der
                                         des Lohngefälles wurden mit den nachfolgenden Neufas-
                                                                                                                            Lohnungleichheit
                                         sungen der EBS noch offensichtlicher.

                                                                                                                         Die EBS wurde bereits mehrfach reformuliert. Die ur-
                                                                                                                         sprüngliche Fassung stützte sich auf das Zusammentreffen
                                                                                                                         gleichgesinnter politischer Entscheidungsträger zu einer
                                                                                                                         Zeit, in der der wirtschaftliche, demografische und politi-
                                                                                                                         sche Kontext günstig für ein frisches und innovatives be-

16                                                                           https://doi.org/10.5771/0342-300X-2015-1-13
                                                                      Generiert durch IP '46.4.80.155', am 15.11.2021, 02:41:16.
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wsi mitteilungen 1/2015

schäftigungspolitisches Konzept mit einem echten Interes-         3.2 Die EBS und das geschlechtsspezifische
se für die Gleichstellung der Geschlechter war. Diese                 Lohngefälle
Gleichstellungspolitik befördernden Umstände waren je-
doch nicht in Stein gemeißelt: Veränderungen des Kontexts         Obwohl Entgeltunterschiede für Ungleichheiten zwischen
und bei wichtigen Stakeholdern haben zu Neufassungen              Frauen und Männern zentral sind, hatten sie in der for-
geführt, in denen der Stellenwert der Gleichstellung jeweils      malen Struktur der EBS einen eher randständigen Cha-
zu- oder abnahm (Rubery 2013; Lewis 2006; Devetzi 2008;           rakter. Dennoch enthielt die EBS in ihren frühen Phasen
Pfister 2008; Smith/Villa 2010; Villa 2013). Es lassen sich       direkte Verweise auf das geschlechtsspezifische Lohnge-
vier verschiedene Phasen unterscheiden, die durch subs-           fälle als ein Problem, das angegangen werden musste. In
tanzielle Veränderungen in der Formulierung der EBS cha-          Phase 1 (1999 – 2002) war vorgesehen, dass die Mitglied-
rakterisiert sind (nach Säulen und Leitlinien). Übersicht 1       staaten „[…] geeignete Maßnahmen auf den Weg bringen,
fasst diese Veränderungen zusammen: Die Spalten 1 und 2           um den Grundsatz des gleichen Entgelts für gleiche bzw.
zeigen den sich wandelnden Stellenwert der Geschlechter-          gleichwertige Arbeit durchzusetzen und die Einkommens-
gleichstellung innerhalb der offiziellen Fassung der EBS. Die     unterschiede zwischen Frauen und Männern zu verringern“.
Spalten 2 und 3 geben einige Hinweise auf die zunehmende              In einem Zusatz von 2001 heißt es: „[…] Maßnahmen
Marginalisierung der Politik der Entgeltgleichheit. Sie zei-      zur Korrektur des geschlechtsspezifischen Lohngefälles sind
gen die Aufmerksamkeit, die diesem Thema in den länder-           sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor vonnö-
spezifischen Empfehlungen und den jährlichen Gemeinsa-            ten; die Auswirkungen einschlägiger politischer Maßnah-
men Beschäftigungsberichten4 gewidmet wird.5                      men sollten ermittelt und untersucht werden“.
                                                                      Insbesondere der EU-Gipfel von Stockholm im Frühjahr
3.1 Phasen der EBS                                                2001 bedeutete einen wichtigen Impuls für diesen frühen
                                                                  Fokus auf den Gender Pay Gap. So hieß es im Gemeinsamen
In der ersten Phase zwischen 1997 und 2002 war Chancen-           Beschäftigungsbericht 2001:
gleichheit eine von vier Säulen mit drei Leitlinien zu Gen-          „Die Schließung der geschlechtsspezifischen Lücke ist
der-Fragen. Dass Chancengleichheit in der Überschrift             eine Investitionen in einen produktiven Faktor. Das betrifft
stand, begleitet von spezifischen geschlechtsbezogenen Zie-       nicht nur eine wesentliche Ursache der Ungleichheit von
len, sorgte für eine hohe Sichtbarkeit von Gender-Themen          Männern und Frauen, sondern verbessert auch die Moti-
(Rubery 2002; Fagan et al. 2006; Smith/Villa 2010).               vation von Arbeitnehmerinnen, wodurch die Arbeitspro-
    Die zweite Phase von 2003 bis 2005 war von einer Straf-       duktivität gesteigert werden kann, und trägt zur Aufhebung
fung der EBS und der Aufnahme von zehn neuen Mitglied-            der Geschlechtertrennung auf dem Arbeitsmarkt und zur
staaten geprägt: Die Säulenstruktur wurde abgeschafft und         Veränderung traditioneller Rollen bei“ (KOM 2001, S. 97).
durch drei neue übergeordnete Ziele (Übersicht 1) und le-             Diese frühe Akzentuierung verstärkte das in den Be-
diglich zehn Leitlinien ersetzt, wobei die Geschlechter-          schäftigungsleitlinien von 2003 genannte Ziel „[…] bis 2010
gleichstellung von einem übergeordneten Ziel in eine der          das geschlechtsspezifische Lohngefälle in jedem Mitglied-
Leitlinien umgewandelt wurde (Rubery et al. 2003; Devetzi         staat mit Blick auf seine völlige Beseitigung beträchtlich zu
2008, S. 5).                                                      reduzieren; erreicht werden soll dies durch einen mehrdi-
    In Phase 3 zwischen 2005 und 2009 wurden zuvor ge-            mensionalen Ansatz, in dessen Rahmen die Ursachen der
trennte Berichterstattungsmechanismen zu Wirtschafts-             geschlechtsbezogenen Lohnunterschiede angegangen wer-
und Beschäftigungspolitik zu Nationalen Reformprogram-            den, einschließlich der sektoralen und der beruflichen Se-
men (NRP) zusammengefasst. Diese größere Neufassung               gregation, der allgemeinen und der beruflichen Bildung,
führte dazu, dass der Gender-Aspekt als gesonderte Leitli-        der Arbeitsplatzbewertungs- und Lohnsysteme, der Sensi-
nie wegfiel – ein erheblicher Schlag für den Status der Ge-       bilisierung und der Transparenz.“
schlechtergleichstellung (Pfister 2008).                              Dieses spezifische Ziel war das Resultat einer gesonder-
    Die vierte Phase war durch das Ende des Lissabon-Pro-         ten Leitlinie zur Gleichstellung der Geschlechter (die 2005
zesses im Jahr 2010 und die beginnende Formulierung einer         entfiel). Diese Leitlinie bot auch einen Rahmen, innerhalb
neuen Strategie gekennzeichnet. Die neue Europa-2020-             dessen die Länder im jährlichen Gemeinsamen Beschäfti-
Strategie drängte die Gleichstellung der Geschlechter weiter      gungsbericht und in den länderspezifischen Empfehlungen
an den Rand. Keine der zehn integrierten Leitlinien bezog         hinsichtlich der im EBS-Prozess eingegangen Ver-
sich speziell auf Chancengleichheit und lediglich vier be-
zogen sich auf Beschäftigung. Darüber hinaus wurde das
Gender-Mainstreaming fallengelassen (Smith/Villa 2012).           4    Der jährliche gemeinsame Beschäftigungsbericht ist ein
Zudem fiel diese Neuformulierung mitten in die Krise und               weiteres Dokument, in dem der Rat und die Kommission
damit in eine Phase, in der sich politische Entscheidungs-             schwerpunkte, Best Practices und Problembereiche be-
                                                                       nennen.
träger primär auf den unmittelbaren Einfluss der Strate-
gie auf männliche Beschäftigung konzentrierten (Bettio/           5    Die vorgenommene Analyse bezieht sich auf die englisch-
Verashchagina 2013; Villa/Smith 2013).                                 sprachigen Dokumente.

                                                               https://doi.org/10.5771/0342-300X-2015-1-13                                            17
                                                        Generiert durch IP '46.4.80.155', am 15.11.2021, 02:41:16.
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AUFSÄTZE

           pflichtungen zur Verantwortung gezogen werden konnten.                      Weise wurde auch die Frage von Entgeltungleichheiten zu-
           Konkrete Maßnahmen der Kommission und der Mitglied-                         nehmend in parallele politische Maßnahmen des europäi-
           staaten zur Schließung der geschlechtsspezifischen Lohn-                    schen Projekts abgeschoben und an den Rand gedrängt. Am
           lücke waren kaum ersichtlich, obwohl Entgeltgleichheit                      meisten sichtbar war das geschlechtsspezifische Lohngefäl-
           ein vorgegebenes Ziel war. Die integrierten Leitlinien                      le konkret als Kernbestandteil der Road Map für die Gleich-
           2005 – 2008 beinhalteten lediglich eine knappe Erwähnung                    stellung von Frauen und Männern 2006, gefolgt von der
           von Maßnahmen zur Verringerung der Entgeltunterschie-                       Mitteilung zur Bekämpfung des geschlechtsspezifischen
           de. Die Frage der Entgeltungleichheit verschwindet schließ-                 Lohngefälles 2007 (KOM 2007), einer Überprüfung der
           lich fast vollständig aus den integrierten Leitlinien für Eu-               Rechtsvorschriften sowie der Entscheidung zur engen Zu-
           ropa 2020, zusammen mit der Beseitigung sämtlicher                          sammenarbeit mit Eurostat zur Verbesserung des Monito-
           Leitlinien zur Chancengleichheit. Diese Entwicklung zeigt,                  ring (EC 2007) und schließlich dem Start des europäischen
           dass Geschlechtergleichstellung sukzessive ihren zentralen                  Equal Pay Day.6 All diesen Initiativen fehlt jedoch die Wirk-
           Stellenwert in der EBS eingebüßt hat. Das Thema wurde                       samkeit von Maßnahmen im Rahmen der EBS oder die
           zunehmend in andere, parallel zur EBS vorhandene Initia-                    legislative Stärke neuer Richtlinien.
           tiven abgeschoben, wie in Abschnitt 3.3 noch gezeigt wird.                      Einer der wesentlichen Fortschritte des Fahrplans für
                Übersicht 1 (Spalten 3 und 4) zeigt, wie sich die Sicht-               die Gleichstellung von Frauen und Männern 2006 führte
           barkeit des geschlechtsspezifischen Lohngefälles in den seit                zur Veröffentlichung europaweit harmonisierter Statistiken
           1999 veröffentlichten Gemeinsamen Beschäftigungsberich-                     zum Entgelt. Die Daten zum geschlechtsspezifischen Lohn-
           ten und den länderspezifischen Empfehlungen gewandelt                       gefälle basieren auf der von Eurostat alle vier Jahre durch-
           hat. Insgesamt scheint Entgeltungleichheit kein entschei-                   geführten Verdienststrukturerhebung (VSE) und ermögli-
           dendes Thema in diesen offiziellen Dokumenten zu sein: In                   chen ein effektives Monitoring des Lohnunterschieds
           manchen Jahren enthält der Gemeinsame Beschäftigungs-                       zwischen den Ländern auf vergleichender Basis.7 Das Inte-
           bericht keinen einzigen Verweis auf den Gender Pay Gap,                     resse, den Gender Pay Gap im Blick zu behalten, drückt
           gleichzeitig hat der Großteil der Mitgliedstaaten nie eine spe-             sich in Maßnahmen aus, die von Ratspräsidentschaften
           zifische Empfehlung zum geschlechtsspezifischen Lohngefälle                 bestimmter Länder unterstützt wurden. Im Jahr 2010 führ-
           erhalten. Allerdings wird in jedem der jährlich von der                     ten die Bemühungen der belgischen Präsidentschaft zu
           Kommission veröffentlichten Berichte zur Gleichstellung von                 Schlussfolgerungen des Rates, in denen die Verpflichtung
           Frauen und Männern benannt, dass der Gender Pay Gap                         zur Bekämpfung der Ursachen von Lohnunterschieden so-
           fortbesteht.                                                                wie die Einführung eines neuen umfassenden Berichts über
                Die Aufmerksamkeit, die der Lohnungleichheit in den                    das geschlechtsspezifische Lohngefälle in der EU bekräftigt
           Gemeinsamen Beschäftigungsberichten zukommt – gemes-                        wurden (Council of the EU 2010). In der Strategie für die
           sen anhand der Anzahl der Wörter, die der Diskussion des                    Gleichstellung von Frauen und Männern 2010 – 2015 wur-
           geschlechtsspezifischen Lohngefälles gewidmet wird –, folgt                 den Lohnungleichheiten als bedeutendes Hindernis für die
           einem Abwärtstrend. War das Ausmaß der Auseinander-
           setzung mit dem Thema in den ersten beiden Phasen noch
           hoch, so wurde es in den Phasen drei und vier sehr gering.
                                                                                       6   Der equal Pay Day ist ein internationaler Aktionstag, der
           Derselbe Trend einer nachlassenden Aufmerksamkeit für                           für die notwendigkeit, geschlechtsspezifische lohnun-
           vorhandene Lohnunterschiede zeigt sich in den länderspe-                        gleichheiten abzubauen, Bewusstsein schaffen soll. er
           zifischen Empfehlungen. Auf einen abnehmenden Prob-                             wird in den verschiedenen ländern zu unterschiedlichen
                                                                                           Daten begangen.
           lemdruck derart, dass sich der Gender Pay Gap in den ent-
           sprechenden Ländern auch verringert hätte, kann diese                       7   Obwohl die verbesserte methodik für das monitoring des
           geminderte Aufmerksamkeit allemal nicht zurückgeführt                           geschlechtsspezifischen lohngefälles im Vergleich zu den
                                                                                           zuvor nicht-harmonisierten Quellen einen großen Fort-
           werden.
                                                                                           schritt darstellt, ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass
                                                                                           diese Daten hinsichtlich einer umfassenden erfassung vie-
           3.3 Die Entwicklung paralleler Initiativen                                      ler Bereiche, in denen Frauen arbeiten, unvollständig sind.
                                                                                           insbesondere erfasst die Verdienststrukturerhebung nicht
                                                                                           den öffentlichen sektor und Betriebe mit weniger als zehn
           Der schwindende Stellenwert der Geschlechtergleichstel-
                                                                                           Beschäftigten. Zudem findet die erhebung nur alle vier
           lung in den EBS-Dokumenten ging einher mit einer ver-                           Jahre statt (2006, 2010 und 2014) und wird mit nationalen
           stärkten Betonung paralleler Initiativen, wie bspw. der Road                    schätzungen für die dazwischen liegenden Jahre kombi-
                                                                                           niert (eurostat 2009). trotz der mehrjährigen Arbeit von
           Map und dem Pakt für die Gleichstellung der Geschlechter
                                                                                           eurostat und Kommission gibt es immer noch etliche län-
           2006, der Frauencharta 2010, der Strategie für die Gleich-                      der, für die keine bzw. unvollständige oder nicht harmoni-
           stellung von Frauen und Männern 2010 – 2015 (vgl. hierzu                        sierte Daten vorliegen. Darüber hinaus sind einige der
           auch Maier in diesem Heft), dem neuen Pakt für die Gleich-                      schwankungen im geschlechtsspezifischen lohngefälle
                                                                                           eher eine Folge von methodologie und Datensammlung
           stellung der Geschlechter 2011 – 2020 sowie speziellen Kam-
                                                                                           als von tatsächlichen Veränderungen bei lohnunterschie-
           pagnen zu Lohnunterschieden und Vereinbarkeit von Ar-                           den (dies scheint bei litauen und slowenien der Fall zu
           beits- und Privatleben (Villa 2013, S. 148). Auf ähnliche                       sein).

18                                         https://doi.org/10.5771/0342-300X-2015-1-13
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wsi mitteilungen 1/2015

wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen anerkannt.
Ähnlich identifiziert der Pakt für die Gleichstellung der          4. Die Wirtschaftskrise und ihre
Geschlechter aus dem Jahr 2011 die Schließung der Lohn-               Auswirkungen auf Maßnahmen
lücke zwischen Frauen und Männern als einen der Aktions-
                                                                      gegen den Gender Pay Gap
bereiche.
    Die Ratsvereinbarung vom Dezember 2010 beinhaltete
eine Reihe von Entwicklungen hinsichtlich des Monitoring           Die Krise kam für die Gleichstellungspolitik und für Maß-
des geschlechtsspezifischen Lohngefälles. Die Kommission           nahmen gegen das geschlechtsspezifische Lohngefälle zu
wurde dazu aufgefordert, das geschlechtsspezifische Lohn-          einem ungünstigen Zeitpunkt. Der ursprüngliche Optimis-
gefälle regelmäßig zu messen und zu überwachen, eine Rei-          mus zur Entwicklung eines neuen Sozialmodells, das auf
he von Indikatoren festzulegen sowie ergänzende Indika-            hohen weiblichen und männlichen Beschäftigungsanteilen
toren für tiefer gehende Untersuchungen zu berücksichtigen.        basierte, war der Ernüchterung gewichen. Und der Fokus
Etwas verspätet wurde das geschlechtsspezifische Lohnge-           auf die Gleichstellung der Geschlechter beschränkte sich
fälle als einer der Gleichstellungsindikatoren für den ge-         auf einen schmalen Korridor von Maßnahmen und Poli-
meinsamen Bewertungsrahmen des Beschäftigungsaus-                  tikbereichen. Darüber hinaus musste die Kommission in-
schusses, der Generaldirektion Beschäftigung, Soziales und         mitten der Krise ihre neue Vision für das kommende Jahr-
Integration und des Ausschusses für Sozialschutz im Rah-           zehnt entwickeln – die Europa 2020-Strategie.
men des Europa-2020-Monitoring vorgeschlagen. Trotz                    Während die politischen Entscheidungsträger versuchten,
dieser Initiativen hielt die Betonung von Soft-Law-Ansätzen        während der Krise mittelfristige Prioritäten zu definieren,
zur Beseitigung von Lohnungleichheiten in der vierten Pha-         geriet die Gleichstellung der Geschlechter bei der Entwick-
se der EBS an, als die jüngste Wirtschaftskrise die EU-Öko-        lung der Europa-2020-Strategie immer weiter ins Abseits.
nomie traf. In der Zwischenzeit konzentrierte sich die Kom-        Die ersten Konzeptionen der neuen Strategie zeugten von
mission auf weiche Maßnahmen, darunter den europäischen            einer fast vollständigen Ausblendung des Gleichstellungs-
Equal Pay Day seit 2011, der auf einer zuvor durchgeführten        themas. Nur dem Lobbying von Nichtregierungsorganisati-
europaweiten Werbekampagne basierte.                               onen und bestimmten nationalen Regierungen war es zu
    Obwohl Rechtsvorschriften zur Lohngleichstellung be-           verdanken, dass entsprechende Handlungsanforderungen
reits seit über 30 Jahren existierten, war der Fortschritt bei     nicht gänzlich in Vergessenheit gerieten (Villa/Smith 2010;
der Verringerung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles          Smith/Villa 2012). Nachdem das Europäische Parlament im
gering, was die Kommission zu einer von ihr geleiteten             Mai und September 2010 konkrete Maßnahmen gegen Ent-
Überprüfung bestehender Gesetze veranlasste. Schlussfol-           geltungleichheiten forderte, wurde die Europa-2020-Strate-
gerung dieser Initiative war, dass eine verbesserte Anwen-         gie zumindest dahin gehend ergänzt, dieses Problem zu
dung der bestehenden Gesetze durch die Mitgliedstaaten             benennen. Nichtsdestotrotz beinhaltete das endgültige Do-
der Schaffung neuer Regelungen vorzuziehen sei (EC 2009).          kument nur eine Verpflichtung zur „Anwendung des Grund-
Während die EU ihr Engagement zur Bewältigung des ge-              satzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei glei-
schlechtsspezifischen Lohngefälles in den Fünf-Jahres-Stra-        cher oder gleichwertiger Arbeit“.8 Dies war aber bereits
tegien für die Gleichstellung von Frauen und Männern               gemäß der Richtlinie von 1975 erforderlich, die sich auf
(2001, 2005, 2010) bekundete, wurde zugleich offensichtlich,       Bestimmungen des Vertrags von 1957 bezog und stellte in-
dass ihr Engagement gering war, die strategischen Ziele            sofern keinen Fortschritt dar (Villa/Smith 2011, S. 47f.).
durch neue Richtlinien zu untermauern. Die in den letzten
Jahren auf nationaler und EU-Ebene vorangetriebenen                4.1 Zur Entwicklung des Gender Pay Gap
Maßnahmen vertrauten weiterhin auf Soft Law, freiwillige
Ansätze und Maßnahmen der Sozialpartner (Villa/Smith               Die harmonisierten Daten (vgl. Abschnitt 2) bestätigen die
2010). Diese nicht-legislativen Maßnahmen zur Lohn-                relative Stabilität des geschlechtsspezifischen Lohngefälles
ungleichheit beinhalten die Förderung von Transparenz,             während dieses Zeitraums. Vor der Wirtschaftskrise
die Sensibilisierung für das Thema, die Einbeziehung un-
terschiedlicher Akteure sowie die Förderung von Maßnah-
men auf verschiedenen Ebenen.
                                                                   8    immerhin erkannte das europa 2020-Flaggschiff „europä-
                                                                        ische Plattform gegen Armut und soziale Ausgrenzung“
                                                                        die Bedeutung von lohnungleichheiten für das größere Ar-
                                                                        mutsrisiko von Frauen an: „es braucht eine gleichstellungs-
                                                                        politik in Übereinstimmung mit der neuen strategie für die
                                                                        gleichstellung von Frauen und männern 2010 – 2015, um die
                                                                        einkommensschere zwischen den geschlechtern zu schlie-
                                                                        ßen, die sich in fast allen Altersgruppen auftut und bei der
                                                                        weiblichen Bevölkerung – sowohl der erwerbstätigen als
                                                                        auch der nicht erwerbstätigen – zu höheren Armutsraten
                                                                        führt“ (KOm 2010, s. 11).

                                                                https://doi.org/10.5771/0342-300X-2015-1-13                                                19
                                                         Generiert durch IP '46.4.80.155', am 15.11.2021, 02:41:16.
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AUFSÄTZE

           TABELLE 1

           Das geschlechtsspezifische Lohngefälle in der EU, 2002 – 2012
           Angaben in Prozent

                                            2002             2006             2007             2008             2009             2010             2011             2012
                                                      Fortsetzung der Vor-Krisen-Verringerung des geschlechtsspezifischen lohngefälles
            Dänemark                              :              17,6          17,7             17,1              16,8            15,9             16,3            14,9
            Zypern                           22,5                21,8          22,0             19,5              17,8            16,8            16,4             16,2
            luxemburg                             :              10,7          10,2              9,7               9,2             8,7              8,7              8,6

            niederlande                      18,7                23,6          19,3             18,9              18,5            17,8             17,9            16,9
            Österreich                            :              25,5          25,5             25,1              24,3            24,0            23,7             23,4
            slowakei                          27,7               25,8          23,6             20,9              21,9            19,6            20,5             21,5
            Finnland                              :              21,3          20,2             20,5              20,8            20,3             19,6            19,4

            uK                                27,3               24,3          20,8             21,4              20,6            19,5            20,1             19,1
                                                        umkehrung der Vor-Krisen-Öffnung des geschlechtsspezifischen lohngefälles
            Belgien                               :               9,5          10,1             10,2              10,1            10,2             10,2            10,0
            tschechische
            Republik                         22,1                23,4          23,6             26,2              25,9            21,6            22,6             22,0
            Deutschland                           :              22,7          22,8             22,8              22,6            22,3            22,2             22,4

            Frankreich                            :              15,4          17,3             16,9              15,2            15,6            15,0             14,8
            litauen                          13,2                17,1          22,6             21,6              15,3            14,6             11,9            12,6
            malta                                 :               5,2            7,8             9,2               7,7              7,2             6,2              6,1
            Polen                              7,5                7,5          14,9             11,4               8,0             4,5              5,5              6,4
                                                                              umkehrung der Vor-Krisen-schließung
            Bulgarien                        18,9                12,4          12,1             12,3              13,3              13               13            14,7
            estland                               :              29,8          30,9             27,6              26,6            27,7             27,3            30,0
            irland                           15,1                17,2          17,3             12,6              12,6            13,9             11,7            14,4
            spanien                          20,2                17,9          18,1             16,1              16,7            16,2             17,8             17,8
            lettland                             :               15,1          13,6             11,8              13,1            15,5            13,6             13,8
            slowenien                          6,1                 8               5             4,1              -0,9             0,9              2,3              2,5
                                                         Fortdauern oder Beschleunigung des geschlechtsspezifischen lohngefälles
            italien                              :                4,4           5,1              4,9               5,5             5,3              5,8              6,7
            schweden                             :               16,5          17,8             16,9              15,7            15,4            15,8             15,9
            ungarn                           19,1                14,4          16,3             17,5              17,1            17,6            18,0             20,1
            Portugal                             :                8,4           8,5              9,2              10,0            12,8            12,5             15,7
            Rumänien                         16,0                 7,8          12,5              8,5               7,4             8,8             11,0              9,7
                                                                                            nicht klassifiziert
            griechenland                     25,5                20,7          21,5             22,0                 :            15,0                 :                :
            Kroatien                             :                  :              :                :                :            15,5             17,6            18,0
            eu 27                                :               17,7              :            17,3              17,2            16,2            16,3             16,4
            euro 17                              :                  :              :            16,8             16,9            16,5             16,5             16,7

           Anmerkung: geschlechtsspezifisches lohngefälle in unbereinigter Form (methodologie der Verdienststrukturerhebung), http://epp.eurostat.ec.europa.eu/statistics_
           explained/index.php/gender_pay_gap_statistics.

           Quelle: eurostat, Vse [Online-Code: earn_gr_gpgr2].

           war für die EU-27 ein leichter Rückgang der unbereinigten                        bei den Löhnen von Männern als auf eine Erhöhung der
           Lohnlücke zu beobachten, auf den in den Jahren danach                            Löhne für Frauen zurückzuführen ist. Noch mehr Grund
           ein Anstieg folgte (Tabelle 1). In rund einem Drittel der                        zur Besorgnis geben die neun Länder, in denen sich die
           Länder ging der Trend in Richtung eines Abbaus der Lohn-                         Lohnschere – nach einer Phase eines verringerten Gender
           ungleichheit zwischen Frauen und Männern. In sechs wei-                          Pay Gaps – während der Krise neu öffnete bzw. in denen
           teren Ländern scheint die Krise zu einer Verkleinerung der                       sich die Kluft noch weiter vergrößerte. Der leichte Rückgang
           Lohnschere geführt zu haben, die jedoch mit hoher Wahr-                          des Entgeltunterschieds zwischen Frauen und Männern in
           scheinlichkeit eher auf einen krisenbedingten Abwärtsdruck                       einigen Ländern (Belgien, Finnland, Litauen, Slowakei)

20                                             https://doi.org/10.5771/0342-300X-2015-1-13
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wsi mitteilungen 1/2015

während des wirtschaftlichen Abschwungs lässt sich eher            cken in den Firmen, in denen dies Verfahren angewendet
mit einem Abbau der Ungleichheiten bei zusätzlichen Lohn-          wird, zu identifizieren und die Aufmerksamkeit darauf zu
bestandteilen als mit einer Reduzierung der Unterschiede           lenken. Eine vergleichbare Initiative zur Lohntransparenz
im Entgelt selbst erklären. In Zeiten des Abschwungs resul-        besteht in Spanien. Auch der bereits erwähnte Equal Pay
tieren Lohnsenkungen eher aus Einschnitten bei den vari-           Day (vgl. Fußnote 6) ist ein Versuch, um für das Problem
ablen Lohnbestandteilen (bspw. zusätzliche Zahlungen in            des Gender Pay Gap zu sensibilisieren. Solche Aktionen
Form von Boni oder Zuschlägen für Überstunden), die ty-            sind durchaus sichtbar, aber sie haben natürlich nicht die
pischerweise wichtiger für das Entgelt von Männern sind            Durchsetzungskraft (den „Biss“) wie eine Rechtsverordnung
(ENEGE 2013b, S. 100ff.). Da sich diese zusätzlichen Lohn-         gegen das Lohngefälle.
bestandteile prozyklisch bewegen, ist diese nach unten                 Es gibt auch Beispiele, dass konkrete Maßnahmen gegen
gerichtete Anpassung des geschlechtsspezifischen Lohnge-           geschlechterspezifische Lohnungleichheiten versickern oder
fälles voraussichtlich nur vorübergehend. Unglücklicher-           unerwartete kontraproduktive Effekte haben: In Belgien trat
weise existieren zusätzlich einige strukturelle Veränderun-        auf Initiative der Tarifpartner 2008 ein Tarifvertrag in Kraft,
gen, die die Bezahlung von Frauen nachhaltig nach unten            der ein geschlechtsneutrales System der Arbeitsplatzbewer-
drücken könnten: Sparmaßnahmen im öffentlichen Sektor              tung vorgesehen hat. Jedoch gab es keine systematische
und die daran anknüpfenden Vereinbarungen in der Pri-              Bewertung zur Umsetzung des Abkommens und seiner Ef-
vatwirtschaft (Rubery 2013).                                       fekte. In Frankreich fiel die Ablauffrist des Lois Genison aus
                                                                   dem Jahr 2001, das sich mit dem Gender Pay Gap befasste,
4.2 Das Handeln der Mitgliedstaaten                                mitten in die Krise. Eine Novellierung des Gesetzes im Jahr
                                                                   2010 verwässerte dann dessen ursprüngliche Bestimmun-
Ein Überblick über die Politik während der Krise zeigt, dass       gen deutlich und führte zu einer weiteren Schwächung der
nur ein kleiner Teil von Ländern Maßnahmen entwickelt              Initiative zum Abbau des Gender Pay Gap.
und implementiert hat, die direkt auf das geschlechtsspezi-            Löhne werden häufig durch Tarifverhandlungen auf Un-
fische Lohngefälle gerichtet waren.9 Darüber hinaus folgten        ternehmens- oder Branchenebene festgelegt. Wenn der Staat
die Gleichstellungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten ten-              Gleichstellungsmaßnahmen auf diesen Ebenen fördert und
denziell den Vorgaben der Kommission und hatten entspre-           die Akteure der Lohnpolitik adressiert, wie bspw. in Frank-
chend der EU-Führung in dieser Phase eine verstärkte Fo-           reich und Belgien (Smith 2012), besteht die Chance, auf
kussierung auf „Soft Law“-Maßnahmen. Unser Überblick               einen gendergerechten Prozess der Lohnfestsetzung Einfluss
über das Handeln der Mitgliedstaaten während der Krise             zu nehmen. In diesen beiden Ländern waren die Reaktionen
verdeutlicht die Grenzen von Politiken, die für die primäre        der Tarifpartner (angesichts einer heftigen Rezession) je-
Ausrichtung der Wirtschaftspolitik weitgehend randständig          doch höchst heterogen und die Effekte begrenzt. Darüber
sind. Das einzige Beispiel eines umfassenden Ansatzes in           hinaus war die öffentliche Reaktion der Tarifpartner vor
den letzten Jahren bietet Finnland, wo es zwar einen aus-          dem Hintergrund der Krise häufig die, dass jetzt nicht der
geprägten politischen Willen und eine nachhaltige Finan-           passende Zeitpunkt sei, um Lohnungleichheiten anzugehen.
zierung, und doch nur begrenzte Hinweise auf Bewegung                  Das geschlechtsspezifische Lohngefälle kann auch durch
beim geschlechtsspezifischen Lohngefälle gab. Aber auch            politische Maßnahmen beeinflusst werden, die nicht direkt
andernorts sind gute Absichten zu beobachten, die Kom-             auf die Schließung der Lohnschere zwischen Frauen und
plexität der Entgeltungleichheit anzugehen – auch wenn die         Männern abzielen. Jedoch gilt auch hier: Das Risiko unbe-
Erfolge bisher eher begrenzt sind.                                 absichtigter negativer Auswirkungen ist in der Phase einer
    Darüber hinaus gibt es wenige Mitgliedstaaten, die poli-       wirtschaftlichen Krise und eines raschen Politikwandels
tische Maßnahmen mit direkten Auswirkungen auf das ge-             extrem hoch. Derart unbeabsichtigte Nebenfolgen können
schlechtsspezifische Lohngefälle entwickeln. Der begrenzte         mithilfe eines durchweg gleichstellungsorientierten Politi-
Wille zu neuen gesetzlichen Maßnahmen auf EU-Ebene                 kansatzes (Gender-Mainstreaming) minimiert werden, der
übertrug sich auf die Politikansätze der Mitgliedstaaten. Die-     geschlechtsspezifische Effekte bei der Entwicklung und Um-
se basieren auf Formen der „leichteren“ Sensibilisierung für       setzung von Maßnahmen von vornherein berücksichtigt.
das Thema, freiwilligen Initiativen zur Lohntransparenz oder           Eine der deutlichsten Folgen des geschlechtersegregier-
neuen Studien. Diese Ansätze machen die Lohnunterschie-            ten Arbeitsmarkts ist die Konzentration von Frauen in
de zwischen Männern und Frauen bewusst und überwachen              schlecht bezahlten Berufen. Aus diesem Grund helfen Maß-
das Ausmaß der Lohnungleichheit, führen aber nicht not-            nahmen zugunsten der unteren Einkommensgruppen in-
wendigerweise zu konkreten Maßnahmen, um gegenzu-                  direkt Frauen mehr als Männern und können dazu beitra-
steuern. Einen derartigen Ansatz bildet bspw. ein Gesetz in        gen, das geschlechtsspezifische Lohngefälle zu reduzieren.
Österreich, das die Offenlegung der durchschnittlichen             Die jüngsten Schritte zur Einführung eines gesetzli-
Löhne und Gehälter auf Unternehmensebene verlangt. Auf
ähnliche Weise hilft in Deutschland und Luxemburg die
Einführung der LOGIB-Software zur Überwachung von
Lohnunterschieden dabei, geschlechtsspezifische Lohnlü-            9    Vgl. enege-netzwerk: http://www.enege.eu/.

                                                                https://doi.org/10.5771/0342-300X-2015-1-13                                              21
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AUFSÄTZE

           chen Mindestlohns in Deutschland (ab 2015) werden ver-
           mutlich positive Auswirkungen auf die niedrigen Löhne von                  5. Schlussfolgerungen
           Frauen haben. Gleiches gilt für die Erhöhung des Mindest-
           lohns in Ungarn. In Zypern fördert ein Programm zur Schlie-                In den vergangenen 15 Jahren ging von der Europäischen
           ßung des Gender Pay Gap die Stärkung von Kontrollmaß-                      Beschäftigungsstrategie ein großer Einfluss der EU auf die
           nahmen, um die Einhaltung der Gleichstellungsgesetzgebung                  Gleichstellungspolitiken der Mitgliedstaaten aus. Allerdings
           zu überwachen. Ähnlich werden wohl in Irland geringver-                    nahm dieses Engagement der EU in der EBS, die mehrfach
           dienende Frauen von den Maßnahmen zur Durchsetzung                         reformuliert wurde, sichtbar ab. Mit Eintritt der Wirtschafts-
           des nationalen Mindestlohns profitieren. Allerdings ist die                krise waren dann die Bedingungen zusätzlich erschwert,
           Durchsetzung von Mindestlöhnen andernorts aufgrund sta-                    um Fortschritte beim Abbau des geschlechtsspezifischen
           gnierenden Wirtschaftswachstums gefährdet bzw. Zuwächse                    Lohngefälles zu erzielen. Vor diesem „doppelten“ Hinter-
           beim Mindestlohn sind höchst unsicher. Einschnitte im öf-                  grund gelang es nicht, Entgeltgleichheit als Priorität bei
           fentlichen Dienst können zudem die Arbeit von Arbeitsauf-                  neuen politischen Maßnahmen auf EU-Ebene oder der Mit-
           sichtsbehörden, wie im Falle Griechenlands, gefährden.                     gliedstaaten zu verankern. Die aufgeweichten Politiken der
               Die Reform von Steuersystemen kann schlecht bezahlten                  EU für die Geschlechtergleichstellung in den Beschäfti-
           Frauen indirekt helfen, ändert jedoch wenig an den tiefer                  gungsleitlinien ermöglichten es insbesondere denjenigen
           liegenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten hinsicht-                   nationalen Regierungen, die Gleichstellungsfragen ohnehin
           lich der Art und Weise, wie Frauen und Männer für ihre                     weniger zugeneigt waren, die Geschlechterdimension bei
           Arbeit entlohnt werden. Während der Krise reformierte eine                 der Politikgestaltung zu ignorieren. Doch der Beginn der
           Reihe von Mitgliedstaaten ihre Steuersysteme – mit positi-                 Krise stellte auch diejenigen politischen Entscheidungsträ-
           ven Auswirkungen für die unteren Einkommensgruppen.10                      ger, die sich der Gleichstellung der Geschlechter verpflich-
           Obwohl die Gleichstellung der Geschlechter nicht das Leit-                 tet fühlen, vor große Herausforderungen. Das Ziel der Ent-
           motiv vieler dieser Reformen war, sind die positiven Effek-                geltgleichheit, das in der EBS zu keiner Zeit an vorderster
           te zu begrüßen, wenn der Nettolohn für Frauen steigt oder                  Stelle stand, war damit ein frühes Opfer der Krise.
           Verzerrungen beseitigt werden. Zwar adressiert dieser An-                       Selbst auf ihrem Höhepunkt fußte die EBS auf einem
           satz nicht die Prozesse, die dazu führen, dass Frauen in                   eher engen Verständnis davon, wie Geschlechtergleichstel-
           schlecht bezahlten Berufen oder am unteren Ende von Un-                    lung konzipiert ist und welche politischen Ziele als prioritär
           ternehmenshierarchien konzentriert sind. Jedoch kann er                    definiert werden (Rubery 2002; Stratigaki 2004; Lewis 2006;
           dazu beitragen, die Symptome dieser Prozesse – nämlich                     Villa 2013). Gleichstellungsansätze im Bereich der Beschäf-
           niedrige Nettolöhne – zu lindern. Andererseits können die                  tigungspolitik waren stets eng verbunden mit den domi-
           indirekten Auswirkungen von Steuersystemen die unteren                     nanten ökonomischen Zielen, Wachstum und Wettbewerbs-
           Einkommensgruppen auch benachteiligen. Dies ist insbe-                     fähigkeit zu erhöhen und die öffentlichen Finanzen zu
           sondere dort der Fall, wo haushaltsbasierte Systeme „Zweit-                stabilisieren. Kurz gesagt, Geschlechtergleichstellung wur-
           verdienern“ hohe Grenzsteuersätze auferlegen, wie bspw. in                 de mit höheren Frauenerwerbsquoten „übersetzt“, was zur
           Deutschland.                                                               Verbesserung der wirtschaftlichen Leistung der EU-Länder
               Die indirekten Auswirkungen der Austeritätsmaßnah-                     und zur Aufrechterhaltung der Wohlfahrtssysteme benötigt
           men auf Beschäftigung und Arbeitsbedingungen im öffent-                    wurde. Hieraus resultierte, dass Aspekte wie der Gender Pay
           lichen Sektor werden wahrscheinlich negative indirekte                     Gap nur dann einbezogen wurden, wenn sie als größeres
           Effekte auf das geschlechtsspezifische Lohngefälle haben.                  Hindernis für die Erwerbsbeteiligung von Frauen angesehen
           Der öffentliche Sektor ist ein wichtiger Anbieter hochwer-                 wurden. Während also die Ziele der Geschlechtergleichstel-
           tiger Arbeitsplätze für Frauen und bietet darüber hinaus                   lung zunehmend an Sichtbarkeit einbüßten, wurde die
           vielfach Kinderbetreuungsmöglichkeiten, die es Frauen                      Lohnungleichheit zwischen Frauen und Männern aus den
           leichter machen, erwerbstätig zu sein (Rubery 2013). Eine                  EBS-Mechanismen, die etwas „Biss“ haben, entfernt, bspw.
           Reihe von Ländern hat die Löhne im öffentlichen Dienst                     aus den länderspezifischen Empfehlungen.
           eingefroren oder strenge Kürzungen durchgeführt – mit                           Das Bekenntnis der Europäischen Beschäftigungsstra-
           beträchtlichen Konsequenzen für die weiblichen Beschäf-                    tegie zur Förderung der Geschlechtergleichstellung hatte
           tigten. Es ist wahrscheinlich, dass diese Maßnahmen zu                     gleichwohl durchaus Einfluss auf Gleichstellungspolitiken
           einer neuerlichen Öffnung der Einkommensschere beitra-                     der Mitgliedstaaten (Rubery 2002; Rubery et al. 2003; Fagan
           gen werden (auch wenn diese Veränderungen nicht durch                      et al. 2006). Als die EBS dieses Engagement jedoch zurück-
           die Verdienststrukturerhebung erfasst werden können, da
           der öffentliche Sektor dort ausgeklammert ist). In der Tat
           bestätigt der Gemeinsame Beschäftigungsbericht aus dem
           Jahr 2013, dass die Löhne im öffentlichen Sektor unter an-                 10 Beispielsweise führte schweden eine steuergutschrift für
                                                                                         geringverdiener ein; in malta wurden steuerveränderun-
           derem in Spanien, Italien, den Niederlanden und Portugal
                                                                                         gen verabschiedet, die auf die erhöhung der erwerbsbe-
           eingefroren und in Zypern, Griechenland, Ungarn, Irland                       teiligung von Frauen abzielen; die slowakei erhöhte den
           und Slowenien gekürzt worden sind.                                            steuerfreien Anteil des einkommens.

22                                        https://doi.org/10.5771/0342-300X-2015-1-13
                                   Generiert durch IP '46.4.80.155', am 15.11.2021, 02:41:16.
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