Exemplarität und die Ordnung des Erzieherischen - Kira Ammann / Elmar Anhalt - Ingenta ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
PR 2020, 74. Jahrgang, S. 603-622 © 2020 Kira Ammann / Elmar Anhalt - DOI https://doi.org/10.3726/PR062020.0063 Kira Ammann / Elmar Anhalt Exemplarität und die Ordnung des Erzieherischen 1. Exemplarität als Thema Thema ist, dass in der Pädagogik gegen- wärtig viel Beachtung erfährt. Exemplarität ist kein Wort, das uns heute Man mag sich fragen, warum es dazu in der Wissenschaft auf Schritt und Tritt gekommen ist. Ist ›Exemplarität‹ womöglich begegnet. Es scheint eher ein hapax le- weniger wichtig als ›lebenslanges Lernen‹ gomenon der Wissenschaftssprache zu oder ›employability‹? Dann wäre ›Exemplari- werden. Ein Blick in einschlägige Handbü- tät‹ wohl zurecht aus dem Fokus der Auf- cher und Lexika erweckt zumindest diesen merksamkeit geraten. Vielleicht aber ist das Eindruck.1 Es sieht prima facie so aus, als Verschwinden des Themas von der päda- ob »es sich um einen vernachlässigbaren, gogischen Agenda auch ein Hinweis, dass nur noch historisch interessanten Begriff man in einer anderen Richtung nach einer handelt«.2 Beobachten können wir auch, Erklärung suchen sollte. Vielleicht nämlich dass, bis auf wenige Ausnahmen wie z.B. ist das Verschwinden Ausdruck für ein Ver- in der Literaturwissenschaft, Exemplari- blassen des Schwerpunktes, unter dem tät kaum thematisiert wird, dass von den Sachverhalte wie Erziehung, Unterricht und semantisch verwandten Ausdrücken aber Bildung bisher behandelt worden sind. zum Teil rege Gebrauch gemacht wird.3 Es Dieser Schwerpunkt war bis zur zwei- sieht auf den zweiten Blick daher so aus, ten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Mensch als hätten wir es mit einem Begriff zu tun, unter dem Gesichtspunkt von Erziehung der in der Breite als bekannt vorausgesetzt und Bildung, der insbesondere durch wird. Und in der Pädagogik? einen allgemeinpädagogisch und -didak- Dort ist zu hören, dass die Diskussion tisch reflektierten Unterricht in seinem Auf- um das exemplarische Lehren und Lernen wachsen unterstützt werden sollte. Auf ihn »ihren Höhepunkt 1945-1965« hatte.4 Seit- war der »Grundgedanke« der Exemplarität dem die Differenz von Didaktik und Metho- ausgerichtet.6 Der einzelne Mensch war de in den Fachdidaktiken verblasst ist und es, der vor allem, aber nicht nur als Schüler diese sich auf die Seite der Kompetenzfor- »an wenigen Beispielen grundlegende Ein- schung geschlagen haben, scheint auch sichten« in die allgemeine Verfasstheit der die Schulpädagogik, die vormalige Do- Welt und die regionalen Besonderheiten mäne des pädagogischen Denkens über von Gesellschaften gewinnen sollte. Aus Exemplarität, das Interesse an diesem dem Grunde zählt Exemplarität bis heute Thema verloren zu haben.5 Generell kann noch zu den zentralen Prinzipien des päd- man festhalten, dass Exemplarität kein agogischen Nachdenkens über Erziehung, 6 / 2020 Pädagogische Rundschau 603 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Unterricht und Bildung, die »gewährleis- Im Zuge der verschiedentlich beschrie- tet« sein müssen.7 Lehrer sind »für die benen Versozialwissenschaftlichung des Bereitstellung von didaktisch-methodisch Faches, die zur Etablierung von Kompe- durchdachten Unterrichtsarrangements tenz- und Qualifikationsforschung geführt verantwortlich, die ein exemplarisches und hat, ist ein neuer Schwerpunkt etabliert strukturiertes Lernen an geeigneten Bei- worden. Das ›Bildungssystem‹, gegliedert spielen ermöglichen«.8 nach Subsystemen wie ›Kindergarten‹, Diese Aufgabe sollte dabei nicht auf ›Schule‹, ›Berufsausbildung‹ usw. und den psychologischen Hinweis reduziert geordnet unter Ausbildungs- und Kar- werden, dass Menschen ›Kategorien‹ er- rierekriterien, bildet seither den Gegen- werben, in denen sie »Objekte oder Ereig- standsraum, auf den sich der Großteil der nisse auf der Basis von Gemeinsamkeiten Forschung konzentriert. Sie beschreibt zu Klassen« zusammenfassen, die sie zur sich selbst unter dem Paradigma einer Orientierung in der Welt einsetzen.9 Die datenproduzierenden und Steuerungs- Exemplarität eines Unterrichtsinhalts muss wissen generierenden Bildungsforschung vielmehr durch eine spezifische Form des als Beobachterin des ›Bildungssystems‹.12 Miteinanderumgehens, den erziehenden Von dem Schwerpunkt früherer Tage Unterricht, gemeinsam erarbeitet wer- distanziert sie sich und überlässt ihn der den.10 Sie gibt sich nicht von sich aus zu Pädagogik, die offenkundig ›näher‹ am erkennen, sie folgt keinem Automatismus, Geschehen ist oder den Teilen der Erzie- sondern sie muss durch »Abstrahieren und hungswissenschaft, die noch nicht ganz Rückbeziehen« in lehrender Unterstützung auf das Wissenschaftsverständnis der Bil- erkannt und verstanden werden.11 dungsforschung umgeschwenkt sind. Dreh- und Angelpunkt der Beschäf- Die ›Nähe‹ der Pädagogik zum erzie- tigung mit Exemplarität ist unter diesem herischen Geschehen wird von der Bil- Schwerpunkt die Einübung von Urteilskraft, dungsforschung in der Regel ablehnend die nach Immanuel Kant darin besteht, die beschrieben. Man will nicht im Schlamm Differenz Besonderes | Allgemeines situa- des Erziehungsalltags wühlen. Die Bil- tionsangemessen zu handhaben. Voraus- dungsforschung zieht dazu eine klare gesetzt wurde dazu ein gesellschaftlicher Grenze: Wer Sachverhalte wie Schule und Zusammenhang, relativ zu dem Urteile als Unterricht pädagogisch zum Thema macht, möglich angesehen wurden und ihnen die äußert Gedanken zu dem, was Erziehung, Aufgabe aufgebürdet wurde, den Zusam- Bildung und deren institutionelle Organisa- menhalt der Gesellschaft nicht nur abzubil- tion aus Sicht der Menschen ausmachen den, sondern auch zu befördern. Plakativ und für sie bedeuten. Um beschreiben zu gesagt: Unter dieser Schwerpunktsetzung können, was es für Menschen bedeutet, stand der Mensch als urteilsbegabtes und im Bildungssystem aufzuwachsen und -fähiges Mitglied einer diskutierenden Öf- den Erwartungen der anderen ausgesetzt fentlichkeit im Fokus der Aufmerksamkeit. zu sein, mit denen sie umzugehen lernen All das galt und gilt bis heute gene- sollen, werden Annahmen über akzeptab- rell für das Aufwachsen unter den Be- le Menschenbilder, Bildsamkeit, ethische dingungen von Erziehung, Unterricht und Grenzziehungen, tolerable Spielräume, Bildung, soweit an diesem Schwerpunkt die pädagogischen Zugriffen verschlos- festgehalten wird. Wer anders als der ein- sen bleiben (sollten), und anderes mehr zelne Mensch sollte für diese Arbeit an- benötigt. Die Pädagogik liefert problem- gesprochen werden und wer anders sollte orientiertes Wissen in diesen Zusammen- die Ernte aus dieser Arbeit einfahren? hängen. Dafür sind Festlegungen, z.B. 604 Pädagogische Rundschau 6 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
hinsichtlich des Menschenbildes, des Ge- »hauptsächlich durch die Sprache der sellschaftsverständnisses und der Formen Kirche« und die höfische Literatur ver- des Umgangs, unvermeidlich. Aus dem mittelt worden sind, drücken eine Eigen- Grunde steht die Pädagogik unter Ideolo- schaft oder einen Zustand aus.14 Das gieverdacht. Sie engagiert sich, sagt die Wort ›Exemplarität‹ bezeichnet demnach Kritik, anstatt das Geschehen aus nüchter- die Eigenschaft oder den Zustand des Ex- ner Distanz zu beobachten.13 emplarisch-seins bzw., wie man genauer Dieser Vorwurf ist schwerwiegend und sagen müsste, es bezeichnet etwas, das sollte nicht auf die leichte Schulter genom- der Sache nach exemplarisch ist für etwas men werden. Ebenso wichtig ist es aber anderes oder das ein Exemplar ist von auch, sich dem Vorwurf nicht einfach zu etwas, das nicht es selbst schon von sich ergeben. Es sollte vielmehr versucht wer- aus ist, oder das ein Exempel für etwas ist. den, argumentativ auszuloten, wie der Diese Genauigkeit ist nötig, weil es auch Gegenstand eine gewisse ›Nähe‹ der Wis- andere Substantive mit diesem Suffix gibt, senschaft nötig macht und wie die reflexive die nicht in der gleichen Weise sowohl Distanz zum Geschehen gestaltet werden für etwas als auch von etwas relationiert sollte. Pauschalablehnungen und -zuwei- werden. ›Subjektivität‹, ›Moralität‹ oder sungen von Verantwortung sind da kaum ›Fakultät‹ und ›Relationalität‹ sind Ausdrü- hilfreich. Wir werden deshalb an Günther cke, bei denen der Doppelcharakter der Bucks Überlegungen zur Exemplarität an- Beziehung nicht sofort erkennbar ist und setzen, um zu zeigen, dass man ›nah‹ am erst über Kontextualisierung ›hergestellt‹ Gegenstand sein kann, ohne diese ›Nähe‹ wird. Bei ›Exemplarität‹ wird das Bezie- ideologisch zu begründen. In seiner »Me- hungsgefüge unmittelbar durch das Wort thodenlehre der moralischen Bildung« angezeigt, d.h. wer ›exemplarisch‹, ›Exem- hat er einen Versuch vorgelegt, wie man plar‹ oder ›Exempel‹ sagt, ist gezwungen, eine Ordnung des Erzieherischen denken Auskunft darüber zu geben, für was etwas kann, ohne festgefügte Schemata vorzu- exemplarisch oder Exempel sein soll bzw. schreiben. Bucks Überlegungen weisen in von was etwas ein Exemplar sein soll. Man eine Richtung, die, konsequent beschrit- benötigt zwingend eine Akkusativ- bzw. ten, die Frage nach dem Status des Her- eine Dativ- oder Genitivergänzung, wenn anwachsenden in dieser Ordnung aufwirft. man diese Wörter verwendet. Ansonsten Wir greifen diese Frage am Schluss unse- sind solche Sätze in der deutschen Spra- res Beitrages auf und stellen in aller Kürze che bruchstückhaft. eine Antwort vor, die eher eine Skizze als Im modernen Wissenschaftsverständ- ein fertiges Gemälde ist und auf jeden Fall nis werden Eigenschaften und Zustände ausgearbeitet werden müsste. nicht mehr als Wesensmerkmale beschrie- Wir beginnen mit einer Begriffsklä- ben, die den Sachen von sich aus zugehö- rung, die zu einem der wichtigsten Autoren rig (ihnen ›eingeschrieben‹) sind. Ebenfalls führt, die sich zu diesem Thema geäußert weggefallen ist die Beschreibung von Ak- haben: zu Immanuel Kant. An dessen Vor- zidentien, die einer Substanz anhaften, für arbeiten knüpft auch Buck an. diese aber nicht von ausschlaggebender Bedeutung (nicht ›essentiell‹) sind. Was noch bleibt, ist eine Beschreibung der 2. Der Begriff der Exemplarität Welt mithilfe von Unterscheidungen, deren wiederholende Verwendung als Katego- Substantive mit dem Suffix -tät oder rien, Klassifikationsschemata, Ordnungs- -ität, die seit dem Mittelhochdeutschen muster, Denkformen oder Differenzfiguren 6 / 2020 Pädagogische Rundschau 605 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
selbst wiederum beschrieben werden kön- Exemplar, zum Muster dienend. Ein exem- nen. Auf diese Weise sind umfangreiche plarischer Wandel, ein strenger, tugend- Beschreibungen der Welt und Beschrei- hafter Wandel, wenigstens dem Äußern bungen von Beschreibungen der Welt nach. Ein exemplarischer Mann, der in entstanden, die in der Wissenschaft als seinem äußern Betragen andern zum Mus- Formen der Theoriebildung zum Thema ter dienen kann. Jemanden exemplarisch gemacht werden können. Im modernen strafen, so dass andere ein Exempel daran Wissenschaftsverständnis stellt sich die nehmen können, strenge.« Das ›Exempel‹ Frage nach der Begründung und Absiche- stammt vom Lateinischen »Exemplum, das rung von Aussagen daher mit besonderer Beyspiel, in beyden Bedeutungen dieses Dringlichkeit. Wortes«. Adelung erläutert: »1) So fern Kennzeichnend für diese Art von The- es eine ähnliche Sache ist, welche die matisierung ist, dass die Form der Rela- Möglichkeit einer andern zeiget, oder ihr tionierung an Bedeutung gewonnen hat. zur Erläuterung dienet. Ein Exempel an- Beim Begriff der Exemplarität ist dies un- führen. Etwas zum Exempel anführen. […] vermeidlich, denn er rückt die Eigenschaft 2) In engerer Bedeutung, eine Begeben- von etwas in den Blick, in Beziehung zu heit, die man zur Vorschrift seines Ver- stehen. Etwas wird im Zustand des In- haltens annimmt, oder annehmen soll; ein Beziehung-Seins zum Thema gemacht. Beyspiel, Vorbild. Ich will deinem Exempel Entscheidend ist aus unserer Sicht, dass folgen. Laß dir das ein Exempel seyn. Ein diese Relationierung nicht von einem fest- Exempel an etwas nehmen, sich eine Be- geschriebenen Schema aus bestimmt gebenheit zur Warnung dienen lassen.« werden muss. Es ist nicht schon alles fein Das ›Exemplar‹ wird als »ein Muster, ein säuberlich vorsortiert, wenn man anfängt, Vorbild seines Verhaltens, wie Exempel« in der Pädagogik die Relationen einzu- eingeführt. Jemand ist ein »Exemplar der setzen, die Exemplarität zum Ausdruck alten Redlichkeit«. Allerdings, sagt Ade- bringen. Das wäre nur dann anzunehmen, lung, komme das Wort in dieser Bedeu- wenn man die Ordnung des Erzieheri- tung »wenig mehr vor«. Es gehört in dieser schen doch wieder durch eine Wesens- Bedeutung in den semantischen Hof von oder Substanzbeschreibung aufklären exemplarisch. In einer anderen Bedeutung wollte. wird ›Exemplar‹ terminologisch verwen- Dass dies nicht erforderlich ist, zeigt det. »2) Bey den Buchdruckern bedeutet bereits ein kurzer Blick auf den Begriff Ex- Exemplar das Original einer Schrift, das- emplarität bzw. seine Unterscheidungen. jenige, was bey dem Setzen eines Buches Da Exemplarität heute kein vorrangiges oder einer Schrift dem Setzer zum Muster Thema zu sein scheint, blicken wir in die dienet. 3) Bei den Buchhändlern hingegen Geschichte zurück bis zu der Zeit, in der ist Exemplar ein Stück der ganzen Auflage, Kant wirkte. Dort finden wir wichtige Be- ein Buch oder eine Schrift als ein Individu- griffsklärungen, die auch heute noch nahe- um betrachtet. Ein Exemplar von Gellers zu unverändert im Spiel sind. Moral. Sechs Exemplare der Deutschen Im ›Grammatisch-kritischen Wörter- Bibel.«15 buch der hochdeutschen Mundart‹ von In Georg Samuel Albert Mellins Johann Christoph Adelung finden sich ›Encyklopädischem Wörterbuch der Kri- die drei Einträge ›Das Exempel‹, ›Das tischen Philosophie‹ finden sich auf zwei Exemplar‹ und ›Exemplarisch‹. Der Ein- Seiten Hinweise auf Kants Ausführungen trag ›Exemplarisch‹ lautet kurz und bün- zum ›Exemplarischen‹. An folgende Hin- dig: »im gemeinen Leben, andern zum weise wäre aus unserer Sicht zu erinnern: 606 Pädagogische Rundschau 6 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
»Exemplarisch heißt«, schreibt Mellin, verfügt vielleicht über »Geschicklichkeit« »alles, was nicht nachgeahmt ist, und doch in der Nachahmung des Musters. Diese nachgeahmt werden muss«. Exemplarisch ist zu unterscheiden von der Fähigkeit des »heißt etwas, wenn es Muster seyn kann. Geschmacks, das Muster als geeignet Die Werke oder Producte des Genies z.B. für die Orientierung eigenen Verhaltens sind exemplarisch, weil sie die Muster seyn zu beurteilen. Das Maß, an dem ein Ge- müssten, nach welchen ähnliche Werke schmacksurteil gemessen werden muss, gearbeitet und beurtheilt werden müssen. kann niemals eine empirische Erfahrung […] Das Exemplarische ist dem Nachge- sein (es kann nicht durch Nachmachen ahmten entgegengesetzt.« Das Produkt erworben werden), sondern es muss als eines Genies erkennt man daran, dass es Idee angelegt sein. Diese muss »jeder »nicht durch Nachahmung entsprungen« in sich selbst hervorbringen«, um sie an ist. Es kann ein Produkt nachgeahmt sein ein Verhalten anlegen zu können, das als und gleichwohl Exemplarisches enthalten, Exemplar gedeutet wird.19 Ein Exemplar d.h. etwas zur Darstellung bringen, was ist nicht von sich aus Exemplar, sondern »zum Muster dienen kann«. Ebenso kann durch das Urteil, das jemand fällt, indem er das Produkt eines Genies etwas enthal- die Idee des guten Geschmacks für sich ten, »worin es nicht exemplarisch ist«. In entwickelt und als Kriterium der Beurtei- diesen Passagen hat das »Talent« des Ge- lung von Verhalten aller Art anwendet. nies »geschlummert«.16 Halten wir fest: Am Begriff der Exem- In Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ stößt plarität wird unterschieden die Originalität man auf wichtige Ergänzungen, die von eines Musters bzw. Vorbildes. Diese Re- Mellin nicht erwähnt werden. Dass Exem- lation bezeichnet der Ausdruck ›Exempel‹. plarische ist nicht identisch mit Originali- Am Begriff wird weiterhin unterschieden tät, weil »es auch originalen Unsinn geben das Beispielhafte eines Verhaltens. Dieses kann«, den niemand sich zum Vorbild neh- wird durch den Ausdruck ›exemplarisch‹ men sollte, heißt es bei Kant. Zum Vorbild markiert. Schließlich unterscheidet man nehmen meint, dass etwas »zum Richtma- am Begriff der Exemplarität noch den Ex- ße oder Regel der Beurtheilung« gewählt emplar-Status, den etwas relativ zu einem wird. Wie man zu dieser Regel kommt Zusammenhang hat, dem es zugeordnet und warum man sich ihr unterwirft, kann ist. Um diese Differenzen erfassen und be- das Genie »selbst nicht beschreiben, oder urteilen zu können, ist Geschmack nötig, wissenschaftlich anzeigen«. Es kann nur den jemand von sich aus aufbringen und als der »Urheber« einer Sache bezeichnet an Gegebenheiten anlegen muss. Der werden, der »selbst nicht weiß, wie sich Maßstab der Beurteilung ist nicht durch die Ideen dazu herbei finden, auch es nicht Nachahmung zu finden, weil er keine em- in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Be- pirische Erfahrung ist, sondern Einsicht in lieben oder planmäßig auszudenken und eine Idee voraussetzt. anderen in solchen Vorschriften mitzuthei- len, die sie in Stand setzen, gleichmäßige Produkte hervorzubringen«.17 3. »Moralischer Monismus« Um etwas als geeignetes Muster für eigenes Verhalten identifizieren zu können, An diese Unterscheidungen knüpft muss man schon selbst »Geschmack« Günther Buck an. Er vertieft und erweitert haben. Wer Geschmack hat, ist darum sie, indem er sich mit Kants ›Lehre vom aber noch nicht selbst ein Genie, das Exempel‹ auseinandersetzt und diese um Exemplarisches hervorbringen kann.18 Er pädagogische Fragestellungen ergänzt.20 6 / 2020 Pädagogische Rundschau 607 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Buck setzt an bei der Frage, wie All- einem begrenzten Wert behauptet wird, er gemeines und Besonderes in ihrer wech- sei das ganze Gute«.23 selseitigen Bedingtheit bestimmt werden Hartmann monierte, das Allgemeine, können. Kant hatte bekanntlich einen an dem das Besondere des moralischen Vorschlag gemacht, der die Allgemein- Urteils Maß nehmen soll, würde in der Ge- heit der Maxime, die den einzelnen bindet, schichte der Moralphilosophie immer auf der Singularität von je spezifischen Ent- die am weitesten abstrahierbare Ebene scheidungssituationen gegenüberstellt. der Glückseligkeits-, Nützlichkeits-, Ge- Orientierung finden sollte der Handelnde rechtigkeits-, der Liebes-, der Kraft- oder an einer Maxime, deren Allgemeinheit den der Herrenmoral gehoben, auf der alle Dif- Wandel der Ereignisse und Herausfor- ferenzen nivelliert sind und es streng ge- derungen übergreift. Diese Auffassung nommen nichts mehr zu urteilen gibt, weil mündet in die berühmte Formel des Ka- es nur noch darum geht, das jeweils ak- tegorischen Imperativs ein: »Handle so, tuelle Ereignis einem vorgängig aufgestell- dass die Maxime deines Wollens jederzeit ten Schema einzuordnen. Die monistische Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung Auffassung von Moralität hat die Aufgabe sein könnte.«21 des moralischen Urteilens degradiert zur Die Gegenposition zu diesem Vor- Sammlung von Bestätigungen des Guten, schlag hebt die Individualität des das schon feststeht. Von moralischem Handelnden und die je spezifischen sin- Urteilen kann man dann nicht mehr sinn- gulären Situationsbedingungen hervor, voll sprechen, wenn man nur noch abhakt, unter denen Entscheidungen für Handlun- was im Lichte der vorgegebenen Auffas- gen getroffen werden. Orientierung kann sung als moralisch gut und böse zu gelten es nach diesem Verständnis nur in einer hat. Mit der Starrheit des Schemas ist das Anpassung an die Veränderbarkeit geben, Lebenselixier des Urteilens überhaupt ver- wozu den jeweiligen singulären Ereignis- nichtet: die Freiheit der Wahl, die ohne die sen und Bedingungen Rechnung getra- Qual der Begründung nicht zu haben ist. gen werden muss. In zugespitzter Form hat Nicolai Hartmann diese Kritik gegen Kants kategorischen Imperativ gewendet: 4. »Methodenlehre der »Handle so, daß die Maxime deines Wil- moralischen Bildung« lens niemals zugleich (wenigstens niemals restlos zugleich) Prinzip einer allgemeinen Gegenüber dieser Kritik versucht Buck Gesetzgebung sein könnte.«22 Kants Position stark zu machen, indem er Hartmann zog damit die Konsequenz die pädagogischen Stellen in dessen Werk aus der Kritik, die bei Friedrich Nietzsche als »eine Methodenlehre der moralischen vorbereitet, von diesem aber ins Extrem Bildung« auslegt. »Das ausgezeichnete des individuellen Relativismus getrieben Mittel aber der moralischen Bildung, d.h. worden war. Hartmann wollte das Extrem der Gründung eines Charakters ist das vermeiden und gleichwohl der Individuali- Beispiel.« Am Beispiel, so Buck, können tät und Singularität des moralischen Urtei- wir lernen, was es heißt, moralisch zu sein, lens und Handelns Rechnung tragen. Er ohne unser Verhalten in ein vorgegebenes griff dazu Kants Formulierung des kate- Schema pressen zu müssen. Um einem gorischen Imperativs an einem Punkt an, weit verbreiteten Missverständnis vorzu- den er als »moralischen ›Monismus‹« be- beugen, lehnt Buck gleich zu Anfang die zeichnete. Dessen Fehler ist, »dass das »banale Illustration-Theorie« ab, die den Gute einseitig beschränkt wird, dass von Zweck eines Beispiels darauf reduziert, 608 Pädagogische Rundschau 6 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
etwas Allgemeines anschaulich darzustel- erwähnten Lexikonartikeln gesagt wurde, len.24 Das mag ein Motiv sein, das eine es stehe für eine Sache, »welche die Mög- gewisse Rolle in pädagogischen Zusam- lichkeit einer andern zeiget, oder ihr zur menhängen spielt. Es ist aber keineswegs Erläuterung dienet«. Das Exempel bringt das einzige und schon gar nicht das ent- einen Sachverhalt zum Ausdruck, d.h. es scheidende Motiv. zeigt an, wie es sich mit der Sache verhält, Buck denkt die Relation Allgemeines | indem über sie gesprochen wird. Besonders, die am Beispiel exemplifiziert Wer über eine Sache spricht, sagt wird, grundlegender. Er geht davon aus, Buck, der zeigt mit seinem Verhalten, wel- dass das Allgemeine die Wahl des Bei- che Möglichkeit des Sprechens-über er- spiels bestimmt und ordnet dem Beispiel griffen und wie das Sprechen-über in den die Funktion zu, das Allgemeine angemes- ›umgreifenden‹ Kontext menschlichen Mit- sen darzustellen. Angemessenheit muss einanderumgehens eingeordnet werden aber von Anschaulichkeit unterschieden kann. Das Sprechen erläutert sich quasi werden. Ein Beispiel erweist seine Eig- selbst, indem es sich der Wahrnehmung nung zur Darstellung eines Allgemeinen präsentiert und der Auslegung zur Ver- folglich, wenn es angemessen ist; ob es fügung stellt. Es präsentiert, indem es in auch anschaulich ist, ist hingegen zweit- der Anwesenheit eines anderen vollzo- rangig. Dies hat Konsequenzen: Wenn gen wird, die Regeln, die ein Sprechen ein ungeeignetes Beispiel gewählt wird, dieser Art erfüllen muss, um spezifischen dann weil es nicht zum Allgemeinen passt. Erwartungen zu entsprechen, ohne dass Wenn ein ungeeignetes Beispiel gewählt diese Regeln selbst explizit, also in Satz- wird, dann wird das Allgemeine verfehlt, form ausgesprochen werden müssen. Sie das durch jenes dargestellt werden sollte, müssen aber gedeutet werden, um das mag das Beispiel auch noch so anschau- Verhalten als Fall-von Regelanwendung lich sein. Seine Anschaulichkeit ist kein identifizieren zu können. Für sich betrach- Vorteil, wenn das Beispiel nicht zum Allge- tet ist Verhalten nicht mehr als körperliche meinen passt.25 Bewegung im Raum, die an einem Orga- In der Erziehung, so Buck, wählt eine nismus wahrgenommen wird. So betrach- Person ein spezifisches Beispiel deshalb ten z.B. Physiker die Welt. Für sie gibt nicht aus dem Grund, dass ihm die Worte es keinen Grund, Exemplarisches zu ent- fehlen, um einen allgemeinen Sachverhalt decken, sie kommen zurecht, wenn sie in einem anderen anschaulich, d.h. Punkt Beispielen sprechen, um Fälle von empi- für Punkt nachvollziehbar, darzulegen. risch nachgewiesenen Gesetzen anschau- Sie greift nicht zu dem Mittel der bildhaf- lich zu beschreiben. In der Einstellung des ten Vorstellung, weil sie meint, in der si- Naturwissenschaftlers wird das Desinter- multan gegebenen Einheit des Bildes das esse an der Exemplarität von Handlungen ausdrücken zu können, was ihr in der se- zur methodischen Norm erklärt, die ein- quentiellen Ordnung des Sprechens nicht gehalten werden sollte, um dem Ideal der gelingen will. Buck hebt vielmehr hervor, Naturwissenschaften möglichst nahe zu dass das Sprechen selbst bereits ein Bei- kommen: der Beschreibung einer Welt, spiel ist, das in der Kommunikation wahr- wie sie beschaffen sein müsste, wenn genommen werden kann. Es ist in dieser man alle subjektiven Beschreibungen aus Funktion »das gute Beispiel an dem Leh- ihr herausrechnet, d.h. eine Welt, wie sie rer selbst (von exemplarischer Führung zu wäre, wenn sie nicht beschrieben würde. sein)«, wie Kant sagt.26 In diesem Fall ist Buck weiß, dass dies nicht der Zweck es das Exempel, von dem in den eingangs einer pädagogischen Beschreibung sein 6 / 2020 Pädagogische Rundschau 609 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
kann. Das pädagogische Sprechen-über eines Regelverständnisses im Hinblick auf bringt nämlich Sachverhalte zum Aus- eine Handlung gedeutet wird. druck, die in sich kommunikativ reflektiert Buck weist an dieser Stelle ausdrück- sind. Es stößt deshalb auf das Problem, lich darauf hin, dass diese Deutung von wie das Zusammenspiel gelingen kann, Beispiel und Exempel bei Kant auf Anwe- das sich in diesen kommunikativen Refle- senheitsbedingungen bezogen ist. Beide xionen entfaltet. Begriffe sind bei ihm nur sinnvoll unter der Bedingung, dass jemand die Erfahrung macht, mit einem anderen gemeinsam zu 5. »Thunlichkeit oder kommunizieren und der andere dabei leib- Unthunlichkeit einer Handlung« haftig anwesend ist.28 Kant hat die Unter- stützung der moralischen Bildung in erster Buck übernimmt hier die von Kant vor- Linie als Nahraum-Erfahrung thematisiert, geschlagene strikte Unterscheidung der obwohl er um die moralische Wirkung von Worte Beispiel und Exempel: »Woran ein schriftlichen Texten wusste. Eine päda- Exempel nehmen und zur Verständlichkeit gogische Situation war für ihn allerdings eines Ausdrucks ein Beispiel anführen, sind noch nicht unter den Bedingungen von ganz verschiedene Begriffe.« Während face-to-interface-Konstellationen denkbar, das Beispiel, wie Kant in der ›Metaphysik die wir heute kennen, wenn wir mit jeman- der Sitten‹ sagt, »blos die theoretische dem auf digitalem Wege kommunizieren. Darstellung eines Begriffs ist«, d.h. nicht Unter den Anwesenheitsbedingungen mehr als etwas Allgemeines in besonderer einer Kommunikation wird die Regel, die Darbietung präsentiert, ist das Exempel jemand in seinem Verhalten zum Ausdruck »ein besonderer Fall von einer praktischen bringt, in Bezug auf die »Thunlichkeit oder Regel, sofern diese die Thunlichkeit oder Unthunlichkeit einer Handlung« gedeutet, Unthunlichkeit einer Handlung vorstellt«.27 und zwar von einer anderen Person, die Von Kant ist diese Unterscheidung durch- das Verhalten wahrnimmt. Sie ist frei darin, aus als eine terminologische Differenz, d.h. das Verhalten der von ihr wahrgenomme- als eine theoretisch geführte Beobach- nen Person gemäß ihren eigenen Erwar- tungs- und Sprachordnung, verstanden tungskriterien als Exempel guten Handelns worden. Wenn wir uns an sie halten, ergibt zu deuten. Es ist dafür nicht nötig, dass sich folgende Konsequenz: Die handelnde die wahrgenommene Person ihr eigenes Person kann sich nicht selbst zum Exem- Verhalten als Beispiel des guten Handelns pel für die »Thunlichkeit oder Unthunlich- explizit kommuniziert. Denkbar ist auch, keit einer Handlung« erklären, weil sie ihr dass die Person gar nicht bemerkt, dass Handeln lediglich in Beispielen verständ- sie unter moralischen Gesichtspunkten lich machen kann. Auch wenn sie noch so beobachtet wird. Im Grunde ist dies sogar sehr davon überzeugt sein sollte, ›thunlich‹ der Idealfall, denn »Moralität kann nicht oder ›unthunlich‹ zu handeln, muss sie ak- nur nicht belegt werden, sie soll auch gar zeptieren, dass erst in der Kommunikation nicht belegt werden«, sagt Buck.29 Morali- beurteilt werden kann, ob ihr Verhalten als tät kann durch Wahrnehmung des Verhal- ein Fall von der Regel gelten kann, deren tens einer Person erkannt werden, indem Befolgung ihre Handlung als ›thunlich‹ und eine andere Person dieses Verhalten unter ›unthunlich‹ überhaupt erst identifizierbar dem Gesichtspunkt der »Thunlichkeit oder macht. Im Umgang miteinander wird das Unthunlichkeit« beurteilt und eine Regel Verhalten einer Person erst und nur da- in ihm entdeckt, deren Befolgung es als durch zum Exempel, dass es als Ausdruck gutes oder schlechtes Handeln ausweist. 610 Pädagogische Rundschau 6 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Buck ist hier eindeutig: Moralität kann von Artikeln und Paragraphen regelt, – als Moralität – nicht doziert werden. Sie was wann zu tun ist. Deshalb kann das kann nur erkannt werden an einer Person, Handeln der Person nicht darin bestehen, die von sich aus die »Thunlichkeit« einer die Artikel und Paragraphen vorzulesen Handlung zum Ausdruck bringt, wenn und und der beobachtenden Person abzuver- indem eine andere Person in der Lage ist, langen, das Vorgelesene zu lernen, um es einen Maßstab anzulegen, der es erlaubt, an anderer Stelle so zu repetieren, dass es das Verhalten der Person unter dem Ge- unter Rückgriff auf die Artikel und Paragra- sichtspunkt der Moralität zu beurteilen. phen als zutreffend oder nichtzutreffend Kurzum: Beide Personen – die handelnde, beurteilt werden kann. wie die sie beobachtende – müssen sich Die Voraussetzung des Sittengesetzes relativ zur Moralität bestimmen können. ist vielmehr so zu verstehen: Die handeln- Sie müssen, wie Kant sagt, das Sitten- de Person führt eine Handlung an etwas gesetz schon voraussetzen, um ein spezi- aus und sie zeigt in der Ausführung dieser fisches Verhalten als Fall diesem Gesetz Handlung, dass sie sich zu einem Sitten- subsumieren zu können. Sie müssen aber gesetz verhält, das nirgends geschrieben auch die Gelegenheit haben, das Verhal- steht und auf das man sich nicht im empi- ten wechselseitig zu beurteilen. Das Mit- rischen Verständnis berufen kann. Die sie einanderumgehen muss so gestaltet sein, beobachtende Person deutet die Hand- dass jede Person sich als Original der Be- lung als einen angemessenen Ausdruck urteilung von Handlungen erfahren kann. der Orientierung am Sittengesetz, wenn Jede Person beurteilt das Verhalten der und weil sie zu diesem Verhalten »Zu- von ihr wahrgenommenen Person relativ trauen« fassen kann. Sie stimmt in dieses zum Sittengesetz, von dem angenommen Verhalten ein, weil sie von seiner Ange- wird, dass es für alle anwesenden Perso- messenheit überzeugt ist. »Dieses wohl- nen gleichermaßen verbindlich ist und als begründete Zutrauen zur Gesinnung des vernünftig eingesehen werden kann. In anderen, diese Antizipation seines guten diesem Sinne tritt jede Person als ein Ori- Willens, die konstitutiv für das Exempel ginal der Auslegung des Sittengesetzes im und seine rechte Auffassung ist, ist nun Miteinanderumgehen in Erscheinung. Man der Grund dafür, dass derjenige, der sich kann sich wechselseitig als ein Exempel vom Exempel etwas sagen lässt, Zutrauen dafür deuten, wie das Sittengesetz aus- zu sich selbst und seinem Vermögen fasst, gelegt werden kann und sollte. Menschen dem Sittengesetz zu gehorchen. Die ›Er- identifizieren sich sozusagen wechselsei- munterung‹ durch das Exempel gründet tig als Beispiele für Moralität, die möglich im Zutrauen zur Gesinnung des ande- ist, wenn sie das Miteinanderumgehen im ren, dessen Verhalten nun zum Exempel Lichte des Sittengesetzes betrachten. wird.«30 Die Berufung auf die beurteilte »Thunlichkeit oder Unthunlichkeit« des Handelns unter seinesgleichen ist somit 6. Sittengesetz der Nachweis des Sittengesetzes. Die Bildung eines moralischen Cha- Buck gibt an dieser Stelle einen wichtigen rakters gelingt in dieser Lesart dadurch, Hinweis: Das Sittengesetz wird nicht in der dass das Verhalten einer Person als »Ur- Form vorausgesetzt, dass es z.B. in einer bild (exemplar)« für die »Thunlichkeit einer schriftlich kodifizierten Form nachlesbar Handlung« erkannt wird, weil die sie beob- vorliegt. Es gibt nicht das Buch ›Sitten- achtende Person »Zutrauen« fassen kann. gesetz‹, das im Gericht liegt und anhand Für die beobachtende Person hat das in 6 / 2020 Pädagogische Rundschau 611 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
ihrer Anwesenheit gezeigte Verhalten ein- im Plural identifiziert werden, so dass man ladenden Charakter. Wer die Einladung den Begriff ›Welt‹ nur noch zur Kennzeich- annimmt, wer »Zutrauen« in dem geschil- nung der Perspektivität von Betrachtungen derten Sinne fasst, kann selbst zum Exem- verwenden kann. plar der Beurteilung moralischen Handelns Das gilt uneingeschränkt auch für werden. die Erziehung, denn Erziehung ist eine Buck betont, dass das Exemplar nicht der Formen des Miteinanderumgehens, in Relation zu einem wahrnehmbaren, die dem »Gesetz der Bipersonalität oder vorgegebenen Bestand, dem niederge- Zweisamkeit« unterliegen, wie es Viktor schriebenen Sittengesetz, erkannt wird. von Weizsäcker formuliert hat. »Darunter »Dasjenige, worauf das Exemplarische verstehe ich«, schreibt er, »die irreduzible verweist, ist ›unbestimmt‹, es hat Dyna- Zweiseitigkeit der sittlichen Wirkung, der- mis-Charakter, d. h. es wird durch jede zufolge sie nur als Verhältnis zweier Perso- neue Konkretion weiterbestimmt.«31 Die nen überhaupt der Wirklichkeit angehören Dynamik kommt durch den Einsatz der kann, nur als solches Verhältnis vollzieh- Urteilskraft ins Spiel, die in immer neuen bar, aber auch nur als solches rational Anläufen geübt wird. Geübt wird nicht die denkbar, vorstellbar ist.«34 Die Irreduzibili- Regel, die jemand doziert, sondern ob das tät der Form kommt in der Erziehung da- Verhalten ein Beispiel für Regelbefolgung durch zum Ausdruck, dass alles, was sie ist. »Die das Beurteilungsvermögen (zu ausmacht, durch ein Miteinanderumgehen entscheiden, ob etwas der Fall einer Regel von Personen realisiert werden muss. Mit ist) übenden Beispiele sind ja keineswegs anderen Worten: Alles ist relativ zum Mitei- Beispiele für die Regel, sondern Beispiele nanderumgehen bestimmt, wenn man Er- für die Beurteilung vorliegender – strittiger ziehung pädagogisch in den Blick nimmt. – Fälle nach der Regel.« Denn: »Es gibt Wendet man diese Annahme konse- keine angebbare Regel für die Beurteilung quent an, dann führt sie zur Einsicht in die nach Regeln.«32 Selbstreferentialität der Form des Mitein- anderumgehens, denn auch die Personen können nur relativ zu der Form des Mit- 7. »Gesetz der Bipersonalität einanderumgehens bestimmt werden, die oder Zweisamkeit« sie hervorbringen. Der Begriff ›Form des Miteinanderumgehens‹ bzw. der »Biper- Die bisherige Überlegung hat zu folgen- sonalität oder Zweisamkeit« ist der Kom- dem Ergebnis geführt: Exemplarität kommt plementärbegriff zu ›Person‹. Mit anderen ins Spiel, ohne dass ein Zusammenhang Worten: Vor dem Miteinanderumgehen erkennbar wäre, der die Unterscheidun- oder außerhalb der »Bipersonalität« gibt es gen nach eindeutig angebbaren und all- die Personen nicht, die erst im Miteinan- gemein verbindlichen Regeln ordnet. Die derumgehen identifizierbar werden. Da im Personen machen das Phänomen der Ex- pädagogischen Denken die Genese der emplarität unter sich aus, ohne dass sie Person eine zentrale Rolle spielt, können dazu auf eine vorgegebene Ordnung zu- wir auch sagen: Gleichzeitig mit der spe- rückgreifen könnten. Sie agieren, wie Mar- zifischen Form des Miteinanderumgehens kus Gabriel sagt, nicht in »einem einzigen entsteht die Person, wie umgekehrt mit Gesamtzusammenhang, der alles Hetero- der Bildung der Person die Form des Mit- gene uniformiert, eine Welt«, weil es keine einanderumgehens Gestalt gewinnt. Für einheitliche Reflexionsperspektive auf die die weiteren Ausführungen ist es wichtig Welt gibt.33 Die Perspektiven können nur festzuhalten, dass dies für beide Personen 612 Pädagogische Rundschau 6 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
gilt, die in der irreduziblen »Bipersonalität« Ordnung gesichert werden kann, um der bestimmt werden: für den Erzieher und heranwachsenden Person das »Zutrauen« den Edukanden. in Exempel für die »Thunlichkeit der Hand- Man erkennt die Irreduzibilität der lung« zu ermöglichen, damit sie die Erfah- Form, die wir Erziehung nennen, bereits rung machen kann, selbst ein Original der daran, dass die Begriffe, mit denen wir die Beurteilung der »Thunlichkeit und Unthun- Personen bezeichnen, nur als Relations- lichkeit« des Handelns unter seinesglei- begriffe Sinn ergeben. Auf einen Erzieher chen zu sein, ohne dass man sie auf ein ohne Zögling bzw. Edukand kann man sich vorgegebenes Sittengesetz abrichtet. Mit keinen Reim machen. Das gilt umgekehrt anderen Worten: Der heranwachsende genauso: Von einem Zögling bzw. Edukan- Mensch soll die Erfahrung machen kön- den ohne eine Person, die als Erzieher in nen, ein Exemplar der Menschheit zu sein, Erscheinung tritt, zu reden, ergibt keinen das als Exempel für gelingendes Leben Sinn. Erziehung ist als Form deshalb nur taugen könnte – nicht im Sinne eines dann ›geschlossen‹, wenn die wechsel- künstlerischen Genies, wohl aber als Part- seitige Bezugnahme von Erzieher und ner des Miteinanderumgehens. Edukand gegeben ist. Wo die Geschlos- senheit der Form aufgebrochen wird, wird das Verhältnis von Personen nicht als ein 8. Von der Form des pädagogisches thematisiert. Man redet Miteinanderumgehens zum dann über Personen, ohne sie relativ zu Rechtstatus in der Erziehung einer Form des Miteinanderumgehens zu betrachten, die durch ihre Aktivitäten ent- Bucks Überlegungen setzen voraus, dass steht, stabilisiert und verändert wird.35 die naive Vorstellung von Pädagogik als Wo es zu einer Reduktion kommt, Technik der Erziehung aufgegeben wird. wird die Dynamik eingefroren, die für Erziehung ist nicht einfach Einwirkung das Miteinanderumgehen von Personen eines Menschen auf einen anderen, son- kennzeichnend ist. Mit Hannah Arendt dern ein intersubjektiver Handlungszu- gesprochen, wird in einer solchen Bezie- sammenhang, der einen unauflösbaren hung nicht mehr gedacht, wenn Denken Rest von Unbestimmtheit enthält, der mit als die Aktivität verstanden wird, durch die Urteilskraft und Einfühlungsfähigkeit zu die Fähigkeit zum Ausdruck kommt, »vom begegnen ist.37 Damit das »Zutrauen« als Gesichtspunkt eines anderen Menschen Bedingung moralischer Bildung, von der aus zu denken«.36 Wenn der andere zum Buck gesprochen hatte, möglich sein reinen Objekt reduziert wird, ist es weder kann, sind Vorstellungen von gelingendem nötig noch möglich, von seinem Gesichts- Leben und Zusammenleben gemeinsam punkt aus zu denken. Mit ihm kann als Ob- auszuhandeln. Dieses »Zutrauen« ist un- jekt gerechnet werden. erlässlich, wenn sich ein Kind als das Für das Thema ›Exemplarität‹ wäre es Original des Urteils über die »Thunlichkeit insofern von Interesse, der Frage nach- und Unthunlichkeit der Handlung« des Er- zugehen, wie eine Ordnung des Erzie- ziehers empfinden soll. herischen, die durch die Aktivitäten der Der erziehende und der zu erziehende Personen als eine konkrete Form des Mensch tragen mit ihren Aktivitäten wech- Miteinanderumgehens entsteht, stabili- selseitig dazu bei, dass Erziehung gelingt siert und verändert wird, möglich ist. Eine oder scheitert. Die Mensch- bzw. Person- Antwort auf diese Frage müsste auch werdung ist somit eng mit dem Stellen- Auskunft darüber geben, wie eine solche wert des sich entwickelnden Individuums 6 / 2020 Pädagogische Rundschau 613 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
im konkreten Miteinanderumgehen ver- entgegen, indem wir sie nicht nur als Mittel bunden und es stellt sich die Frage, ob eigener Zwecksetzung, d.h. nur als Objek- es eines eigenen Rechtsstatus bedarf, te unseres Denkens behandeln, sondern damit der heranwachsende Mensch sein indem wir ihnen den Status zusprechen, Verständnis von »Exemplar-Sein« zu entwi- selbst Zwecke zu setzen. Sie sind, was ckeln und in die Kommunikation einzubrin- kein Stein, keine Maschine und kein Tier gen vermag. Diese Frage erscheint uns als bisher zu sein beansprucht hat: Subjek- berechtigt und wichtig, weil der Stellen- te einer gemeinsamen Geschichte. Mit wert im sozialen Miteinander nicht schon Kant, Jaspers, Arendt und Buck kommt allein dadurch bestimmt wird, dass ein In- aus diesem Grunde Humanität ins Mitein- dividuum sich die Freiheit nimmt, Position anderumgehen, wenn vom Gesichtspunkt zu beziehen, und auch nicht schon allein eines anderen Menschen aus gedacht dadurch, dass ihm von anderen ein Platz wird. Diese Geste bringt erst eine Haltung im sozialen Geschehen zugewiesen wird. zum Ausdruck, die den Status eines mit Der Status als Rechtssubjekt verknüpft Würde begabten Lebewesens anerkennt, beide Dimensionen, da er das Verhältnis »für welchen das Wort Achtung allein den von Rechten und Pflichten zur Aufgabe geziemenden Ausdruck der Schätzung ab- erklärt und die interagierenden Individuen giebt, die ein vernünftiges Wesen über sie zur Beurteilung von Grenzen der Selbst- anzustellen hat«.38 und Fremdbestimmung auffordert. Die Ausbildung einer Identität sowie Die Erfüllung dieser Aufgabe setzt die die Entwicklung der nötigen Selbstach- Herausbildung von Fähigkeiten voraus, die tung und Achtung gegenüber anderen nicht in privater Isolation erworben werden Menschen stellt vor diesem Hintergrund können. In modernen Gesellschaften sind eine zentrale Entwicklungsaufgabe eines Fähigkeiten dieser Art Gegenstand von Menschen dar, die offenbar nur gelingen pädagogischem Handeln. Es muss daher kann, wenn das Kind eine entsprechende bekannt sein, was es zu unterstützen gilt, Achtung erfährt und lernt, diesen Status damit die erzieherische Hilfe angemessen für sich zu beanspruchen.39 Wenn sich gestaltet werden kann. Mit Buck gespro- das Interesse auf das Einmalige, das Un- chen, geht es neben vielem anderen auch wiederholbare, das Original richten soll darum, dem heranwachsenden Menschen – alles Eigenschaften, die Menschen und die Gelegenheit einzuräumen, sich als damit Kindern, insofern sie unter dem Kri- eine Person erfahren zu können, denn als terium der Exemplarität betrachtet werden, ›Personen‹ bezeichnen wir die Lebewe- zugeschrieben werden –, wie ist dann der sen, mit denen wir als unseresgleichen Status eines Kindes zu denken, so dass es kommunizieren und mit denen wir anders nicht einfach nur in eine vorgegebene Er- umgehen als mit Dingen, Maschinen oder ziehung hineingestellt und damit Erwach- Tieren. Nur Personen können wir als Part- senen gegenübergestellt und von ihnen ner ansprechen, die mit uns Beurteilungen auf den Status eines Objektes reduziert von Handlungen unter einem Sittengesetz wird? der Menschheit vornehmen. Nur im Um- Erziehungswissenschaftliche Aus- gang mit Personen können wir hoffen, in einandersetzungen zum Rechtsstatus dieser Aufgabe weiterzukommen. Perso- von Kindern in der Erziehung existieren nen sind nämlich, mit Kant gesprochen, bislang kaum, ebenso wenig scheint es Lebewesen, die wir als vernunftbegabt an- eine pädagogische Theorie zu geben, in sehen und denen daher Würde zukommt. der geklärt ist, dass Kinder Rechtssub- Ihnen bringen wir, wie er sagt, Achtung jekte sind. Dabei gibt die Existenz eines 614 Pädagogische Rundschau 6 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Menschenrechtsabkommens ausschließ- steht der Mensch in einer Geschichte lich für Kinder und Jugendliche – die 1989 der Erziehung, in der er sich in der Aus- in Kraft getretene UN-Konvention über die einandersetzung mit seinem Erzieher be- Rechte des Kindes – Anlass, über dieses ziehungsweise seiner Erzieherin, auf jeder nicht nur pädagogische, sondern inter- Altersstufe spezifische »Fähigkeiten des disziplinäre Kernproblem nachzudenken. Weiterkommens» aneignet, die das Er- Nicht zuletzt offenbart die Auseinanderset- gebnis vergangenen und die Ausgangs- zung mit dem Rechtsstatus von Kindern lage zukünftigen Miteinanderumgehens auch die Ansichten einer Gesellschaft von Erzieher und Edukand sind.43 Mit an- über Kinder und was es bedeutet, Kind deren Worten: Der erziehende und der oder Nicht-Kind zu sein. zu erziehende Mensch stehen in Bezie- Die Besonderheit und Herausforde- hung zueinander und haben vergangene rung ist deutlich erkennbar: Zunächst sowie zukünftige Erziehungserfahrungen. nehmen andere Menschen, d.h. Eltern, Bildsamkeit setzt damit die Möglichkeit Betreuungspersonen und der Staat, die voraus, die Entwicklung eines Menschen Rechte von Kindern und Jugendlichen40 durch erzieherische Tätigkeiten zu fördern wahr und interpretieren sie inhaltlich, ehe und ist eine »jedem Menschen zuzuerken- diese Kompetenzen nach und nach auf nende, ›zunächst‹ durch keinerlei individu- die sich entwickelnden Kindern und Ju- elle und biographische oder soziale und gendlichen übergehen können. Geprägt historische Gegebenheiten eingegrenzte sind diese Auseinandersetzungen über die Voraussetzung«.44 Das Vorhandensein von Bedingungen der Möglichkeit von Rechts- Bildsamkeit – und damit einhergehend die status von einem der Thematik immanen- Möglichkeit pädagogischen Einflusses – ten Spannungsfeld, indem einerseits die kann nicht sinnvoll bestritten werden und Schutzbedürftigkeit von Kindern betont ist vorauszusetzen, damit Erziehung und und eingefordert wird, andererseits Kin- Beschreibungen von Erziehung sinnvoll derrechte als Ausdruck und Mittel von und sein können. zur Emanzipation postuliert werden.41 Der »Grundbegriff der Pädagogik« Um den Rechtstatus des Kindes von bezeichnet also einerseits den Umstand, einer pädagogischen Warte aus zu be- dass Kinder und Jugendliche als bildsame trachten, bietet sich die »Bildsamkeit des Lebewesen angesehen werden sollen, und Zöglings« als »Grundbegriff der Pädago- stellt andererseits eine Beschreibungs- gik«42 in der Tradition Johann Friedrich kategorie zur Verfügung, welche hilft, die Herbarts an, der sich um eine Theorie komplexe Welt von Erziehung und Bildung bemühte, die das Miteinanderumgehen zu ordnen. Unabhängig davon, aus wel- von Erzieher und Zögling bzw. Edukand cher Perspektive Erziehung ansetzt, nach thematisiert. Bildsamkeit bezeichnet die Herbart muss sie sich letztendlich an der anthropologische Tatsache, dass der Bildsamkeit des Menschen ausrichten, um Mensch als bedürftiges, imperfektes und ihm zu helfen, »das zu werden, was er ein- in Entwicklung begriffenes Wesen auf die mal wünschen wird, geworden zu seyn«.45 Welt kommt. Deshalb wird er in der Päda- Auch in der Moderne wird die Aufgabe gogik angesehen als ein Lebewesen, das von Erziehung darin gesehen, Menschen auf Erziehung angewiesen, erziehungsbe- als urteilsfähig anzusprechen, sie im Üben dürftig und fähig ist, diese Unterstützung ihrer Urteilskraft zu unterstützen und ihnen anzunehmen. Er ist, so die Generalprä- zu helfen, ein eigenes Urteil über sich und misse, auf Erziehung ansprechbar und die Welt in ihren Erscheinungsformen zu lernfähig. Ab dem Moment seiner Geburt fällen. Dies gilt auch für das Aufwachsen 6 / 2020 Pädagogische Rundschau 615 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
im rechtlichen Sinne: Heranwachsende Recht. Die Gleichzeitigkeit des Kindes als können ihre Rechte nur dann einfordern, »educandus« und als »Person aus eigenem wenn sie gelehrt und gelernt werden. Ein Recht« schließen sich dabei weder aus, Kind kann im pädagogischen Verständnis noch stehen sie im Widerspruch zueinan- nur durch die Zuteilung von Rechten zur der. Im Sinne der von Buck beschriebenen Rechtsperson werden, eine reine Status- »Methodenlehre der moralischen Bildung« zuschreibung reicht nicht aus. Lern- und sind Moral und Recht vielmehr aufeinander Erfahrungsmöglichkeiten, von denen auch zu beziehen, um ein Urteil über die »Thun- tatsächlich Gebrauch gemacht werden lichkeit und Unthunlichkeit« des Handelns kann, sind deshalb in der Erziehung un- fällen zu können. Denn das Sittengesetz abdingbar und die Bereitstellung dieser hängt nicht im luftleeren Raum, sondern ist Möglichkeiten in der Verantwortung und eine Orientierungsgröße, die in ihrer Ein- Pflicht eines jeden Erwachsenen, der päd- bettung in konkrete Formen des Miteinan- agogisch reflektiert das Aufwachsen eines derumgehens realistisch beurteilt werden Kindes unterstützen will. sollte. Hinzu kommt, dass sich »das Kind« in einem modernen Erziehungsverständnis 9. »Exemplar-Sein« nicht mehr als schutzbedürftiges, passi- ves und auf Hilfe von Erwachsenen ange- Im Hinblick auf die von uns im Zusam- wiesenes Wesen darstellen lässt – diese menhang mit Bucks Überlegungen auf- Sicht ist zu einseitig. Gerade weil das geworfene Frage nach dem Status des Kind in seinem Lernen nicht vertretbar und Heranwachsenden, wäre das Miteinan- damit in diesem Sinne unhintergehbar ist, derumgehen in der Erziehung damit so kann die erwachsene Person für eine ge- zu gestalten, dass der sich entwickelnde lingende Erziehung nicht ausschließlich Mensch sein Verständnis von »Exemp- eine paternalistische Vertretungsfunktion lar-Sein« auch in den Dimensionen des übernehmen. Wäre dies möglich, wüsste Rechts entwickeln und in die Kommuni- sie bereits, was das einzelne Kind in der kation einzubringen vermag. Ohne die jeweiligen Situation für seine Entwicklung Anerkennung der Bildsamkeit des heran- und sein Aufwachsen braucht und brau- wachsenden Menschen gibt Erziehung als chen wird und würde sie keine Fehler individuell zu verantwortende und zu ge- machen können. Der Erzieher wäre allwis- staltende Begleitung des Lebenslaufs von send und das Kind bzw. der Jugendliche Kindern und Jugendlichen generell wenig nicht mehr als das Objekt seiner Bearbei- Sinn, ohne die Beachtung der rechtlichen tung.46 Will man aber die Reduktion auf Dimension des Miteinanderumgehens in den bloßen Objektstatus vermeiden, muss der gesellschaftlichen Öffentlichkeit würde dem heranwachsenden Menschen in der sie zudem lückenhaft sein. Erziehung der Status zugesprochen wer- Im Sinne eines zukünftigen Erwach- den, selbst als Original von Urteilen über senen sitzt der heranwachsende Mensch die »Thunlichkeit und Unthunlichkeit von in der Erziehung – metaphorisch gespro- Handlungen« in Erscheinung zu treten. Der chen – mit am Tisch und hat das Recht, Erzieher ist damit herausgefordert, eine sich an seiner Erziehung aktiv beteiligen Form des Miteinanderumgehens mitzuge- zu können. Weil das Kind erziehungs- stalten, in der sich der heranwachsende bedürftig und -fähig ist und bereits eine Mensch als Subjekt seiner moralischen Bil- gemeinsame Erziehungsgeschichte be- dung einbringen kann – und zwar in jeder gonnen wurde, hat es dieses (moralische) Phase seines Aufwachsens. Die Ordnung 616 Pädagogische Rundschau 6 / 2020 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0 wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Sie können auch lesen