Exemplarität und die Ordnung des Erzieherischen - Kira Ammann / Elmar Anhalt - Ingenta ...

Die Seite wird erstellt Heinz Albers
 
WEITER LESEN
PR 2020, 74. Jahrgang, S. 603-622
                © 2020 Kira Ammann / Elmar Anhalt - DOI https://doi.org/10.3726/PR062020.0063

                                  Kira Ammann / Elmar Anhalt

               Exemplarität und die Ordnung des
                        Erzieherischen

1. Exemplarität als Thema                                  Thema ist, dass in der Pädagogik gegen-
                                                            wärtig viel Beachtung erfährt.
Exemplarität ist kein Wort, das uns heute                        Man mag sich fragen, warum es dazu
in der Wissenschaft auf Schritt und Tritt                   gekommen ist. Ist ›Exemplarität‹ womöglich
begegnet. Es scheint eher ein hapax le-                     weniger wichtig als ›lebenslanges Lernen‹
gomenon der Wissenschaftssprache zu                         oder ›employability‹? Dann wäre ›Exemplari-
werden. Ein Blick in einschlägige Handbü-                   tät‹ wohl zurecht aus dem Fokus der Auf-
cher und Lexika erweckt zumindest diesen                    merksamkeit geraten. Vielleicht aber ist das
Eindruck.1 Es sieht prima facie so aus, als                 Verschwinden des Themas von der päda-
ob »es sich um einen vernachlässigbaren,                    gogischen Agenda auch ein Hinweis, dass
nur noch historisch interessanten Begriff                   man in einer anderen Richtung nach einer
handelt«.2 Beobachten können wir auch,                      Erklärung suchen sollte. Vielleicht nämlich
dass, bis auf wenige Ausnahmen wie z.B.                     ist das Verschwinden Ausdruck für ein Ver-
in der Literaturwissenschaft, Exemplari-                    blassen des Schwerpunktes, unter dem
tät kaum thematisiert wird, dass von den                    Sachverhalte wie Erziehung, Unterricht und
semantisch verwandten Ausdrücken aber                       Bildung bisher behandelt worden sind.
zum Teil rege Gebrauch gemacht wird.3 Es                         Dieser Schwerpunkt war bis zur zwei-
sieht auf den zweiten Blick daher so aus,                   ten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Mensch
als hätten wir es mit einem Begriff zu tun,                 unter dem Gesichtspunkt von Erziehung
der in der Breite als bekannt vorausgesetzt                 und Bildung, der insbesondere durch
wird. Und in der Pädagogik?                                 einen allgemeinpädagogisch und -didak-
    Dort ist zu hören, dass die Diskussion                  tisch reflektierten Unterricht in seinem Auf-
um das exemplarische Lehren und Lernen                      wachsen unterstützt werden sollte. Auf ihn
»ihren Höhepunkt 1945-1965« hatte.4 Seit-                   war der »Grundgedanke« der Exemplarität
dem die Differenz von Didaktik und Metho-                   ausgerichtet.6 Der einzelne Mensch war
de in den Fachdidaktiken verblasst ist und                  es, der vor allem, aber nicht nur als Schüler
diese sich auf die Seite der Kompetenzfor-                  »an wenigen Beispielen grundlegende Ein-
schung geschlagen haben, scheint auch                       sichten« in die allgemeine Verfasstheit der
die Schulpädagogik, die vormalige Do-                       Welt und die regionalen Besonderheiten
mäne des pädagogischen Denkens über                         von Gesellschaften gewinnen sollte. Aus
Exemplarität, das Interesse an diesem                       dem Grunde zählt Exemplarität bis heute
Thema verloren zu haben.5 Generell kann                     noch zu den zentralen Prinzipien des päd-
man festhalten, dass Exemplarität kein                      agogischen Nachdenkens über Erziehung,

6 / 2020                                 Pädagogische Rundschau                                                 603

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Unterricht und Bildung, die »gewährleis-                        Im Zuge der verschiedentlich beschrie-
tet« sein müssen.7 Lehrer sind »für die                     benen Versozialwissenschaftlichung des
Bereitstellung von didaktisch-methodisch                    Faches, die zur Etablierung von Kompe-
durchdachten      Unterrichtsarrangements                   tenz- und Qualifikationsforschung geführt
verantwortlich, die ein exemplarisches und                  hat, ist ein neuer Schwerpunkt etabliert
strukturiertes Lernen an geeigneten Bei-                    worden. Das ›Bildungssystem‹, gegliedert
spielen ermöglichen«.8                                      nach Subsystemen wie ›Kindergarten‹,
    Diese Aufgabe sollte dabei nicht auf                    ›Schule‹, ›Berufsausbildung‹ usw. und
den psychologischen Hinweis reduziert                       geordnet unter Ausbildungs- und Kar-
werden, dass Menschen ›Kategorien‹ er-                      rierekriterien, bildet seither den Gegen-
werben, in denen sie »Objekte oder Ereig-                   standsraum, auf den sich der Großteil der
nisse auf der Basis von Gemeinsamkeiten                     Forschung konzentriert. Sie beschreibt
zu Klassen« zusammenfassen, die sie zur                     sich selbst unter dem Paradigma einer
Orientierung in der Welt einsetzen.9 Die                    datenproduzierenden und Steuerungs-
Exemplarität eines Unterrichtsinhalts muss                  wissen generierenden Bildungsforschung
vielmehr durch eine spezifische Form des                    als Beobachterin des ›Bildungssystems‹.12
Miteinanderumgehens, den erziehenden                        Von dem Schwerpunkt früherer Tage
Unterricht, gemeinsam erarbeitet wer-                       distanziert sie sich und überlässt ihn der
den.10 Sie gibt sich nicht von sich aus zu                  Pädagogik, die offenkundig ›näher‹ am
erkennen, sie folgt keinem Automatismus,                    Geschehen ist oder den Teilen der Erzie-
sondern sie muss durch »Abstrahieren und                    hungswissenschaft, die noch nicht ganz
Rückbeziehen« in lehrender Unterstützung                    auf das Wissenschaftsverständnis der Bil-
erkannt und verstanden werden.11                            dungsforschung umgeschwenkt sind.
    Dreh- und Angelpunkt der Beschäf-                           Die ›Nähe‹ der Pädagogik zum erzie-
tigung mit Exemplarität ist unter diesem                    herischen Geschehen wird von der Bil-
Schwerpunkt die Einübung von Urteilskraft,                  dungsforschung in der Regel ablehnend
die nach Immanuel Kant darin besteht, die                   beschrieben. Man will nicht im Schlamm
Differenz Besonderes | Allgemeines situa-                   des Erziehungsalltags wühlen. Die Bil-
tionsangemessen zu handhaben. Voraus-                       dungsforschung zieht dazu eine klare
gesetzt wurde dazu ein gesellschaftlicher                   Grenze: Wer Sachverhalte wie Schule und
Zusammenhang, relativ zu dem Urteile als                    Unterricht pädagogisch zum Thema macht,
möglich angesehen wurden und ihnen die                      äußert Gedanken zu dem, was Erziehung,
Aufgabe aufgebürdet wurde, den Zusam-                       Bildung und deren institutionelle Organisa-
menhalt der Gesellschaft nicht nur abzubil-                 tion aus Sicht der Menschen ausmachen
den, sondern auch zu befördern. Plakativ                    und für sie bedeuten. Um beschreiben zu
gesagt: Unter dieser Schwerpunktsetzung                     können, was es für Menschen bedeutet,
stand der Mensch als urteilsbegabtes und                    im Bildungssystem aufzuwachsen und
-fähiges Mitglied einer diskutierenden Öf-                  den Erwartungen der anderen ausgesetzt
fentlichkeit im Fokus der Aufmerksamkeit.                   zu sein, mit denen sie umzugehen lernen
    All das galt und gilt bis heute gene-                   sollen, werden Annahmen über akzeptab-
rell für das Aufwachsen unter den Be-                       le Menschenbilder, Bildsamkeit, ethische
dingungen von Erziehung, Unterricht und                     Grenzziehungen, tolerable Spielräume,
Bildung, soweit an diesem Schwerpunkt                       die pädagogischen Zugriffen verschlos-
festgehalten wird. Wer anders als der ein-                  sen bleiben (sollten), und anderes mehr
zelne Mensch sollte für diese Arbeit an-                    benötigt. Die Pädagogik liefert problem-
gesprochen werden und wer anders sollte                     orientiertes Wissen in diesen Zusammen-
die Ernte aus dieser Arbeit einfahren?                      hängen. Dafür sind Festlegungen, z.B.

604                                      Pädagogische Rundschau                                           6 / 2020

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
hinsichtlich des Menschenbildes, des Ge-                    »hauptsächlich durch die Sprache der
sellschaftsverständnisses und der Formen                    Kirche« und die höfische Literatur ver-
des Umgangs, unvermeidlich. Aus dem                         mittelt worden sind, drücken eine Eigen-
Grunde steht die Pädagogik unter Ideolo-                    schaft oder einen Zustand aus.14 Das
gieverdacht. Sie engagiert sich, sagt die                   Wort ›Exemplarität‹ bezeichnet demnach
Kritik, anstatt das Geschehen aus nüchter-                  die Eigenschaft oder den Zustand des Ex-
ner Distanz zu beobachten.13                                emplarisch-seins bzw., wie man genauer
     Dieser Vorwurf ist schwerwiegend und                   sagen müsste, es bezeichnet etwas, das
sollte nicht auf die leichte Schulter genom-                der Sache nach exemplarisch ist für etwas
men werden. Ebenso wichtig ist es aber                      anderes oder das ein Exemplar ist von
auch, sich dem Vorwurf nicht einfach zu                     etwas, das nicht es selbst schon von sich
ergeben. Es sollte vielmehr versucht wer-                   aus ist, oder das ein Exempel für etwas ist.
den, argumentativ auszuloten, wie der                       Diese Genauigkeit ist nötig, weil es auch
Gegenstand eine gewisse ›Nähe‹ der Wis-                     andere Substantive mit diesem Suffix gibt,
senschaft nötig macht und wie die reflexive                 die nicht in der gleichen Weise sowohl
Distanz zum Geschehen gestaltet werden                      für etwas als auch von etwas relationiert
sollte. Pauschalablehnungen und -zuwei-                     werden. ›Subjektivität‹, ›Moralität‹ oder
sungen von Verantwortung sind da kaum                       ›Fakultät‹ und ›Relationalität‹ sind Ausdrü-
hilfreich. Wir werden deshalb an Günther                    cke, bei denen der Doppelcharakter der
Bucks Überlegungen zur Exemplarität an-                     Beziehung nicht sofort erkennbar ist und
setzen, um zu zeigen, dass man ›nah‹ am                     erst über Kontextualisierung ›hergestellt‹
Gegenstand sein kann, ohne diese ›Nähe‹                     wird. Bei ›Exemplarität‹ wird das Bezie-
ideologisch zu begründen. In seiner »Me-                    hungsgefüge unmittelbar durch das Wort
thodenlehre der moralischen Bildung«                        angezeigt, d.h. wer ›exemplarisch‹, ›Exem-
hat er einen Versuch vorgelegt, wie man                     plar‹ oder ›Exempel‹ sagt, ist gezwungen,
eine Ordnung des Erzieherischen denken                      Auskunft darüber zu geben, für was etwas
kann, ohne festgefügte Schemata vorzu-                      exemplarisch oder Exempel sein soll bzw.
schreiben. Bucks Überlegungen weisen in                     von was etwas ein Exemplar sein soll. Man
eine Richtung, die, konsequent beschrit-                    benötigt zwingend eine Akkusativ- bzw.
ten, die Frage nach dem Status des Her-                     eine Dativ- oder Genitivergänzung, wenn
anwachsenden in dieser Ordnung aufwirft.                    man diese Wörter verwendet. Ansonsten
Wir greifen diese Frage am Schluss unse-                    sind solche Sätze in der deutschen Spra-
res Beitrages auf und stellen in aller Kürze                che bruchstückhaft.
eine Antwort vor, die eher eine Skizze als                       Im modernen Wissenschaftsverständ-
ein fertiges Gemälde ist und auf jeden Fall                 nis werden Eigenschaften und Zustände
ausgearbeitet werden müsste.                                nicht mehr als Wesensmerkmale beschrie-
     Wir beginnen mit einer Begriffsklä-                    ben, die den Sachen von sich aus zugehö-
rung, die zu einem der wichtigsten Autoren                  rig (ihnen ›eingeschrieben‹) sind. Ebenfalls
führt, die sich zu diesem Thema geäußert                    weggefallen ist die Beschreibung von Ak-
haben: zu Immanuel Kant. An dessen Vor-                     zidentien, die einer Substanz anhaften, für
arbeiten knüpft auch Buck an.                               diese aber nicht von ausschlaggebender
                                                            Bedeutung (nicht ›essentiell‹) sind. Was
                                                            noch bleibt, ist eine Beschreibung der
2. Der Begriff der Exemplarität                            Welt mithilfe von Unterscheidungen, deren
                                                            wiederholende Verwendung als Katego-
Substantive mit dem Suffix -tät oder                        rien, Klassifikationsschemata, Ordnungs-
-ität, die seit dem Mittelhochdeutschen                     muster, Denkformen oder Differenzfiguren

6 / 2020                                 Pädagogische Rundschau                                                 605

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
selbst wiederum beschrieben werden kön-                     Exemplar, zum Muster dienend. Ein exem-
nen. Auf diese Weise sind umfangreiche                      plarischer Wandel, ein strenger, tugend-
Beschreibungen der Welt und Beschrei-                       hafter Wandel, wenigstens dem Äußern
bungen von Beschreibungen der Welt                          nach. Ein exemplarischer Mann, der in
entstanden, die in der Wissenschaft als                     seinem äußern Betragen andern zum Mus-
Formen der Theoriebildung zum Thema                         ter dienen kann. Jemanden exemplarisch
gemacht werden können. Im modernen                          strafen, so dass andere ein Exempel daran
Wissenschaftsverständnis stellt sich die                    nehmen können, strenge.« Das ›Exempel‹
Frage nach der Begründung und Absiche-                      stammt vom Lateinischen »Exemplum, das
rung von Aussagen daher mit besonderer                      Beyspiel, in beyden Bedeutungen dieses
Dringlichkeit.                                              Wortes«. Adelung erläutert: »1) So fern
     Kennzeichnend für diese Art von The-                   es eine ähnliche Sache ist, welche die
matisierung ist, dass die Form der Rela-                    Möglichkeit einer andern zeiget, oder ihr
tionierung an Bedeutung gewonnen hat.                       zur Erläuterung dienet. Ein Exempel an-
Beim Begriff der Exemplarität ist dies un-                  führen. Etwas zum Exempel anführen. […]
vermeidlich, denn er rückt die Eigenschaft                  2) In engerer Bedeutung, eine Begeben-
von etwas in den Blick, in Beziehung zu                     heit, die man zur Vorschrift seines Ver-
stehen. Etwas wird im Zustand des In-                       haltens annimmt, oder annehmen soll; ein
Beziehung-Seins zum Thema gemacht.                          Beyspiel, Vorbild. Ich will deinem Exempel
Entscheidend ist aus unserer Sicht, dass                    folgen. Laß dir das ein Exempel seyn. Ein
diese Relationierung nicht von einem fest-                  Exempel an etwas nehmen, sich eine Be-
geschriebenen Schema aus bestimmt                           gebenheit zur Warnung dienen lassen.«
werden muss. Es ist nicht schon alles fein                  Das ›Exemplar‹ wird als »ein Muster, ein
säuberlich vorsortiert, wenn man anfängt,                   Vorbild seines Verhaltens, wie Exempel«
in der Pädagogik die Relationen einzu-                      eingeführt. Jemand ist ein »Exemplar der
setzen, die Exemplarität zum Ausdruck                       alten Redlichkeit«. Allerdings, sagt Ade-
bringen. Das wäre nur dann anzunehmen,                      lung, komme das Wort in dieser Bedeu-
wenn man die Ordnung des Erzieheri-                         tung »wenig mehr vor«. Es gehört in dieser
schen doch wieder durch eine Wesens-                        Bedeutung in den semantischen Hof von
oder Substanzbeschreibung aufklären                         exemplarisch. In einer anderen Bedeutung
wollte.                                                     wird ›Exemplar‹ terminologisch verwen-
     Dass dies nicht erforderlich ist, zeigt                det. »2) Bey den Buchdruckern bedeutet
bereits ein kurzer Blick auf den Begriff Ex-                Exemplar das Original einer Schrift, das-
emplarität bzw. seine Unterscheidungen.                     jenige, was bey dem Setzen eines Buches
Da Exemplarität heute kein vorrangiges                      oder einer Schrift dem Setzer zum Muster
Thema zu sein scheint, blicken wir in die                   dienet. 3) Bei den Buchhändlern hingegen
Geschichte zurück bis zu der Zeit, in der                   ist Exemplar ein Stück der ganzen Auflage,
Kant wirkte. Dort finden wir wichtige Be-                   ein Buch oder eine Schrift als ein Individu-
griffsklärungen, die auch heute noch nahe-                  um betrachtet. Ein Exemplar von Gellers
zu unverändert im Spiel sind.                               Moral. Sechs Exemplare der Deutschen
     Im ›Grammatisch-kritischen Wörter-                     Bibel.«15
buch der hochdeutschen Mundart‹ von                              In Georg Samuel Albert Mellins
Johann Christoph Adelung finden sich                        ›Encyklopädischem Wörterbuch der Kri-
die drei Einträge ›Das Exempel‹, ›Das                       tischen Philosophie‹ finden sich auf zwei
Exemplar‹ und ›Exemplarisch‹. Der Ein-                      Seiten Hinweise auf Kants Ausführungen
trag ›Exemplarisch‹ lautet kurz und bün-                    zum ›Exemplarischen‹. An folgende Hin-
dig: »im gemeinen Leben, andern zum                         weise wäre aus unserer Sicht zu erinnern:

606                                      Pädagogische Rundschau                                           6 / 2020

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
»Exemplarisch heißt«, schreibt Mellin,                      verfügt vielleicht über »Geschicklichkeit«
»alles, was nicht nachgeahmt ist, und doch                  in der Nachahmung des Musters. Diese
nachgeahmt werden muss«. Exemplarisch                       ist zu unterscheiden von der Fähigkeit des
»heißt etwas, wenn es Muster seyn kann.                     Geschmacks, das Muster als geeignet
Die Werke oder Producte des Genies z.B.                     für die Orientierung eigenen Verhaltens
sind exemplarisch, weil sie die Muster seyn                 zu beurteilen. Das Maß, an dem ein Ge-
müssten, nach welchen ähnliche Werke                        schmacksurteil gemessen werden muss,
gearbeitet und beurtheilt werden müssen.                    kann niemals eine empirische Erfahrung
[…] Das Exemplarische ist dem Nachge-                       sein (es kann nicht durch Nachmachen
ahmten entgegengesetzt.« Das Produkt                        erworben werden), sondern es muss als
eines Genies erkennt man daran, dass es                     Idee angelegt sein. Diese muss »jeder
»nicht durch Nachahmung entsprungen«                        in sich selbst hervorbringen«, um sie an
ist. Es kann ein Produkt nachgeahmt sein                    ein Verhalten anlegen zu können, das als
und gleichwohl Exemplarisches enthalten,                    Exemplar gedeutet wird.19 Ein Exemplar
d.h. etwas zur Darstellung bringen, was                     ist nicht von sich aus Exemplar, sondern
»zum Muster dienen kann«. Ebenso kann                       durch das Urteil, das jemand fällt, indem er
das Produkt eines Genies etwas enthal-                      die Idee des guten Geschmacks für sich
ten, »worin es nicht exemplarisch ist«. In                  entwickelt und als Kriterium der Beurtei-
diesen Passagen hat das »Talent« des Ge-                    lung von Verhalten aller Art anwendet.
nies »geschlummert«.16                                           Halten wir fest: Am Begriff der Exem-
     In Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ stößt               plarität wird unterschieden die Originalität
man auf wichtige Ergänzungen, die von                       eines Musters bzw. Vorbildes. Diese Re-
Mellin nicht erwähnt werden. Dass Exem-                     lation bezeichnet der Ausdruck ›Exempel‹.
plarische ist nicht identisch mit Originali-                Am Begriff wird weiterhin unterschieden
tät, weil »es auch originalen Unsinn geben                  das Beispielhafte eines Verhaltens. Dieses
kann«, den niemand sich zum Vorbild neh-                    wird durch den Ausdruck ›exemplarisch‹
men sollte, heißt es bei Kant. Zum Vorbild                  markiert. Schließlich unterscheidet man
nehmen meint, dass etwas »zum Richtma-                      am Begriff der Exemplarität noch den Ex-
ße oder Regel der Beurtheilung« gewählt                     emplar-Status, den etwas relativ zu einem
wird. Wie man zu dieser Regel kommt                         Zusammenhang hat, dem es zugeordnet
und warum man sich ihr unterwirft, kann                     ist. Um diese Differenzen erfassen und be-
das Genie »selbst nicht beschreiben, oder                   urteilen zu können, ist Geschmack nötig,
wissenschaftlich anzeigen«. Es kann nur                     den jemand von sich aus aufbringen und
als der »Urheber« einer Sache bezeichnet                    an Gegebenheiten anlegen muss. Der
werden, der »selbst nicht weiß, wie sich                    Maßstab der Beurteilung ist nicht durch
die Ideen dazu herbei finden, auch es nicht                 Nachahmung zu finden, weil er keine em-
in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Be-                  pirische Erfahrung ist, sondern Einsicht in
lieben oder planmäßig auszudenken und                       eine Idee voraussetzt.
anderen in solchen Vorschriften mitzuthei-
len, die sie in Stand setzen, gleichmäßige
Produkte hervorzubringen«.17                                3. »Moralischer Monismus«
     Um etwas als geeignetes Muster für
eigenes Verhalten identifizieren zu können,                 An diese Unterscheidungen knüpft
muss man schon selbst »Geschmack«                           Günther Buck an. Er vertieft und erweitert
haben. Wer Geschmack hat, ist darum                         sie, indem er sich mit Kants ›Lehre vom
aber noch nicht selbst ein Genie, das                       Exempel‹ auseinandersetzt und diese um
Exemplarisches hervorbringen kann.18 Er                     pädagogische Fragestellungen ergänzt.20

6 / 2020                                 Pädagogische Rundschau                                                 607

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Buck setzt an bei der Frage, wie All-                  einem begrenzten Wert behauptet wird, er
gemeines und Besonderes in ihrer wech-                      sei das ganze Gute«.23
selseitigen Bedingtheit bestimmt werden                          Hartmann monierte, das Allgemeine,
können. Kant hatte bekanntlich einen                        an dem das Besondere des moralischen
Vorschlag gemacht, der die Allgemein-                       Urteils Maß nehmen soll, würde in der Ge-
heit der Maxime, die den einzelnen bindet,                  schichte der Moralphilosophie immer auf
der Singularität von je spezifischen Ent-                   die am weitesten abstrahierbare Ebene
scheidungssituationen       gegenüberstellt.                der Glückseligkeits-, Nützlichkeits-, Ge-
Orientierung finden sollte der Handelnde                    rechtigkeits-, der Liebes-, der Kraft- oder
an einer Maxime, deren Allgemeinheit den                    der Herrenmoral gehoben, auf der alle Dif-
Wandel der Ereignisse und Herausfor-                        ferenzen nivelliert sind und es streng ge-
derungen übergreift. Diese Auffassung                       nommen nichts mehr zu urteilen gibt, weil
mündet in die berühmte Formel des Ka-                       es nur noch darum geht, das jeweils ak-
tegorischen Imperativs ein: »Handle so,                     tuelle Ereignis einem vorgängig aufgestell-
dass die Maxime deines Wollens jederzeit                    ten Schema einzuordnen. Die monistische
Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung                      Auffassung von Moralität hat die Aufgabe
sein könnte.«21                                             des moralischen Urteilens degradiert zur
     Die Gegenposition zu diesem Vor-                       Sammlung von Bestätigungen des Guten,
schlag hebt die Individualität des                          das schon feststeht. Von moralischem
Handelnden und die je spezifischen sin-                     Urteilen kann man dann nicht mehr sinn-
gulären Situationsbedingungen hervor,                       voll sprechen, wenn man nur noch abhakt,
unter denen Entscheidungen für Handlun-                     was im Lichte der vorgegebenen Auffas-
gen getroffen werden. Orientierung kann                     sung als moralisch gut und böse zu gelten
es nach diesem Verständnis nur in einer                     hat. Mit der Starrheit des Schemas ist das
Anpassung an die Veränderbarkeit geben,                     Lebenselixier des Urteilens überhaupt ver-
wozu den jeweiligen singulären Ereignis-                    nichtet: die Freiheit der Wahl, die ohne die
sen und Bedingungen Rechnung getra-                         Qual der Begründung nicht zu haben ist.
gen werden muss. In zugespitzter Form
hat Nicolai Hartmann diese Kritik gegen
Kants kategorischen Imperativ gewendet:                     4. »Methodenlehre der
»Handle so, daß die Maxime deines Wil-                          moralischen Bildung«
lens niemals zugleich (wenigstens niemals
restlos zugleich) Prinzip einer allgemeinen                 Gegenüber dieser Kritik versucht Buck
Gesetzgebung sein könnte.«22                                Kants Position stark zu machen, indem er
     Hartmann zog damit die Konsequenz                      die pädagogischen Stellen in dessen Werk
aus der Kritik, die bei Friedrich Nietzsche                 als »eine Methodenlehre der moralischen
vorbereitet, von diesem aber ins Extrem                     Bildung« auslegt. »Das ausgezeichnete
des individuellen Relativismus getrieben                    Mittel aber der moralischen Bildung, d.h.
worden war. Hartmann wollte das Extrem                      der Gründung eines Charakters ist das
vermeiden und gleichwohl der Individuali-                   Beispiel.« Am Beispiel, so Buck, können
tät und Singularität des moralischen Urtei-                 wir lernen, was es heißt, moralisch zu sein,
lens und Handelns Rechnung tragen. Er                       ohne unser Verhalten in ein vorgegebenes
griff dazu Kants Formulierung des kate-                     Schema pressen zu müssen. Um einem
gorischen Imperativs an einem Punkt an,                     weit verbreiteten Missverständnis vorzu-
den er als »moralischen ›Monismus‹« be-                     beugen, lehnt Buck gleich zu Anfang die
zeichnete. Dessen Fehler ist, »dass das                     »banale Illustration-Theorie« ab, die den
Gute einseitig beschränkt wird, dass von                    Zweck eines Beispiels darauf reduziert,

608                                      Pädagogische Rundschau                                           6 / 2020

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
etwas Allgemeines anschaulich darzustel-                    erwähnten Lexikonartikeln gesagt wurde,
len.24 Das mag ein Motiv sein, das eine                     es stehe für eine Sache, »welche die Mög-
gewisse Rolle in pädagogischen Zusam-                       lichkeit einer andern zeiget, oder ihr zur
menhängen spielt. Es ist aber keineswegs                    Erläuterung dienet«. Das Exempel bringt
das einzige und schon gar nicht das ent-                    einen Sachverhalt zum Ausdruck, d.h. es
scheidende Motiv.                                           zeigt an, wie es sich mit der Sache verhält,
    Buck denkt die Relation Allgemeines |                   indem über sie gesprochen wird.
Besonders, die am Beispiel exemplifiziert                        Wer über eine Sache spricht, sagt
wird, grundlegender. Er geht davon aus,                     Buck, der zeigt mit seinem Verhalten, wel-
dass das Allgemeine die Wahl des Bei-                       che Möglichkeit des Sprechens-über er-
spiels bestimmt und ordnet dem Beispiel                     griffen und wie das Sprechen-über in den
die Funktion zu, das Allgemeine angemes-                    ›umgreifenden‹ Kontext menschlichen Mit-
sen darzustellen. Angemessenheit muss                       einanderumgehens eingeordnet werden
aber von Anschaulichkeit unterschieden                      kann. Das Sprechen erläutert sich quasi
werden. Ein Beispiel erweist seine Eig-                     selbst, indem es sich der Wahrnehmung
nung zur Darstellung eines Allgemeinen                      präsentiert und der Auslegung zur Ver-
folglich, wenn es angemessen ist; ob es                     fügung stellt. Es präsentiert, indem es in
auch anschaulich ist, ist hingegen zweit-                   der Anwesenheit eines anderen vollzo-
rangig. Dies hat Konsequenzen: Wenn                         gen wird, die Regeln, die ein Sprechen
ein ungeeignetes Beispiel gewählt wird,                     dieser Art erfüllen muss, um spezifischen
dann weil es nicht zum Allgemeinen passt.                   Erwartungen zu entsprechen, ohne dass
Wenn ein ungeeignetes Beispiel gewählt                      diese Regeln selbst explizit, also in Satz-
wird, dann wird das Allgemeine verfehlt,                    form ausgesprochen werden müssen. Sie
das durch jenes dargestellt werden sollte,                  müssen aber gedeutet werden, um das
mag das Beispiel auch noch so anschau-                      Verhalten als Fall-von Regelanwendung
lich sein. Seine Anschaulichkeit ist kein                   identifizieren zu können. Für sich betrach-
Vorteil, wenn das Beispiel nicht zum Allge-                 tet ist Verhalten nicht mehr als körperliche
meinen passt.25                                             Bewegung im Raum, die an einem Orga-
    In der Erziehung, so Buck, wählt eine                   nismus wahrgenommen wird. So betrach-
Person ein spezifisches Beispiel deshalb                    ten z.B. Physiker die Welt. Für sie gibt
nicht aus dem Grund, dass ihm die Worte                     es keinen Grund, Exemplarisches zu ent-
fehlen, um einen allgemeinen Sachverhalt                    decken, sie kommen zurecht, wenn sie in
einem anderen anschaulich, d.h. Punkt                       Beispielen sprechen, um Fälle von empi-
für Punkt nachvollziehbar, darzulegen.                      risch nachgewiesenen Gesetzen anschau-
Sie greift nicht zu dem Mittel der bildhaf-                 lich zu beschreiben. In der Einstellung des
ten Vorstellung, weil sie meint, in der si-                 Naturwissenschaftlers wird das Desinter-
multan gegebenen Einheit des Bildes das                     esse an der Exemplarität von Handlungen
ausdrücken zu können, was ihr in der se-                    zur methodischen Norm erklärt, die ein-
quentiellen Ordnung des Sprechens nicht                     gehalten werden sollte, um dem Ideal der
gelingen will. Buck hebt vielmehr hervor,                   Naturwissenschaften möglichst nahe zu
dass das Sprechen selbst bereits ein Bei-                   kommen: der Beschreibung einer Welt,
spiel ist, das in der Kommunikation wahr-                   wie sie beschaffen sein müsste, wenn
genommen werden kann. Es ist in dieser                      man alle subjektiven Beschreibungen aus
Funktion »das gute Beispiel an dem Leh-                     ihr herausrechnet, d.h. eine Welt, wie sie
rer selbst (von exemplarischer Führung zu                   wäre, wenn sie nicht beschrieben würde.
sein)«, wie Kant sagt.26 In diesem Fall ist                      Buck weiß, dass dies nicht der Zweck
es das Exempel, von dem in den eingangs                     einer pädagogischen Beschreibung sein

6 / 2020                                 Pädagogische Rundschau                                                 609

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
kann. Das pädagogische Sprechen-über                        eines Regelverständnisses im Hinblick auf
bringt nämlich Sachverhalte zum Aus-                        eine Handlung gedeutet wird.
druck, die in sich kommunikativ reflektiert                     Buck weist an dieser Stelle ausdrück-
sind. Es stößt deshalb auf das Problem,                     lich darauf hin, dass diese Deutung von
wie das Zusammenspiel gelingen kann,                        Beispiel und Exempel bei Kant auf Anwe-
das sich in diesen kommunikativen Refle-                    senheitsbedingungen bezogen ist. Beide
xionen entfaltet.                                           Begriffe sind bei ihm nur sinnvoll unter der
                                                            Bedingung, dass jemand die Erfahrung
                                                            macht, mit einem anderen gemeinsam zu
5. »Thunlichkeit oder                                      kommunizieren und der andere dabei leib-
    Unthunlichkeit einer Handlung«                          haftig anwesend ist.28 Kant hat die Unter-
                                                            stützung der moralischen Bildung in erster
Buck übernimmt hier die von Kant vor-                       Linie als Nahraum-Erfahrung thematisiert,
geschlagene strikte Unterscheidung der                      obwohl er um die moralische Wirkung von
Worte Beispiel und Exempel: »Woran ein                      schriftlichen Texten wusste. Eine päda-
Exempel nehmen und zur Verständlichkeit                     gogische Situation war für ihn allerdings
eines Ausdrucks ein Beispiel anführen, sind                 noch nicht unter den Bedingungen von
ganz verschiedene Begriffe.« Während                        face-to-interface-Konstellationen denkbar,
das Beispiel, wie Kant in der ›Metaphysik                   die wir heute kennen, wenn wir mit jeman-
der Sitten‹ sagt, »blos die theoretische                    dem auf digitalem Wege kommunizieren.
Darstellung eines Begriffs ist«, d.h. nicht                     Unter den Anwesenheitsbedingungen
mehr als etwas Allgemeines in besonderer                    einer Kommunikation wird die Regel, die
Darbietung präsentiert, ist das Exempel                     jemand in seinem Verhalten zum Ausdruck
»ein besonderer Fall von einer praktischen                  bringt, in Bezug auf die »Thunlichkeit oder
Regel, sofern diese die Thunlichkeit oder                   Unthunlichkeit einer Handlung« gedeutet,
Unthunlichkeit einer Handlung vorstellt«.27                 und zwar von einer anderen Person, die
Von Kant ist diese Unterscheidung durch-                    das Verhalten wahrnimmt. Sie ist frei darin,
aus als eine terminologische Differenz, d.h.                das Verhalten der von ihr wahrgenomme-
als eine theoretisch geführte Beobach-                      nen Person gemäß ihren eigenen Erwar-
tungs- und Sprachordnung, verstanden                        tungskriterien als Exempel guten Handelns
worden. Wenn wir uns an sie halten, ergibt                  zu deuten. Es ist dafür nicht nötig, dass
sich folgende Konsequenz: Die handelnde                     die wahrgenommene Person ihr eigenes
Person kann sich nicht selbst zum Exem-                     Verhalten als Beispiel des guten Handelns
pel für die »Thunlichkeit oder Unthunlich-                  explizit kommuniziert. Denkbar ist auch,
keit einer Handlung« erklären, weil sie ihr                 dass die Person gar nicht bemerkt, dass
Handeln lediglich in Beispielen verständ-                   sie unter moralischen Gesichtspunkten
lich machen kann. Auch wenn sie noch so                     beobachtet wird. Im Grunde ist dies sogar
sehr davon überzeugt sein sollte, ›thunlich‹                der Idealfall, denn »Moralität kann nicht
oder ›unthunlich‹ zu handeln, muss sie ak-                  nur nicht belegt werden, sie soll auch gar
zeptieren, dass erst in der Kommunikation                   nicht belegt werden«, sagt Buck.29 Morali-
beurteilt werden kann, ob ihr Verhalten als                 tät kann durch Wahrnehmung des Verhal-
ein Fall von der Regel gelten kann, deren                   tens einer Person erkannt werden, indem
Befolgung ihre Handlung als ›thunlich‹ und                  eine andere Person dieses Verhalten unter
›unthunlich‹ überhaupt erst identifizierbar                 dem Gesichtspunkt der »Thunlichkeit oder
macht. Im Umgang miteinander wird das                       Unthunlichkeit« beurteilt und eine Regel
Verhalten einer Person erst und nur da-                     in ihm entdeckt, deren Befolgung es als
durch zum Exempel, dass es als Ausdruck                     gutes oder schlechtes Handeln ausweist.

610                                      Pädagogische Rundschau                                           6 / 2020

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Buck ist hier eindeutig: Moralität kann                von Artikeln und Paragraphen regelt,
– als Moralität – nicht doziert werden. Sie                 was wann zu tun ist. Deshalb kann das
kann nur erkannt werden an einer Person,                    Handeln der Person nicht darin bestehen,
die von sich aus die »Thunlichkeit« einer                   die Artikel und Paragraphen vorzulesen
Handlung zum Ausdruck bringt, wenn und                      und der beobachtenden Person abzuver-
indem eine andere Person in der Lage ist,                   langen, das Vorgelesene zu lernen, um es
einen Maßstab anzulegen, der es erlaubt,                    an anderer Stelle so zu repetieren, dass es
das Verhalten der Person unter dem Ge-                      unter Rückgriff auf die Artikel und Paragra-
sichtspunkt der Moralität zu beurteilen.                    phen als zutreffend oder nichtzutreffend
Kurzum: Beide Personen – die handelnde,                     beurteilt werden kann.
wie die sie beobachtende – müssen sich                           Die Voraussetzung des Sittengesetzes
relativ zur Moralität bestimmen können.                     ist vielmehr so zu verstehen: Die handeln-
Sie müssen, wie Kant sagt, das Sitten-                      de Person führt eine Handlung an etwas
gesetz schon voraussetzen, um ein spezi-                    aus und sie zeigt in der Ausführung dieser
fisches Verhalten als Fall diesem Gesetz                    Handlung, dass sie sich zu einem Sitten-
subsumieren zu können. Sie müssen aber                      gesetz verhält, das nirgends geschrieben
auch die Gelegenheit haben, das Verhal-                     steht und auf das man sich nicht im empi-
ten wechselseitig zu beurteilen. Das Mit-                   rischen Verständnis berufen kann. Die sie
einanderumgehen muss so gestaltet sein,                     beobachtende Person deutet die Hand-
dass jede Person sich als Original der Be-                  lung als einen angemessenen Ausdruck
urteilung von Handlungen erfahren kann.                     der Orientierung am Sittengesetz, wenn
     Jede Person beurteilt das Verhalten der                und weil sie zu diesem Verhalten »Zu-
von ihr wahrgenommenen Person relativ                       trauen« fassen kann. Sie stimmt in dieses
zum Sittengesetz, von dem angenommen                        Verhalten ein, weil sie von seiner Ange-
wird, dass es für alle anwesenden Perso-                    messenheit überzeugt ist. »Dieses wohl-
nen gleichermaßen verbindlich ist und als                   begründete Zutrauen zur Gesinnung des
vernünftig eingesehen werden kann. In                       anderen, diese Antizipation seines guten
diesem Sinne tritt jede Person als ein Ori-                 Willens, die konstitutiv für das Exempel
ginal der Auslegung des Sittengesetzes im                   und seine rechte Auffassung ist, ist nun
Miteinanderumgehen in Erscheinung. Man                      der Grund dafür, dass derjenige, der sich
kann sich wechselseitig als ein Exempel                     vom Exempel etwas sagen lässt, Zutrauen
dafür deuten, wie das Sittengesetz aus-                     zu sich selbst und seinem Vermögen fasst,
gelegt werden kann und sollte. Menschen                     dem Sittengesetz zu gehorchen. Die ›Er-
identifizieren sich sozusagen wechselsei-                   munterung‹ durch das Exempel gründet
tig als Beispiele für Moralität, die möglich                im Zutrauen zur Gesinnung des ande-
ist, wenn sie das Miteinanderumgehen im                     ren, dessen Verhalten nun zum Exempel
Lichte des Sittengesetzes betrachten.                       wird.«30 Die Berufung auf die beurteilte
                                                            »Thunlichkeit oder Unthunlichkeit« des
                                                            Handelns unter seinesgleichen ist somit
6. Sittengesetz                                            der Nachweis des Sittengesetzes.
                                                                 Die Bildung eines moralischen Cha-
Buck gibt an dieser Stelle einen wichtigen                  rakters gelingt in dieser Lesart dadurch,
Hinweis: Das Sittengesetz wird nicht in der                 dass das Verhalten einer Person als »Ur-
Form vorausgesetzt, dass es z.B. in einer                   bild (exemplar)« für die »Thunlichkeit einer
schriftlich kodifizierten Form nachlesbar                   Handlung« erkannt wird, weil die sie beob-
vorliegt. Es gibt nicht das Buch ›Sitten-                   achtende Person »Zutrauen« fassen kann.
gesetz‹, das im Gericht liegt und anhand                    Für die beobachtende Person hat das in

6 / 2020                                 Pädagogische Rundschau                                                 611

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
ihrer Anwesenheit gezeigte Verhalten ein-                   im Plural identifiziert werden, so dass man
ladenden Charakter. Wer die Einladung                       den Begriff ›Welt‹ nur noch zur Kennzeich-
annimmt, wer »Zutrauen« in dem geschil-                     nung der Perspektivität von Betrachtungen
derten Sinne fasst, kann selbst zum Exem-                   verwenden kann.
plar der Beurteilung moralischen Handelns                        Das gilt uneingeschränkt auch für
werden.                                                     die Erziehung, denn Erziehung ist eine
     Buck betont, dass das Exemplar nicht                   der Formen des Miteinanderumgehens,
in Relation zu einem wahrnehmbaren,                         die dem »Gesetz der Bipersonalität oder
vorgegebenen Bestand, dem niederge-                         Zweisamkeit« unterliegen, wie es Viktor
schriebenen Sittengesetz, erkannt wird.                     von Weizsäcker formuliert hat. »Darunter
»Dasjenige, worauf das Exemplarische                        verstehe ich«, schreibt er, »die irreduzible
verweist, ist ›unbestimmt‹, es hat Dyna-                    Zweiseitigkeit der sittlichen Wirkung, der-
mis-Charakter, d. h. es wird durch jede                     zufolge sie nur als Verhältnis zweier Perso-
neue Konkretion weiterbestimmt.«31 Die                      nen überhaupt der Wirklichkeit angehören
Dynamik kommt durch den Einsatz der                         kann, nur als solches Verhältnis vollzieh-
Urteilskraft ins Spiel, die in immer neuen                  bar, aber auch nur als solches rational
Anläufen geübt wird. Geübt wird nicht die                   denkbar, vorstellbar ist.«34 Die Irreduzibili-
Regel, die jemand doziert, sondern ob das                   tät der Form kommt in der Erziehung da-
Verhalten ein Beispiel für Regelbefolgung                   durch zum Ausdruck, dass alles, was sie
ist. »Die das Beurteilungsvermögen (zu                      ausmacht, durch ein Miteinanderumgehen
entscheiden, ob etwas der Fall einer Regel                  von Personen realisiert werden muss. Mit
ist) übenden Beispiele sind ja keineswegs                   anderen Worten: Alles ist relativ zum Mitei-
Beispiele für die Regel, sondern Beispiele                  nanderumgehen bestimmt, wenn man Er-
für die Beurteilung vorliegender – strittiger               ziehung pädagogisch in den Blick nimmt.
– Fälle nach der Regel.« Denn: »Es gibt                          Wendet man diese Annahme konse-
keine angebbare Regel für die Beurteilung                   quent an, dann führt sie zur Einsicht in die
nach Regeln.«32                                             Selbstreferentialität der Form des Mitein-
                                                            anderumgehens, denn auch die Personen
                                                            können nur relativ zu der Form des Mit-
7. »Gesetz der Bipersonalität                              einanderumgehens bestimmt werden, die
    oder Zweisamkeit«                                       sie hervorbringen. Der Begriff ›Form des
                                                            Miteinanderumgehens‹ bzw. der »Biper-
Die bisherige Überlegung hat zu folgen-                     sonalität oder Zweisamkeit« ist der Kom-
dem Ergebnis geführt: Exemplarität kommt                    plementärbegriff zu ›Person‹. Mit anderen
ins Spiel, ohne dass ein Zusammenhang                       Worten: Vor dem Miteinanderumgehen
erkennbar wäre, der die Unterscheidun-                      oder außerhalb der »Bipersonalität« gibt es
gen nach eindeutig angebbaren und all-                      die Personen nicht, die erst im Miteinan-
gemein verbindlichen Regeln ordnet. Die                     derumgehen identifizierbar werden. Da im
Personen machen das Phänomen der Ex-                        pädagogischen Denken die Genese der
emplarität unter sich aus, ohne dass sie                    Person eine zentrale Rolle spielt, können
dazu auf eine vorgegebene Ordnung zu-                       wir auch sagen: Gleichzeitig mit der spe-
rückgreifen könnten. Sie agieren, wie Mar-                  zifischen Form des Miteinanderumgehens
kus Gabriel sagt, nicht in »einem einzigen                  entsteht die Person, wie umgekehrt mit
Gesamtzusammenhang, der alles Hetero-                       der Bildung der Person die Form des Mit-
gene uniformiert, eine Welt«, weil es keine                 einanderumgehens Gestalt gewinnt. Für
einheitliche Reflexionsperspektive auf die                  die weiteren Ausführungen ist es wichtig
Welt gibt.33 Die Perspektiven können nur                    festzuhalten, dass dies für beide Personen

612                                      Pädagogische Rundschau                                           6 / 2020

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
gilt, die in der irreduziblen »Bipersonalität«              Ordnung gesichert werden kann, um der
bestimmt werden: für den Erzieher und                       heranwachsenden Person das »Zutrauen«
den Edukanden.                                              in Exempel für die »Thunlichkeit der Hand-
     Man erkennt die Irreduzibilität der                    lung« zu ermöglichen, damit sie die Erfah-
Form, die wir Erziehung nennen, bereits                     rung machen kann, selbst ein Original der
daran, dass die Begriffe, mit denen wir die                 Beurteilung der »Thunlichkeit und Unthun-
Personen bezeichnen, nur als Relations-                     lichkeit« des Handelns unter seinesglei-
begriffe Sinn ergeben. Auf einen Erzieher                   chen zu sein, ohne dass man sie auf ein
ohne Zögling bzw. Edukand kann man sich                     vorgegebenes Sittengesetz abrichtet. Mit
keinen Reim machen. Das gilt umgekehrt                      anderen Worten: Der heranwachsende
genauso: Von einem Zögling bzw. Edukan-                     Mensch soll die Erfahrung machen kön-
den ohne eine Person, die als Erzieher in                   nen, ein Exemplar der Menschheit zu sein,
Erscheinung tritt, zu reden, ergibt keinen                  das als Exempel für gelingendes Leben
Sinn. Erziehung ist als Form deshalb nur                    taugen könnte – nicht im Sinne eines
dann ›geschlossen‹, wenn die wechsel-                       künstlerischen Genies, wohl aber als Part-
seitige Bezugnahme von Erzieher und                         ner des Miteinanderumgehens.
Edukand gegeben ist. Wo die Geschlos-
senheit der Form aufgebrochen wird, wird
das Verhältnis von Personen nicht als ein                   8. Von der Form des
pädagogisches thematisiert. Man redet                           Miteinanderumgehens zum
dann über Personen, ohne sie relativ zu                         Rechtstatus in der Erziehung
einer Form des Miteinanderumgehens zu
betrachten, die durch ihre Aktivitäten ent-                 Bucks Überlegungen setzen voraus, dass
steht, stabilisiert und verändert wird.35                   die naive Vorstellung von Pädagogik als
     Wo es zu einer Reduktion kommt,                        Technik der Erziehung aufgegeben wird.
wird die Dynamik eingefroren, die für                       Erziehung ist nicht einfach Einwirkung
das Miteinanderumgehen von Personen                         eines Menschen auf einen anderen, son-
kennzeichnend ist. Mit Hannah Arendt                        dern ein intersubjektiver Handlungszu-
gesprochen, wird in einer solchen Bezie-                    sammenhang, der einen unauflösbaren
hung nicht mehr gedacht, wenn Denken                        Rest von Unbestimmtheit enthält, der mit
als die Aktivität verstanden wird, durch die                Urteilskraft und Einfühlungsfähigkeit zu
die Fähigkeit zum Ausdruck kommt, »vom                      begegnen ist.37 Damit das »Zutrauen« als
Gesichtspunkt eines anderen Menschen                        Bedingung moralischer Bildung, von der
aus zu denken«.36 Wenn der andere zum                       Buck gesprochen hatte, möglich sein
reinen Objekt reduziert wird, ist es weder                  kann, sind Vorstellungen von gelingendem
nötig noch möglich, von seinem Gesichts-                    Leben und Zusammenleben gemeinsam
punkt aus zu denken. Mit ihm kann als Ob-                   auszuhandeln. Dieses »Zutrauen« ist un-
jekt gerechnet werden.                                      erlässlich, wenn sich ein Kind als das
     Für das Thema ›Exemplarität‹ wäre es                   Original des Urteils über die »Thunlichkeit
insofern von Interesse, der Frage nach-                     und Unthunlichkeit der Handlung« des Er-
zugehen, wie eine Ordnung des Erzie-                        ziehers empfinden soll.
herischen, die durch die Aktivitäten der                        Der erziehende und der zu erziehende
Personen als eine konkrete Form des                         Mensch tragen mit ihren Aktivitäten wech-
Miteinanderumgehens entsteht, stabili-                      selseitig dazu bei, dass Erziehung gelingt
siert und verändert wird, möglich ist. Eine                 oder scheitert. Die Mensch- bzw. Person-
Antwort auf diese Frage müsste auch                         werdung ist somit eng mit dem Stellen-
Auskunft darüber geben, wie eine solche                     wert des sich entwickelnden Individuums

6 / 2020                                 Pädagogische Rundschau                                                 613

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
im konkreten Miteinanderumgehen ver-                        entgegen, indem wir sie nicht nur als Mittel
bunden und es stellt sich die Frage, ob                     eigener Zwecksetzung, d.h. nur als Objek-
es eines eigenen Rechtsstatus bedarf,                       te unseres Denkens behandeln, sondern
damit der heranwachsende Mensch sein                        indem wir ihnen den Status zusprechen,
Verständnis von »Exemplar-Sein« zu entwi-                   selbst Zwecke zu setzen. Sie sind, was
ckeln und in die Kommunikation einzubrin-                   kein Stein, keine Maschine und kein Tier
gen vermag. Diese Frage erscheint uns als                   bisher zu sein beansprucht hat: Subjek-
berechtigt und wichtig, weil der Stellen-                   te einer gemeinsamen Geschichte. Mit
wert im sozialen Miteinander nicht schon                    Kant, Jaspers, Arendt und Buck kommt
allein dadurch bestimmt wird, dass ein In-                  aus diesem Grunde Humanität ins Mitein-
dividuum sich die Freiheit nimmt, Position                  anderumgehen, wenn vom Gesichtspunkt
zu beziehen, und auch nicht schon allein                    eines anderen Menschen aus gedacht
dadurch, dass ihm von anderen ein Platz                     wird. Diese Geste bringt erst eine Haltung
im sozialen Geschehen zugewiesen wird.                      zum Ausdruck, die den Status eines mit
Der Status als Rechtssubjekt verknüpft                      Würde begabten Lebewesens anerkennt,
beide Dimensionen, da er das Verhältnis                     »für welchen das Wort Achtung allein den
von Rechten und Pflichten zur Aufgabe                       geziemenden Ausdruck der Schätzung ab-
erklärt und die interagierenden Individuen                  giebt, die ein vernünftiges Wesen über sie
zur Beurteilung von Grenzen der Selbst-                     anzustellen hat«.38
und Fremdbestimmung auffordert.                                 Die Ausbildung einer Identität sowie
    Die Erfüllung dieser Aufgabe setzt die                  die Entwicklung der nötigen Selbstach-
Herausbildung von Fähigkeiten voraus, die                   tung und Achtung gegenüber anderen
nicht in privater Isolation erworben werden                 Menschen stellt vor diesem Hintergrund
können. In modernen Gesellschaften sind                     eine zentrale Entwicklungsaufgabe eines
Fähigkeiten dieser Art Gegenstand von                       Menschen dar, die offenbar nur gelingen
pädagogischem Handeln. Es muss daher                        kann, wenn das Kind eine entsprechende
bekannt sein, was es zu unterstützen gilt,                  Achtung erfährt und lernt, diesen Status
damit die erzieherische Hilfe angemessen                    für sich zu beanspruchen.39 Wenn sich
gestaltet werden kann. Mit Buck gespro-                     das Interesse auf das Einmalige, das Un-
chen, geht es neben vielem anderen auch                     wiederholbare, das Original richten soll
darum, dem heranwachsenden Menschen                         – alles Eigenschaften, die Menschen und
die Gelegenheit einzuräumen, sich als                       damit Kindern, insofern sie unter dem Kri-
eine Person erfahren zu können, denn als                    terium der Exemplarität betrachtet werden,
›Personen‹ bezeichnen wir die Lebewe-                       zugeschrieben werden –, wie ist dann der
sen, mit denen wir als unseresgleichen                      Status eines Kindes zu denken, so dass es
kommunizieren und mit denen wir anders                      nicht einfach nur in eine vorgegebene Er-
umgehen als mit Dingen, Maschinen oder                      ziehung hineingestellt und damit Erwach-
Tieren. Nur Personen können wir als Part-                   senen gegenübergestellt und von ihnen
ner ansprechen, die mit uns Beurteilungen                   auf den Status eines Objektes reduziert
von Handlungen unter einem Sittengesetz                     wird?
der Menschheit vornehmen. Nur im Um-                            Erziehungswissenschaftliche       Aus-
gang mit Personen können wir hoffen, in                     einandersetzungen zum Rechtsstatus
dieser Aufgabe weiterzukommen. Perso-                       von Kindern in der Erziehung existieren
nen sind nämlich, mit Kant gesprochen,                      bislang kaum, ebenso wenig scheint es
Lebewesen, die wir als vernunftbegabt an-                   eine pädagogische Theorie zu geben, in
sehen und denen daher Würde zukommt.                        der geklärt ist, dass Kinder Rechtssub-
Ihnen bringen wir, wie er sagt, Achtung                     jekte sind. Dabei gibt die Existenz eines

614                                      Pädagogische Rundschau                                           6 / 2020

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Menschenrechtsabkommens ausschließ-                         steht der Mensch in einer Geschichte
lich für Kinder und Jugendliche – die 1989                  der Erziehung, in der er sich in der Aus-
in Kraft getretene UN-Konvention über die                   einandersetzung mit seinem Erzieher be-
Rechte des Kindes – Anlass, über dieses                     ziehungsweise seiner Erzieherin, auf jeder
nicht nur pädagogische, sondern inter-                      Altersstufe spezifische »Fähigkeiten des
disziplinäre Kernproblem nachzudenken.                      Weiterkommens» aneignet, die das Er-
Nicht zuletzt offenbart die Auseinanderset-                 gebnis vergangenen und die Ausgangs-
zung mit dem Rechtsstatus von Kindern                       lage zukünftigen Miteinanderumgehens
auch die Ansichten einer Gesellschaft                       von Erzieher und Edukand sind.43 Mit an-
über Kinder und was es bedeutet, Kind                       deren Worten: Der erziehende und der
oder Nicht-Kind zu sein.                                    zu erziehende Mensch stehen in Bezie-
    Die Besonderheit und Herausforde-                       hung zueinander und haben vergangene
rung ist deutlich erkennbar: Zunächst                       sowie zukünftige Erziehungserfahrungen.
nehmen andere Menschen, d.h. Eltern,                        Bildsamkeit setzt damit die Möglichkeit
Betreuungspersonen und der Staat, die                       voraus, die Entwicklung eines Menschen
Rechte von Kindern und Jugendlichen40                       durch erzieherische Tätigkeiten zu fördern
wahr und interpretieren sie inhaltlich, ehe                 und ist eine »jedem Menschen zuzuerken-
diese Kompetenzen nach und nach auf                         nende, ›zunächst‹ durch keinerlei individu-
die sich entwickelnden Kindern und Ju-                      elle und biographische oder soziale und
gendlichen übergehen können. Geprägt                        historische Gegebenheiten eingegrenzte
sind diese Auseinandersetzungen über die                    Voraussetzung«.44 Das Vorhandensein von
Bedingungen der Möglichkeit von Rechts-                     Bildsamkeit – und damit einhergehend die
status von einem der Thematik immanen-                      Möglichkeit pädagogischen Einflusses –
ten Spannungsfeld, indem einerseits die                     kann nicht sinnvoll bestritten werden und
Schutzbedürftigkeit von Kindern betont                      ist vorauszusetzen, damit Erziehung und
und eingefordert wird, andererseits Kin-                    Beschreibungen von Erziehung sinnvoll
derrechte als Ausdruck und Mittel von und                   sein können.
zur Emanzipation postuliert werden.41                            Der »Grundbegriff der Pädagogik«
    Um den Rechtstatus des Kindes von                       bezeichnet also einerseits den Umstand,
einer pädagogischen Warte aus zu be-                        dass Kinder und Jugendliche als bildsame
trachten, bietet sich die »Bildsamkeit des                  Lebewesen angesehen werden sollen, und
Zöglings« als »Grundbegriff der Pädago-                     stellt andererseits eine Beschreibungs-
gik«42 in der Tradition Johann Friedrich                    kategorie zur Verfügung, welche hilft, die
Herbarts an, der sich um eine Theorie                       komplexe Welt von Erziehung und Bildung
bemühte, die das Miteinanderumgehen                         zu ordnen. Unabhängig davon, aus wel-
von Erzieher und Zögling bzw. Edukand                       cher Perspektive Erziehung ansetzt, nach
thematisiert. Bildsamkeit bezeichnet die                    Herbart muss sie sich letztendlich an der
anthropologische Tatsache, dass der                         Bildsamkeit des Menschen ausrichten, um
Mensch als bedürftiges, imperfektes und                     ihm zu helfen, »das zu werden, was er ein-
in Entwicklung begriffenes Wesen auf die                    mal wünschen wird, geworden zu seyn«.45
Welt kommt. Deshalb wird er in der Päda-                    Auch in der Moderne wird die Aufgabe
gogik angesehen als ein Lebewesen, das                      von Erziehung darin gesehen, Menschen
auf Erziehung angewiesen, erziehungsbe-                     als urteilsfähig anzusprechen, sie im Üben
dürftig und fähig ist, diese Unterstützung                  ihrer Urteilskraft zu unterstützen und ihnen
anzunehmen. Er ist, so die Generalprä-                      zu helfen, ein eigenes Urteil über sich und
misse, auf Erziehung ansprechbar und                        die Welt in ihren Erscheinungsformen zu
lernfähig. Ab dem Moment seiner Geburt                      fällen. Dies gilt auch für das Aufwachsen

6 / 2020                                 Pädagogische Rundschau                                                 615

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
im rechtlichen Sinne: Heranwachsende                        Recht. Die Gleichzeitigkeit des Kindes als
können ihre Rechte nur dann einfordern,                     »educandus« und als »Person aus eigenem
wenn sie gelehrt und gelernt werden. Ein                    Recht« schließen sich dabei weder aus,
Kind kann im pädagogischen Verständnis                      noch stehen sie im Widerspruch zueinan-
nur durch die Zuteilung von Rechten zur                     der. Im Sinne der von Buck beschriebenen
Rechtsperson werden, eine reine Status-                     »Methodenlehre der moralischen Bildung«
zuschreibung reicht nicht aus. Lern- und                    sind Moral und Recht vielmehr aufeinander
Erfahrungsmöglichkeiten, von denen auch                     zu beziehen, um ein Urteil über die »Thun-
tatsächlich Gebrauch gemacht werden                         lichkeit und Unthunlichkeit« des Handelns
kann, sind deshalb in der Erziehung un-                     fällen zu können. Denn das Sittengesetz
abdingbar und die Bereitstellung dieser                     hängt nicht im luftleeren Raum, sondern ist
Möglichkeiten in der Verantwortung und                      eine Orientierungsgröße, die in ihrer Ein-
Pflicht eines jeden Erwachsenen, der päd-                   bettung in konkrete Formen des Miteinan-
agogisch reflektiert das Aufwachsen eines                   derumgehens realistisch beurteilt werden
Kindes unterstützen will.                                   sollte.
                                                                 Hinzu kommt, dass sich »das Kind« in
                                                            einem modernen Erziehungsverständnis
9. »Exemplar-Sein«                                         nicht mehr als schutzbedürftiges, passi-
                                                            ves und auf Hilfe von Erwachsenen ange-
Im Hinblick auf die von uns im Zusam-                       wiesenes Wesen darstellen lässt – diese
menhang mit Bucks Überlegungen auf-                         Sicht ist zu einseitig. Gerade weil das
geworfene Frage nach dem Status des                         Kind in seinem Lernen nicht vertretbar und
Heranwachsenden, wäre das Miteinan-                         damit in diesem Sinne unhintergehbar ist,
derumgehen in der Erziehung damit so                        kann die erwachsene Person für eine ge-
zu gestalten, dass der sich entwickelnde                    lingende Erziehung nicht ausschließlich
Mensch sein Verständnis von »Exemp-                         eine paternalistische Vertretungsfunktion
lar-Sein« auch in den Dimensionen des                       übernehmen. Wäre dies möglich, wüsste
Rechts entwickeln und in die Kommuni-                       sie bereits, was das einzelne Kind in der
kation einzubringen vermag. Ohne die                        jeweiligen Situation für seine Entwicklung
Anerkennung der Bildsamkeit des heran-                      und sein Aufwachsen braucht und brau-
wachsenden Menschen gibt Erziehung als                      chen wird und würde sie keine Fehler
individuell zu verantwortende und zu ge-                    machen können. Der Erzieher wäre allwis-
staltende Begleitung des Lebenslaufs von                    send und das Kind bzw. der Jugendliche
Kindern und Jugendlichen generell wenig                     nicht mehr als das Objekt seiner Bearbei-
Sinn, ohne die Beachtung der rechtlichen                    tung.46 Will man aber die Reduktion auf
Dimension des Miteinanderumgehens in                        den bloßen Objektstatus vermeiden, muss
der gesellschaftlichen Öffentlichkeit würde                 dem heranwachsenden Menschen in der
sie zudem lückenhaft sein.                                  Erziehung der Status zugesprochen wer-
    Im Sinne eines zukünftigen Erwach-                      den, selbst als Original von Urteilen über
senen sitzt der heranwachsende Mensch                       die »Thunlichkeit und Unthunlichkeit von
in der Erziehung – metaphorisch gespro-                     Handlungen« in Erscheinung zu treten. Der
chen – mit am Tisch und hat das Recht,                      Erzieher ist damit herausgefordert, eine
sich an seiner Erziehung aktiv beteiligen                   Form des Miteinanderumgehens mitzuge-
zu können. Weil das Kind erziehungs-                        stalten, in der sich der heranwachsende
bedürftig und -fähig ist und bereits eine                   Mensch als Subjekt seiner moralischen Bil-
gemeinsame Erziehungsgeschichte be-                         dung einbringen kann – und zwar in jeder
gonnen wurde, hat es dieses (moralische)                    Phase seines Aufwachsens. Die Ordnung

616                                      Pädagogische Rundschau                                           6 / 2020

 Die Online-Ausgabe dieser Publikation ist Open Access verfügbar und im Rahmen der Creative Commons Lizenz CC-BY 4.0
                             wiederverwendbar. http://creativecommons.org/licenses/by/4.0
Sie können auch lesen