Berlin - Einwanderungsstadt under construction'? Von der Beauftragtenpolitik zur strategischen Steuerung
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Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘? 305 Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘? Von der Beauftragtenpolitik zur strategischen Steuerung Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘? Frank Gesemann „Berlin hat eine große Perspektive als Einwanderungsstadt, wenn wir es schaffen, die Viel- falt als etwas Positives erlebbar zu machen.“1 Mit diesen Worten zur Eröffnung des Berli- ner Integrationsgipfels im Roten Rathaus am 22. Juni 2007 hat der Regierende Bürgermeis- ter von Berlin, Klaus Wowereit, den neuen Stellenwert der Integrationspolitik deutlich zum Ausdruck gebracht. Auf dem Integrationsgipfel wurde das zweite Berliner Integrationskon- zept vorgestellt,2 wobei sich die Aufwertung des Politikfeldes, die strategische Ausrichtung und das neue Verständnis von Integrationspolitik als Querschnittsaufgabe in der Gestaltung des Integrationstages widerspiegelten. Senatoren und Staatssekretäre diskutierten mit Vertreterinnen und Vertretern von Integrationsbeirat, Migrantenorganisationen und gesell- schaftlichen Gruppen über die zentralen Handlungsfelder, Ziele und Leitprojekte des Integ- rationskonzepts. Zudem wurden mit der Wahl des Zeitpunkts, der Umbenennung des Integ- rationstages und den Reden zum Integrationsgipfel deutliche Zeichen gegenüber der Bun- despolitik gesetzt.3 Aufbruchstimmung, strategische Orientierung und Mobilisierung vorhandener Poten- ziale kennzeichnen die neue Integrationspolitik des Berliner Senats. Hintergrund des Be- mühens um integrationspolitische Konzepte sind gravierende soziale und ökonomische Probleme. Seit der Wiedervereinigung der Stadt ist Berlin durch einen tief greifenden Pro- zess wirtschaftlicher, sozialer und räumlicher Strukturveränderungen geprägt. Eine bei- spiellose De-Industrialisierung, ein dramatischer Verlust an Arbeitsplätzen, die starke Zu- nahme von Arbeitslosigkeit, sozialer Ungleichheit und Armut sind zentrale Merkmale eines Strukturwandels, der soziale Spaltungslinien verstärkt. Zu den Verlierern dieser Entwick- lung gehören vor allem Migranten. Hohe Arbeitslosigkeit, geringe Bildungsqualifikationen sowie ungünstige Zukunftsperspektiven fördern Tendenzen der sozialen und wirtschaftli- chen Marginalisierung sowie den Rückzug in ethnische und religiöse Gemeinschaften. Auf diese Herausforderungen hat der Berliner Senat – trotz der chronischen Krise der öffentli- chen Haushalte – mit einer Vielzahl von Programmen und Maßnahmen sowie mit der Ent- wicklung von Integrationskonzepten reagiert. Migration und Integration in Berlin werden geprägt durch die historische Kontinuität und Vielfalt von Wanderungsbewegungen, die massiven Zerstörungen durch Nationalsozia- lismus und Zweiten Weltkrieg, die unterschiedlichen Erfahrungen in der geteilten Front- stadt während des Kalten Krieges sowie die widersprüchlichen Dynamiken in einer zwar 1 Die Rede von Klaus Wowereit zum Berliner Integrationsgipfel ist veröffentlicht in: Berlin International, Juli/August 2007, S. 9-11. 2 Das Berliner Integrationskonzept lag auf dem Integrationsgipfel nur als Kurzfassung vor, da es erst am 3.7.2007 vom Senat beschlossen wurde. 3 Siehe zum Beispiel die Rede der Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, Heidi Knake-Werner, zum Integrationsgipfel, abgedruckt in: Berlin International, Juli/August 2007, S. 9-11.
306 Frank Gesemann ‚reizvollen‘, aber ‚armen‘ Hauptstadt im wiedervereinigten Deutschland. Die Zuwanderung von Ausländern nach Westberlin ist zu Recht als die „bedeutendste sozialstrukturelle Ver- änderung der Nachkriegszeit“ (Kapphan 2001: 91) bezeichnet worden, da sie erhebliche Auswirkungen auf Bevölkerungs- und Beschäftigtenstruktur, Wirtschaftswachstum und Wohlstand sowie soziale Schichtung und Mobilität hatte. Der Berliner Senat hat früher als andere Städte – zunächst im Rahmen einer ressortübergreifenden Planung, später durch die Einrichtung einer Ausländerbeauftragten – auf die Herausforderung durch die Zuwande- rung von Ausländern reagiert. Die Erfolge der Berliner Integrationspolitik insbesondere in der sozialen Integration von Migranten, der Förderung von Selbstorganisationen und der politischen Teilhabe von Migranten werden seit der Wiedervereinigung aber von der bei- spiellosen Krise auf dem Arbeitsmarkt, einer negativen Bilanz in der Bildungspolitik und scheinbar unaufhaltsamen sozialräumlichen Prozessen bedroht. Im folgenden Beitrag wird – nach einem kurzen Überblick zur Geschichte der Zuwan- derung in der Einwanderungsstadt Berlin – die Entwicklung der Berliner Integrationspolitik in den vergangenen vier Jahrzehnten skizziert. Es folgen Ausführungen zu zentralen Hand- lungsfeldern der Integrationspolitik des Berliner Senats, wobei ich mich auf die Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt, das Bildungswesen und auf den Wohnungsmarkt sowie die Entwicklung von Einbürgerungen und die Förderung von Migrantenselbstorgani- sationen konzentrieren werde. Ein kurzes Resümee schließt den Beitrag ab. 1 Einwanderungsstadt Berlin Die Geschichte Berlins ist seit Jahrhunderten mit der wechselhaften Geschichte von Migra- tion und Integration verbunden. Die rasche Entwicklung der Residenzstadt im 17. und 18. Jahrhundert ist eng verknüpft mit dem Ansiedlungsprivileg für jüdische Familien von 1671 und dem Edikt von Potsdam von 1685, das die Aufnahme von Glaubensflüchtlingen aus Frankreich ermöglichte. Ihnen folgten in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts weitere protestantische Zuwanderer wie die relativ wohlhabenden Salzburger und die böhmischen Glaubensflüchtlinge. Das rasante Bevölkerungswachstum der Stadt im 19. Jahrhundert und der Aufstieg Berlins zur führenden und größten Industriemetropole auf dem europäischen Kontinent basierte auch auf umfangreichen Zuwanderungen polnischsprachiger Arbeits- kräfte aus den preußischen Ostgebieten. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts kam es zudem zu einer starken Einwanderung von Juden aus Osteuropa (vgl. Gesemann 2004: 26). Die unterschiedlichen Gruppen von Zuwanderern haben die wirtschaftliche Entwick- lung und den kulturellen Reichtum Berlins nachhaltig geprägt. Die historische Forschung hat allerdings auch auf die „zuweilen außerordentlich mühseligen und langwierigen“ Pro- zesse der Integration von Zuwanderern hingewiesen und damit das verbreitete und ideali- sierende Bild der Metropole als „Schmelztiegel“ von Menschen unterschiedlicher Herkunft korrigiert (Jersch-Wenzel 1990: 8). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Berlin in vier Sektoren bzw. Besatzungszonen geteilt, die zwei gegensätzlichen politischen Systemen und konkurrierenden Machtblöcken angehörten. Die räumliche und wirtschaftliche Isolation des Westteils sowie die sozialisti- sche Umgestaltung des Ostsektors hatten zur Folge, dass Berlin nicht mehr an seine frühere politische, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung anknüpfen konnte. Trotz der Isolation der Stadt kamen aber bis Ende der fünfziger Jahre über 1,5 Millionen Flüchtlinge aus der
Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘? 307 DDR und aus Ostberlin in den Westteil, von denen etwa 200.000 in der Stadt blieben. Nach dem Mauerbau im August 1961 versiegte dieser Zustrom und die Bevölkerungszahl von Westberlin sank. Zu diesem Zeitpunkt lebten – mit Ausnahme der Angehörigen der alliier- ten Streitkräfte – nur noch wenige Menschen in der Stadt, die nicht über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügten (vgl. Gesemann 2004: 26f.; siehe auch Häußermann/Kapp- han 2000: 57f.). In der geteilten Stadt waren Migration und Integration durch die unterschiedliche wirt- schaftliche Entwicklung und ideologische Ausrichtung der beiden Stadthälften geprägt. In Ostberlin wurden die Zuwanderung und der Aufenthalt von Ausländern aus politischen Gründen stark reglementiert und kontrolliert. Ausländische Arbeitskräfte und Studierende lebten zumeist – weitgehend isoliert von der deutschen Bevölkerung – in Wohnheimen. Zum Zeitpunkt der Maueröffnung hielten sich nur noch wenige ausländische Arbeitskräfte und Studierende im Ostteil der Stadt auf, von denen viele nach der Wende in ihre Her- kunftsländer zurückkehrten. Während der Ausländeranteil Ende 1989 in Ostberlin nur 1,6 Prozent betrug, lag er in Westberlin bei 13,7 Prozent (vgl. Gesemann 2002). In Westberlin hatten Senat und Bundesregierung auf den Verlust von Arbeitsplätzen in der Industrie und den Rückgang der Bevölkerung mit umfangreichen Programmen und Maßnahmen zum Ausbau des öffentlichen Sektors und zur Anwerbung westdeutscher Un- ternehmen und Arbeitskräfte reagiert. Im Unterschied zu anderen deutschen Bundesländern hat Berlin die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer „erst seit 1968 in schnell wach- sender Zahl … entsprechend den Forderungen der Wirtschaft begünstigt“ (Der Regierende Bürgermeister von Berlin 1972: 4). Da das Arbeitskräfteangebot Italiens, Spaniens und Griechenlands zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend ausgeschöpft war, wurden vor allem Arbeitnehmer aus der Türkei und aus dem ehemaligen Jugoslawien angeworben. Bemer- kenswert war zudem der hohe Anteil von Frauen, die vor allem von der Berliner Elektro- und Konsumgüterindustrie als einfache, ungelernte Arbeitskräfte nachgefragt wurden (vgl. Gesemann 2001: 13). In der Zeit nach 1945 lassen sich vier Phasen der Migration nach Westberlin unter- scheiden: Auf die gezielte Anwerbung von Arbeitskräften von Mitte der sechziger Jahre bis zum Anwerbestopp im November 1973 folgte eine Phase, die bestimmt war vom Nachzug von Familienangehörigen sowie der Zuwanderung von Flüchtlingen (insbesondere aus Polen, Libanon und Iran). Ende der achtziger Jahre kam es infolge der politischen Umwäl- zungen in Osteuropa und gewaltförmiger Konflikte in verschiedenen Weltregionen zu einer massiven Zuwanderungswelle, die vor allem (Spät-)Aussiedler aus der ehemaligen Sowjet- union und aus Polen, Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien sowie kur- dische Flüchtlinge aus dem Irak und der Türkei nach Berlin brachte. Seit Ende der neunzi- ger Jahre ist auch in Berlin eine deutliche Beruhigung des Migrationsgeschehens zu beo- bachten. Die Zahl der ausländischen Einwohner Berlins stieg in diesem Zeitraum von 22.065 (1960) über 233.011 (1980) und 355.356 (1991) auf 470.004 (2007). Zu den wichtigsten Herkunftsländern bzw. -gebieten der Ausländer, die in der Stadt mit einem Hauptwohnsitz gemeldet sind, gehören die Türkei (24,2 %), das ehemalige Jugoslawien (10,8 %), arabische Staaten (7,3 % einschließlich Staatenlose und Palästinenser mit ungeklärter Staatsangehö- rigkeit) sowie die ehemalige Sowjetunion (6,9 %).4 Fast jeder dritte Ausländer (30,3 %) 4 Gesemann (2001b); Heinzel/Tuchscherer (2008); Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (2008); eigene Be- rechnungen.
308 Frank Gesemann kommt aus einem Mitgliedsland der Europäischen Union.5 Verglichen mit anderen deut- schen Großstädten leben in Berlin zwar – mit großem Abstand – die meisten Ausländer, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ist aber mit 14,0 Prozent (2007)6 deutlich geringer als beispielsweise in Frankfurt am Main (26,0 %), München (23,1 %) oder Stuttgart (22,0 %) (vgl. Bertelsmann Stiftung/Bundesministerium des Innern 2005: 102ff.). Der Anteil der in Berlin lebenden Personen, die über einen Migrationshintergrund ver- fügen, ist allerdings wesentlich höher, da deutschstämmige Aussiedler und eingebürgerte Ausländer von der vor allem auf Staatszugehörigkeit gründenden Statistik nicht erfasst werden. So sind beispielsweise seit 1991 mehr als 140.000 Ausländer in Berlin eingebür- gert worden. Seit Inkrafttreten des neuen Staatsangehörigkeitsrechts zum 1. Januar 2000 erhält zudem mehr als die Hälfte der in Berlin geborenen Kinder ausländischer Eltern au- tomatisch die deutsche Staatsangehörigkeit. Im Juli 2008 hat das Amt für Statistik Berlin- Brandenburg erstmals Daten zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund veröffentlicht. Die Zahlen zeigen, dass in Berlin 863.500 Menschen mit Migrationshintergrund leben (Stand: 31. Dezember 2007). Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung liegt bei 25,7 Prozent – mit deutlichen Unterschieden zwischen Ost- und Westbezirken (10,5 % vs. 30,4 %). Bei den 6- bis unter 15-Jährigen haben sogar 42,7 Prozent einen Migrationshintergrund (vgl. Bömermann et al. 2008: 23f.).7 2 Die Entwicklung der Berliner Integrationspolitik In der (West-)Berliner Politik gegenüber ausländischen Zuwanderern lassen sich drei Pha- sen unterscheiden: In der ersten Phase (von 1971 bis 1981) konzentrierte sich Ausländerpo- litik – im Rahmen einer ressortübergreifenden Planung – vor allem auf sozialpolitische Maßnahmen, um die sozialen Folgen der wirtschaftlich motivierten Anwerbung ausländi- scher Arbeitskräfte zu bewältigen. In der zweiten Phase (von 1981 bis 2003) rückten die Beteiligung der Betroffenen und die Förderung von Migrantenselbstorganisationen stärker in den Vordergrund. Zudem wurden Entwicklung und Umsetzung integrationspolitischer Maßnahmen immer mehr zu einem Problem einzelner Politikbereiche, die einer übergrei- fenden Koordinierung bedurften. Ausländerpolitik wurde zur Beauftragtenpolitik, wobei die vom Senat verfolgte Doppelstrategie einer restriktiveren Zuwanderungs- und einer liberaleren Integrationspolitik als institutionalisierter Dauerkonflikt zwischen verschiede- nen Innensenatoren und der langjährigen Ausländerbeauftragten Barbara John erschien. In der dritten Phase (seit 2003) ist Integrationspolitik wieder stärker zu einer zentralen Aufga- be des Senats geworden, was mit der Entwicklung eines umfassenden, ressortübergreifen- den Integrationskonzepts einhergeht. Bereits im Frühjahr 1971 hat der Berliner Senat im Rahmen der ressortübergreifenden Planung ein Planungsteam mit dem Auftrag eingesetzt, „eine Gesamtkonzeption und Lö- 5 Unter den in Berlin lebenden Unionsbürgern stellen Polen mit 44.400 Einwohnern die größte Gruppe vor Italienern (14.446) und Franzosen (12.611). 6 Die Unterschiede zwischen Westberlin (18,3 %) und Ostberlin (7,1 %) sind allerdings nach wie vor erheblich (vgl. Heinzel/Tuchscherer 2008: 34). 7 Die Daten zum Migrationshintergrund der Berliner Bevölkerung basieren auf einer Auswertung des Einwoh- nerregisters und unterscheiden sich hinsichtlich der Struktur leicht vom Konzept des Mikrozensus. Beim Mik- rozensus 2005 lag der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Berlin bei 23,4 Prozent (vgl. Sta- tistisches Bundesamt 2007).
Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘? 309 sungsvorschläge für die Eingliederung ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien zu erarbeiten“ (Der Regierende Bürgermeister von Berlin 1978: 1). Dieses hat in seinem Ab- schlussbericht vom September 1972 ein „bedarfsorientiertes Integrationsmodell“ vorge- schlagen, das darauf abzielte, den Arbeitskräftebedarf der Berliner Wirtschaft langfristig zu sichern. Zu den politischen Instrumenten des Modells gehörten eine Begrenzung des Zu- zugs und die Gewährung finanzieller Hilfen für Rückkehrwillige bei gleichzeitiger Aner- kennung der Familienzusammenführung. Mit Hilfe einer Vielzahl von sozial- und wirt- schaftspolitischen Maßnahmen sollten zudem die Eingliederung der ausländischen Arbeit- nehmer und ihrer Familien erleichtert werden (vgl. Der Regierende Bürgermeister von Berlin 1972). Nach dem Anwerbestopp von 1973 veränderten sich die integrationspolitischen Schwerpunkte des Berliner Senats. Mit der längeren Aufenthaltsdauer, der Familienzu- sammenführung und dem Heranwachsen der zweiten und dritten Generation sollten „die Integrationsmaßnahmen darauf ausgerichtet sein, dass sich die ausländischen Mitbürger eingewöhnen und hier langfristig leben können“ (Der Regierende Bürgermeister von Berlin 1978: 3). Im Herbst 1979 beschließt der Senat „Leitlinien und neue Maßnahmen zur Aus- länderintegration in Berlin“, die darauf abzielen, „allen legal in Berlin lebenden Auslän- dern, die längere Zeit in unserer Stadt leben“, die Integration zu erleichtern. Der Schwer- punkt wird auf ausländische Kinder und Jugendliche gelegt, denen „im Erziehungs-, Bil- dungs- und Ausbildungsbereich die gleichen Chancen wie den deutschen Kindern und Ju- gendlichen bei Aufrechterhaltung unseres Bildungsstandards eingeräumt werden“ sollen (Der Regierende Bürgermeister von Berlin 1979: 13). In der zweiten Phase – von Herbst 1981 bis zum Frühjahr 2003 – war Integrationspoli- tik in Westberlin vor allem Ausländerbeauftragtenpolitik. Mit der Einrichtung der Stelle einer Ausländerbeauftragten, der ersten auf Länderebene, hat der Berliner Senat im Dezem- ber 1981 versucht, die traditionelle Ausländerpolitik mit ihrer Konzentration auf sozialpoli- tische Maßnahmen weiter zu entwickeln: „Eine stärkere Beteiligung der Betroffenen war aufgrund der Entwicklung Anfang der achtziger Jahre notwendiger als die Konzipierung neuer Programme und Maßnahmenkataloge“ (Schwarz 1992: 132). Eine Politik der Vertre- tung von Zuwandererinteressen durch eine Senatsdienststelle stand hierbei nicht unbedingt im Gegensatz zu Konzepten der Verhinderung einer weiteren Zuwanderung, sondern spie- gelte lediglich die Ambivalenz wider, die auch die Berliner Ausländerpolitik in dieser Zeit kennzeichnete. Allerdings führten die in dieser ‚Doppelstrategie‘ angelegten Spannungen zwischen einer restriktiven Zuwanderungspolitik und einer liberalen Integrationspolitik immer wieder zu Konflikten zwischen den Innensenatoren und der Ausländerbeauftragten. Eckpfeiler der Ausländerpolitik des Berliner Senats waren in den achtziger Jahren ei- nerseits „die Begrenzung des Ausländeranteils durch Zuzugsbeschränkung und Förderung der Rückkehrbereitschaft“ sowie zum anderen die „Verbesserung der Voraussetzungen für die Integration der Ausländer, die hier leben und bleiben wollen“ (Ausländerbeauftragter 1983: 5). Nach Auffassung des Senats sollten sich Zuwanderer langfristig zwischen zwei Alternativen entscheiden, die der Regierende Bürgermeister von Berlin, Richard von Weiz- säcker, in seiner Regierungserklärung vom 2. Juli 1981 aufgezeigt hat: „Entweder Rückkehr in die alte Heimat … oder Verbleib in Berlin; dies schließt die Entschei- dung ein, auf die Dauer Deutscher zu werden. Keine Dauerlösung ist dagegen ein dritter Weg: Nämlich hier zu bleiben, aber nicht und nie Berliner werden zu wollen. Berlin muss die Mauer
310 Frank Gesemann ertragen. Unsere Stadt kann nicht auch noch Zäune ertragen, die wir selbst errichten“ (zitiert nach Ausländerbeauftragter 1983: 4f.). In der öffentlichen Wahrnehmung wurde die Berliner Integrationspolitik vor allem durch die langjährige Ausländerbeauftragte des Senats, Barbara John, geprägt. Diese hat das Amt der Ausländer- bzw. Integrationsbeauftragten in den einundzwanzigeinhalb Jahren ihrer Tätigkeit vor allem durch ihr persönliches Engagement geprägt und ihm ein hohes Maß an nationaler und internationaler Anerkennung verschafft. Zu den Schwerpunkten des Amts gehörten eine umfangreiche Rechts- und Sozialberatung für Zuwanderer, eine vielfältige Informations- und Öffentlichkeitsarbeit, die Herstellung und Pflege intensiver Kontakte zu den Migrantenorganisationen und die finanzielle Förderung von Projekten und Selbsthilfe- initiativen zur Unterstützung der Integration von Zuwanderern. Politische Akzente hat die Ausländerbeauftragte des Senats vor allem in den Bereichen Einbürgerung,8 Antidiskrimi- nierungspolitik9 und interkulturelle Öffnung der Verwaltung10 gesetzt. Eine dritte Phase der Berliner Integrationspolitik beginnt im Jahr 2003 – mit dem Wechsel im Amt des Integrationsbeauftragten von Barbara John zu Günter Piening. Zu den neuen integrationspolitischen Akzenten gehören der Aufbau eines Landesbeirates für Mi- grations- und Integrationsfragen, die Einrichtung einer Senatsleitstelle gegen Diskriminie- rung aus ethnischen, religiösen und weltanschaulichen Gründen, die Umsetzung des Pro- gramms zur Bekämpfung von Rechtextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitis- mus, die Neugestaltung der Förderkriterien zur Unterstützung integrationspolitischer Akti- vitäten, die Intensivierung eines kritischen Dialogs mit dem Islam, die Entwicklung quar- tiersbezogener Integrationsansätze, die Durchführung von Bundes- und EU-Projekten zur Förderung der Bildungs- und Arbeitsmarktchancen von Migranten, zur Verbesserung der Integrationsmöglichkeiten für Flüchtlinge, zur Entwicklung von Integrationsindikatoren und zur „Intensivierung des gesellschaftlichen Dialogs über die Perspektiven der Einwan- derungsstadt Berlin“ (Beauftragter für Integration und Migration 2004: 2). Die Berliner Integrationspolitik wird seitdem vor allem durch die Diskussion über Ge- samtkonzepte, Monitoringsysteme und Integrationsindikatoren geprägt. Integrationspolitik wird als Querschnittsaufgabe definiert, „als breites Feld von ineinander verzahnten Gleich- stellungspolitiken, von Strategien zur Aktivierung der Migrantinnen und Migranten und Verbesserung der Partizipationschancen, zur interkulturellen Öffnung von Regeldiensten und Verwaltungen sowie zur Entwicklung interkultureller Kompetenz“ (Beauftragter für Integra- tion und Migration 2004: 4). Im Zuge der Neuausrichtung der Berliner Integrationspolitik wird zudem die Frage aufgeworfen, „welche Rolle … eine mit nur mäßiger Weisungsmacht ausgestattete Querschnittseinrichtung wie der Senatsbeauftragte für Integration und Migrati- on überhaupt spielen kann“. Gefunden wird die Antwort in einer Weiterentwicklung der Institution in Richtung „strategischer Steuerung“, „ohne die Vorteile einer Querschnittsein- richtung aufzugeben“ (Beauftragter für Integration und Migration 2005: 4f.).11 8 Barbara John plädierte bereits Mitte der achtziger Jahre für einen „Rechtsanspruch auf Einbürgerung“ und schrieb der Einbürgerung eine „Schlüsselfunktion“ im Integrationsprozess zu (John 1985: 3); siehe auch John (1991). 9 Im Jahr 1991 wurde von der Ausländerbeauftragten des Senats eine Arbeitsgruppe ‚Antidiskriminierung und Gewaltprävention‘ eingerichtet, die Betroffenen Beratung und Unterstützung anbot. 10 Siehe hierzu John/Caemmerer (2001). 11 Laut Geschäftsverteilung des Senats vom 20. Februar 2007 ist der Integrationsbeauftragte zuständig für „An- gelegenheiten der Integrations- und Migrationspolitik von grundsätzlicher oder übergreifender Bedeutung;
Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘? 311 Im August 2005 hat der Senat von Berlin erstmals ein umfassendes, ressortübergrei- fendes Integrationskonzept vorgelegt. Im Zentrum des Konzepts „Vielfalt fördern – Zu- sammenhalt stärken“ steht die Beschreibung von Herausforderungen und Perspektiven der Integrationspolitik. Zu den Zielen des Senats gehört es, die integrationspolitischen Anstren- gungen der verschiedenen Senatsverwaltungen in den Rahmen einer gesamtstädtischen Strategie zu stellen, die vielfältigen Programme und Maßnahmen stärker aufeinander zu beziehen und die jeweiligen Zielkoordinaten zu präzisieren. Integrationspolitik wird als Querschnittsaufgabe in einem strategisch ausgerichteten Steuerungsprozess konzipiert, der die Präzisierung von Leitbildern und politischen Zielen, die Entwicklung integrationspoliti- scher Indikatoren und ein regelmäßiges Berichterstattungssystem umfasst (vgl. Abgeordne- tenhaus Berlin 2005b). Die Weiterentwicklung der Berliner Integrationspolitik stand im Mittelpunkt eines breit angelegten Anhörungs- und Diskussionsprozesses in den Ausschüssen des Parlaments. Nach Auswertung der Ergebnisse hat das Abgeordnetenhaus den Senat aufgefordert, „ein verbindliches mittelfristiges Arbeitsprogramm zur Integrationssteuerung“ zu erarbeiten, „in dem konkrete Ziele, Maßnahmen und Berichterstattungsverfahren sowie zur Überprüfung der Arbeitsergebnisse messbare Indikatoren festgelegt werden“ (Abgeordnetenhaus Berlin 2006). Mit der Vorlage des zweiten Integrationskonzepts vom Juli 2007 hat der Senat – eigenen Angaben zufolge – diesen Schritt von der Bestandsaufnahme zur strategischen Steuerung vollzogen. Zentrale Handlungsstrategien werden mit einer hierarchischen Ziel- struktur, spezifischen Handlungsfeldern, Leitprojekten und Indikatoren unterlegt. Ein re- gelmäßiger indikatorengestützter Bericht soll die Grundlage für eine Weiterentwicklung von Programmen und Maßnahmen bilden.12 3 Schwerpunkte und Handlungsfelder der Berliner Integrationspolitik Im zweiten Integrationskonzept vom Juli 2007 werden acht zentrale Handlungsstrategien benannt, „die für den Erfolg der Berliner Integrationspolitik ausschlaggebend sind“ (Abge- ordnetenhaus Berlin 2007: 6). Diese Handlungsstrategien werden mit Zielen, spezifischen Handlungsfeldern, Leitprojekten und Indikatoren unterlegt. Mit einem regelmäßigen indi- katorengestützten Bericht sollen Senat, Abgeordnetenhaus und Öffentlichkeit über integra- tionspolitische Entwicklungen informiert und die Grundlage für eine Weiterentwicklung von Programmen und Maßnahmen gelegt werden: Konzeption der Integrations- und Migrationspolitik; Entwicklung und Steuerung eines Integrationsmonito- rings zur Umsetzung des Integrationskonzeptes für Berlin; Koordinierung der Maßnahmen zur interkulturellen Öffnung der Verwaltung“ (Der Regierende Bürgermeister – Senatskanzlei 2007). 12 Die Aufwertung des Politikfeldes spiegelt auch die Bildung einer Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales wider. Zu ihrem Geschäftsbereich gehören seit Februar 2007 neben den Angelegenheiten des/der Beauftragten des Senats für Integration und Migration (siehe Fußnote 11) die Koordinierung der Maßnahmen zur Integration von Zuwanderinnen und Zuwanderern, die Geschäftsstelle des Landesbeirates für Integrations- und Migrationsfragen, die Antidiskriminierungspolitik des Senats und die Förderung ressortübergreifender Projekte zur Stärkung von Toleranz und Weltoffenheit (vgl. Der Regierende Bürgermeister – Senatskanzlei 2007).
312 Frank Gesemann Internationale Anziehungskraft und kulturelle Vielfalt: Eine verbesserte Präsentation von kultureller Vielfalt, die Entwicklung und Stärkung interkultureller Kompetenzen sowie die Schaffung einer Willkommenskultur für Zuwanderer sollen die internationale Anziehungs- kraft Berlins stärken. Integration durch Teilnahme am Erwerbsleben: Mit einer Vielzahl von Maßnahmen soll die Ausbildungsbeteiligung erhöht, der Einstieg und die Wiedereingliederung in den Ar- beitsmarkt verbessert sowie Existenzgründungen und Selbstständigkeit von Migrantinnen und Migranten gefördert werden. Integration durch Bildung: Die Neubestimmung des Bildungsauftrags von Kindertagesstät- te und Schule und die Weiterentwicklung der Schulkultur soll zu einer Angleichung des Sprachniveaus und der Schulabschlüsse von Jugendlichen mit und ohne Migrationshin- tergrund beitragen. Integration durch Stärkung des sozialräumlichen Zusammenhalts: Mit der Rahmenstrategie Soziale Stadtentwicklung und dem Maßnahmenprogramm Soziale Stadt – Berliner Quar- tiersmanagement sollen problembelastete Stadtteile stabilisiert, der Zusammenhalt im Sozi- alraum gestärkt sowie die Chancengleichheit verbessert werden. Integration durch Interkulturelle Öffnung: Mit der interkulturellen Öffnung von Verwal- tungen und sozialen Diensten soll ein chancengleicher Zugang zu Angeboten und Leistun- gen sowie eine gleichwertige Versorgungsqualität für Migrantinnen und Migranten erreicht werden. Integration durch Partizipation und Stärkung der Zivilgesellschaft: Zu den Handlungsfel- dern in diesem Bereich gehören die Stärkung der politischen Partizipation, die Förderung einer Kultur des Respekts und der Gleichbehandlung, die Durchsetzung des Rechts auf Selbstbestimmung und die Weiterentwicklung des Dialogs mit den islamischen Gemein- schaften. Integrationsperspektiven für Flüchtlinge: Die Rahmenbedingungen für ein selbstständiges Leben von Asylbewerbern und Geduldeten sowie die soziale und gesundheitliche Lage von Personen ohne Aufenthaltsstatus sollen verbessert werden. Verbesserung der Kooperation zwischen Senat und Bezirken: Zu den Vorschlägen gehören die (Weiter-)Entwicklung von Integrationsprogrammen in den Bezirken, die Einführung von Mindeststandards in der Ausstattung und den Kompetenzen von Integrationsbeauftrag- ten und Integrationsbeiräten sowie Zielvereinbarungen zwischen den Bezirken und dem Senat. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Integration von Zuwanderern in das Bildungs- und Ausbildungssystem, in den Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie auf die politische Partizipation. In diesen Bereichen sollen Erfolge und Herausforderungen der Berliner Integrationspolitik aufgezeigt werden.
Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘? 313 3.1 Mangelnde Arbeitsmarktintegration von Migranten Arbeitsmarktintegration und Bildung beeinflussen die soziale Positionierung, den Zugang zu zentralen gesellschaftlichen Positionen sowie die Teilhabe am gesellschaftlichen Reich- tum und an politischen Entscheidungsprozessen. Diese Faktoren sind vorrangige Aspekte der Eingliederung von Einwanderern und ihrer Kinder. Die Entwicklung in Berlin ist aller- dings seit der Wiedervereinigung durch einen dramatischen Arbeitsplatzabbau in der Berli- ner Industrie gekennzeichnet. Von 1991 bis 2004 gingen mehr als die Hälfte aller Arbeits- plätze im verarbeitenden Gewerbe verloren. Im Vergleich mit dem Ausgangsbestand vor der Wiedervereinigung sind rund 250.000 industrielle Arbeitsplätze verschwunden (vgl. Fischer et al. 2004). Dieser Verlust konnte bislang auch nicht durch Zuwächse im Dienst- leistungssektor kompensiert werden. Der Rückgang der Erwerbstätigenzahl führte zu einem starken Anstieg der Arbeitslosenquote von 9,4 Prozent im Jahr 1991 auf einen Spitzenwert von 21,5 Prozent im Jahr 2005. Seitdem ist erstmals seit Anfang der 1990er Jahre wieder ein deutlicher Rückgang auf zuletzt 17,9 Prozent im Jahr 2007 zu verzeichnen. Zu den Verlierern dieser Entwicklung gehören vor allem Migranten. Die Arbeitslosen- quote der Ausländer ist von 1991 bis 2005 von 14,5 auf den Rekordwert von 44,1 Prozent gestiegen. Allerdings spiegelt sich die positive Entwicklung auf dem Berliner Arbeitsmarkt in den Jahren 2006 und 2007 auch hier in einem Rückgang der Arbeitslosenzahlen wieder. Trotzdem ist die Arbeitslosenquote der Ausländer mit 37,0 Prozent (2007) immer noch mehr als doppelt so hoch wie die Arbeitslosenquote der Deutschen (15,8 %).13 Von dem Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt sind vor allem Erwerbstätige mit geringen Qualifika- tionen betroffen, die unter den Ausländern überproportional vertreten sind: Von den im August 2005 im Land Berlin registrierten ausländischen Arbeitslosen hatten 53,2 Prozent keinen Schulabschluss und 81,1 Prozent waren ohne abgeschlossene Berufsausbildung (türkische Arbeitslose: 57,1 % bzw. 86,2 %) (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2005).14 Die ökonomische Situation von Migranten ist in Berlin schlechter als in anderen Groß- städten, das Ausmaß der Unterbeschäftigung ist sogar dramatisch: „Wenn, wie generell in den großen deutschen Städten, die Erwerbslosigkeit der Migranten doppelt so groß ist wie die der Personen ohne Migrationshintergrund, hat das im Falle Berlins deshalb besonders schwerwiegende Konsequenzen, weil in der Stadt die Arbeitslosigkeit weit über dem Durchschnitt liegt“ (Brenke 2008: 505). Auf die extrem hohe Arbeitslosigkeit von Migran- ten hat der Berliner Senat mit einer Reihe von Initiativen reagiert, zu denen die Erhöhung der Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitslosen, die Verbesserung der Ausbildungssituation von Jugendlichen und die Förderung der Selbstständigkeit von Migranten gehören (vgl. Abgeordnetenhaus Berlin 2005b; 2007). Die Politik des Senats zielt im zuletzt genannten Bereich vor allem darauf ab, den Zugang von Migranten zu den Fördermöglichkeiten des Landes (Kredite und Beratungsangebote) zu verbessern: „Berlin zeichnet sich durch eine Vielzahl unternehmerischer Aktivitäten von Migranten/innen aus. Diese Selbstständigen sichern sich selbst und ihren Beschäftigten Arbeitsplätze und somit 13 Die Quote bezieht sich auf abhängige zivile Erwerbspersonen. Zur Entwicklung der Arbeitslosenquoten und - zahlen von nichtdeutschen und deutschen Staatsangehörigen in Berlin siehe Gesemann (2001b: 423), Abge- ordnetenhaus Berlin (2007, Anhang 1) sowie Bundesagentur für Arbeit (2008: 31ff.). 14 Das Armutsrisiko der Ausländer übertrifft vor diesem Hintergrund das der Deutschen um das Dreifache (36,0 % zu 11,5 % im Jahr 2002) (Statistisches Landesamt Berlin 2003; Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz 2004: 107).
314 Frank Gesemann Einkommen. Kleine und mittelständische Betriebe prägen das Wirtschaftsleben in vielen Berli- ner Kiezen nachhaltig. Somit leisten Migranten/innen einen erheblichen und zunehmenden Bei- trag zur wirtschaftlichen Entwicklung und Vielfalt in Berlin“ (Abgeordnetenhaus Berlin 2007: 27). Empirische Studien zu Unternehmern türkischer Herkunft zeigen allerdings, dass „für die überwiegende Mehrheit … Selbstständigkeit gleichbedeutend ist mit einem permanenten Kampf um das wirtschaftliche Überleben“ (Pütz 2004: 75): „Ohne die ‚Selbstausbeutung’ der Unternehmer und ihrer Familien könnten viele Läden kaum am Markt bestehen. Was zunächst als Wettbewerbsvorteil erscheint, wird mittelfristig aber zu einem schwerwiegen- den Nachteil, wenn nämlich die mithelfenden Unternehmerkinder aufgrund der Beschäfti- gung im Familienbetrieb ihre eigene Ausbildung vernachlässigen müssen“ (ebd.: 70f.). Eine Politik zur Förderung der Selbständigkeit von Migranten muss daher mit der För- derung von Bildungschancen verknüpft sein. Bessere Bildungschancen erweitern die Hand- lungsspielräume von Eigentümern und erhöhen die Erfolgschancen der Unternehmen.15 Sie stellen zudem eine Investition in die Zukunft der nachwachsenden Generation dar, die nicht durch eine einseitige Politik zur Förderung der Selbstständigkeit gefährdet werden sollte.16 3.2 Integration durch Bildung? Bildung und Ausbildung haben eine Schlüsselfunktion für den erfolgreichen Verlauf von Integrationsprozessen. Sie entscheiden über den Zugang zu gesellschaftlichen Positionen und Ressourcen und die Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen. Sprachliche und kulturelle Kompetenzen von Migranten beeinflussen die Erfolge im Bildungs- und Ausbil- dungssystem sowie die Integration in den Arbeitsmarkt (kulturelle Integration). Qualifizier- te Schulabschlüsse, eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine Hochschulausbildung sind von zentraler Bedeutung für die Aufstiegschancen und die soziale Platzierung von Zuwanderern (strukturelle Integration). Die Einrichtungen des Bildungssystems sind zu- dem von großer Bedeutung für die Entwicklung interkultureller Kontakte und Freundschaf- ten (soziale Integration) sowie die Identifikation von Migranten mit den Grundwerten und Institutionen einer demokratischen Gesellschaft (identifikatorische Integration) (vgl. Ge- semann 2007: 65). Der Anteil der Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache17 an der Gesamtschülerzahl der öffentlichen und privaten Schulen lag im Schuljahr 2006/07 mit 27,0 % deutlich über dem Anteil der ausländischen Schüler (16,2 %). In den öffentlichen Grundschulen der Stadt ist sogar jeder dritte Schüler nichtdeutscher Herkunft (33,3 %). In Bezirken wie Mitte, 15 Hierzu gehören beispielsweise ein leichterer Zugang zu Existenzgründerdarlehen, fundierte betriebswirt- schaftliche und steuerliche Kenntnisse, größere Handlungsspielräume bei der Wahl der Branche und eine bes- sere Einschätzung von Marktchancen (vgl. Pütz 2004: 76f.). 16 Zwar soll das Ausbildungspotenzial von Unternehmer/-innen mit Migrationshintergrund laut Integrationskon- zept vom Juli 2007 „sehr viel stärker als bislang genutzt werden“ (Abgeordnetenhaus 2007: 20), aber eine sys- tematische Verknüpfung mit der Bildungspolitik ist nicht erkennbar. Im Vordergrund scheint vor allem eine Politik zur Reduzierung der hohen Arbeitslosigkeit von Migranten und der Abhängigkeit von staatlichen Transferzahlungen zu stehen. 17 Als „Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache“ werden in Berlin seit 1999 Schüler erfasst, „deren Mutter- bzw. Familiensprache nicht deutsch ist. Die Staatsangehörigkeit ist dabei ohne Belang; entscheidend ist die Kommunikationssprache in der Familie“ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport 2007: 7).
Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘? 315 Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln stellen Schüler mit einer nichtdeutschen Familien- sprache bereits die Mehrheit der Schülerschaft (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Wissen- schaft und Forschung 2007). Näheren Aufschluss über die Herkunft der Jugendlichen und ihrer Eltern bieten Ergebnisse aus PISA 2003. Die größte Gruppe unter den Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund bilden mit einem Anteil von 35,0 Prozent die Ju- gendlichen, deren Eltern aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind. Es folgen Ju- gendliche mit Eltern aus Polen (10,8 %), der ehemaligen Sowjetunion (8,1 %) und dem ehemaligen Jugoslawien (5,5 %) (vgl. Ramm et al. 2005: 275).18 Die Differenzen in den Bildungserfolgen von Kindern und Jugendlichen mit deutscher und ausländischer Staatsangehörigkeit sind in Berlin seit vielen Jahren sehr viel stärker ausgeprägt als im Bundesdurchschnitt (vgl. Hunger/ Thränhardt 2001). Problematisch ist vor allem die Bilanz bei den weniger erfolgreichen Jugendlichen: 20,9 Prozent der auslän- dischen, aber nur 7,7 Prozent der deutschen Schulabgänger verlassen die allgemein bilden- de Schule in Berlin ohne Abschluss; weitere 23,6 Prozent der ausländischen Schulabgänger erwerben nur den Hauptschulabschluss (12,0 Prozent der Deutschen). Fast die Hälfte der ausländischen Schulabgänger verlässt die Schule entweder ohne Abschluss oder nur mit einem Abschluss, der ihnen relativ geringe Chancen auf dem Berliner Ausbildungs- und Arbeitsmarkt bietet (vgl. Tabelle 1; siehe auch Gesemann 2006c: 203f.). Anfang 2007 hat die Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung erstmals Zahlen zu Schulabgängern nichtdeutscher Herkunftssprache veröffentlicht. Diese zeigen zwar, dass Schulabgänger nichtdeutscher Herkunftssprache insgesamt etwas bessere Bildungserfolge als die ausländischen Schulabgänger erzielen, aber die Unterschiede zwi- schen Schulabgängern deutscher und nichtdeutscher Herkunftssprache verringern sich nur geringfügig. Die Gefahr des Scheiterns im Schulsystem ist hierbei bei jungen männlichen Ausländern am höchsten: Jeder Vierte verlässt die Schule ohne Abschluss! Bei den deut- schen Schulabgängerinnen trifft dieses nur auf jede Sechzehnte zu. Aber auch junge Aus- länderinnen oder Schulabgängerinnen nichtdeutscher Herkunftssprache scheitern sehr viel seltener in der Schule als junge Männer: Während 24,7 Prozent der männlichen Ausländer die Schule ohne einen Abschluss verlassen, sind es bei den weiblichen Ausländern ‚nur‘ 16,7 Prozent!19 Zu den Ursachen des mangelnden Bildungserfolgs von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund gehören vor allem der geringe Bildungsstatus der Eltern, eine nicht- deutsche Familien- und Freizeitsprache, unzureichende Kompetenzen in der deutschen Sprache, das Aufwachsen in Gebieten, die durch eine Konzentration von Zuwanderern und eine Kumulation sozialer Problemlagen geprägt sind, sowie eine mangelnde Förderung in Kindertagesstätten und Schulen. Die Berliner Sprachstandserhebung ‚Deutsch Plus‘, die im Herbst 2006 mit 25.143 Kindern durchgeführt wurde, die im Schuljahr 2007/2008 schul- pflichtig wurden, hat beispielsweise ergeben, dass 54,4 % der Kinder nichtdeutscher Her- kunftssprache intensiv in Deutsch gefördert werden müssen (11,1 % der Kinder deutscher Herkunftssprache). Besonders hoch ist der Förderbedarf bei den Kindern, die in Bezirken 18 Eine etwas andere Verteilung zeigt die statistische Auswertung nach Staatsangehörigkeit: Von den ausländi- schen Schülern an öffentlichen Schulen kommen 41 Prozent aus der Türkei, 12 Prozent aus arabischen Staaten und 11 Prozent aus dem ehemaligen Jugoslawien (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und For- schung 2007: 11, eigene Berechnungen). 19 Leider unterscheidet die Berliner Schulstatistik bei den Schulabgängern aber nur zwischen Schülern deutscher und nichtdeutscher Staatsangehörigkeit bzw. Herkunftssprache, so dass die erheblichen Unterschiede im Hin- blick auf den Bildungserfolg verschiedener Zuwanderergruppen nicht sichtbar werden.
316 Frank Gesemann wie Neukölln leben (64,6 %) oder keine Kindertagesstätte besuchen (71,9 %) (vgl. Senats- verwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2007).20 Tabelle 1: Schulabgänger aus allgemein bildenden Schulen in Berlin nach Staatsangehörigkeit und Herkunftssprache, Schuljahr 2005/06* ohne Abschluss allgemeine Schulabgänger Hochschulreife g m w g m w Gesamt 9,5 11,3 7,6 36,1 30,9 41,5 Deutsche 7,7 9,1 6,2 39,2 33,7 44,9 Ausländer 20,9 24,7 16,7 16,4 14,1 19,0 deutsche Herkunftssprache 7,4 8,8 6,0 40,3 34,6 46,1 nichtdeutsche Herkunftssprache 18,3 22,0 14,4 18,4 15,6 21,4 Deutsche nichtdeutscher Herkunftssprache 11,6 14,5 8,8 23,6 19,9 27,3 Deutsche deutscher Herkunftssprache 7,4 8,8 6,0 40,3 34,6 46,1 * ohne Berücksichtigung der BB 10-Lehrgänge g = gesamt, m = männlich, w = weiblich Quelle: Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung; eigene Berechnungen Um die Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu verbessern, hat der Senat von Berlin eine Reihe von ‚entscheidenden Weichenstellungen‘ vorgenommen, zu denen vor allem die Verabschiedung eines neuen Schulgesetzes (2004), die Auflegung eines Bildungsprogramms für Kindertagesstätten (2004) und das Programm ‚Integration durch Bildung‘ (2005) gehören. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang eine durchgängige Sprachförderung von der Kindertageseinrichtung bis zum Schulabschluss, eine verstärkte Einbindung von Eltern mit Migrationshintergrund, die fortlaufende Qualifizierung und Weiterbildung des pädagogischen Personals, die Erhöhung des Anteils von Erziehern und Lehrern mit Migrationshintergrund sowie die Öffnung von Kindertagesstätten und Schulen sowie ihre Vernetzung mit weiteren Institutionen im Stadt- teil (vgl. Abgeordnetenhaus Berlin 2005a; siehe auch Abgeordnetenhaus Berlin 2005b; 2007). Diese Reformen gehen zwar in die richtige Richtung, aber für eine Einschätzung ihrer Wirksamkeit ist es noch zu früh. 3.3 Integration durch Ausbildung? Besorgniserregend ist vor allem die Entwicklung im Bereich der beruflichen Bildung, die in Deutschland von besonderer Bedeutung für die Arbeitsmarktchancen ist. In Berlin ist die Anzahl der ausländischen Auszubildenden von 1991 bis 2006 um 50 Prozent zurückgegan- gen! Der Ausländeranteil an der Gesamtzahl aller Auszubildenden hat sich in diesem Zeit- raum fast halbiert – von 8,5 Prozent (1991) auf 4,1 Prozent (2006). Besonders problema- 20 Geringe Bildungserfolge belasten nicht nur die individuellen Zukunftschancen von jungen (männlichen) Migranten, sondern gefährden auch den sozialen Zusammenhalt der Stadtgesellschaft. In einem Bericht der Landeskommission Berlin gegen Gewalt wird betont, dass „Perspektivlosigkeit, fehlende Anerkennung und geringes Selbstwertgefühl“ im Kontext mangelnder Bildungserfolge, geringer Ausbildungschancen und un- günstiger Arbeitsmarktaussichten „wesentliche Risikofaktoren für gewalttätiges Verhalten“ sind (vgl. Landes- kommission Berlin gegen Gewalt 2007: 35, 166; siehe auch Gesemann 2008).
Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘? 317 tisch sind hierbei die anhaltenden Rückgänge in der Industrie (von 7,3 % auf 3,7 %), im Handwerk (von 10,8 % auf 4,7 %) und im Öffentlichen Dienst (von 6,9 % auf 1,2 %). Die Ausbildungsbeteiligungsquote der ausländischen Jugendlichen – berechnet als Anteil der Auszubildenden an allen Personen dieser Gruppe in der Altersgruppe von 18 bis unter 21 Jahre – war im Jahr 2006 mit 14,8 Prozent sehr viel geringer als die der deutschen Jugend- lichen (46,8 %).21 Tabelle 2: Auszubildende nach Staatsangehörigkeit in Berlin 1991 bis 2006 Jahr Insgesamt Deutsche Ausländer Anteil in Prozent 1991 51.018 46.493 4.525 8,9 1995 55.165 50.658 4.507 8,2 2000 62.696 59.440 3.256 5,2 2005 55.458 53.138 2.320 4,2 2006 55.334 53.046 2.288 4,1 Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg Zu den Gründen für die geringe Ausbildungsbeteiligung junger Migranten gehören nach wie vor bestehende Sprachdefizite, unzureichende oder fehlende Schulabschlüsse, die An- forderungsprofile der ausbildenden Betriebe und Verwaltungen sowie Vorbehalte auf Sei- ten der Personalverantwortlichen. Mit einem einfachen Hauptschulabschluss oder sogar ohne Abschluss haben Jugendliche mit Migrationshintergrund auf dem engen und durch einen stärker gewordenen Verdrängungswettbewerb geprägten Berliner Ausbildungsmarkt häufig nur geringe Chancen. Ausländische Jugendliche nutzen zudem sehr viel seltener als deutsche Jugendliche die Informations- und Vermittlungsangebote der Arbeitsagenturen und sind bereits unter den gemeldeten Bewerberinnen und Bewerbern um einen Ausbil- dungsplatz deutlich unterrepräsentiert. Viele steigen offenbar unmittelbar nach der Schul- zeit in das ‚ethnische Gewerbe‘ ein oder suchen Arbeit im Niedriglohnsektor (vgl. Ohliger/ Raiser 2005: 32).22 Zu den Maßnahmen des Senats, die die Berufsausbildung von ausländischen Jugendli- chen fördern sollen, gehören das Berufliche Qualifizierungsnetzwerk für Migrantinnen und Migranten (BQN Berlin), das innovative Verfahren zum Übergang von der Schule in die Ausbildung entwickelt, die zielgerichtete Durchführung berufsorientierender Maßnahmen mit intensiver Sprachförderung, die Entwicklung und Vermittlung zertifizierbarer Qualifi- zierungsbausteine in der Berufsvorbereitung und -ausbildung sowie die gezielte Ansprache von ausländischen Betriebsinhabern, sich an der Berufsausbildung zu beteiligen. Alle diese Programme und Maßnahmen haben allerdings den kontinuierlichen Rückgang der Ausbil- dungsbeteiligung von jungen Migranten bislang nicht aufgehalten, geschweige denn zu einer deutlichen Trendwende in Richtung auf mehr Chancengleichheit beigetragen. Ohne massive Verbesserungen bei den schulischen Abschlüssen, umfangreiche Investitionen in eine Nachqualifizierung von jungen Migranten und ein differenziertes Bildungs- und Über- gangsmanagement dürften hier auch kaum nachhaltige Erfolge zu erzielen sein. 21 Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (2007), eigene Berechnungen. 22 Siehe auch die Antwort des Senats von Berlin auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Özcan Mutlu (Bünd- nis 90/Die Grünen) zur „Ausbildungsbeteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (Abgeordne- tenhaus Berlin 2005c).
318 Frank Gesemann 3.4 Räumliche Konzentration und soziale Segregation von Migranten Die Konzentration von Zuwanderern in den Altbauquartieren der westlichen Innenstadt, die seit der Wiedervereinigung im Jahr 1991 durch eine wachsende Arbeitslosigkeit, hohe Armutsquoten und selektive Wanderungen geprägt sind, gehört zu den zentralen Heraus- forderungen der Berliner Stadt- und Quartierspolitik. Die höchsten Konzentrationen von melderechtlich registrierten Ausländern wiesen am 31. Dezember 2007 die Gebiete Neu- kölln-Nord (35,0 %), Wedding (33,9 %), Kreuzberg (31,3 %), Tiergarten (29,3 %) und Schöneberg-Nord (26,2 %) auf. In diesen Gebieten lebt jeder zweite Ausländer, aber nur jeder vierte Deutsche. In den übrigen Gebieten von Westberlin liegt der Ausländeranteil nur bei etwa zehn Prozent. Im Ostteil der Stadt werden Werte von über zehn Prozent nur in Mitte (17,7 %), Prenzlauer Berg (12,7 %) und Friedrichshain (12,6 %) erreicht. In den meisten Gebieten von Ostberlin liegt der Ausländeranteil nach wie vor nur zwischen zwei und fünf Prozent (siehe Schaubild 1).23 Im Hinblick auf die Bevölkerung mit Migrations- hintergrund ist der Anteil mit 44,5 Prozent am höchsten in Mitte (mit den alten Bezirken Mitte, Tiergarten und Wedding), gefolgt von Neukölln mit 38,7 Prozent und Friedrichs- hain-Kreuzberg mit 36,6 Prozent. In 34 von 447 Planungsräumen liegt der Anteil der Berli- ner mit Migrationshintergrund bei über 50 Prozent (vgl. Bömermann et al. 2008: 27). Schaubild 1: Ausländische Einwohner nach (ehemaligen) Bezirken und Gebieten in Berlin (in Prozent der Gesamtbevölkerung), Stand: 31. Dezember 2007 Berlin-West Neukölln-Nord Wedding Kreuzberg Tiergarten Schöneberg-Nord Charlottenburg Wilmersdorf Sonstige West Berlin-Ost Mitte Friedrichshain Prenzlauer Berg Lichtenberg Sonstige Ost 0,0 5,0 10,0 15,0 20,0 25,0 30,0 35,0 40,0 Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg; eigene Berechnungen Im Gegensatz zum öffentlichen Diskurs, in dem die räumliche Konzentration von Migran- ten häufig als Zeichen einer gescheiterten Integration wahrgenommen oder als Gettoisie- rung stigmatisiert wird, werden in der sozialwissenschaftlichen Debatte auch die Chancen oder positiven Funktionen ethnischer Konzentrationen hervorgehoben (vgl. Heckmann 23 Die Angaben beziehen sich mit Ausnahme der Gebiete Neukölln-Nord und Schöneberg-Nord auf die Gebiete der alten Bezirke.
Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘? 319 1992: 111ff.; Häußermann/Siebel 2001: 46f.). Ethnische Kolonien bieten Zuwanderern einen Zugang zu vielfältigen Informationen und praktischen Hilfen, dienen der Persönlich- keitsstabilisierung in der Migrationssituation, ermöglichen eine wechselseitige Unterstüt- zung im Rahmen von Verwandtschaftsbeziehungen und sozialen Netzwerken, bieten Be- schäftigungs-, Einkommens-, Qualifizierungs- und Aufstiegsmöglichkeiten in der ethni- schen Ökonomie und erleichtern die Artikulation und Vertretung von Interessen ethnischer Minderheiten (siehe hierzu auch Gesemann 2006a). Zu den Risiken oder negativen Funktionen ethnischer Kolonien gehört vor allem „die Gefahr einer ethnischen Selbstgenügsamkeit, die ein für das Aufbrechen der ethnischen Schichtung und für soziale Mobilität notwendiges Aufnehmen außerethnischer Kontakte und das Eintreten in einen universalistischen Wettbewerb behindert“ (Heckmann 1992: 115). Die Zunahme von Arbeitslosigkeit und relativer Armut in Berlin seit Anfang der neunziger Jahre verstärkt zudem die Gefahr, „dass die ethnischen Kolonien ihre Brücken- funktion verlieren und sich aus den Gebieten der Ausländerkonzentration Räume der Isola- tion und Benachteiligung entwickeln“ (Kapphan 2001: 106). Die Wirkungen einer räumli- chen Konzentration auf die soziale Integration von Zuwanderern in der Stadt sind daher ambivalent; einerseits können ethnische Kolonien als Ressource zur Bewältigung von Her- ausforderungen in der Aufnahmegesellschaft dienen, andererseits können sie zur Heraus- bildung parallelgesellschaftlicher Strukturen führen und zur ethnischen Mobilitätsfalle werden (vgl. Gesemann 2006a). Zu den Ursachen gehören vor allem sozialstrukturelle und sozialräumliche Prozesse, die seit der Wiedervereinigung der beiden Stadthälften zu neuen Strukturen sozialer Un- gleichheit geführt haben. Die problembelasteten Gebiete der westlichen Innenstadt sind durch hohe Wanderungsbewegungen und starke Veränderungen in der Bevölkerungszu- sammensetzung gekennzeichnet. Während Erwerbstätige, Besserverdienende sowie Famili- en mit Kindern abwandern, bleibt die sozial schwache Bevölkerung zurück, so dass der Anteil von Ausländern, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern weiter steigt (vgl. Gese- mann 2006a). Die selektive Mobilität und die Verarmung der zurückbleibenden Bewohner fördern Prozesse, „die zu einer kumulativ sich selbst verstärkenden Spirale der Abwärts- entwicklung führen“. Es entsteht ein „Milieu der Benachteiligung“, das durch eine zuneh- mende Verwahrlosung des öffentlichen Raumes, die Verschlechterung der Versorgungs- struktur und eine Ausgrenzung der Bewohner gekennzeichnet ist (Häußermann 2001: 82f.). Der sozioökonomische Wandel und die Konzentrationen sozialer und stadträumlicher Benachteilung haben den Berliner Senat im Herbst 1998 veranlasst, eine „nachhaltig wir- kende, langfristig orientierte gesamtstädtische Strategie zur Entschärfung sozialer Konflikte besonders belasteter Stadtquartiere“ zu entwickeln sowie ein Aktionsprogramm „Urbane Integration“ vorzulegen (vgl. Abgeordnetenhaus 1998: 2).24 Im Rahmen des Bund-Länder- Programms „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt“ (kurz: Soziale Stadt) wurde in den ‚Gebieten mit besonderem Entwicklungsbedarf‘ die Einrich- tung eines Quartiersmanagements beschlossen, das zu einer Stabilisierung, Aufwertung und dauerhaften Verbesserung der Situation in den Quartieren beitragen sollte. Zu den zentralen 24 Wissenschaftliche Grundlage dieser Entscheidung bildeten die Ergebnisse und Empfehlungen eines Gutach- tens zur „Sozialorientierten Stadtentwicklung“, das von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umwelt- schutz und Technologie in Auftrag gegeben worden war (IfS/S.T.E.R.N. 1998).
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