Berlin - Einwanderungsstadt under construction'? Von der Beauftragtenpolitik zur strategischen Steuerung

Die Seite wird erstellt Simon Greiner
 
WEITER LESEN
Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘?                                                      305

Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘? Von der
Beauftragtenpolitik zur strategischen Steuerung
Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘?
Frank Gesemann

„Berlin hat eine große Perspektive als Einwanderungsstadt, wenn wir es schaffen, die Viel-
falt als etwas Positives erlebbar zu machen.“1 Mit diesen Worten zur Eröffnung des Berli-
ner Integrationsgipfels im Roten Rathaus am 22. Juni 2007 hat der Regierende Bürgermeis-
ter von Berlin, Klaus Wowereit, den neuen Stellenwert der Integrationspolitik deutlich zum
Ausdruck gebracht. Auf dem Integrationsgipfel wurde das zweite Berliner Integrationskon-
zept vorgestellt,2 wobei sich die Aufwertung des Politikfeldes, die strategische Ausrichtung
und das neue Verständnis von Integrationspolitik als Querschnittsaufgabe in der Gestaltung
des Integrationstages widerspiegelten. Senatoren und Staatssekretäre diskutierten mit
Vertreterinnen und Vertretern von Integrationsbeirat, Migrantenorganisationen und gesell-
schaftlichen Gruppen über die zentralen Handlungsfelder, Ziele und Leitprojekte des Integ-
rationskonzepts. Zudem wurden mit der Wahl des Zeitpunkts, der Umbenennung des Integ-
rationstages und den Reden zum Integrationsgipfel deutliche Zeichen gegenüber der Bun-
despolitik gesetzt.3
      Aufbruchstimmung, strategische Orientierung und Mobilisierung vorhandener Poten-
ziale kennzeichnen die neue Integrationspolitik des Berliner Senats. Hintergrund des Be-
mühens um integrationspolitische Konzepte sind gravierende soziale und ökonomische
Probleme. Seit der Wiedervereinigung der Stadt ist Berlin durch einen tief greifenden Pro-
zess wirtschaftlicher, sozialer und räumlicher Strukturveränderungen geprägt. Eine bei-
spiellose De-Industrialisierung, ein dramatischer Verlust an Arbeitsplätzen, die starke Zu-
nahme von Arbeitslosigkeit, sozialer Ungleichheit und Armut sind zentrale Merkmale eines
Strukturwandels, der soziale Spaltungslinien verstärkt. Zu den Verlierern dieser Entwick-
lung gehören vor allem Migranten. Hohe Arbeitslosigkeit, geringe Bildungsqualifikationen
sowie ungünstige Zukunftsperspektiven fördern Tendenzen der sozialen und wirtschaftli-
chen Marginalisierung sowie den Rückzug in ethnische und religiöse Gemeinschaften. Auf
diese Herausforderungen hat der Berliner Senat – trotz der chronischen Krise der öffentli-
chen Haushalte – mit einer Vielzahl von Programmen und Maßnahmen sowie mit der Ent-
wicklung von Integrationskonzepten reagiert.
      Migration und Integration in Berlin werden geprägt durch die historische Kontinuität
und Vielfalt von Wanderungsbewegungen, die massiven Zerstörungen durch Nationalsozia-
lismus und Zweiten Weltkrieg, die unterschiedlichen Erfahrungen in der geteilten Front-
stadt während des Kalten Krieges sowie die widersprüchlichen Dynamiken in einer zwar

1
    Die Rede von Klaus Wowereit zum Berliner Integrationsgipfel ist veröffentlicht in: Berlin International,
    Juli/August 2007, S. 9-11.
2
    Das Berliner Integrationskonzept lag auf dem Integrationsgipfel nur als Kurzfassung vor, da es erst am
    3.7.2007 vom Senat beschlossen wurde.
3
    Siehe zum Beispiel die Rede der Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, Heidi Knake-Werner, zum
    Integrationsgipfel, abgedruckt in: Berlin International, Juli/August 2007, S. 9-11.
306                                                                       Frank Gesemann

‚reizvollen‘, aber ‚armen‘ Hauptstadt im wiedervereinigten Deutschland. Die Zuwanderung
von Ausländern nach Westberlin ist zu Recht als die „bedeutendste sozialstrukturelle Ver-
änderung der Nachkriegszeit“ (Kapphan 2001: 91) bezeichnet worden, da sie erhebliche
Auswirkungen auf Bevölkerungs- und Beschäftigtenstruktur, Wirtschaftswachstum und
Wohlstand sowie soziale Schichtung und Mobilität hatte. Der Berliner Senat hat früher als
andere Städte – zunächst im Rahmen einer ressortübergreifenden Planung, später durch die
Einrichtung einer Ausländerbeauftragten – auf die Herausforderung durch die Zuwande-
rung von Ausländern reagiert. Die Erfolge der Berliner Integrationspolitik insbesondere in
der sozialen Integration von Migranten, der Förderung von Selbstorganisationen und der
politischen Teilhabe von Migranten werden seit der Wiedervereinigung aber von der bei-
spiellosen Krise auf dem Arbeitsmarkt, einer negativen Bilanz in der Bildungspolitik und
scheinbar unaufhaltsamen sozialräumlichen Prozessen bedroht.
      Im folgenden Beitrag wird – nach einem kurzen Überblick zur Geschichte der Zuwan-
derung in der Einwanderungsstadt Berlin – die Entwicklung der Berliner Integrationspolitik
in den vergangenen vier Jahrzehnten skizziert. Es folgen Ausführungen zu zentralen Hand-
lungsfeldern der Integrationspolitik des Berliner Senats, wobei ich mich auf die Integration
von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt, das Bildungswesen und auf den Wohnungsmarkt
sowie die Entwicklung von Einbürgerungen und die Förderung von Migrantenselbstorgani-
sationen konzentrieren werde. Ein kurzes Resümee schließt den Beitrag ab.

1     Einwanderungsstadt Berlin
Die Geschichte Berlins ist seit Jahrhunderten mit der wechselhaften Geschichte von Migra-
tion und Integration verbunden. Die rasche Entwicklung der Residenzstadt im 17. und 18.
Jahrhundert ist eng verknüpft mit dem Ansiedlungsprivileg für jüdische Familien von 1671
und dem Edikt von Potsdam von 1685, das die Aufnahme von Glaubensflüchtlingen aus
Frankreich ermöglichte. Ihnen folgten in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts weitere
protestantische Zuwanderer wie die relativ wohlhabenden Salzburger und die böhmischen
Glaubensflüchtlinge. Das rasante Bevölkerungswachstum der Stadt im 19. Jahrhundert und
der Aufstieg Berlins zur führenden und größten Industriemetropole auf dem europäischen
Kontinent basierte auch auf umfangreichen Zuwanderungen polnischsprachiger Arbeits-
kräfte aus den preußischen Ostgebieten. Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts kam
es zudem zu einer starken Einwanderung von Juden aus Osteuropa (vgl. Gesemann 2004:
26). Die unterschiedlichen Gruppen von Zuwanderern haben die wirtschaftliche Entwick-
lung und den kulturellen Reichtum Berlins nachhaltig geprägt. Die historische Forschung
hat allerdings auch auf die „zuweilen außerordentlich mühseligen und langwierigen“ Pro-
zesse der Integration von Zuwanderern hingewiesen und damit das verbreitete und ideali-
sierende Bild der Metropole als „Schmelztiegel“ von Menschen unterschiedlicher Herkunft
korrigiert (Jersch-Wenzel 1990: 8).
      Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Berlin in vier Sektoren bzw. Besatzungszonen
geteilt, die zwei gegensätzlichen politischen Systemen und konkurrierenden Machtblöcken
angehörten. Die räumliche und wirtschaftliche Isolation des Westteils sowie die sozialisti-
sche Umgestaltung des Ostsektors hatten zur Folge, dass Berlin nicht mehr an seine frühere
politische, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung anknüpfen konnte. Trotz der Isolation
der Stadt kamen aber bis Ende der fünfziger Jahre über 1,5 Millionen Flüchtlinge aus der
Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘?                                                   307

DDR und aus Ostberlin in den Westteil, von denen etwa 200.000 in der Stadt blieben. Nach
dem Mauerbau im August 1961 versiegte dieser Zustrom und die Bevölkerungszahl von
Westberlin sank. Zu diesem Zeitpunkt lebten – mit Ausnahme der Angehörigen der alliier-
ten Streitkräfte – nur noch wenige Menschen in der Stadt, die nicht über die deutsche
Staatsangehörigkeit verfügten (vgl. Gesemann 2004: 26f.; siehe auch Häußermann/Kapp-
han 2000: 57f.).
     In der geteilten Stadt waren Migration und Integration durch die unterschiedliche wirt-
schaftliche Entwicklung und ideologische Ausrichtung der beiden Stadthälften geprägt. In
Ostberlin wurden die Zuwanderung und der Aufenthalt von Ausländern aus politischen
Gründen stark reglementiert und kontrolliert. Ausländische Arbeitskräfte und Studierende
lebten zumeist – weitgehend isoliert von der deutschen Bevölkerung – in Wohnheimen.
Zum Zeitpunkt der Maueröffnung hielten sich nur noch wenige ausländische Arbeitskräfte
und Studierende im Ostteil der Stadt auf, von denen viele nach der Wende in ihre Her-
kunftsländer zurückkehrten. Während der Ausländeranteil Ende 1989 in Ostberlin nur 1,6
Prozent betrug, lag er in Westberlin bei 13,7 Prozent (vgl. Gesemann 2002).
     In Westberlin hatten Senat und Bundesregierung auf den Verlust von Arbeitsplätzen in
der Industrie und den Rückgang der Bevölkerung mit umfangreichen Programmen und
Maßnahmen zum Ausbau des öffentlichen Sektors und zur Anwerbung westdeutscher Un-
ternehmen und Arbeitskräfte reagiert. Im Unterschied zu anderen deutschen Bundesländern
hat Berlin die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer „erst seit 1968 in schnell wach-
sender Zahl … entsprechend den Forderungen der Wirtschaft begünstigt“ (Der Regierende
Bürgermeister von Berlin 1972: 4). Da das Arbeitskräfteangebot Italiens, Spaniens und
Griechenlands zu diesem Zeitpunkt schon weitgehend ausgeschöpft war, wurden vor allem
Arbeitnehmer aus der Türkei und aus dem ehemaligen Jugoslawien angeworben. Bemer-
kenswert war zudem der hohe Anteil von Frauen, die vor allem von der Berliner Elektro-
und Konsumgüterindustrie als einfache, ungelernte Arbeitskräfte nachgefragt wurden (vgl.
Gesemann 2001: 13).
     In der Zeit nach 1945 lassen sich vier Phasen der Migration nach Westberlin unter-
scheiden: Auf die gezielte Anwerbung von Arbeitskräften von Mitte der sechziger Jahre bis
zum Anwerbestopp im November 1973 folgte eine Phase, die bestimmt war vom Nachzug
von Familienangehörigen sowie der Zuwanderung von Flüchtlingen (insbesondere aus
Polen, Libanon und Iran). Ende der achtziger Jahre kam es infolge der politischen Umwäl-
zungen in Osteuropa und gewaltförmiger Konflikte in verschiedenen Weltregionen zu einer
massiven Zuwanderungswelle, die vor allem (Spät-)Aussiedler aus der ehemaligen Sowjet-
union und aus Polen, Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien sowie kur-
dische Flüchtlinge aus dem Irak und der Türkei nach Berlin brachte. Seit Ende der neunzi-
ger Jahre ist auch in Berlin eine deutliche Beruhigung des Migrationsgeschehens zu beo-
bachten.
     Die Zahl der ausländischen Einwohner Berlins stieg in diesem Zeitraum von 22.065
(1960) über 233.011 (1980) und 355.356 (1991) auf 470.004 (2007). Zu den wichtigsten
Herkunftsländern bzw. -gebieten der Ausländer, die in der Stadt mit einem Hauptwohnsitz
gemeldet sind, gehören die Türkei (24,2 %), das ehemalige Jugoslawien (10,8 %), arabische
Staaten (7,3 % einschließlich Staatenlose und Palästinenser mit ungeklärter Staatsangehö-
rigkeit) sowie die ehemalige Sowjetunion (6,9 %).4 Fast jeder dritte Ausländer (30,3 %)

4
    Gesemann (2001b); Heinzel/Tuchscherer (2008); Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (2008); eigene Be-
    rechnungen.
308                                                                                        Frank Gesemann

kommt aus einem Mitgliedsland der Europäischen Union.5 Verglichen mit anderen deut-
schen Großstädten leben in Berlin zwar – mit großem Abstand – die meisten Ausländer, ihr
Anteil an der Gesamtbevölkerung ist aber mit 14,0 Prozent (2007)6 deutlich geringer als
beispielsweise in Frankfurt am Main (26,0 %), München (23,1 %) oder Stuttgart (22,0 %)
(vgl. Bertelsmann Stiftung/Bundesministerium des Innern 2005: 102ff.).
     Der Anteil der in Berlin lebenden Personen, die über einen Migrationshintergrund ver-
fügen, ist allerdings wesentlich höher, da deutschstämmige Aussiedler und eingebürgerte
Ausländer von der vor allem auf Staatszugehörigkeit gründenden Statistik nicht erfasst
werden. So sind beispielsweise seit 1991 mehr als 140.000 Ausländer in Berlin eingebür-
gert worden. Seit Inkrafttreten des neuen Staatsangehörigkeitsrechts zum 1. Januar 2000
erhält zudem mehr als die Hälfte der in Berlin geborenen Kinder ausländischer Eltern au-
tomatisch die deutsche Staatsangehörigkeit. Im Juli 2008 hat das Amt für Statistik Berlin-
Brandenburg erstmals Daten zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund veröffentlicht.
Die Zahlen zeigen, dass in Berlin 863.500 Menschen mit Migrationshintergrund leben
(Stand: 31. Dezember 2007). Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund an der
Gesamtbevölkerung liegt bei 25,7 Prozent – mit deutlichen Unterschieden zwischen Ost-
und Westbezirken (10,5 % vs. 30,4 %). Bei den 6- bis unter 15-Jährigen haben sogar 42,7
Prozent einen Migrationshintergrund (vgl. Bömermann et al. 2008: 23f.).7

2     Die Entwicklung der Berliner Integrationspolitik
In der (West-)Berliner Politik gegenüber ausländischen Zuwanderern lassen sich drei Pha-
sen unterscheiden: In der ersten Phase (von 1971 bis 1981) konzentrierte sich Ausländerpo-
litik – im Rahmen einer ressortübergreifenden Planung – vor allem auf sozialpolitische
Maßnahmen, um die sozialen Folgen der wirtschaftlich motivierten Anwerbung ausländi-
scher Arbeitskräfte zu bewältigen. In der zweiten Phase (von 1981 bis 2003) rückten die
Beteiligung der Betroffenen und die Förderung von Migrantenselbstorganisationen stärker
in den Vordergrund. Zudem wurden Entwicklung und Umsetzung integrationspolitischer
Maßnahmen immer mehr zu einem Problem einzelner Politikbereiche, die einer übergrei-
fenden Koordinierung bedurften. Ausländerpolitik wurde zur Beauftragtenpolitik, wobei
die vom Senat verfolgte Doppelstrategie einer restriktiveren Zuwanderungs- und einer
liberaleren Integrationspolitik als institutionalisierter Dauerkonflikt zwischen verschiede-
nen Innensenatoren und der langjährigen Ausländerbeauftragten Barbara John erschien. In
der dritten Phase (seit 2003) ist Integrationspolitik wieder stärker zu einer zentralen Aufga-
be des Senats geworden, was mit der Entwicklung eines umfassenden, ressortübergreifen-
den Integrationskonzepts einhergeht.
      Bereits im Frühjahr 1971 hat der Berliner Senat im Rahmen der ressortübergreifenden
Planung ein Planungsteam mit dem Auftrag eingesetzt, „eine Gesamtkonzeption und Lö-

5
    Unter den in Berlin lebenden Unionsbürgern stellen Polen mit 44.400 Einwohnern die größte Gruppe vor
    Italienern (14.446) und Franzosen (12.611).
6
    Die Unterschiede zwischen Westberlin (18,3 %) und Ostberlin (7,1 %) sind allerdings nach wie vor erheblich
    (vgl. Heinzel/Tuchscherer 2008: 34).
7
    Die Daten zum Migrationshintergrund der Berliner Bevölkerung basieren auf einer Auswertung des Einwoh-
    nerregisters und unterscheiden sich hinsichtlich der Struktur leicht vom Konzept des Mikrozensus. Beim Mik-
    rozensus 2005 lag der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Berlin bei 23,4 Prozent (vgl. Sta-
    tistisches Bundesamt 2007).
Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘?                                            309

sungsvorschläge für die Eingliederung ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien zu
erarbeiten“ (Der Regierende Bürgermeister von Berlin 1978: 1). Dieses hat in seinem Ab-
schlussbericht vom September 1972 ein „bedarfsorientiertes Integrationsmodell“ vorge-
schlagen, das darauf abzielte, den Arbeitskräftebedarf der Berliner Wirtschaft langfristig zu
sichern. Zu den politischen Instrumenten des Modells gehörten eine Begrenzung des Zu-
zugs und die Gewährung finanzieller Hilfen für Rückkehrwillige bei gleichzeitiger Aner-
kennung der Familienzusammenführung. Mit Hilfe einer Vielzahl von sozial- und wirt-
schaftspolitischen Maßnahmen sollten zudem die Eingliederung der ausländischen Arbeit-
nehmer und ihrer Familien erleichtert werden (vgl. Der Regierende Bürgermeister von
Berlin 1972).
     Nach dem Anwerbestopp von 1973 veränderten sich die integrationspolitischen
Schwerpunkte des Berliner Senats. Mit der längeren Aufenthaltsdauer, der Familienzu-
sammenführung und dem Heranwachsen der zweiten und dritten Generation sollten „die
Integrationsmaßnahmen darauf ausgerichtet sein, dass sich die ausländischen Mitbürger
eingewöhnen und hier langfristig leben können“ (Der Regierende Bürgermeister von Berlin
1978: 3). Im Herbst 1979 beschließt der Senat „Leitlinien und neue Maßnahmen zur Aus-
länderintegration in Berlin“, die darauf abzielen, „allen legal in Berlin lebenden Auslän-
dern, die längere Zeit in unserer Stadt leben“, die Integration zu erleichtern. Der Schwer-
punkt wird auf ausländische Kinder und Jugendliche gelegt, denen „im Erziehungs-, Bil-
dungs- und Ausbildungsbereich die gleichen Chancen wie den deutschen Kindern und Ju-
gendlichen bei Aufrechterhaltung unseres Bildungsstandards eingeräumt werden“ sollen
(Der Regierende Bürgermeister von Berlin 1979: 13).
     In der zweiten Phase – von Herbst 1981 bis zum Frühjahr 2003 – war Integrationspoli-
tik in Westberlin vor allem Ausländerbeauftragtenpolitik. Mit der Einrichtung der Stelle
einer Ausländerbeauftragten, der ersten auf Länderebene, hat der Berliner Senat im Dezem-
ber 1981 versucht, die traditionelle Ausländerpolitik mit ihrer Konzentration auf sozialpoli-
tische Maßnahmen weiter zu entwickeln: „Eine stärkere Beteiligung der Betroffenen war
aufgrund der Entwicklung Anfang der achtziger Jahre notwendiger als die Konzipierung
neuer Programme und Maßnahmenkataloge“ (Schwarz 1992: 132). Eine Politik der Vertre-
tung von Zuwandererinteressen durch eine Senatsdienststelle stand hierbei nicht unbedingt
im Gegensatz zu Konzepten der Verhinderung einer weiteren Zuwanderung, sondern spie-
gelte lediglich die Ambivalenz wider, die auch die Berliner Ausländerpolitik in dieser Zeit
kennzeichnete. Allerdings führten die in dieser ‚Doppelstrategie‘ angelegten Spannungen
zwischen einer restriktiven Zuwanderungspolitik und einer liberalen Integrationspolitik
immer wieder zu Konflikten zwischen den Innensenatoren und der Ausländerbeauftragten.
     Eckpfeiler der Ausländerpolitik des Berliner Senats waren in den achtziger Jahren ei-
nerseits „die Begrenzung des Ausländeranteils durch Zuzugsbeschränkung und Förderung
der Rückkehrbereitschaft“ sowie zum anderen die „Verbesserung der Voraussetzungen für
die Integration der Ausländer, die hier leben und bleiben wollen“ (Ausländerbeauftragter
1983: 5). Nach Auffassung des Senats sollten sich Zuwanderer langfristig zwischen zwei
Alternativen entscheiden, die der Regierende Bürgermeister von Berlin, Richard von Weiz-
säcker, in seiner Regierungserklärung vom 2. Juli 1981 aufgezeigt hat:

     „Entweder Rückkehr in die alte Heimat … oder Verbleib in Berlin; dies schließt die Entschei-
     dung ein, auf die Dauer Deutscher zu werden. Keine Dauerlösung ist dagegen ein dritter Weg:
     Nämlich hier zu bleiben, aber nicht und nie Berliner werden zu wollen. Berlin muss die Mauer
310                                                                                        Frank Gesemann

      ertragen. Unsere Stadt kann nicht auch noch Zäune ertragen, die wir selbst errichten“ (zitiert
      nach Ausländerbeauftragter 1983: 4f.).

In der öffentlichen Wahrnehmung wurde die Berliner Integrationspolitik vor allem durch
die langjährige Ausländerbeauftragte des Senats, Barbara John, geprägt. Diese hat das Amt
der Ausländer- bzw. Integrationsbeauftragten in den einundzwanzigeinhalb Jahren ihrer
Tätigkeit vor allem durch ihr persönliches Engagement geprägt und ihm ein hohes Maß an
nationaler und internationaler Anerkennung verschafft. Zu den Schwerpunkten des Amts
gehörten eine umfangreiche Rechts- und Sozialberatung für Zuwanderer, eine vielfältige
Informations- und Öffentlichkeitsarbeit, die Herstellung und Pflege intensiver Kontakte zu
den Migrantenorganisationen und die finanzielle Förderung von Projekten und Selbsthilfe-
initiativen zur Unterstützung der Integration von Zuwanderern. Politische Akzente hat die
Ausländerbeauftragte des Senats vor allem in den Bereichen Einbürgerung,8 Antidiskrimi-
nierungspolitik9 und interkulturelle Öffnung der Verwaltung10 gesetzt.
      Eine dritte Phase der Berliner Integrationspolitik beginnt im Jahr 2003 – mit dem
Wechsel im Amt des Integrationsbeauftragten von Barbara John zu Günter Piening. Zu den
neuen integrationspolitischen Akzenten gehören der Aufbau eines Landesbeirates für Mi-
grations- und Integrationsfragen, die Einrichtung einer Senatsleitstelle gegen Diskriminie-
rung aus ethnischen, religiösen und weltanschaulichen Gründen, die Umsetzung des Pro-
gramms zur Bekämpfung von Rechtextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitis-
mus, die Neugestaltung der Förderkriterien zur Unterstützung integrationspolitischer Akti-
vitäten, die Intensivierung eines kritischen Dialogs mit dem Islam, die Entwicklung quar-
tiersbezogener Integrationsansätze, die Durchführung von Bundes- und EU-Projekten zur
Förderung der Bildungs- und Arbeitsmarktchancen von Migranten, zur Verbesserung der
Integrationsmöglichkeiten für Flüchtlinge, zur Entwicklung von Integrationsindikatoren
und zur „Intensivierung des gesellschaftlichen Dialogs über die Perspektiven der Einwan-
derungsstadt Berlin“ (Beauftragter für Integration und Migration 2004: 2).
      Die Berliner Integrationspolitik wird seitdem vor allem durch die Diskussion über Ge-
samtkonzepte, Monitoringsysteme und Integrationsindikatoren geprägt. Integrationspolitik
wird als Querschnittsaufgabe definiert, „als breites Feld von ineinander verzahnten Gleich-
stellungspolitiken, von Strategien zur Aktivierung der Migrantinnen und Migranten und
Verbesserung der Partizipationschancen, zur interkulturellen Öffnung von Regeldiensten und
Verwaltungen sowie zur Entwicklung interkultureller Kompetenz“ (Beauftragter für Integra-
tion und Migration 2004: 4). Im Zuge der Neuausrichtung der Berliner Integrationspolitik
wird zudem die Frage aufgeworfen, „welche Rolle … eine mit nur mäßiger Weisungsmacht
ausgestattete Querschnittseinrichtung wie der Senatsbeauftragte für Integration und Migrati-
on überhaupt spielen kann“. Gefunden wird die Antwort in einer Weiterentwicklung der
Institution in Richtung „strategischer Steuerung“, „ohne die Vorteile einer Querschnittsein-
richtung aufzugeben“ (Beauftragter für Integration und Migration 2005: 4f.).11

8
     Barbara John plädierte bereits Mitte der achtziger Jahre für einen „Rechtsanspruch auf Einbürgerung“ und
     schrieb der Einbürgerung eine „Schlüsselfunktion“ im Integrationsprozess zu (John 1985: 3); siehe auch John
     (1991).
9
     Im Jahr 1991 wurde von der Ausländerbeauftragten des Senats eine Arbeitsgruppe ‚Antidiskriminierung und
     Gewaltprävention‘ eingerichtet, die Betroffenen Beratung und Unterstützung anbot.
10
     Siehe hierzu John/Caemmerer (2001).
11
     Laut Geschäftsverteilung des Senats vom 20. Februar 2007 ist der Integrationsbeauftragte zuständig für „An-
     gelegenheiten der Integrations- und Migrationspolitik von grundsätzlicher oder übergreifender Bedeutung;
Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘?                                                          311

      Im August 2005 hat der Senat von Berlin erstmals ein umfassendes, ressortübergrei-
fendes Integrationskonzept vorgelegt. Im Zentrum des Konzepts „Vielfalt fördern – Zu-
sammenhalt stärken“ steht die Beschreibung von Herausforderungen und Perspektiven der
Integrationspolitik. Zu den Zielen des Senats gehört es, die integrationspolitischen Anstren-
gungen der verschiedenen Senatsverwaltungen in den Rahmen einer gesamtstädtischen
Strategie zu stellen, die vielfältigen Programme und Maßnahmen stärker aufeinander zu
beziehen und die jeweiligen Zielkoordinaten zu präzisieren. Integrationspolitik wird als
Querschnittsaufgabe in einem strategisch ausgerichteten Steuerungsprozess konzipiert, der
die Präzisierung von Leitbildern und politischen Zielen, die Entwicklung integrationspoliti-
scher Indikatoren und ein regelmäßiges Berichterstattungssystem umfasst (vgl. Abgeordne-
tenhaus Berlin 2005b).
      Die Weiterentwicklung der Berliner Integrationspolitik stand im Mittelpunkt eines
breit angelegten Anhörungs- und Diskussionsprozesses in den Ausschüssen des Parlaments.
Nach Auswertung der Ergebnisse hat das Abgeordnetenhaus den Senat aufgefordert, „ein
verbindliches mittelfristiges Arbeitsprogramm zur Integrationssteuerung“ zu erarbeiten, „in
dem konkrete Ziele, Maßnahmen und Berichterstattungsverfahren sowie zur Überprüfung
der Arbeitsergebnisse messbare Indikatoren festgelegt werden“ (Abgeordnetenhaus Berlin
2006). Mit der Vorlage des zweiten Integrationskonzepts vom Juli 2007 hat der Senat –
eigenen Angaben zufolge – diesen Schritt von der Bestandsaufnahme zur strategischen
Steuerung vollzogen. Zentrale Handlungsstrategien werden mit einer hierarchischen Ziel-
struktur, spezifischen Handlungsfeldern, Leitprojekten und Indikatoren unterlegt. Ein re-
gelmäßiger indikatorengestützter Bericht soll die Grundlage für eine Weiterentwicklung
von Programmen und Maßnahmen bilden.12

3     Schwerpunkte und Handlungsfelder der Berliner
      Integrationspolitik
Im zweiten Integrationskonzept vom Juli 2007 werden acht zentrale Handlungsstrategien
benannt, „die für den Erfolg der Berliner Integrationspolitik ausschlaggebend sind“ (Abge-
ordnetenhaus Berlin 2007: 6). Diese Handlungsstrategien werden mit Zielen, spezifischen
Handlungsfeldern, Leitprojekten und Indikatoren unterlegt. Mit einem regelmäßigen indi-
katorengestützten Bericht sollen Senat, Abgeordnetenhaus und Öffentlichkeit über integra-
tionspolitische Entwicklungen informiert und die Grundlage für eine Weiterentwicklung
von Programmen und Maßnahmen gelegt werden:

     Konzeption der Integrations- und Migrationspolitik; Entwicklung und Steuerung eines Integrationsmonito-
     rings zur Umsetzung des Integrationskonzeptes für Berlin; Koordinierung der Maßnahmen zur interkulturellen
     Öffnung der Verwaltung“ (Der Regierende Bürgermeister – Senatskanzlei 2007).
12
     Die Aufwertung des Politikfeldes spiegelt auch die Bildung einer Senatsverwaltung für Integration, Arbeit
     und Soziales wider. Zu ihrem Geschäftsbereich gehören seit Februar 2007 neben den Angelegenheiten des/der
     Beauftragten des Senats für Integration und Migration (siehe Fußnote 11) die Koordinierung der Maßnahmen
     zur Integration von Zuwanderinnen und Zuwanderern, die Geschäftsstelle des Landesbeirates für Integrations-
     und Migrationsfragen, die Antidiskriminierungspolitik des Senats und die Förderung ressortübergreifender
     Projekte zur Stärkung von Toleranz und Weltoffenheit (vgl. Der Regierende Bürgermeister – Senatskanzlei
     2007).
312                                                                      Frank Gesemann

Internationale Anziehungskraft und kulturelle Vielfalt: Eine verbesserte Präsentation von
kultureller Vielfalt, die Entwicklung und Stärkung interkultureller Kompetenzen sowie die
Schaffung einer Willkommenskultur für Zuwanderer sollen die internationale Anziehungs-
kraft Berlins stärken.

Integration durch Teilnahme am Erwerbsleben: Mit einer Vielzahl von Maßnahmen soll
die Ausbildungsbeteiligung erhöht, der Einstieg und die Wiedereingliederung in den Ar-
beitsmarkt verbessert sowie Existenzgründungen und Selbstständigkeit von Migrantinnen
und Migranten gefördert werden.

Integration durch Bildung: Die Neubestimmung des Bildungsauftrags von Kindertagesstät-
te und Schule und die Weiterentwicklung der Schulkultur soll zu einer Angleichung des
Sprachniveaus und der Schulabschlüsse von Jugendlichen mit und ohne Migrationshin-
tergrund beitragen.

Integration durch Stärkung des sozialräumlichen Zusammenhalts: Mit der Rahmenstrategie
Soziale Stadtentwicklung und dem Maßnahmenprogramm Soziale Stadt – Berliner Quar-
tiersmanagement sollen problembelastete Stadtteile stabilisiert, der Zusammenhalt im Sozi-
alraum gestärkt sowie die Chancengleichheit verbessert werden.

Integration durch Interkulturelle Öffnung: Mit der interkulturellen Öffnung von Verwal-
tungen und sozialen Diensten soll ein chancengleicher Zugang zu Angeboten und Leistun-
gen sowie eine gleichwertige Versorgungsqualität für Migrantinnen und Migranten erreicht
werden.

Integration durch Partizipation und Stärkung der Zivilgesellschaft: Zu den Handlungsfel-
dern in diesem Bereich gehören die Stärkung der politischen Partizipation, die Förderung
einer Kultur des Respekts und der Gleichbehandlung, die Durchsetzung des Rechts auf
Selbstbestimmung und die Weiterentwicklung des Dialogs mit den islamischen Gemein-
schaften.

Integrationsperspektiven für Flüchtlinge: Die Rahmenbedingungen für ein selbstständiges
Leben von Asylbewerbern und Geduldeten sowie die soziale und gesundheitliche Lage von
Personen ohne Aufenthaltsstatus sollen verbessert werden.

Verbesserung der Kooperation zwischen Senat und Bezirken: Zu den Vorschlägen gehören
die (Weiter-)Entwicklung von Integrationsprogrammen in den Bezirken, die Einführung
von Mindeststandards in der Ausstattung und den Kompetenzen von Integrationsbeauftrag-
ten und Integrationsbeiräten sowie Zielvereinbarungen zwischen den Bezirken und dem
Senat.

Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Integration von Zuwanderern in das
Bildungs- und Ausbildungssystem, in den Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie auf die
politische Partizipation. In diesen Bereichen sollen Erfolge und Herausforderungen der
Berliner Integrationspolitik aufgezeigt werden.
Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘?                                                        313

3.1 Mangelnde Arbeitsmarktintegration von Migranten

Arbeitsmarktintegration und Bildung beeinflussen die soziale Positionierung, den Zugang
zu zentralen gesellschaftlichen Positionen sowie die Teilhabe am gesellschaftlichen Reich-
tum und an politischen Entscheidungsprozessen. Diese Faktoren sind vorrangige Aspekte
der Eingliederung von Einwanderern und ihrer Kinder. Die Entwicklung in Berlin ist aller-
dings seit der Wiedervereinigung durch einen dramatischen Arbeitsplatzabbau in der Berli-
ner Industrie gekennzeichnet. Von 1991 bis 2004 gingen mehr als die Hälfte aller Arbeits-
plätze im verarbeitenden Gewerbe verloren. Im Vergleich mit dem Ausgangsbestand vor
der Wiedervereinigung sind rund 250.000 industrielle Arbeitsplätze verschwunden (vgl.
Fischer et al. 2004). Dieser Verlust konnte bislang auch nicht durch Zuwächse im Dienst-
leistungssektor kompensiert werden. Der Rückgang der Erwerbstätigenzahl führte zu einem
starken Anstieg der Arbeitslosenquote von 9,4 Prozent im Jahr 1991 auf einen Spitzenwert
von 21,5 Prozent im Jahr 2005. Seitdem ist erstmals seit Anfang der 1990er Jahre wieder
ein deutlicher Rückgang auf zuletzt 17,9 Prozent im Jahr 2007 zu verzeichnen.
      Zu den Verlierern dieser Entwicklung gehören vor allem Migranten. Die Arbeitslosen-
quote der Ausländer ist von 1991 bis 2005 von 14,5 auf den Rekordwert von 44,1 Prozent
gestiegen. Allerdings spiegelt sich die positive Entwicklung auf dem Berliner Arbeitsmarkt
in den Jahren 2006 und 2007 auch hier in einem Rückgang der Arbeitslosenzahlen wieder.
Trotzdem ist die Arbeitslosenquote der Ausländer mit 37,0 Prozent (2007) immer noch
mehr als doppelt so hoch wie die Arbeitslosenquote der Deutschen (15,8 %).13 Von dem
Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt sind vor allem Erwerbstätige mit geringen Qualifika-
tionen betroffen, die unter den Ausländern überproportional vertreten sind: Von den im
August 2005 im Land Berlin registrierten ausländischen Arbeitslosen hatten 53,2 Prozent
keinen Schulabschluss und 81,1 Prozent waren ohne abgeschlossene Berufsausbildung
(türkische Arbeitslose: 57,1 % bzw. 86,2 %) (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2005).14
      Die ökonomische Situation von Migranten ist in Berlin schlechter als in anderen Groß-
städten, das Ausmaß der Unterbeschäftigung ist sogar dramatisch: „Wenn, wie generell in
den großen deutschen Städten, die Erwerbslosigkeit der Migranten doppelt so groß ist wie
die der Personen ohne Migrationshintergrund, hat das im Falle Berlins deshalb besonders
schwerwiegende Konsequenzen, weil in der Stadt die Arbeitslosigkeit weit über dem
Durchschnitt liegt“ (Brenke 2008: 505). Auf die extrem hohe Arbeitslosigkeit von Migran-
ten hat der Berliner Senat mit einer Reihe von Initiativen reagiert, zu denen die Erhöhung
der Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitslosen, die Verbesserung der Ausbildungssituation
von Jugendlichen und die Förderung der Selbstständigkeit von Migranten gehören (vgl.
Abgeordnetenhaus Berlin 2005b; 2007). Die Politik des Senats zielt im zuletzt genannten
Bereich vor allem darauf ab, den Zugang von Migranten zu den Fördermöglichkeiten des
Landes (Kredite und Beratungsangebote) zu verbessern:

      „Berlin zeichnet sich durch eine Vielzahl unternehmerischer Aktivitäten von Migranten/innen
      aus. Diese Selbstständigen sichern sich selbst und ihren Beschäftigten Arbeitsplätze und somit

13
     Die Quote bezieht sich auf abhängige zivile Erwerbspersonen. Zur Entwicklung der Arbeitslosenquoten und -
     zahlen von nichtdeutschen und deutschen Staatsangehörigen in Berlin siehe Gesemann (2001b: 423), Abge-
     ordnetenhaus Berlin (2007, Anhang 1) sowie Bundesagentur für Arbeit (2008: 31ff.).
14
     Das Armutsrisiko der Ausländer übertrifft vor diesem Hintergrund das der Deutschen um das Dreifache (36,0
     % zu 11,5 % im Jahr 2002) (Statistisches Landesamt Berlin 2003; Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales
     und Verbraucherschutz 2004: 107).
314                                                                                          Frank Gesemann

      Einkommen. Kleine und mittelständische Betriebe prägen das Wirtschaftsleben in vielen Berli-
      ner Kiezen nachhaltig. Somit leisten Migranten/innen einen erheblichen und zunehmenden Bei-
      trag zur wirtschaftlichen Entwicklung und Vielfalt in Berlin“ (Abgeordnetenhaus Berlin 2007:
      27).

Empirische Studien zu Unternehmern türkischer Herkunft zeigen allerdings, dass „für die
überwiegende Mehrheit … Selbstständigkeit gleichbedeutend ist mit einem permanenten
Kampf um das wirtschaftliche Überleben“ (Pütz 2004: 75): „Ohne die ‚Selbstausbeutung’
der Unternehmer und ihrer Familien könnten viele Läden kaum am Markt bestehen. Was
zunächst als Wettbewerbsvorteil erscheint, wird mittelfristig aber zu einem schwerwiegen-
den Nachteil, wenn nämlich die mithelfenden Unternehmerkinder aufgrund der Beschäfti-
gung im Familienbetrieb ihre eigene Ausbildung vernachlässigen müssen“ (ebd.: 70f.).
      Eine Politik zur Förderung der Selbständigkeit von Migranten muss daher mit der För-
derung von Bildungschancen verknüpft sein. Bessere Bildungschancen erweitern die Hand-
lungsspielräume von Eigentümern und erhöhen die Erfolgschancen der Unternehmen.15 Sie
stellen zudem eine Investition in die Zukunft der nachwachsenden Generation dar, die nicht
durch eine einseitige Politik zur Förderung der Selbstständigkeit gefährdet werden sollte.16

3.2 Integration durch Bildung?

Bildung und Ausbildung haben eine Schlüsselfunktion für den erfolgreichen Verlauf von
Integrationsprozessen. Sie entscheiden über den Zugang zu gesellschaftlichen Positionen
und Ressourcen und die Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen. Sprachliche und
kulturelle Kompetenzen von Migranten beeinflussen die Erfolge im Bildungs- und Ausbil-
dungssystem sowie die Integration in den Arbeitsmarkt (kulturelle Integration). Qualifizier-
te Schulabschlüsse, eine abgeschlossene Berufsausbildung oder eine Hochschulausbildung
sind von zentraler Bedeutung für die Aufstiegschancen und die soziale Platzierung von
Zuwanderern (strukturelle Integration). Die Einrichtungen des Bildungssystems sind zu-
dem von großer Bedeutung für die Entwicklung interkultureller Kontakte und Freundschaf-
ten (soziale Integration) sowie die Identifikation von Migranten mit den Grundwerten und
Institutionen einer demokratischen Gesellschaft (identifikatorische Integration) (vgl. Ge-
semann 2007: 65).
      Der Anteil der Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache17 an der Gesamtschülerzahl
der öffentlichen und privaten Schulen lag im Schuljahr 2006/07 mit 27,0 % deutlich über
dem Anteil der ausländischen Schüler (16,2 %). In den öffentlichen Grundschulen der Stadt
ist sogar jeder dritte Schüler nichtdeutscher Herkunft (33,3 %). In Bezirken wie Mitte,

15
     Hierzu gehören beispielsweise ein leichterer Zugang zu Existenzgründerdarlehen, fundierte betriebswirt-
     schaftliche und steuerliche Kenntnisse, größere Handlungsspielräume bei der Wahl der Branche und eine bes-
     sere Einschätzung von Marktchancen (vgl. Pütz 2004: 76f.).
16
     Zwar soll das Ausbildungspotenzial von Unternehmer/-innen mit Migrationshintergrund laut Integrationskon-
     zept vom Juli 2007 „sehr viel stärker als bislang genutzt werden“ (Abgeordnetenhaus 2007: 20), aber eine sys-
     tematische Verknüpfung mit der Bildungspolitik ist nicht erkennbar. Im Vordergrund scheint vor allem eine
     Politik zur Reduzierung der hohen Arbeitslosigkeit von Migranten und der Abhängigkeit von staatlichen
     Transferzahlungen zu stehen.
17
     Als „Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache“ werden in Berlin seit 1999 Schüler erfasst, „deren Mutter-
     bzw. Familiensprache nicht deutsch ist. Die Staatsangehörigkeit ist dabei ohne Belang; entscheidend ist die
     Kommunikationssprache in der Familie“ (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport 2007: 7).
Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘?                                                           315

Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln stellen Schüler mit einer nichtdeutschen Familien-
sprache bereits die Mehrheit der Schülerschaft (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Wissen-
schaft und Forschung 2007). Näheren Aufschluss über die Herkunft der Jugendlichen und
ihrer Eltern bieten Ergebnisse aus PISA 2003. Die größte Gruppe unter den Schülerinnen
und Schülern mit Migrationshintergrund bilden mit einem Anteil von 35,0 Prozent die Ju-
gendlichen, deren Eltern aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind. Es folgen Ju-
gendliche mit Eltern aus Polen (10,8 %), der ehemaligen Sowjetunion (8,1 %) und dem
ehemaligen Jugoslawien (5,5 %) (vgl. Ramm et al. 2005: 275).18
     Die Differenzen in den Bildungserfolgen von Kindern und Jugendlichen mit deutscher
und ausländischer Staatsangehörigkeit sind in Berlin seit vielen Jahren sehr viel stärker
ausgeprägt als im Bundesdurchschnitt (vgl. Hunger/ Thränhardt 2001). Problematisch ist
vor allem die Bilanz bei den weniger erfolgreichen Jugendlichen: 20,9 Prozent der auslän-
dischen, aber nur 7,7 Prozent der deutschen Schulabgänger verlassen die allgemein bilden-
de Schule in Berlin ohne Abschluss; weitere 23,6 Prozent der ausländischen Schulabgänger
erwerben nur den Hauptschulabschluss (12,0 Prozent der Deutschen). Fast die Hälfte der
ausländischen Schulabgänger verlässt die Schule entweder ohne Abschluss oder nur mit
einem Abschluss, der ihnen relativ geringe Chancen auf dem Berliner Ausbildungs- und
Arbeitsmarkt bietet (vgl. Tabelle 1; siehe auch Gesemann 2006c: 203f.).
     Anfang 2007 hat die Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung
erstmals Zahlen zu Schulabgängern nichtdeutscher Herkunftssprache veröffentlicht. Diese
zeigen zwar, dass Schulabgänger nichtdeutscher Herkunftssprache insgesamt etwas bessere
Bildungserfolge als die ausländischen Schulabgänger erzielen, aber die Unterschiede zwi-
schen Schulabgängern deutscher und nichtdeutscher Herkunftssprache verringern sich nur
geringfügig. Die Gefahr des Scheiterns im Schulsystem ist hierbei bei jungen männlichen
Ausländern am höchsten: Jeder Vierte verlässt die Schule ohne Abschluss! Bei den deut-
schen Schulabgängerinnen trifft dieses nur auf jede Sechzehnte zu. Aber auch junge Aus-
länderinnen oder Schulabgängerinnen nichtdeutscher Herkunftssprache scheitern sehr viel
seltener in der Schule als junge Männer: Während 24,7 Prozent der männlichen Ausländer
die Schule ohne einen Abschluss verlassen, sind es bei den weiblichen Ausländern ‚nur‘
16,7 Prozent!19
     Zu den Ursachen des mangelnden Bildungserfolgs von Kindern und Jugendlichen mit
Migrationshintergrund gehören vor allem der geringe Bildungsstatus der Eltern, eine nicht-
deutsche Familien- und Freizeitsprache, unzureichende Kompetenzen in der deutschen
Sprache, das Aufwachsen in Gebieten, die durch eine Konzentration von Zuwanderern und
eine Kumulation sozialer Problemlagen geprägt sind, sowie eine mangelnde Förderung in
Kindertagesstätten und Schulen. Die Berliner Sprachstandserhebung ‚Deutsch Plus‘, die im
Herbst 2006 mit 25.143 Kindern durchgeführt wurde, die im Schuljahr 2007/2008 schul-
pflichtig wurden, hat beispielsweise ergeben, dass 54,4 % der Kinder nichtdeutscher Her-
kunftssprache intensiv in Deutsch gefördert werden müssen (11,1 % der Kinder deutscher
Herkunftssprache). Besonders hoch ist der Förderbedarf bei den Kindern, die in Bezirken

18
     Eine etwas andere Verteilung zeigt die statistische Auswertung nach Staatsangehörigkeit: Von den ausländi-
     schen Schülern an öffentlichen Schulen kommen 41 Prozent aus der Türkei, 12 Prozent aus arabischen Staaten
     und 11 Prozent aus dem ehemaligen Jugoslawien (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und For-
     schung 2007: 11, eigene Berechnungen).
19
     Leider unterscheidet die Berliner Schulstatistik bei den Schulabgängern aber nur zwischen Schülern deutscher
     und nichtdeutscher Staatsangehörigkeit bzw. Herkunftssprache, so dass die erheblichen Unterschiede im Hin-
     blick auf den Bildungserfolg verschiedener Zuwanderergruppen nicht sichtbar werden.
316                                                                                           Frank Gesemann

wie Neukölln leben (64,6 %) oder keine Kindertagesstätte besuchen (71,9 %) (vgl. Senats-
verwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2007).20

Tabelle 1: Schulabgänger aus allgemein bildenden Schulen in Berlin nach
           Staatsangehörigkeit und Herkunftssprache, Schuljahr 2005/06*
                                                                ohne Abschluss               allgemeine
     Schulabgänger                                                                         Hochschulreife
                                                         g         m          w         g         m         w
     Gesamt                                               9,5      11,3        7,6      36,1      30,9      41,5
     Deutsche                                             7,7       9,1        6,2      39,2      33,7      44,9
     Ausländer                                           20,9      24,7       16,7      16,4      14,1      19,0
     deutsche Herkunftssprache                            7,4       8,8        6,0      40,3      34,6      46,1
     nichtdeutsche Herkunftssprache                      18,3      22,0       14,4      18,4      15,6      21,4
     Deutsche nichtdeutscher Herkunftssprache            11,6      14,5        8,8      23,6      19,9      27,3
     Deutsche deutscher Herkunftssprache                  7,4       8,8        6,0      40,3      34,6      46,1
     * ohne Berücksichtigung der BB 10-Lehrgänge
     g = gesamt, m = männlich, w = weiblich
Quelle: Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung; eigene Berechnungen

Um die Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu
verbessern, hat der Senat von Berlin eine Reihe von ‚entscheidenden Weichenstellungen‘
vorgenommen, zu denen vor allem die Verabschiedung eines neuen Schulgesetzes (2004),
die Auflegung eines Bildungsprogramms für Kindertagesstätten (2004) und das Programm
‚Integration durch Bildung‘ (2005) gehören. Von besonderer Bedeutung sind in diesem
Zusammenhang eine durchgängige Sprachförderung von der Kindertageseinrichtung bis
zum Schulabschluss, eine verstärkte Einbindung von Eltern mit Migrationshintergrund, die
fortlaufende Qualifizierung und Weiterbildung des pädagogischen Personals, die Erhöhung
des Anteils von Erziehern und Lehrern mit Migrationshintergrund sowie die Öffnung von
Kindertagesstätten und Schulen sowie ihre Vernetzung mit weiteren Institutionen im Stadt-
teil (vgl. Abgeordnetenhaus Berlin 2005a; siehe auch Abgeordnetenhaus Berlin 2005b;
2007). Diese Reformen gehen zwar in die richtige Richtung, aber für eine Einschätzung
ihrer Wirksamkeit ist es noch zu früh.

3.3 Integration durch Ausbildung?

Besorgniserregend ist vor allem die Entwicklung im Bereich der beruflichen Bildung, die in
Deutschland von besonderer Bedeutung für die Arbeitsmarktchancen ist. In Berlin ist die
Anzahl der ausländischen Auszubildenden von 1991 bis 2006 um 50 Prozent zurückgegan-
gen! Der Ausländeranteil an der Gesamtzahl aller Auszubildenden hat sich in diesem Zeit-
raum fast halbiert – von 8,5 Prozent (1991) auf 4,1 Prozent (2006). Besonders problema-

20
       Geringe Bildungserfolge belasten nicht nur die individuellen Zukunftschancen von jungen (männlichen)
       Migranten, sondern gefährden auch den sozialen Zusammenhalt der Stadtgesellschaft. In einem Bericht der
       Landeskommission Berlin gegen Gewalt wird betont, dass „Perspektivlosigkeit, fehlende Anerkennung und
       geringes Selbstwertgefühl“ im Kontext mangelnder Bildungserfolge, geringer Ausbildungschancen und un-
       günstiger Arbeitsmarktaussichten „wesentliche Risikofaktoren für gewalttätiges Verhalten“ sind (vgl. Landes-
       kommission Berlin gegen Gewalt 2007: 35, 166; siehe auch Gesemann 2008).
Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘?                                                       317

tisch sind hierbei die anhaltenden Rückgänge in der Industrie (von 7,3 % auf 3,7 %), im
Handwerk (von 10,8 % auf 4,7 %) und im Öffentlichen Dienst (von 6,9 % auf 1,2 %). Die
Ausbildungsbeteiligungsquote der ausländischen Jugendlichen – berechnet als Anteil der
Auszubildenden an allen Personen dieser Gruppe in der Altersgruppe von 18 bis unter 21
Jahre – war im Jahr 2006 mit 14,8 Prozent sehr viel geringer als die der deutschen Jugend-
lichen (46,8 %).21

Tabelle 2: Auszubildende nach Staatsangehörigkeit in Berlin 1991 bis 2006
     Jahr            Insgesamt                 Deutsche             Ausländer                Anteil
                                                                                           in Prozent
     1991              51.018                    46.493                4.525                   8,9
     1995              55.165                    50.658                4.507                   8,2
     2000              62.696                    59.440                3.256                   5,2
     2005              55.458                    53.138                2.320                   4,2
     2006              55.334                    53.046                2.288                   4,1
Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg

Zu den Gründen für die geringe Ausbildungsbeteiligung junger Migranten gehören nach
wie vor bestehende Sprachdefizite, unzureichende oder fehlende Schulabschlüsse, die An-
forderungsprofile der ausbildenden Betriebe und Verwaltungen sowie Vorbehalte auf Sei-
ten der Personalverantwortlichen. Mit einem einfachen Hauptschulabschluss oder sogar
ohne Abschluss haben Jugendliche mit Migrationshintergrund auf dem engen und durch
einen stärker gewordenen Verdrängungswettbewerb geprägten Berliner Ausbildungsmarkt
häufig nur geringe Chancen. Ausländische Jugendliche nutzen zudem sehr viel seltener als
deutsche Jugendliche die Informations- und Vermittlungsangebote der Arbeitsagenturen
und sind bereits unter den gemeldeten Bewerberinnen und Bewerbern um einen Ausbil-
dungsplatz deutlich unterrepräsentiert. Viele steigen offenbar unmittelbar nach der Schul-
zeit in das ‚ethnische Gewerbe‘ ein oder suchen Arbeit im Niedriglohnsektor (vgl. Ohliger/
Raiser 2005: 32).22
      Zu den Maßnahmen des Senats, die die Berufsausbildung von ausländischen Jugendli-
chen fördern sollen, gehören das Berufliche Qualifizierungsnetzwerk für Migrantinnen und
Migranten (BQN Berlin), das innovative Verfahren zum Übergang von der Schule in die
Ausbildung entwickelt, die zielgerichtete Durchführung berufsorientierender Maßnahmen
mit intensiver Sprachförderung, die Entwicklung und Vermittlung zertifizierbarer Qualifi-
zierungsbausteine in der Berufsvorbereitung und -ausbildung sowie die gezielte Ansprache
von ausländischen Betriebsinhabern, sich an der Berufsausbildung zu beteiligen. Alle diese
Programme und Maßnahmen haben allerdings den kontinuierlichen Rückgang der Ausbil-
dungsbeteiligung von jungen Migranten bislang nicht aufgehalten, geschweige denn zu
einer deutlichen Trendwende in Richtung auf mehr Chancengleichheit beigetragen. Ohne
massive Verbesserungen bei den schulischen Abschlüssen, umfangreiche Investitionen in
eine Nachqualifizierung von jungen Migranten und ein differenziertes Bildungs- und Über-
gangsmanagement dürften hier auch kaum nachhaltige Erfolge zu erzielen sein.

21
     Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (2007), eigene Berechnungen.
22
     Siehe auch die Antwort des Senats von Berlin auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Özcan Mutlu (Bünd-
     nis 90/Die Grünen) zur „Ausbildungsbeteiligung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (Abgeordne-
     tenhaus Berlin 2005c).
318                                                                                    Frank Gesemann

3.4 Räumliche Konzentration und soziale Segregation von Migranten

Die Konzentration von Zuwanderern in den Altbauquartieren der westlichen Innenstadt, die
seit der Wiedervereinigung im Jahr 1991 durch eine wachsende Arbeitslosigkeit, hohe
Armutsquoten und selektive Wanderungen geprägt sind, gehört zu den zentralen Heraus-
forderungen der Berliner Stadt- und Quartierspolitik. Die höchsten Konzentrationen von
melderechtlich registrierten Ausländern wiesen am 31. Dezember 2007 die Gebiete Neu-
kölln-Nord (35,0 %), Wedding (33,9 %), Kreuzberg (31,3 %), Tiergarten (29,3 %) und
Schöneberg-Nord (26,2 %) auf. In diesen Gebieten lebt jeder zweite Ausländer, aber nur
jeder vierte Deutsche. In den übrigen Gebieten von Westberlin liegt der Ausländeranteil nur
bei etwa zehn Prozent. Im Ostteil der Stadt werden Werte von über zehn Prozent nur in
Mitte (17,7 %), Prenzlauer Berg (12,7 %) und Friedrichshain (12,6 %) erreicht. In den
meisten Gebieten von Ostberlin liegt der Ausländeranteil nach wie vor nur zwischen zwei
und fünf Prozent (siehe Schaubild 1).23 Im Hinblick auf die Bevölkerung mit Migrations-
hintergrund ist der Anteil mit 44,5 Prozent am höchsten in Mitte (mit den alten Bezirken
Mitte, Tiergarten und Wedding), gefolgt von Neukölln mit 38,7 Prozent und Friedrichs-
hain-Kreuzberg mit 36,6 Prozent. In 34 von 447 Planungsräumen liegt der Anteil der Berli-
ner mit Migrationshintergrund bei über 50 Prozent (vgl. Bömermann et al. 2008: 27).

Schaubild 1:                  Ausländische Einwohner nach (ehemaligen) Bezirken und Gebieten in
                              Berlin (in Prozent der Gesamtbevölkerung), Stand: 31. Dezember 2007

          Berlin-West
       Neukölln-Nord
             Wedding
           Kreuzberg
           Tiergarten
     Schöneberg-Nord
       Charlottenburg
         Wilmersdorf
       Sonstige West
           Berlin-Ost
                 Mitte
        Friedrichshain
      Prenzlauer Berg
          Lichtenberg
         Sonstige Ost

                        0,0        5,0      10,0    15,0     20,0     25,0     30,0       35,0      40,0

Quelle: Amt für Statistik Berlin-Brandenburg; eigene Berechnungen

Im Gegensatz zum öffentlichen Diskurs, in dem die räumliche Konzentration von Migran-
ten häufig als Zeichen einer gescheiterten Integration wahrgenommen oder als Gettoisie-
rung stigmatisiert wird, werden in der sozialwissenschaftlichen Debatte auch die Chancen
oder positiven Funktionen ethnischer Konzentrationen hervorgehoben (vgl. Heckmann

23
       Die Angaben beziehen sich mit Ausnahme der Gebiete Neukölln-Nord und Schöneberg-Nord auf die Gebiete
       der alten Bezirke.
Berlin – Einwanderungsstadt ‚under construction‘?                                                         319

1992: 111ff.; Häußermann/Siebel 2001: 46f.). Ethnische Kolonien bieten Zuwanderern
einen Zugang zu vielfältigen Informationen und praktischen Hilfen, dienen der Persönlich-
keitsstabilisierung in der Migrationssituation, ermöglichen eine wechselseitige Unterstüt-
zung im Rahmen von Verwandtschaftsbeziehungen und sozialen Netzwerken, bieten Be-
schäftigungs-, Einkommens-, Qualifizierungs- und Aufstiegsmöglichkeiten in der ethni-
schen Ökonomie und erleichtern die Artikulation und Vertretung von Interessen ethnischer
Minderheiten (siehe hierzu auch Gesemann 2006a).
     Zu den Risiken oder negativen Funktionen ethnischer Kolonien gehört vor allem „die
Gefahr einer ethnischen Selbstgenügsamkeit, die ein für das Aufbrechen der ethnischen
Schichtung und für soziale Mobilität notwendiges Aufnehmen außerethnischer Kontakte
und das Eintreten in einen universalistischen Wettbewerb behindert“ (Heckmann 1992:
115). Die Zunahme von Arbeitslosigkeit und relativer Armut in Berlin seit Anfang der
neunziger Jahre verstärkt zudem die Gefahr, „dass die ethnischen Kolonien ihre Brücken-
funktion verlieren und sich aus den Gebieten der Ausländerkonzentration Räume der Isola-
tion und Benachteiligung entwickeln“ (Kapphan 2001: 106). Die Wirkungen einer räumli-
chen Konzentration auf die soziale Integration von Zuwanderern in der Stadt sind daher
ambivalent; einerseits können ethnische Kolonien als Ressource zur Bewältigung von Her-
ausforderungen in der Aufnahmegesellschaft dienen, andererseits können sie zur Heraus-
bildung parallelgesellschaftlicher Strukturen führen und zur ethnischen Mobilitätsfalle
werden (vgl. Gesemann 2006a).
     Zu den Ursachen gehören vor allem sozialstrukturelle und sozialräumliche Prozesse,
die seit der Wiedervereinigung der beiden Stadthälften zu neuen Strukturen sozialer Un-
gleichheit geführt haben. Die problembelasteten Gebiete der westlichen Innenstadt sind
durch hohe Wanderungsbewegungen und starke Veränderungen in der Bevölkerungszu-
sammensetzung gekennzeichnet. Während Erwerbstätige, Besserverdienende sowie Famili-
en mit Kindern abwandern, bleibt die sozial schwache Bevölkerung zurück, so dass der
Anteil von Ausländern, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern weiter steigt (vgl. Gese-
mann 2006a). Die selektive Mobilität und die Verarmung der zurückbleibenden Bewohner
fördern Prozesse, „die zu einer kumulativ sich selbst verstärkenden Spirale der Abwärts-
entwicklung führen“. Es entsteht ein „Milieu der Benachteiligung“, das durch eine zuneh-
mende Verwahrlosung des öffentlichen Raumes, die Verschlechterung der Versorgungs-
struktur und eine Ausgrenzung der Bewohner gekennzeichnet ist (Häußermann 2001: 82f.).
     Der sozioökonomische Wandel und die Konzentrationen sozialer und stadträumlicher
Benachteilung haben den Berliner Senat im Herbst 1998 veranlasst, eine „nachhaltig wir-
kende, langfristig orientierte gesamtstädtische Strategie zur Entschärfung sozialer Konflikte
besonders belasteter Stadtquartiere“ zu entwickeln sowie ein Aktionsprogramm „Urbane
Integration“ vorzulegen (vgl. Abgeordnetenhaus 1998: 2).24 Im Rahmen des Bund-Länder-
Programms „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt“ (kurz:
Soziale Stadt) wurde in den ‚Gebieten mit besonderem Entwicklungsbedarf‘ die Einrich-
tung eines Quartiersmanagements beschlossen, das zu einer Stabilisierung, Aufwertung und
dauerhaften Verbesserung der Situation in den Quartieren beitragen sollte. Zu den zentralen

24
     Wissenschaftliche Grundlage dieser Entscheidung bildeten die Ergebnisse und Empfehlungen eines Gutach-
     tens zur „Sozialorientierten Stadtentwicklung“, das von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umwelt-
     schutz und Technologie in Auftrag gegeben worden war (IfS/S.T.E.R.N. 1998).
Sie können auch lesen